Catching up with the Carters - In your words

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Mit jedem Wort von dir ...

Die ganze Welt hat Hadrian in der TV-Show »Catching up with the Carters« aufwachsen sehen. Um die Einschaltquoten in die Höhe zu treiben, tut seine Mutter alles. Was sie nun von ihm verlangt, ist aber zu viel. Hadrian droht daran zu zerbrechen. Er will ein selbstbestimmtes Leben führen. Der einzige Ausweg für ihn: unterzutauchen. Doch die Journalistin Alice heftet sich an seine Fersen. Als Hadrian ihr Textnachrichten schreibt, verändert sich das Katz-und-Maus-Spiel. Mit jedem Wort, jedem Gedanken, den Hadrian mit ihr teilt, spürt er immer mehr ein besonderes Band zwischen ihnen – und lässt sie tief in seine Seele schauen. Bei ihr fühlt er sich frei. Kann er Alice vertrauen, oder wird sie seine Gefühle für eine Story verkaufen?

Fesselnd und romantisch – der zweite Teil der »Catching up with the Carters«-Reihe

»Ganz großes Kino! Mein Herz gehört ab sofort der Catching up with the Carters-Trilogie und hat somit Gossip Girl abgelöst.« Roxy’s Podcast

»Wer auf der Suche nach ganz viel Glamour, tiefen Gefühlen und herzzerreißender Romantik ist , der ist bei den Carters genau an der richtigen Adresse! Die Catching up with the Carters-Reihe ist ein absolutes Muss in jedem Shelfie!« books.with.jenny


  • Erscheinungstag 23.08.2022
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783745703085
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Fiene, Tom, Mats und Bram,
ich hab euch lieb!

PLAYLIST

Bowie on the Radio – Ryan McMullan

Sunroof – Nicky Youre, dazy

Unpack Your Bags – Radio Edit – Lemony Rug

Mountain – Harry Marshall

Way Out West – REUNIØN

A Place We Knew – Dean Lewis

Mad Men – Westward the Tide

The Best Part – Young Mister

First Time – Plested

Starlight – Jai Wolf, Mr Gabriel

No Good Alone – Corey Harper

The World Is Ours – Volunteer

Free but Hollow – Hidinin

The One Moment – OK Go

Caution – The Killers

T-Shirt Weather – Circa Waves

Everything Changes in the End – Vistas

If You Ever Leave, I’m Coming with You – The Wombats

Until I Found You – Who’s Molly?

Who You Are – One – The Genius Buddha Band

Autumn – Matthew Mole

1. KAPITEL

Hadrian

Ich dachte immer, Freiheit würde nach Regen, salziger Meeresluft und frisch gemähtem Gras riechen. Stattdessen stinkt sie nach Bleichmittel. Warum manche Leute sich ausgerechnet die Haare färben, um einen Neuanfang zu starten, werde ich nie verstehen. Ich fühle mich nicht wie ein neuer Mensch, und meine Kopfhaut brennt höllisch.

Die nackte Glühbirne, die über mir baumelt, flackert schon wieder. Vielleicht ist es sogar ein Vorteil, dass die Beleuchtung in diesem Badezimmer so mies ist. Dann kann ich wenigstens nicht deutlich erkennen, was ich mit meinen Haaren angestellt habe, nachdem ich sie mit einer normalen Schere kurzerhand abgeschnitten habe. Doch meine Haarfarbe hat mich immer noch an meine Familie erinnert. Also habe ich so viel Bleichmittel und Farbe auf meinen Kopf gekippt, bis meine Haare tatsächlich irgendwann blond waren.

Mein Bart musste auch dran glauben, und jetzt blickt mir im Spiegel ein Mann entgegen, der nicht länger Hadrian Carter ist. Gut so. Das war das Ziel. Niemand darf mich erkennen. Nicht einmal ich selbst.

Vorsichtig streiche ich mir über den Kopf. Ich berühre meine Haare kaum, als wären sie genauso zerbrechlich wie meine neu gewonnene Freiheit. Ich bilde mir ein, dass die Strähnen bei der Berührung mit meinen Fingerspitzen knistern. Sie fühlen sich an wie Stroh. Ein Friseur hätte definitiv einen besseren Job gemacht. Aber Friseure in L. A. wissen alles und spionieren besser als die NSA. Fünf Minuten, nachdem ich einen Laden betreten hätte, hätten die Paparazzi mit ihren Kameras vermutlich schon an der Scheibe geklebt.

Nein, das Risiko konnte ich nicht eingehen. Meine Tarnung funktioniert nur, wenn kein Reporter in diesem Land weiß, wie ich jetzt aussehe.

Ich schalte das Licht im Bad aus, weil mich das Flackern nervös macht, und betrete erneut mein heruntergekommenes Motelzimmer. Auch hier hängt der Gestank von Bleichmittel in der Luft. Wird die Reinigungskraft, die morgen dieses Zimmer aufräumen wird, sich fragen, ob ich hier einen Mord begangen und meine Spuren verwischt habe?

Erneut vibriert mein Handy in meiner Hosentasche. Ich habe es schon den ganzen Tag nicht über mich bringen können, meine Nachrichten zu checken, was ich nun nachhole. Denn ich will nicht länger ein jämmerlicher Feigling ohne eine eigene Meinung sein.

Ich bin es gewohnt, viele Nachrichten auf meinem Startbildschirm stehen zu haben. Aber diese Flut ist neu.

Jedes Mitglied meiner viel zu großen Familie hat sich bei mir gemeldet.

Meine Schwester Athena hat geschrieben: Wo steckst du? Mom rastet aus.

Mein älteste Schwester Demeter findet schon drastischere Worte: Wo zur Hölle bist du? Wir warten auf dich.

Ich kann nur die Augen verdrehen. Seitdem Aphrodite unserer Familie den Rücken zugekehrt hat, war der Platz von Moms Liebling wieder offen und Demeter hat diesen, ohne zu zögern, an sich gerissen. Manchmal klingt sie sogar wie unsere Mutter. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie jeden Tag Stunden vor dem Spiegel verbringt, um ihre Mimik und Gestik nachzuahmen. Eine naturgetreue Kopie von Mom ist wohl das Letzte, was die Welt gebraucht hat.

Neben den Nachrichten meiner Geschwister wären da auch noch die obligatorischen Memes und Gifs im Familienchat, die vor allem von meinen Brüdern Octavian und Caesar stammen. Sie verwenden nur Memes und Gifs, die unsere Familie zeigen, wovon es eine Menge gibt. Über zehn Jahre Reality-TV mit der Familie Carter haben viel Material geliefert.

Ich schließe den Chat, weil ich wirklich keinen Bock habe, mich mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Mein Vater hat es mit ein bisschen Diplomatie probiert: Du bist spät dran. Wir warten alle auf dich. Bitte beeil dich.

Dieses Bitte zu tippen, muss ihm viel abverlangt haben. Bei uns Carters wird es eigentlich nie verwendet. Ich bin fast schon gerührt.

Doch meine Mutter hat es wohl am besten auf den Punkt gebracht. Ich habe gefühlt hundert Anrufe und Nachrichten nur von ihr erhalten. Zuerst sind sie noch harmlos, doch mit der Zeit hat sie die Geduld verloren, und die Anzahl der Ausrufe- und Fragezeichen steigert sich beständig. Mein persönlicher Favorit: Du bist so undankbar!!!!!! Hast du eine Ahnung, wie viel so ein Tag am Set kostet????? Hier hängen sehr viele Arbeitsplätze dran!!!!! Leute verlassen sich auf dich!!!!!!

Hinter jedem Buchstaben und jedem Satzzeichen kann ich die Panik erahnen, die sie schon seit Monaten nicht mehr loslässt. Aphrodite ist gegangen und ist nicht zurückgekehrt. Sie hat ihr Leben ohne die Hilfe unserer Familie auf die Reihe bekommen. Nun spürt Mom ihre Macht schwinden und ist noch perfektionistischer, noch manipulativer und noch verbissener geworden.

Ich lese weiter. Es folgen Drohungen, was ich mir anzuhören habe, sobald ich es wieder wage, ihr unter die Augen zu treten. Es sind wütende Nachrichten. Aber sie wären wesentlich wütender, wenn sie wüsste, dass ich nicht einfach einen Drehtag geschwänzt habe. Sie denkt vermutlich, ich hätte mich betrunken, würde irgendwo meinen Rausch ausschlafen und morgen wieder auftauchen.

Doch das werde ich nicht.

Ich habe nicht vor zurückzukehren.

Als ich schon glaube, diese Textnachrichtenflut gut verkraftet zu haben, fällt mein Blick auf einen anderen Namen. Meine Hand zittert.

Lass uns reden. Bitte erzähl ihm nichts davon.

Ein bitterer Geschmack legt sich auf meine Zunge. Ich erinnere mich an unsere letzte Begegnung und wie übel mir danach gewesen ist. Mein ganzes Leben habe ich mit meiner Familie in dieser Villa in Beverly Hills gelebt. Ich war von so vielen Seiten von Falschheit umgeben, dass ich sie gar nicht mehr erkennen konnte. Bis ich gesehen habe, wie sich ein Mensch verändert, sobald er einen Fuß über unsere Schwelle setzt …

Nein, ich werde jetzt nicht daran denken. Das ist einer der tausend Gründe, warum ich dieses Leben nicht länger leben kann.

Ich bin das Ergebnis, wenn die Sängerin einer One-Hit-Wonder-Girlgroup aus den 90er-Jahren und ein gescheiterter Schauspieler den fatalen Fehler begehen, eine Familie zu gründen. Ich bin das Kind zweier Menschen, die sich so verzweifelt an den Rest ihrer Berühmtheit geklammert haben, dass sie ihre Seelen und die Privatsphäre ihrer Kinder ans Reality-TV verkauft haben, nur um im Gespräch zu bleiben.

Doch das wird mich nicht länger definieren.

Ich bin nicht länger Hadrian Carter. Ich bin einfach nur Adrian. Und es gibt keinen Weg zurück.

Noch habe ich keine Ahnung, wer Adrian ist, aber ich werde es herausfinden. Ich will endlich wissen, wie mein Leben aussieht, wenn es nicht von meiner Mutter fremdbestimmt wird. Ich will wissen, was ich wirklich mag und was ich hasse.

Doch all das werde ich nur herausfinden, wenn ich so viel Abstand wie möglich zwischen meine Familie und mich bringe.

Als ob ich mir noch einmal beweisen müsste, dass ich es wirklich ernst meine, lasse ich mein Handy zu Boden fallen. Der Bildschirm splittert. Ich trete nach, bis das Display für immer erlischt. Die Verbindung ist gekappt. Die wütenden Nachrichten meiner Familie werden mich nie wieder einholen können. Ich gehe zur Tür, werfe mir meine Reisetasche, in der sich alles befindet, was mir wichtig ist, über die Schulter und lasse das schmuddelige Motelzimmer und mein altes Leben zurück.

Okay, meine Freiheit mag nach Bleichmittel und Verzweiflung riechen, doch es ist ein Anfang.

Noch einmal atme ich tief durch. Dann schließe ich die Tür endgültig hinter mir.

Bye-bye L. A. Ich werde dich nicht vermissen.

2. KAPITEL

Alice

»Was soll das heißen, ich bin gefeuert?«

»Da du Journalistin bist, hatte ich eigentlich gehofft, dass du diesen einfachen Satz verstehen würdest.«

»Findest du das auch noch witzig?«, frage ich schrill. Meine Stimme klingt immer schrill, wenn ich mich aufrege. Deswegen klinge ich auch immer wie eine Hundepfeife, wenn ich in diesem Büro auf diesem Stuhl sitze. Ich räuspere mich, bevor ich weiterspreche. Dieser Mann hat mich noch nie ernst genommen. Wenn ich mich auch noch anhöre wie ein hysterischer Fan auf einem Konzert seiner Lieblingsband, wird mich das nicht professioneller rüberkommen lassen. »Ein bisschen mehr Mitgefühl hätte ich selbst dir zugetraut.«

»Dein wohl größter und fatalster Fehler.«

Darauf erwidere ich nichts. Ich habe das Gefühl, dass alles, was ich jetzt sagen könnte, die Situation nur verschlimmern würde. Also nehme ich mir ein paar Sekunden, um mich zu sammeln.

Ich kann mich kaum noch an den Menschen erinnern, der ich vor einem Jahr gewesen bin. Damals kam ich mit großen Augen und hoffnungsvollem Herzen in L. A. an, um eine erfolgreiche Journalistin zu werden. Ich war eine Idealistin.

Tja, meine Ideale sind allesamt im Ozean ertrunken. Und der Mann, der vor mir steht, ist derjenige, der sie so lange unter Wasser gehalten hat, bis sie nicht mehr zappeln konnten.

Okay, das war düster. Doch das sollte man mir in dieser Situation verzeihen können. Ich sitze hier schließlich im Büro meines Chefs – bald Ex-Chef, wie es aussieht – und stehe vor den Trümmern meiner Träume. Da können einem schon mal dunkle Gedanken kommen – oder auch Fantasien, wie man einen Mord begeht. Vorzugshalber an dem Typen vor mir, der nun auch noch die Dreistigkeit besitzt, mich breit anzugrinsen.

Ich wollte die Welt verändern. Doch nun trauere ich einem Job nach, der von mir verlangt hat, über die Cellulite-Hintern und die Smoothie-Diäten von irgendwelchen Stars zu schreiben. Ich bin eine Heuchlerin – und zu allem Überfluss auch noch eine schlechte Feministin.

»Warum bin ich gefeuert?«, frage ich, nachdem ich ein paar Mal tief durchgeamtet habe.

Sein Grinsen wird breiter. Wie ich diesen Mann hasse.

Elijah Bishop, Chefredakteur der Promiwebsite Day-to-Day-Gossip, sitzt nicht auf seinem Bürostuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs, wie jeder andere Chef es tun würde, wenn er einen Angestellten feuern muss. Nein, er lehnt lässig mit dem Hintern an seinem Schreibtisch und stützt sich mit beiden Armen an der Kante ab, als würde er für ein Fotoshooting posen. Und vor allem kann er so auch auf mich herabblicken.

Er lässt sich Zeit mit seiner Antwort. Er genießt diesen Moment wirklich viel zu sehr. Aber das sollte mich nicht überraschen. Immerhin arbeitet niemand zwanzig Jahre als Klatschreporter, wenn man anderen Menschen nicht gern eins reinwürgt. Für diesen Mann gibt es nichts Schöneres, als eine Schauspielerin öffentlich für jedes Kilo, das sie zunimmt, bloßzustellen und den letzten Alkoholskandal eines Sängers breitzutreten, egal, ob dieser Kinder hat oder nicht.

»Deine Artikel passen nicht zu unserer Marke. Die Leute lesen uns wegen unserer Ehrlichkeit.«

Er will wohl Aasgeier-Mentalität sagen, schießt es mir sofort durch den Kopf.

»Weil wir Journalisten sind«, redet er weiter.

Darüber lässt sich diskutieren.

»Die nicht vor den schwierigen Themen zurückschrecken.«

Wer sich in Hollywood gerade von wem scheiden lässt? Das sind die Themen, die die Welt bewegen, denke ich sarkastisch.

»Du willst einen Ton reinbringen, der unserer Leserschaft zu zensiert ist.« Damit spielt er wohl auf meine journalistische Integrität an. Er hat recht. Die sollte ich mir schleunigst abgewöhnen.

»Also setzt du mich auf die Straße«, stelle ich nüchtern fest.

»Aaaaalice«, beginnt er. Ich hasse es, wenn er meinen Namen so in die Länge zieht, als würde er sich dessen Klang auf der Zunge zergehen lassen. Es hat etwas Übergriffiges. Sofort rinnt mir ein kalter Schauer über den Rücken. »Sei ehrlich, du willst doch gar nicht hier sein.«

Das stimmt. Aber zu diesem Verlagshaus gehören auch Magazine und Zeitungen, hinter denen ich stehen kann. Diese Promiwebsite sollte nur mein Einstieg sein. Sie sollte mir andere Türen öffnen. Sie sollte mein erster Schritt sein auf dem Weg zur investigativen Journalistin, zu meiner ersten großen Enthüllungsstory, zu meinem Pulitzer-Preis. Doch die Realität sieht natürlich mal wieder anders aus.

Und wenn ich diese Stelle verliere, werden sich alle diese Türen nicht für mich öffnen, sondern sich noch fester verschließen. Und ohne Job habe ich bald kein Dach mehr über dem Kopf. Ich brauche das Geld. Dringend.

Also werde ich jetzt wohl meine Selbstachtung vergessen müssen und um meine Anstellung betteln, obwohl ich sie verabscheue.

»Gib mir noch eine Chance, mich zu beweisen.« Schon wieder ist meine Stimme schrill. Furchtbar.

Elijah reagiert nicht sofort auf diese Aussage. Er beobachtet mich nur. Kritisch zieht er die Augenbrauen zusammen. Das heißt, dass ich noch nicht genug gebettelt habe.

Ich wünschte sehr, dass ich es nicht nötig hätte, vor einem Arschloch im unvorteilhaften Anzug im Staub zu kriechen. Allerdings habe ich niemanden, der mich auffängt, wenn ich auf meinem Weg hinauf zu meinem Traum auf den rutschigen Treppen stolpere und falle. Wenn ich falle, dann lande ich auf dem Boden – und der Aufprall wird hart sein.

Also schlucke ich, schiebe mir eine Strähne aus dem Gesicht und setze mich ein bisschen gerader hin. Er will, dass ich bettle, also werde ich das wohl oder übel tun.

»Bitte. Noch eine Chance. Du weißt, dass ich gut und gründlich arbeite. Ich arbeite mehr als alle anderen in diesem Laden. Gib mir noch eine Chance. Und wenn ich sie verpatze, gehe ich ohne Murren.« Diese Worte scheinen sich wie heiße Kohlen durch meine Zunge zu brennen.

Langsam stößt sich Elijah von der Kante ab und läuft mit langen, aber sehr bedächtigen Schritten um seinen Schreibtisch herum. Sein Blick schweift über mich und über die protzige Einrichtung seines Büros, dessen Wände mit Bildern tapeziert sind, die ihn mit dem Arm um die wichtigsten Hollywood-Stars unserer Zeit zeigen. Doch inzwischen habe ich die Vermutung, dass die Bilder nicht wegen der Schauspieler, Regisseure, Sänger und It-Girls hier hängen, sondern damit ihn sein eigenes Gesicht aus hundert verschiedenen Bilderrahmen entgegenlacht.

Schnell schaue ich woanders hin, da es mir vollkommen ausreicht, sein schmieriges Grinsen nur einmal zu sehen.

Elijah lässt sich auf seinen Stuhl fallen. Endlich trennt uns der Schreibtisch voneinander, doch das kann meine überspannten Nerven auch nicht beruhigen. Denn er hat den Kopf leicht zur Seite geneigt, seine Augenbrauen so weit zusammengezogen, dass sie sich fast High five geben, und fixiert mich. Unruhig rutsche ich auf dem Stuhl herum, der so viel unbequemer aussieht als der Ohrensessel, in dem er sitzt. Dieser Blick verheißt nie etwas Gutes. Er bedeutet, dass Elijah eine Chance sieht, noch einmal nachzutreten. Dann legt sich ein Lächeln auf seine Lippen. Was für ein gruseliger Anblick. Doch er erklärt mir nicht sofort, welcher diabolische Plan ihm so eine große Freude bereitet, weil er diesen Moment genießen will. Er wird meine Nervosität in sich aufsaugen und aufbewahren für die schlechten Tage, an denen er niemanden zum Weinen bringen konnte.

Wieder bewegt er sich nur mit seinen für ihn typischen langsamen und sehr bedachten Gesten. Er greift sich eine der tausend Zeitschriften, die immer auf seinem Schreibtisch liegen, und wirft sie mir schwungvoll in den Schoß. Unkommentiert natürlich. Abwartend sieht er mich an. Mir bleibt nichts anderes übrig, als bei seinem komischen Theaterstück mitzuspielen. Also nehme ich das Magazin in die Hand. Auf der Titelseite prangt die gleiche Schlagzeile, die auch bei Day-to-Day-Gossip seit über einer Woche jeden Tag auf der Website steht, weil dieses Land besessen von dieser Geschichte ist.

WO IST HADRIAN CARTER?

Unter dieser Headline grinst einem der jüngste Sohn des Carter-Clans entgegen. Wie alle Mitglieder seiner Familie hat er schwarzes volles Haar. Sein Bart ist gepflegt. Seine Zähne sind unnatürlich weiß. Sein Lächeln künstlich. Alles, wie es sich für einen Reality-TV-Star eben gehört.

Neben seinem Kopf wird die große Story, die diese Zeitschrift erzählen wird, angepriesen. Doch ich muss sie nicht aufschlagen, um zu wissen, dass sie auch keine neuen Informationen haben. Dort werden die gleichen Theorien und tausend Fragezeichen hinter jeder Spekulation stehen, die auch auf unserer Website zu finden sind.

Seit über einer Woche fragt sich jeder Celebrity-Experte, was mit Hadrian Carter passiert ist. Es hat alles mit der Meldung begonnen, dass es Probleme beim Dreh der neuesten Staffel Catching up with the Carters gab. Irgendein Assistent von einem Assistenten hatte an die Presse durchsickern lassen, dass Hadrian Carter unauffindbar war. Diese Nachricht hat sich in Rekordgeschwindigkeit auf allen sozialen Medien ausgebreitet. Seine Fanclubs hatten schnell die wildesten Theorien parat. Hat seine Abwesenheit mit den Gerüchten um seine Trennung von der Schauspielerin Rachel Hanson zu tun? Sind es Drogen? Alkohol? Familienquerelen? Hat er gesundheitliche Probleme, die der Öffentlichkeit vorenthalten werden? Und auf einmal wurde eine Familie, die ihr Privatleben sonst so bereitwillig mit der ganzen Welt teilt, auffällig still. Das hat die Spekulationen nur noch wilder werden lassen, denn das letzte Mal, als es in der berüchtigten Villa in Beverly Hills so ruhig wurde, ist ein anderes Mitglied des Clans einfach verschwunden. Vor einigen Monaten ist seine Schwester Aphrodite ausgezogen, und es wurde bekannt, dass sie nicht an das Set ihrer Familie zurückkehren würde. Die Gerüchteküche brodelte. Als dann auch noch herauskam, dass sie mit Garett Edwards zusammen ist, der doch eigentlich eine Beziehung mit Katherine O’Connell führt, haben sich die Schlagzeilen überschlagen. Nicht zum ersten Mal waren Promiredakteure für die Existenz von Aphrodite Carter, die ihnen so zuverlässig Geschichten liefert, dankbar.

Mehrere anonyme Quellen, die behauptet haben, am Set der Show zu arbeiten, sprachen von Bildmaterial der Cross-over-Folge der beiden Reality-TV-Familien, das unter Verschluss gehalten wird, da es die Familienoberhäupter nicht gut dastehen ließe. Doch niemand hat es gesehen. Obwohl Elijah wirklich alles versucht hat, um es in seine gierigen Finger zu bekommen. Aber nach vielen Wochen voller recycelter Schlagzeilen und Artikeln, die doch nichts Neues zu berichten hatten, mussten alle einsehen, dass die Familien sich nicht äußern würden und dass Aphrodite Carter und Garett Edwards ein neues Leben begonnen hatten, das Klatschreporter einfach nicht mehr glücklich machen kann.

Dass ich all das weiß, steigert den Frust auf meinen sinnlosen Job nur noch mehr.

Während Elijah seine Unwissenheit über Aphrodite schon richtig geärgert hat, ist er von Hadrians Geschichte regelrecht besessen. Noch so eine Story kann er sich nicht entgehen lassen. Das widerspricht vermutlich seinen Prinzipien, sollte er denn welche haben.

Deswegen haben die meisten Redakteure von Day-to-Day-Gossip, mich eingeschlossen, die letzte Woche damit verbracht, die Instagram-Storys und Twitteraccounts von allen Carter-Geschwistern zu sichten. Und zu meinem Leidwesen sind es verdammt viele Geschwister. Hera, Demeter, Aphrodite, Athena, Caesar und Octavian. Ich werde nie verstehen, warum ausgerechnet Mike und Evelyn Carter, Menschen, die im Fernsehen über die sexuellen Abenteuer ihrer wilden Jugendjahre, ihr letztes Bikiniwaxing und ihre Lieblingssextoys reden, ihre Töchter nach Göttinnen der griechischen Mythologie und ihre Söhne nach römischen Kaisern benannt haben.

»Was soll ich damit?«, frage ich und werfe die Zeitschrift zurück auf den Schreibtisch. »Die Geschichte ist doch inzwischen schon uralt. Alle Artikel drehen sich nur im Kreis und immer um die gleichen Fragen.«

Elijah grinst mindestens so breit wie ein kleines Kind am Weihnachtsmorgen. »Ich will, dass du mir die Antworten auf diese Fragen besorgst. Ich will, dass du Hadrian Carter findest.«

Mein Herz rast. »Das soll wohl ein Witz sein. Wie soll ich das denn bitte anstellen? Selbst die widerwärtigsten Paparazzi, die diese Stadt zu bieten hat, haben nicht ein Foto von ihm kriegen können.« Meine Stimme hat schon wieder eine Frequenz erreicht, die Glas zerspringen lassen kann.

Dieser überhebliche Gesichtsausdruck, mit dem Elijah mich nun bedenkt, ist der schmierigste, den ich bisher von ihm gesehen habe. Was wirklich etwas heißen will.

»Du willst doch investigative Journalistin werden. Hier ist deine Chance zu beweisen, dass du es wirklich draufhast.«

Ich starre ihn immer noch völlig entsetzt an. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals wieder damit aufhören kann. »Du willst mich verarschen.«

»Nein, ich möchte diese Story.« Entschieden deutet er auf das Bild von Hadrian Carter. »Diese Familie hat einige Leichen im Keller, und ich habe es so satt, dass ich an manche davon nicht herankomme. Diese Leiche werde ich ausgraben und zu Tage befördern. Und du bist diejenige, die ich mit der Schaufel losschicke und die sich für mich die Hände schmutzig machen darf.« Er sieht mir direkt in die Augen, und das Funkeln in seinen lässt mich noch unwohler in meiner Haut fühlen. »Ich möchte diese Geschichte noch ein bisschen mehr, als ich dich loswerden will. Und verzweifelte Menschen bringen die besten Resultate. Verzweiflung macht kreativ. Also gebe ich dir hiermit die Chance, um die du so würdevoll gebettelt hast.«

Ich bin sprachlos.

»Und um es noch ein bisschen interessanter zu machen: Wenn du es schaffst, werde ich dich jeder Zeitung und jedem Medienunternehmen empfehlen, wo du hinwillst.«

Elijah Bishop mag ein verabscheuungswürdiger Mensch sein, doch in dieser Branche haben seine Worte Gewicht. Wenn er mich empfiehlt, ist mir ein Job sicher.

Ich schlucke schwer, dann blicke ich auf die Zeitschrift und meine unmögliche Aufgabe. Warum muss mich meine letzte Chance eigentlich so angrinsen? Warum muss ich einen Kerl suchen, der so viel Substanz hat wie die Zeitschriften, in denen er abgebildet ist? Warum nur befinde ich mich in dieser Situation?

»Ich habe jetzt einen Termin.« Mit seiner ungeduldigen Stimme reißt mich mein Noch-Chef aus meinen Gedanken. Ich frage mich, ob es nicht humaner von ihm gewesen wäre, mich einfach hier und jetzt zu entlassen. Mich von meinem Leid zu erlösen. Denn mit dieser Aufgabe hat er mir etwas ganz Gefährliches gegeben: Hoffnung.

Hoffnung, dass es doch noch einen Weg gibt. Hoffnung, dass ich meinen Traum doch noch erreichen kann.

Doch wenn Hoffnung zerbricht, wünscht man sich, man hätte sie niemals kennengelernt.

Wie in Trance erhebe ich mich und laufe zur Tür. Ich sage nicht, dass ich die Aufgabe annehme. Denn das ist überflüssig. Wir wissen beide, dass ich das tue. Daran ist das Miststück namens Hoffnung schuld.

Mein Blick fällt auf meine Hände. Ich habe schon wieder die Haut um meine Daumennägel abgeknibbelt. Das zeigt wohl sehr bildlich, wie groß mein Stresslevel in diesem Moment ist.

Als ich nach der Türklinke greife, hält mich Elijahs Stimme noch einmal zurück.

»Finde Hadrian Carter. Und wenn du keine Story mitbringst, brauchst du erst gar nicht wiederzukommen.«

Mit diesen aufmunternden Worten im Rücken verlasse ich sein Büro.

3. KAPITEL

Hadrian

Ich hatte damit gerechnet, dass mein Verschwinden in den Medien thematisiert werden würde. Aber ich hatte gehofft, dass sich der Rummel um mich nach einer Woche wieder beruhigt haben würde. Dass inzwischen wieder etwas Spannenderes geschehen wäre. Unserer Gesellschaft wird doch immer vorgeworfen, nur noch eine Aufmerksamkeitsspanne von ein paar Sekunden zu haben. Auf diese hatte ich eigentlich gesetzt – und habe mich damit offensichtlich verrechnet.

Denn mein Verschwinden ist immer noch das größte Thema in jeder Zeitschrift. Egal, an welchem Kiosk ich auch vorbeigehe, überall blickt mir mein Gesicht entgegen.

Inzwischen habe ich zwar ein neues Handy, doch ich habe mir noch keine neuen Accounts für Instagram und Twitter gemacht. Vermutlich, weil ich Angst davor habe, auch da überall dem Gesicht zu begegnen, das ich eigentlich ablegen wollte.

Schon seit Jahren träume ich von diesem Augenblick. Ich habe mir immer wieder ausgemalt, wie es sein würde, wenn ich endlich genug Mut zusammen haben würde, um abzuhauen. Ich musste meinen Mut genauso sammeln wie das Geld, das ich auf einem Konto liegen habe, von dem meine Eltern und Geschwister nichts wissen.

Ich habe aus Aphrodites Erfahrung gelernt. Nachdem unsere Mutter ihr Konto gesperrt hatte, über das sie genauso eine Vollmacht besitzt wie über meines, habe ich immer wieder kleinere Beträge von meinem auf ein neues überwiesen. Also muss ich mir wenigstens keine Gedanken um Geld machen. Aber um alles andere.

Wenn ich mir meinen Neuanfang vorgestellt habe, habe ich auf jeden Fall nicht so viele hässliche Tapeten gesehen wie in den letzten beiden Wochen. Ich habe die meiste Zeit in heruntergekommenen Motelzimmern verbracht, aus Angst, doch entdeckt zu werden.

Mein Plan war ziemlich simpel: Verstecken und Serien gucken, bis die erste Aufregung verflogen ist. Aber die flaut nicht ab, sondern scheint sich mit jedem Tag zu steigern.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das Aphrodite zu verdanken habe. Vermutlich hätten sich die Medien inzwischen wieder beruhigt, wenn sie nicht eine riesige Verschwörung wittern würden. Zwei Carter-Geschwister verlassen die Familie innerhalb eines halben Jahres – da muss doch mehr dahinterstecken. Wenn ich länger gewartet hätte, bis man auch Aphrodite wieder vergessen hätte, wäre der Trubel vielleicht nicht so schlimm gewesen. Aber ich konnte nicht warten. Nicht eine Sekunde länger habe ich es in diesem Haus ausgehalten.

Und obwohl mich das Motel, in dem ich untergekommen bin, nicht so sehr an ein Gefängnis erinnert wie die Villa, in der ich aufgewachsen bin, habe ich es in diesem Zimmer irgendwann auch nicht mehr ausgehalten. Hätte ich noch einmal die Snacks aus Süßigkeitenautomaten als Mahlzeit essen müssen, hätte ich geschrien.

Also habe ich mich das erste Mal seit meiner Flucht todesmutig vor die Tür gewagt. Auf die Straße. Die voll mit Menschen ist. Menschen, die mich erkennen könnten. Ich trage eine schwarze Sonnenbrille, einen schwarzen Hoodie und eine schwarze Baseballkappe. Ich sehe entweder aus wie ein Kerl, der gleich die nächste Bank ausraubt, oder … wie ein Promi, der nicht erkannt werden will. Fuck. Ich sollte meine Pläne wirklich besser durchdenken.

Meine Hände schwitzen. Ich spüre jeden noch so beiläufigen Blick, den mir ein Passant zuwirft. Schon läuft vor meinem inneren Auge ein Horrorszenario ab. Jemand deutet auf mich. Ruft meinen Namen. Alle sehen sich zu mir um. Handys werden gezückt. Fotos gemacht. Paparazzi fahren vor. Sie verfolgen mich. Ich muss mich in meinem Zimmer verschanzen. Auf die Hilfe meiner Eltern warten. Mich von ihnen aus dieser misslichen Lage retten lassen.

»Was darf’s denn sein?«

Irritiert hebe ich den Blick. Ich sitze in einem Diner. Und die Bedienung sieht mich abwartend an. Ich sehe auf die Karte hinab, die vor mir auf dem Tisch liegt. Dieses Horrorszenario hatte mich so fest gepackt, dass ich meine Umgebung kaum noch wahrgenommen habe. Nun höre ich wieder das Ächzen der Kaffeemaschine, die Gespräche der Menschen an den Nachbartischen, die Glocke über der Eingangstür. Ich rieche Frittiertes, frisch gebackenen Kuchen, das aufdringliche blumige Parfum der Kellnerin.

Niemand hat mich erkannt.

Ich seufze. »Tut mir leid«, sage ich verspätet. »Ich war in Gedanken. Ich muss mir die Karte erst ansehen.«

»Durchzechte Nacht?«, fragt die Kellnerin freundlich. Sie ist vielleicht Ende zwanzig und trägt eines dieser lächerlichen Fake-50er-Jahre-Outfits, die so bunt sind, dass sie meine Netzhaut überfordern. Aber ich bin wirklich der Letzte, der sich über lächerliche Outfits lustig machen darf. In welche Kostüme ich mich in meinem Leben schon zwängen musste …

»Mh?«, mache ich.

»Die Sonnenbrille«, sagt sie und lacht. Man merkt ihr an, dass ihre Freundlichkeit nicht aufgesetzt ist. Sie scheint ihren Job wirklich zu mögen. Gut für sie. »Wenn ich am Tag vorher getrunken habe, kann ich Licht auch nicht gut ertragen. Dann kriege ich sofort Kopfschmerzen.«

Schnell nicke ich. Sie hat mir eben die perfekte Ausrede geboten, um die Sonnenbrille auch im Diner aufzubehalten.

»Und im Motel Smith bekommst du vermutlich kein richtiges Katerfrühstück. Da holt man sich eine Lebensmittelvergiftung.« Sie deutet auf den Schlüssel meines Motelzimmers, den ich auf dem Tisch abgelegt habe. Am Schlüssel hängt eine große Plakette mit dem Logo des Motels. Obwohl die Kellnerin keine Reporterin ist, macht es mich sofort nervös, dass ihr das aufgefallen ist und sie nun weiß, wo ich zu finden bin. Doch ich zwinge mich, meine Paranoia in den Griff zu bekommen. Sie hat mich nicht erkannt. Und sie plappert einfach weiter, also hat sie das Motel vermutlich schon längst wieder vergessen. »Als Katerfrühstück kann ich unser Omelett mit Bratkartoffeln empfehlen. Viel Fett tut gut. Und dazu noch einen starken Kaffee?«

»Klingt gut«, antworte ich, gebe ihr die Speisekarte zurück und stecke den Schlüssel wieder ein. Sicher ist sicher. Er muss ja nicht noch einer weiteren Person auffallen.

»Kommt sofort.« Sie rauscht davon und lässt mich leider mit dem Gedankenkarussell in meinem Kopf allein. Es dreht sich so schnell, dass es mich fast herunterschleudert.

Ich blicke auf mein nagelneues Handy, auf dem zwar schon Apps installiert, aber noch keine eingerichtet sind. Es gibt nichts, was ich mir darauf anschauen könnte. Ich bekomme keine Nachrichten, weil niemand meine Nummer hat. Außer der Netzanbieter, der mich schon seit Tagen mit seinen neuesten Angeboten nervt. Aber ich kann ihm nicht ganz böse sein. Wenigstens bekomme ich so überhaupt Nachrichten.

Schon traurig, wenn man seinen Netzanbieter braucht, um sich nicht so einsam fühlen zu müssen.

Um mich abzulenken und damit mein Sperrbildschirm nicht mehr einfach nur schwarz ist, lade ich mir ein Foto von einem Van-Gogh-Gemälde runter, das einen Fluss in der Nacht zeigt. Das Bild habe ich schon immer gern betrachtet. Die Stimmung gefällt mir. Sobald ich es sehe, muss ich an entspannte Spaziergänge und Gelächter im Schutz der Dunkelheit denken. Es zeigt, wie ich mir meine Flucht vorgestellt habe.

Doch sobald das Hintergrundbild eingerichtet ist, kann es mich nicht mehr ablenken. Sofort fällt mir meine Browser-App ins Auge. Ich will der Versuchung widerstehen. Die letzten zwei Wochen habe ich es geschafft. Doch gerade bin ich zu schwach. Ich öffne den Browser und gebe meinen eigenen Namen in die Suche ein. Das ist in den meisten Situationen eine schlechte Idee. Aber für solche Gedanken ist es jetzt zu spät. Die 191 000 Suchergebnisse sind bereits auf meinem Handy eingetrudelt.

WO IST HADRIAN CARTER?

Dass die Antwort ein altes, heruntergekommenes Diner am Rande von Santa Clarita ist, wird bestimmt viele überraschen.

Ich nehme die Sonnenbrille ab, weil die Gläser fast so gut verdunkelt sind wie die Scheiben der Autos meiner Eltern. So kann ich die wilden Spekulationen nicht lesen, die sich die Menschen über mein Verschwinden zusammengereimt haben.

Sehr viele Leute fragen sich, ob mein Verschwinden mit Aphrodites Ausstieg zu tun hat und ob hinter verschlossenen Türen mehr bei Familie Carter abläuft, als der Öffentlichkeit gezeigt wird. Gute Frage.

Allerdings hören an diesem Punkt die Spekulationen natürlich nicht auf, einige stellen sogar eine Verbindung zu einer möglichen Trennung von Rachel her.

Mein Magen verkrampft sich zu einem Klumpen, sodass ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich mein »Katerfrühstück« überhaupt herunterbekommen werde

Ich klicke auf den nächsten Artikel. Ich will nicht, dass mir ihr lächelndes Gesicht entgegensieht.

Schnell habe ich mich auf den neuesten Stand gebracht und lasse langsam mein Handy sinken. Womit ich nicht gerechnet hätte, ist, dass meine Familie so still bleibt. Ganze Meldungen drehen sich um die Social-Media-Aktivität meiner Geschwister – beziehungsweise die Inaktivität.

Nachdem Aphrodite gegangen war, hat unsere Mom uns gezwungen, nichts Verdächtiges zu posten. Ich erinnere mich noch daran, dass sie alles überwacht hat, was wir veröffentlicht haben. Jeder Re-Tweet musste von ihr abgesegnet werden.

Dass die Posts meiner Geschwister nichts über mich verraten, überrascht mich also nicht. Was mich erstaunt, ist, dass sie so wenig posten. Mom scheint die gleiche Strategie wie damals zu fahren, nur noch viel extremer. Als hätte sie Angst davor, dass doch ein Tropfen Wahrheit an die Öffentlichkeit durchsickert, wenn sie ihren Kindern zu viel Freiheit gibt.

Selbst meine Schwester Demeter, die auf Instagram mit allen, die es interessiert oder auch nicht interessiert, ihr Leben als Mutter teilt, ist erstaunlich inaktiv. Um damit aufzuhören, täglich andere Mütter zu belehren, muss ihr Mom das Handy schon weggenommen haben. Was gar nicht so unwahrscheinlich ist. Diese Familie ist für sie wie die Crew eines Schiffs, und sie ist der unangefochtene Captain. Und ich habe gemeutert. Wenn man mich findet, wird es keine Gnade geben.

Die nette Kellnerin, auf deren Namensschild ich den Namen Rebecca lesen kann, bringt mir mein Frühstück, schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln und verschwindet wieder.

Mein Magen hatte sich beim Anblick von Rachel verkrampft, doch der Gedanke an Demeter, die auf eiskaltem Handyentzug ist, hat meinen Appetit zurückgebracht. Vielleicht riecht meine Freiheit nicht nur nach Bleichmittel, sondern auch nach frittiertem Essen.

Ich schaufle mir die Bratkartoffeln viel zu schnell hinein. Im Vergleich zu mir haben Höhlenmenschen so schick gegessen wie englische Aristokraten. Aber das ist mir egal. Nach Jahren mit strikten Ernährungsplänen und Trainingsregimenten sind meine Geschmacksnerven ausgehungert und verlangen nach allem, was ungesund, fettig und zuckrig ist. Und sie werden es bekommen. Ich weiß nicht, ob mir eine Mahlzeit jemals besser geschmeckt hat als diese.

Nur die heimlichen Mitternachtssnacks mit Athena kommen da ran. Nachts haben wir uns auf dem Dach vor ihrem Fenster getroffen, wenn alle anderen geschlafen haben. Sie hat immer mit irgendeinem neuen unerfahrenen Produktionsassistenten geflirtet, bis dieser ihr Süßigkeiten an das Set geschmuggelt hat. Die gute Schwester, die sie nun mal ist, hat sie immer bereitwillig mit mir geteilt. Sie hat sich schon immer so verhalten, als wäre sie die Ältere von uns beiden, obwohl es eigentlich andersherum ist.

Wenn ich an sie denke, werde ich wehmütig. Sie ist der einzige Mensch aus dieser Villa, den ich wirklich vermisse. Und wenn ich an sie denke, bekomme ich sofort ein schlechtes Gewissen. Ich weiß, dass sie sich Sorgen macht.

Energisch vertreibe ich Athena aus meinem Kopf. Ich kann mir ein schlechtes Gewissen nicht leisten. Es wird mich zurück zu meiner Familie führen.

»Hat’s geschmeckt?« Rebecca taucht wieder auf.

»Ja, vielen Dank. Gute Empfehlung.«

Sie räumt den Teller ab. Ich lasse kurz den Blick durchs Diner schweifen. Zwei Tische weiter sitzt eine Gruppe Jugendlicher. Einer sieht zu mir herüber. Seine Augen ruhen auf mir, und er neigt den Kopf zur Seite, als würde er nachdenken. Panik erfasst mich.

»Könnte ich zahlen?«, frage ich vielleicht ein bisschen zu schnell.

Rebecca nickt nur, kassiert mich ab und wünscht mir lächelnd noch einen wunderschönen Tag.

Ich zwinge mich zurückzulächeln, weil sie der erste Mensch ist, mit dem ich ein nettes, wenn auch kurzes Gespräch geführt habe, seitdem ich abgehauen bin. Rasch stehe ich auf, schnappe meine Sonnenbrille und gehe zur Tür. Eine Handykamera klickt. Ich wende mich um. Zum Tisch, an dem die Teenager sitzen. Einer von ihnen hält das Handy erhoben. Doch er richtet es auf seine Freunde. Ich ermahne mich, nicht so paranoid zu sein, setze meine Sonnenbrille wieder auf und verlasse das Diner. Mein viel zu schnell schlagendes Herz ignoriere ich einfach.

4. KAPITEL

Alice

Ich spüre deutlich, wie meine Gehirnzellen jämmerlich krepieren. Sie verabschieden sich. Eine nach der anderen. Noch einmal winken sie mir fröhlich, und dann sind sie auch schon verschwunden. Für immer.

Okay, vielleicht übertreibe ich ein bisschen. Aber nachdem ich innerhalb einer Woche fast alle Staffeln von Catching up with the Carters geguckt habe, nur im Bett gelegen und kein Tageslicht abbekommen habe, fühlt sich mein Kopf tatsächlich sehr seltsam an.

Ich hatte einen logischen Grund, mir das alles reinzuziehen: Wenn ich Hadrian Carter finden will, brauche ich Anhaltspunkte. Ich muss herausfinden, wie er tickt. Ich muss wissen, was er mag, was er hasst. Welche Orte ihm gefallen. Welche Motivation er haben könnte, von zu Hause abzuhauen.

Doch auch nach Stunden über Stunden mit Familie Carter in meinem kleinen WG-Zimmer bin ich nicht schlauer. Mein einziger Trost ist, dass ich mich in all meinen Vermutungen bestätigt fühle. Hadrian Carter ist ein oberflächlicher Promi, der vom wahren Leben keine Ahnung hat. Er macht unlustige Witze und hat eine Frauengeschichte nach der anderen am Laufen. Diese ganze Romantik, die Rachel Hanson und er vor der Kamera abgezogen haben, halte ich nicht für echt. Sie ist schließlich Schauspielerin – und keine schlechte, muss ich zugeben. Und er hat es quasi mit der Muttermilch eingeflößt bekommen, vor der Kamera gut lügen zu können.

Ich glaube sowieso, dass das meiste nicht real ist, was ich mir angesehen habe. Aber das hilft mir leider nicht weiter. Ich habe keine Ahnung, wo ich mit meiner Suche beginnen soll.

Ein bisschen zu grob reibe ich mir über die Augen. Ich habe viel zu lange auf den Bildschirm meines Laptops gestarrt. Energisch klappe ich ihn zu. Man muss sich Niederlagen eingestehen können. Elijah Bishop sitzt gerade bestimmt in seinem Büro und grinst übers ganze Gesicht, weil er meine Verzweiflung körperlich spüren kann. Deswegen findet er die meisten Skandale zuerst. Vermutlich funktioniert es über seinen Geruchssinn. Er kann Verzweiflung riechen, schließlich hat er auch äußerlich genug Ähnlichkeiten mit einem Trüffelschwein.

Ich hole mein Handy hervor und öffne Twitter. Das ist die einzige Plattform, auf der ich ab und an mal was poste. Wenn mir danach ist. Und heute ist mir danach.

Ich muss Hadrian Carter finden, sonst verliere ich meinen Job. Hinweise gerne an mich #catchhadriancarter

So langsam, als wäre ich in der letzten Woche um fünf Jahrzehnte gealtert, erhebe ich mich endlich von meinem Bett und schlurfe in die Küche. Hien sitzt an unserem winzigen Tisch, hat eine Tasse Kaffee in der einen und ein neues Skript in der anderen Hand. Im Gegensatz zu mir sieht sie richtig schick aus. Sie trägt einen engen Bleistiftrock und eine helle Bluse. Ihre schwarzen Haare, die ich ihr vor ein paar Wochen zu einem modischen Bob geschnitten habe, sind perfekt in Form geföhnt und glänzen richtig.

Hien ist das typische L. A.-Klischee. Sie kommt aus einer Kleinstadt in Neuengland, wo ihr an ihrer Highschool mit zweihundert Schülern jeder gesagt hat, dass sie die beste Schauspielerin ist, die sie jemals gesehen haben. Und dann ist sie nach ihrem Abschluss voller Hoffnung nach L. A. gekommen und dachte, sie würde nach zwei Wochen schon entdeckt werden und in ihrem ersten Film an der Seite von Leonardo DiCaprio mitspielen. Das ist nun auch schon vier Jahre her, und sie hält sich mit kleinen Werbespots und Jobs als Barkeeperin über Wasser.

Doch obwohl sie auch manchmal den Mut verliert, gibt sie nicht auf. Wir sind beide naiv in dieser Stadt angekommen und sind mit der Zeit zu Zynikerinnen geworden. Ja, genau das macht L. A. mit einem.

»Sie lebt noch«, sagt Hien grinsend, sobald ich die Küche betrete. Sie guckt kurz von ihrem Skript auf und mustert kritisch meinen Aufzug. Meine Haare habe ich mir unordentlich zusammengebunden. Aber es hängen mehr Strähnen heraus, als von dem Haargummi noch zusammengehalten werden, weil meine Haare zu kurz für einen stabilen Pferdeschwanz sind. Ich trage schon den fünften Tag in Folge die gleiche Jogginghose mit den weißen Farbsprenkeln, die daran erinnern, dass wir beim Einzug die Wände gestrichen haben, und auf meinem Stranger-Things-T-Shirt prangt ein Fleck, dessen Farbe ich nicht eindeutig einem Lebensmittel zuordnen kann. Ich sah schon mal besser aus. Allerdings habe ich noch nie viel davon gehalten, mein Elend zu verstecken. Eine ordentliche Schicht Make-up im Gesicht und ein Cocktailkleid am Körper wird auch nicht verdecken können, in was für einer misslichen Lage ich mich befinde.

»Die Betonung liegt auf noch«, erwidere ich, schütte mir Kaffee in eine Tasse und setze mich Hien gegenüber an den Tisch.

»Hat es dir irgendwas gebracht, die Show zu gucken?« Ihr aufmunternder Tonfall kann mir in den meisten Lagen helfen. Jetzt gerade leider nicht.

»Nö.«

Hien seufzt und klappt ihr Skript zu. Dass sie das macht, bedeutet, dass ich wirklich noch erbärmlicher aussehe, als ich mich fühle.

»Es muss doch eine Möglichkeit geben. Du kannst mich nicht verlassen. Was mache ich denn ohne dich?«

Ich greife nach ihren Händen. »Es wird schon.« Diese Worte auszusprechen, fällt mir auf einmal leichter, da ich nicht mich selbst, sondern jemand anderen aufmuntern soll.

»Sag das noch mal und diesmal mit mehr Überzeugung, dann glaube ich dir vielleicht sogar.«

Ein kleines Lächeln kann ich mir nicht verkneifen, aber dann muss ich schwer seufzen. »Ich kann nicht zurück nach Hause.« Allein bei dem Gedanken daran wird mir übel. Ich habe keine Ersparnisse, weil mein Gehalt nur knapp für die Miete dieser Bruchbude und Essen reicht. Egal, wie sparsam ich auch bin, am Ende des Monats habe ich immer nur wenige Cents übrig. Sobald mein Lohn nicht mehr überwiesen wird, habe ich ein riesiges Problem. »In Seattle regnet es die ganze Zeit.« Ich versuche mich an einem Scherz, obwohl wir beide wissen, dass das Wetter nicht der Grund ist, warum ich nicht zurückkehren will.

»Das wird schon«, sagt Hien, und da sie eine Schauspielerin ist, bin ich mir nicht sicher, ob die Zuversicht in ihrer Stimme aufrichtig ist. »Irgendein Reporter wird einen Hinweis finden, und der wird dir genügen, um den ganzen Fall zu lösen.«

Hien nennt es schon die ganze Zeit den Fall Hadrian Carter, als wäre er umgebracht worden und ich müsste seinen Mörder finden. Das liegt vermutlich daran, dass sie so oft für Nebenrollen in all diesen Shows vorspricht, deren Namen nur aus wenigen Buchstaben bestehen. Navy CIS. FBI. SWAT. Und was es sonst noch gibt. Ein paarmal war sie sogar schon ein Mordopfer oder die hysterische Freundin des Toten. Und ich finde, sie hat alles aus diesen Rollen herausgeholt. Selbst, wenn sie nur still in einem Leichensack gelegen hat. Wir haben bei jeder Sekunde, die sie im Fernsehen zu sehen war, laut gejubelt und Popcorn gegessen. Auch jeden meiner noch so unbedeutenden Artikel haben wir gefeiert. Ich glaube, dass diese Freundschaft der einzige Grund ist, warum wir beide noch nicht aufgegeben haben. Deswegen hat Hien vermutlich auch so große Angst. Ich könnte es auch nicht ertragen, auf einmal auf mich allein gestellt zu sein, sollte sie jemals in ihr Heimatnest zurückkehren.

»Hör auf, deine Hände zu quälen«, ermahnt sie mich auf einmal und schlägt auf meine Finger, wie sie es schon so oft getan hat. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich schon wieder mit dem Nagel Haut von meinen Fingern kratze. Ich tue das so unbewusst, dass ich es meistens erst spüre, wenn ich mir damit genug wehtue, dass ich ein bisschen blute.

»Hast du wenigstens ein paar Folgen The Newsroom geguckt?«, fragt Hien. »Das heitert dich immer auf.«

Sie kennt mich wirklich viel zu gut. Ständig zieht sie mich damit auf, dass ich diese Serie viel zu oft gucke. Natürlich ist es Ansichtssache, was »zu oft« bedeutet. Aber wenn ich ehrlich bin, ist meine Liebe zu dieser Serie wirklich ein bisschen besorgniserregend. Wenn ich einen schlechten Tag hatte, schaue ich sie mir an, und sofort geht es mir besser.

Doch gerade zweifle ich stark daran, dass das funktionieren würde. Diese Serie hat mich vor Jahren inspiriert, Journalistin werden zu wollen. Aber sie jetzt zu gucken, während alle meine Träume vor meinen Augen verpuffen wie die Fata Morgana, die sie nun einmal immer waren, wäre zu schmerzhaft.

»Gerade kann ich nichts mehr gucken. Ich habe viel zu lange auf einen Bildschirm gestarrt«, sage ich also und hoffe, dass Hien nicht hört, wie belegt meine Stimme ist. »Aber ich gehe mal raus. Ich war schon viel zu lange nicht mehr an der frischen Luft.«

»Gute Idee«, meint Hien. »Du bist schon leichenblass.«

Ich funkle sie gespielt wütend an, drücke aber noch einmal ihre Hand, bevor ich sie mit ihrem Skript in der Küche allein lasse.

Mein Spaziergang hat meinen Kopf leider nicht klar gemacht. Auch die zündende Idee, die die Lösung all meiner Probleme bedeutet, habe ich nicht gefunden. Die Wirkung von frischer Luft wird definitiv überschätzt.

Ich habe nur wieder festgestellt, dass in Los Angeles immer alle zu fröhlich aussehen, obwohl ich aus eigener Erfahrung weiß, dass es den meisten Menschen in dieser Stadt beschissen geht. Hier ist alles Show.

Auch der Sonnenschein nervt mich. Das schlechte Wetter in Seattle war ehrlicher. Echter. Glaubhafter.

Ich setze mich auf eine Bank in der Nähe des Strandes. Das Rauschen des Meeres kann meine Gedanken nicht beruhigen, sondern bewirkt nur das Gegenteil. Es macht mich wütender.

Zögerlich hole ich mein Handy hervor. Und noch zögerlicher öffne ich mein Adressbuch und starre auf die Namen meiner Familie. Wenn mein Leben hier implodiert, wird mir nichts anderes übrig bleiben als zurückzukriechen.

Mein Daumen schwebt drohend über dem Anrufbutton. Ich kann es genauso gut jetzt hinter mich bringen. Vielleicht ist die Realität gar nicht so schlimm wie das, was ich mir gerade in den buntesten Farben ausmale, versuche ich mir einzureden, obwohl ich genau weiß, dass es nicht so ist. Trotzdem muss ich das Pflaster jetzt abreißen.

Aber bevor ich auf den grünen Hörer drücken kann, trudeln Benachrichtigungen von Twitter ein.

Ich bin dankbar für die Ablenkung. Das wird zwar nichts an der Tatsache ändern, dass ich früher oder später werde anrufen müssen, aber ein paar Minuten Schonfrist sind mir noch vergönnt.

Ich öffne Twitter. Und mein Atem stockt.

Das muss ich mir einbilden. Es ist unmöglich, dass ich in der letzten Stunde über tausend neue Follower bekommen habe. Ich hatte immer nur ein paar Hundert, die meisten ehemalige Kommilitonen. Plötzlich sind es fast zweitausend, und die Zahl steigt immer weiter. Alle paar Sekunden wird mir eine neue Benachrichtigung von Twitter angezeigt. Neue Follower. Neue Re-Tweets. Neue Nachrichtenanfragen im Chat.

Bevor ich endlich verstehe, was hier abgeht, vergehen noch einige Minuten. Mein Hashtag catchhadriancarter geht durch die Decke. Auf einmal ist er überall. Wildfremde Menschen markieren mich in ihren Tweets, in denen sie ihre Theorien über Hadrian Carters Verschwinden teilen. Die meisten Theorien sind natürlich völliger Unsinn. Er wurde entführt. Er hat sich einer Sekte angeschlossen. Er ist ins Kloster gegangen. Die einzige Verschwörungstheorie, die fehlt, ist, dass er von Aliens entführt wurde, weil sie auf dem Mars eine Reality-TV-Show starten wollen. Oh. Ich nehme das zurück. Auch die habe ich gefunden.

Es ist eine wahre Flut an Informationen, und jede ist überflüssiger als die davor.

Meine Hoffnung hatte schon wieder gewagt, sich in mir zu rekeln. Doch ich zwinge sie, sich wieder tief in meinem Inneren zu verkriechen. Ich habe die Twitter-Community um Hinweise gebeten, doch natürlich überhäuft sie mich nur mit Meinungen, die niemand hören wollte und die nur den Verfasser der Nachricht interessieren.

Die steigende Zahl meiner Follower wird mir auch nicht helfen. Elijah Bishop wird mich trotzdem feuern. Ich schinde nur Zeit. Ich muss der Wahrheit endlich ins Auge blicken und meine Familie um eine zweite Chance anbetteln. Nach meinem letzten Gespräch mit Elijah müsste man meinen, dass ich in dieser Art von Erniedrigung inzwischen Übung habe. Das macht es leider nicht weniger schmerzhaft.

Ich will die App schon wieder schließen, da fällt mein Blick auf ein Foto.

Meine Finger beginnen zu zittern und machen es mir schwer, den Tweet zu öffnen, in dem ich markiert wurde.

Dort steht unter dem Hashtag catchhadriancarter die Frage: Ist er das?

Ich traue mich kaum zu blinzeln, während ich das Bild vergrößere. Er sieht anders aus. Der Bart fehlt. Seine Haare werden von einem schwarzen Basecap verdeckt. Er blickt zu Boden. Aber ich habe auch die älteren Staffeln von Catching up with the Carters gesehen. Bevor Hadrian Carter Bartwuchs bekommen hat. Also weiß ich, wie sein Gesicht rasiert aussieht. Und dieses Gesicht starre ich gerade an. Das ist er. Ich weiß es einfach.

Hoffnung steigt in mir auf. Ich habe meinen ersten Hinweis. Ich sehe Hadrian Carter auf dem Foto so intensiv an, als wollte ich, dass er meinen Blick auf seiner Haut spüren kann. Und dann flüstere ich ganz leise mein Versprechen: »Ich werde dich finden.«

5. KAPITEL

Hadrian

Ich würde dieses öffentliche Telefon vermutlich auch nicht irritierter ansehen, wenn es eine Schaltfläche der NASA wäre. Solche Dinger gibt es noch? Ich dachte, die wären inzwischen genauso ausgestorben wie MP3-Player und Videotheken. Vermutlich ist das Exemplar vor mir das letzte seiner Art. Ganz langsam nähere ich mich ihm, als hätte ich Angst, es zu verschrecken.

Isolation tut mir nicht gut. Ich verhalte mich wirklich seltsam.

Die Kappe ziehe ich mir noch tiefer in die Stirn, krame aus meiner Hosentasche ein paar Münzen hervor und wähle die einzige Nummer, die ich auswendig weiß.

Das, was ich hier tue, ist nicht die beste Idee, die ich seit meiner Flucht hatte, aber mein schlechtes Gewissen fühlt sich jeden Morgen schwerer an als am Vortag. Und wenn ich es nicht loswerde, werde ich mich in ein paar Tagen gar nicht mehr bewegen können, weil es mich mit seinen Gewichten an der Stelle fixieren wird.

Ich hätte auch einfach mein neues Handy benutzen können, um sie anzurufen. Aber ich hatte mir vorgenommen, mit meiner neuen Nummer keinen Kontakt zu meiner Vergangenheit herzustellen. Zumindest nicht sofort. Außerdem habe ich die berechtigte Angst, dass unsere Mutter es irgendwie hinkriegt, alle Handys in der Villa zu hacken. So haben wir es uns, als wir noch Teenager waren, erklärt, dass sie es immer geschafft hat, alles über uns zu wissen, was wir versucht haben, vor ihr zu verstecken.

Ich drücke mir den Hörer ein bisschen zu fest ans Ohr. Jeder Klingelton scheint lauter zu sein als der davor.

»Hallo?« Athena zieht das Wort in die Länge. Unbekannte Nummern auf ihrem Handy-Display machen sie misstrauisch. Verständlich. Wenn man bedenkt, dass sie ständig irgendwelche Fans blockieren muss, weil sie irgendwie ihre Nummer herausgefunden haben und sie nicht mehr in Ruhe lassen.

»Ich bin es.«

»Adrian?«, schreit sie viel zu laut ins Telefon.

»Sprich leiser oder willst du, dass Mom dich hört?«, fahre ich sie mit gesenkter Stimme an, obwohl ich derjenige von uns beiden bin, dessen Lautstärke keine Rolle spielt.

»Sorry«, murmelt sie. Sie bewegt sich zügig durchs Haus. Ich höre deutlich das laute Klacken, das ihre High Heels auf dem Marmorboden hervorrufen. Dieses Geräusch würde ich überall wiedererkennen. Und die Tatsache, dass sie hohe Schuhe trägt, heißt, dass vermutlich gleich wieder ein Dreh oder eine Veranstaltung ansteht, auf die sie keine Lust hat. Wenn es etwas gibt, das meine Schwester noch mehr hasst als Paparazzi und zuckerfreies Essen, dann sind es High Heels.

Das Klacken verstummt, dafür vernehme ich ein Quietschen. Sie muss das Fenster in ihrem Zimmer aufdrücken, denn es gibt nur eines in unserer ganzen Villa, das beim Öffnen dieses Geräusch macht. Ich spüre einen kleinen Stich in meiner Brust, als mir klar wird, dass Athena gerade auf den Dachvorsprung vor ihrem Fenster klettert, auf dem wir uns immer treffen, wenn uns der Trubel im Haus zu viel wird. Nun ist sie allein dort. Und ich bin nicht mehr da, um sie zurückzuziehen, wenn sie sich mal wieder zu nah an die Kante setzt.

»So, ich bin außer Hörweite«, sagt sie und atmet laut ein und aus, bevor sie weiterspricht. »Du bist einfach abgehauen.« Es sollte wie ein Vorwurf klingen, aber ihre Anerkennung und ihr Lächeln sind nicht zu überhören. Innerlich seufze ich erleichtert. Ich hatte Angst, dass sie mir das nicht vergeben würde. »Ich bin einfach abgehauen«, wiederhole ich, weil mir einfach nichts Besseres einfällt. Ich habe tagelang darüber nachgedacht, ob ich sie tatsächlich anrufen sollte und nun, da es so weit ist, kriege ich keinen sinnvollen Satz heraus. Typisch.

»Adrian?«, fragt sie vorsichtig und benutzt den Namen, den sie mir vor Jahren gegeben hat und den ich ab jetzt immer tragen werde.

»Ja?«

»Geht’s dir gut?«

Es ist wohl die banalste Frage auf der Welt. Wir benutzen sie jeden Tag so oft, dass sie schon vor Jahrzehnten jede Bedeutung verloren hat. Außer, wenn meine Schwester sie ausspricht.

»Ganz gut«, antworte ich. »Ich hatte gehofft, dass sich die Sache schneller erledigen würde.«

»Ja, die Medien haben sich ziemlich festgebissen.« Ich kann mir genau vorstellen, wie breit ihr Grinsen sein muss. »Mom ist am Ausrasten. Aber nicht die täglichen Ausraster, wenn man mal zu spät am Set ist oder sich weigert, ihren Unsinn mitzumachen. Nein, ich meine ein richtiger Evelyn-Carter-meine-Girlgroup-ist-gescheitert-nun-bin-ich-mit-undankbaren-Kindern-gestraft-Ausraster vom Feinsten. Und zwar mindestens alle zwanzig Minuten.«

»Tut mir leid, dass sie ihre Launen an euch auslässt.«

»Mach dir keinen Kopf«, wiegelt Athena ab. »Endlich passiert hier mal was.« Sie klingt locker, doch ich kaufe ihr diesen Tonfall nicht ab.

»Sei ehrlich«, sage ich.

Athena reagiert so lange nicht, dass ich schon glaube, sie hätte einfach aufgelegt.

»Ich bin neidisch.«

»Neidisch? Auf mich?«

»Nein, auf Demeter. Natürlich auf dich!« Ich spüre förmlich, dass sie noch weiter über den Vorsprung nach vorn krabbelt und ihre Beine über den Abgrund hängen lässt. »Aphrodite ist weg. Jetzt du auch noch. Ihr hattet den Mut, das zu tun, was ich mir schon vor Jahren vorgenommen habe. Du bist gegangen. Und ich bin noch hier.«

Mein Rachen wird staubtrocken. »Athena …«

»Nein, vergiss es«, unterbricht sie mich schnell. »Ich gönne es dir. Wirklich.« Das weiß ich, aber das heißt nicht, dass sie nicht auch ein bisschen sauer auf mich ist. »Und um den Medienrummel beneide ich dich nun wirklich nicht. Traust du dich überhaupt auf die Straße?«

»Nicht so oft, wie ich eigentlich wollen würde.«

»Das ist der Preis, den du zahlen musst«, erwidert sie pragmatisch. »Aber diese Twitteraktion ist echt übertrieben.«

»Welche Twitteraktion?«, hake ich nach.

»Du weißt nichts davon?«

Mir ist klar, dass meine Schwester gerade eins dieser Dinge anspricht, von denen man sich im Nachhinein immer wünscht, man hätte nie davon erfahren. Doch meine Neugier ist stärker.

»Offensichtlich nicht, sonst würde ich nicht fragen«, sage ich trocken. »Es ist was Schlimmes, oder?«

»Mh, weiß nicht, ob schlimm das richtige Wort ist. Viele würden es wohl als kreativ oder innovativ bezeichnen. Caesar, Octavian und ich finden es einfach nur unterhaltsam.« Sie macht eine kurze Pause. »Sorry für die Schadenfreude. Die sollte ich wohl eher auf Demeter umleiten, die seit einer Woche ihren Instagram-Account nicht mehr ohne Babysitter verwalten darf und deswegen täglich in die Villa fahren muss, um alles vorher von Mom gegenlesen zu lassen, weil sie fast eine Story über dein Verschwinden gepostet hätte. Ich sage dir, Mom war kurz davor, ihr geliebtes Smartphone im Pool zu versenken.«

»Athena, du kommst vom Thema ab«, sage ich ungeduldig, weil ich wissen muss, wovon sie spricht.

»Sorry«, meint sie. »Ganz Amerika sucht nach dir.«

»Das habe ich mitbekommen.«

»Nein, nicht einfach nur suchen, sondern so richtig suchen. Du bist quasi das Ziel einer Schnitzeljagd auf Twitter.«

»Kannst du dich auch klarer ausdrücken?« Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Schwester das inzwischen mit Absicht macht. Sie hat es schon immer genossen, meine Geduld überzustrapazieren.

Ich warte auf ihre Antwort, doch statt ihrer Stimme höre ich eine andere. Hektisch blicke ich über meine Schulter. So paranoid bin ich also schon – dass ich befürchte, dass meine Mutter gleichzeitig in L. A. und neben mir auf der Straße stehen kann.

»Ich komme schon, Mom«, ruft Athena. »Ich telefoniere nur mit einer Freundin.« Obwohl ich eigentlich wusste, dass meine Schwester mich nicht verraten würde, erleichtert es mich, diese Worte zu hören.

»Ich muss auflegen«, richtet sich Athena flüsternd an mich. »Ruf immer an, wenn du willst.« Wieder wendet sie sich an unsere Mutter. »Ich komme ja schon.« Dann wieder an mich. »Such einfach den Hashtag catchhadriancarter. Der erklärt sich von selbst.« Kurz stockt sie. »Und versprich mir eins.«

»Was?«

»Versteck dich nicht die ganze Zeit in Hotelzimmern. Du bist frei. Das musst du nutzen. Das schuldest du mir. Also mach das, was du schon seit Jahren tun willst. Schieb es nicht weiter auf.« Sie wartet meine Antwort nicht ab. Sie legt auf. Die Leitung ist tot, und ich bin wieder allein.

Ganz langsam und bedächtig lege ich den Hörer auf, als würde ein Teil von mir dieses Telefon tatsächlich für ein vom Aussterben bedrohtes Tier halten. Nur schwer kann ich ihm den Rücken zukehren und weitergehen, weil es sich ein bisschen so anfühlt, als würde ich das auch mit Athena tun.

Es war gleichzeitig schön und traurig, ihre Stimme zu hören. Weil diese Flucht nicht nur mein Traum war, sondern auch ihrer. Ich habe sie zurückgelassen, und uns beiden ist klar, dass sie nie das Gleiche getan hätte. Daran können auch ihre aufmunternden Worte nichts ändern.

Ich reiße mich endlich los und trete den Rückweg zum Motel an. An einem Kiosk stocke ich. Diesmal nicht, weil ich mir selbst mit einem aufgesetzten Lächeln entgegenblicke, sondern weil ich Landkarten entdeckt habe.

Athenas letzte Worte lassen mich nicht los.

Ich soll das tun, was ich schon seit Jahren tun will.

Sie hat recht. Wie so oft.

Also kaufe ich eine Landkarte, stecke sie mir in die hintere Hosentasche und setze mich in den nächsten Bus. Doch anstatt die Fahrt zu nutzen, um mir eine Route zurechtzulegen, hole ich mein Handy hervor. Denn es gibt noch eine weitere Aussage, die mich nicht loslässt.

Endlich bringe ich es über mich, einen neuen, anonymen Twitteraccount anzulegen. PeterParker321. Die Zahlen müssen leider sein, weil ich natürlich nicht der erste Kerl bin, der auf die bahnbrechende Idee gekommen ist, sich nach seinem Lieblingssuperhelden zu benennen.

Ich will den Hashtag, den Athena mir genannt hat, in die Suche eingeben. Doch das muss ich gar nicht. Er wird mir vorgeschlagen. So beliebt ist er.

Mein Herz hämmert viel zu schnell in meiner Brust. Ich scrolle durch die Beiträge. Mir wird nicht sofort klar, was das Besondere daran ist – bis ich das Foto entdecke.

Es zeigt mich, wie ich das Diner verlasse. Meine Kehle ist auf einmal zu eng, um zu schlucken oder zu atmen. Die Teenager haben doch ein Foto von mir gemacht. Und sie haben mich erkannt, obwohl ich alles getan habe, um mein Aussehen zu verändern.

Wut steigt in mir auf. Wer hat ihnen das Recht gegeben, mich zu verfolgen wie einen Verbrecher? Ich bin ein freier Mensch. Wie jeder andere auch. Ich gehöre nicht der Öffentlichkeit. Ich gehöre nur mir selbst.

Die Hand um mein Handy verkrampft sich so stark, dass ich spüre, wie sich die Kanten des Geräts schmerzhaft in meine Haut bohren, dennoch kann ich den Griff nicht lockern. Ich habe das unstillbare Bedürfnis, etwas kaputt zu machen.

Obwohl es mich vermutlich nicht besänftigen wird, schaue ich mir noch weitere Beiträge an. Bis ich auf den ersten stoße.

Ich muss Hadrian Carter finden, sonst verliere ich meinen Job. Hinweise gerne an mich #catchhadriancarter

Wütend starre ich auf das kleine Bildchen neben diesen Worten, die mir meinen Plan gehörig versauen.

Wer zur Hölle ist Alice Gold?

6. KAPITEL

Hadrian

Meine Sachen sind schon gepackt. Das heißt, ich habe die drei T-Shirts und zwei Jeans wieder in meinen Wanderrucksack gestopft. Das Packen hat mich genau zwanzig Sekunden gekostet. Dennoch sitze ich immer noch in diesem Motelzimmer, einem Ort, an dem niemand länger verweilen will als nötig, und komme nicht von der Stelle. Schon wieder.

Anstatt mich aufzuraffen, starre ich mein Handy an. Das mache ich schon viel zu lange. Obwohl ich das weiß, schaffe ich es doch nicht, es wegzulegen.

Alice Gold. So heißt die Frau, die mich verfolgt und mir mit ihrem Hashtag jeden Twitternutzer im ganzen Land auf den Hals gehetzt hat. Vielen Dank dafür. Nur weil sie für eine Gossipwebsite arbeitet, nennt man das nicht Stalking.

Da ich mir eingebildet habe, dass ich mich weniger ausgeliefert fühlen würde, wenn ich auch etwas über sie erfahre, habe ich sie gegoogelt – und erstaunlich wenig über sie herausgefunden. Nur Artikel, die sie im Laufe der Jahre geschrieben hat, wurden mir angezeigt. Aber die verraten ja nichts über sie, also habe ich mir nicht die Mühe gemacht, sie zu lesen. Auf ihren Social-Media-Seiten gibt sie nur wenig über sich preis. Das sollte mich nicht überraschen. Denn es ist ja klar, dass jemand, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, in die Privatsphäre anderer Menschen einzudringen, viel Wert auf seine eigene legt.

Wenn ich schon an diese verabscheuungswürdige Day-to-Day-Gossip-Seite denke, spüre ich, wie Wut in mir hochkocht. Ich kann mich gut daran erinnern, wie vor allem meine Schwestern unter den Artikeln gelitten haben, die auf solchen Seiten über sie veröffentlicht wurden. Aphrodites Beziehung zu Garett wurde zerfleischt, sobald die Presse Wind davon bekommen hat, und Day-to-Day-Gossip hat sich rege an den bösartigen Headlines beteiligt. Ohne zu wissen, was dahintersteckt, haben die Aasgeier, die bei solchen Websites und anderen Klatschzeitschriften arbeiten, über sie geurteilt, ihr vorgeworfen, Garetts Beziehung zu Katherine O’Connell zerstört zu haben, und sich mit ihren feindseligen Aussagen auf sie gestürzt.

Doch Garett und sie haben den Sturm ausgesessen und weil die Paparazzi keine Reaktionen von ihnen bekommen haben, egal, wie sehr sie sie provoziert haben, haben sie irgendwann auch von ihnen abgelassen.

Aber solche Skandale, die ihre Opfer wie ein Tsunami überrollen und drohen fortzuspülen, sind nicht der einzige Weg, den solche sogenannten Boulevardjournalisten nehmen, um das Selbstwertgefühl anderer Menschen zu untergraben, bis davon nichts mehr übrig bleibt. Vielleicht sind nicht einmal diese riesigen Unwetter das Schlimmste, sondern eher die Wellen, die kontinuierlich angespült werden. Die Artikel, die fast jeden Tag zu lesen sind. Die nicht so laut sind, aber trotzdem nicht überhörbar.

Ich musste Athena immer ihr Handy wegnehmen, wenn mal wieder irgendein Praktikant auf die beschissene Idee kam, eine Geschichte über die zwei Kilos zu schreiben, die sie zugenommen hat, oder die Cellulite, die sie – angeblich! – am Hintern hat. Den Schaden, den diese Menschen mit ihren Worten anrichten, bekommen sie in ihren Büros gar nicht mit. Sie wissen nicht, wie oft meine sonst so starke Schwester sich in den Schlaf geweint hat, weil sie schon wieder für ihr Aussehen kritisiert wurde. Sie wissen nicht, wie viele Stunden sie vorm Spiegel gestanden hat und sich für das gehasst hat, was sie gesehen hat.

Ich spüre wieder, wie ich mein Handy eine Spur zu fest drücke. Meine Hand schmerzt. Also zwinge ich mich, diese Gedanken zu vertreiben.

Wieder starre ich Alice Gold an, deren Foto ich auf meinem Handy geöffnet habe. Es hat mich überrascht, dass sie so jung aussieht, weil ich mir Klatschreporter komischerweise immer älter vorgestellt habe. Ihr Gesicht ist schmal, ihre Wangenknochen kantig, ihre Nase markant. Sie hat dunkelblonde Haare, die knapp nicht ihre Schultern berühren. Ihre Augen sind blau oder grün, je nachdem, ob ich ihr Twitter-Profilbild oder das Bild auf der Webseite von Day-to-Day-Gossip betrachte. Doch es sind nicht ihre Augen, die mich ihre Fotos mehrmals betrachten lassen. Es ist ihr Lächeln. Obwohl sie die Mundwinkel nach oben zieht, wirkt es nicht wie eins. Es ist irgendwie distanziert. Schwierig zu beschreiben.

Da sie auf Social Media so still ist, finde ich eigentlich nur auf der Website von Day-to-Day-Gossip Informationen über sie. Dort steht in einem kleinen Lebenslauf, dass sie in Seattle geboren wurde, nach ihrem Highschool-Abschluss ein Stipendium für Stanford bekommen hat – okay, ich gebe zu, ich bin ein bisschen beeindruckt, obwohl ich es definitiv nicht sein will – und nach ihrem Studium direkt bei Day-to-Day-Gossip angefangen hat. Von einer Standford-Absolventin hatte ich mehr erwartet.

Ich stöhne auf und sperre mein Handy. Ich habe mir ihr Bild und ihren Lebenslauf nun wirklich schon oft genug angeguckt. Es reicht jetzt. Ich schinde nur Zeit. Denn solange ich über Alice Gold nachdenke, muss ich mich nicht mit mir selbst und meiner Lage befassen. Aber wenn ich das noch länger vermeide, werde ich früher oder später mit der durchgesessenen Matratze, auf der ich sitze, zusammenwachsen.

Es steht also fest: Ich muss ganz dringend dieses deprimierende Zimmer verlassen. Aber bevor ich in den olivgrünen Jeep springen kann, den ich vor einer Woche bei einem mehr als windigen Autoverkäufer erstanden habe, brauche ich ein Ziel.

Wenn ich nicht einmal weiß, in welche Himmelsrichtung ich fahren will, brauche ich den Motor gar nicht anzulassen.

Selbst die Frage, ob ich nach der Ausfahrt nach rechts oder links abbiegen soll, überfordert mich.

Wer hätte gedacht, dass Freiheit so kompliziert und anstrengend sein könnte? Das sind so simple Fragen und doch sind sie zu viel für mich. Süden oder Norden? Snickers oder Mars zum Abendessen? So viele Möglichkeiten. Und ich habe nie gelernt, sie selbst auszuwählen.

Dass mein Leben fremdbestimmt war, wusste ich. Aber was das aus mir gemacht hat, wird mir erst jetzt klar. Wo ich in einem schmuddeligen Zimmer sitze und mich nicht fortbewegen kann, weil ich einfach keine Ahnung habe, was ich will.

Ich hole die Karte, die ich am Kiosk gekauft habe, aus meiner Hosentasche und breite sie vor mir aus. Ohne Athenas Hilfe wäre ich nicht einmal bis zu diesem Punkt gekommen.

Es ist erst wenige Stunden her, dass ich mit ihr gesprochen habe und doch würde ich sie am liebsten direkt wieder anrufen. Obwohl auch sie ohne freien Willen aufgewachsen ist, konnte sie mich in eine Richtung schubsen. Ich frage mich bestimmt schon zum hundertsten Mal in meinem Leben, warum sie, obwohl sie dreihundertneunundachtzig Tage weniger auf dieser Welt verbracht hat, so viel reifer ist.

Mit einem roten Stift markiere ich die Orte, von denen ich Athena schon erzähle, seit wir kleine Kinder waren. Ich wollte immer die Nationalparks sehen. Den Grand Canyon. Das Monument Valley. Es mag albern klingen, doch ich wollte mir immer das anschauen, was ich als das Gegenteil meines eigenen Lebens empfunden habe. Und eine Millionen Jahre alte Schlucht hat nun mal nichts mit Beverly Hills gemeinsam.

Obwohl ich über diese Orte schon seit Jahren nachdenke, habe ich erst einen Arschtritt von Athena gebraucht, um sie nun auch mit einem roten Marker auf einer Landkarte zu umkreisen. Da hätten wir ihn wieder – den lähmenden Nebeneffekt der Freiheit.

Doch Athena hat recht. Ich bin gegangen. Jetzt bin ich es ihr auch schuldig, meine Freiheit auszukosten und mich nicht länger von ihr einschüchtern zu lassen.

Also fahre ich mir durch meine Haare, die von meiner letzten Dusche noch feucht sind, setze mein Baseballcap auf und stehe endlich auf. Auch die Matratze, mit der ich zum Glück noch nicht zusammengewachsen bin, hindert mich nicht daran. Dann schnappe ich mir meinen Rucksack vom Boden und stecke mein Handy in meine hintere Hosentasche. Noch einen Moment halte ich inne und betrachte die Karte. Sie erinnert mich an das öffentliche Telefon. Beide stammen definitiv aus einer anderen Zeit.

Ich falte sie wieder zusammen und werfe sie in den Mülleimer. Wem mache ich hier was vor? Ich kann keine Karten lesen. Ich werde sowieso mein Handynavi benutzen. Mit einer Karte würde ich nicht einmal den Weg von hier zum Highway finden, geschweige denn den fünfhundert Meilen entfernten Grand Canyon. Die Punkte zu umkreisen hatte eher eine symbolische Funktion. Ich fühle mich, als hätte ich mein Ziel nun klarer umrissen. Die Karte hat ihren Dienst getan.

Diesmal werfe ich keinen Blick zurück, als ich das Zimmer verlasse. Ich schließe einfach die Tür und laufe schnell die Treppe hinunter, die zum Parkplatz führt. Mein olivgrüner Jeep wartet schon auf mich. Er ist alt und rostig, aber genau das gefällt mir so gut an ihm. Ich habe in meinem Leben genug glänzende, teure Autos besessen. Sie haben keine Seele. Dieser Wagen trägt nicht nur mich und mein Gepäck mit sich herum, sondern auch die vielen Anekdoten und Geschichten, die seine vorherigen Besitzer mit ihm erlebt haben. Ich steige ein, werfe meinen Rucksack auf den Beifahrersitz und hole mein Smartphone hervor. Schnell gebe ich die Adresse ein, stecke das Handy an der Halterung an der Innenseite der Frontscheibe fest und parke aus. Mal wieder fühle ich mich, als stünde ich unter Strom. Doch diesmal fühlt es sich gut an. Ein neuer Abschnitt meiner Reise beginnt. Der bessere. Der so ist, wie ich mir meine Freiheit vorgestellt habe.

Grinsend steure ich auf die Ausfahrt des Parkplatzes zu. Ich kann meine Freiheit schon in den Fingerspitzen spüren. Riecht sie vielleicht nach Benzin und alten Ledersitzen?

Doch bevor ich mir diese Frage beantworten kann, läuft mir jemand vors Auto. Ich drücke gleichzeitig auf die Hupe und weiche aus. Es geht so schnell, dass ich die Person nicht richtig erkennen kann. Da bin ich auch schon an ihr vorbei. Nichts ist passiert. Trotzdem pocht mir mein Herz bis zum Hals. Vielleicht weiß ich nicht, wie meine Freiheit riecht. Aber sie fühlt sich auf jeden Fall an wie Adrenalin, das viel zu schnell durch meine Adern rauscht.

7. KAPITEL

Alice

»Du ziehst das wirklich durch.«

»Sieht ganz danach aus«, sage ich und nicke, obwohl mich Hien schwer durch die Telefonleitung sehen kann.

Ich sitze in meinem alten, blauen VW-Käfer, der schon längst nicht mehr für die Fahrt auf öffentlichen Straßen zugelassen sein sollte, und folge den Beschreibungen meines Handys durch Santa Clarita. Natürlich hat diese Schrottkarre keine Freisprechanlage, deswegen habe ich Hien einfach auf Lautsprecher gestellt, als sie mich während der Fahrt angerufen hat. Der Motor meines Autos dröhnt manchmal so laut, als wollte er sich über die Unverschämtheiten der jungen Fahrzeuge beschweren, die gar nicht mehr wissen, wie schwer das Leben sein kann mit ihren Sitzheizungen, Rückfahrkameras und Einparkhilfen. Deswegen verstehe ich Hien nur schwer.

»Wie hast du ihn jetzt eigentlich aufgespürt?«, fragt Hien.

Autor

Fam Schaper
<p>Fam Schaper beschäftigt sich schon ihr ganzes Leben mit Texten. Nach dem Schulabschluss arbeitete sie als Journalistin und machte neben ihrem Studium ein Volontariat bei einer Zeitung. Doch seit ihrer Kindheit lassen sie vor allem ihre eigenen Geschichten nicht los. Sie verlässt das Haus nie ohne ein Notizbuch, weil ihre...
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