Das Geheimnis der Devaneys

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Alice weiß, das gibt es nur einmal auf der Welt! Einen Mann sehen und die Magie des Augenblicks spüren: Patrick Devaney, groß, breitschultrig und mit einer faszinierend-düsteren Ausstrahlung. Sie will ihn! Bei einem Treffen auf seinem Hausboot geht Alice aufs Ganze - allerdings ohne Erfolg! Patrick küsst sie zärtlich, streichelt sie sanft, aber vor dem letzten Schritt scheut er zurück. Niedergeschlagen zweifelt Alice schon an ihrer Anziehungskraft. Sie ist fest entschlossen, Patrick zu vergessen. Erst als sie von einer Freundin erfährt, dass Patrick sie liebt, aber glaubt, sich niemals binden zu können, keimt Hoffnung in Alice auf. Das dunkle Geheimnis der Devaneys wird ihr Glück nicht zerstören!


  • Erscheinungstag 22.04.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777241
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

In diesem Jahr machte sich der Frühling erst spät in Widow’s Cove bemerkbar. Ausnahmsweise hatte Alice Newberry jedoch nichts dagegen. Die frostigen Temperaturen, der eisige Wind, der vom Atlantik herüberwehte, und der kahle, gefrorene Boden passten viel besser zu ihrer deprimierten Stimmung als warme Frühlingssonne. In den vergangenen Monaten hatte sich tief in ihrem Innern ein quälendes Schuldgefühl eingenistet. Kalt und gefühllos war ihr Herz gewesen und hatte nicht verzeihen wollen.

Sie hatte sich jedoch fest vorgenommen, daran zu arbeiten. Im Grunde genommen war sie nur deshalb in das malerische Fischerstädtchen in Maine zurückgekommen, wo ihre weiblichen Vorfahren ihre Ehemänner oft an die See hatten verloren geben müssen. Vor acht Jahren war sie im Streit mit ihren Eltern davongerannt. Sie war wild entschlossen gewesen, ihren eigenen Weg zu gehen. Ohne jede Hilfe.

Und sie hatte es geschafft. Sie war Erzieherin geworden und unterrichtete seit einigen Jahren die Vorschulklasse im Kindergarten. Es machte ihr viel Freude, sich um die Kinder anderer Leute zu kümmern. Sie hatte angenommen, dass ihr noch reichlich Zeit bleiben würde, sich wieder mit ihren Eltern zu versöhnen, bevor sie eine eigene Familie gründete.

Aber vor knapp einem Jahr, es war eine stürmische Sommernacht gewesen, waren John und Diana Newberry bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Ihr Wagen war auf der regennassen Fahrbahn ins Schleudern geraten und über einen steilen Abhang ins Meer gestürzt. Als die Polizei ihr die Todesnachricht überbracht hatte, war Alice so erschüttert gewesen wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ihre Eltern waren tot. Die Chance auf eine Versöhnung war für immer verspielt, und was hatte sie ihren Eltern nicht alles sagen wollen!

Nie würde Alice es sich verzeihen, dass ihre Eltern im Augenblick des Todes vermutlich nur an die hasserfüllten Worte hatten denken können, die sie ihnen damals, vor acht Jahren, an den Kopf geworfen hatte. Wenn sie überhaupt einen Gedanken an sie verschwendet hatten …

Tag und Nacht hatte sie sich mit dieser Frage herumgequält, und bei der Testamentseröffnung hatte sie endlich eine Antwort bekommen. John und Diana Newberry hatten ihrer „über alles geliebten Tochter“ das gesamte Vermögen vermacht. Doch das hatte ihre Wunde nur noch weiter aufgerissen. Achtzehn Jahre lang war Alice der ganze Stolz ihrer Eltern gewesen. Nie hatte sie ihnen Kummer bereitet. Und dann war sie einfach abgehauen. Ihre Eltern waren von einem Tag auf den anderen vollkommen auf sich allein gestellt gewesen. Es gab niemanden, der sich um ihr Haus, ihren Garten und um ihre sonstigen Angelegenheiten gekümmert hatte. Alice musste sich mit dem Gedanken abfinden, dass ihre Eltern nicht nur allein, sondern auch einsam gewesen waren.

Am Ende des Schuljahres war Alice dann nach Widow’s Cove gefahren, um den Nachlass ihrer Eltern zu ordnen. Sie hatte viel Zeit in dem gemütlichen kleinen Haus am Rande der Klippen verbracht und ihren Blick nachdenklich über den Ozean schweifen lassen, um mit den Erinnerungen an ihre Eltern ins Reine zu kommen. Das galt vor allem für ihre überstürzte Abreise nach dem letzten Streit, damals vor vielen Jahren. In ein paar Wochen oder Monaten konnte das nicht gelingen, hatte sie im Juli vergangenen Jahres bemerkt. Also hatte sie sich als Erzieherin in Widow’s Cove beworben und war im August wieder ganz dorthin gezogen.

Jetzt war es Mitte April, und langsam wurde es Frühling. Die Bäume trugen Knospen, der Rasen färbte sich in kräftigem Grün, und die Narzissen wiegten sich in einer sanften Brise. Für Alice war es nicht leicht zu ertragen, dass die Natur langsam, aber sicher aus ihrem alljährlichen Winterschlaf erwachte, während sie sich immer noch unendlich einsam und schuldig fühlte.

Es kam noch schlimmer. Noch nie hatte sie ihre Vorschulgruppe so nervös und unruhig erlebt. Es schien, als wollten die Kinder Alice beweisen, dass das Frühlingsfieber auch sie gepackt hatte. Sie hatte zwei Ringkämpfe beenden müssen, hatte den Kindern eine Geschichte vorgelesen, hatte vergeblich versucht, sie noch vor dem Mittagessen zur Ruhe zu bringen und es schließlich aufgegeben. In dem Raum ihrer Gruppe herrschte ein ohrenbetäubender Lärm.

Verzweifelt versuchte sie es ein letztes Mal. Sie klatschte energisch in die Hände und verlangte lautstark nach Ruhe. Ohne Erfolg. Entschlossen ging sie zum schlimmsten Unruhestifter hinüber und schaute ihn böse an, bis der Junge sich ihr schuldbewusst zuwandte.

„Entschuldigung, Miss Newberry“, murmelte Ricky Foster mit gesenktem Blick. Prompt folgten die anderen Kinder seinem Beispiel und beruhigten sich.

„Vielen Dank, Ricky“, erwiderte Alice. „Heute ist ein wunderschöner Frühlingstag. Wie wäre es, wenn wir unser Mittagessen einpacken und einen kleinen Spaziergang machen?“

„Super!“ schrie Ricky auf und reckte seine kleine Faust impulsiv in die Luft.

Der Rest der Gruppe schloss sich ihm an, und spitze Begeisterungsschreie gellten Alice ins Ohr. Sie verspürte einen Ansatz von Kopfschmerzen, aber trotzdem musste sie über den Eifer der Kinder unwillkürlich lächeln.

„Okay“, fuhr sie fort. „Hört genau zu.“ Sie hob die Hand, spreizte die Finger ab und zählte auf. „Erstens. Wir bilden eine Reihe. Zweitens. Wir bleiben die ganze Zeit zusammen. Niemand entfernt sich von der Gruppe. Drittens. Wir gehen in den Park und essen dort unser Mittagessen. Danach kommen wir hierher zurück. Viertens. Niemand rennt. Keine Balgereien. Fünftens. Wenn irgendjemand gegen die Regeln verstößt, kehren wir sofort um. Haben wir uns verstanden?“

Die Kinder hatten aufmerksam und mit ernster Miene zugehört. „Ja, Ma’am“, sagten sie wie aus einem Munde und nickten zustimmend.

Alice wusste genau, dass die Kleinen alles vergessen haben würden, sobald sie den ersten Schritt vor die Tür gemacht hatten. Aber sie wollte sich die Aussicht auf einen kurzen Ausflug nicht verderben lassen. Schließlich unterrichtete sie schon seit mehreren Jahren, und noch nie war es einem Fünfjährigen gelungen, sie auszutricksen. Jedenfalls nicht für lange.

„Dann stellt euch zu zweit auf. Ricky, ich möchte, dass du mit Francesca gehst.“

Unwillig verzog Ricky das Gesicht. Francesca war ein schüchternes Mädchen, das sich immer genau an die Anweisungen hielt. Alice erhoffte sich einen besänftigenden Einfluss auf den kleinen Raufbold.

Ricky musste sich die ganze Zeit über in der Nähe seiner Erzieherin aufhalten, und ohne Zwischenfälle gelangten sie in den Park, der nicht weit von der Schule entfernt lag. Die Kinder setzten sich an die Tische und machten sich über das Mittagessen her. Alice wandte das Gesicht der Sonne zu, schloss für einen Moment die Augen und hoffte, dass die warmen Strahlen ihre Kopfschmerzen ein bisschen lindern würden.

Es konnten höchstens ein paar Sekunden vergangen sein, als jemand aufgeregt an ihrem Ärmel zupfte. „Miss Newberry, Ricky ist verschwunden“, flüsterte Francesca ängstlich.

Alice schnellte hoch und ließ ihren Blick panisch durch den Park schweifen. Sie entdeckte den Jungen dabei, wie er geradewegs auf das Wasser zulief. Wie oft war den Kindern ausdrücklich eingeschärft worden, dass sie am Hafen absolut nichts zu suchen hatten!

„Ricky Foster, du kommst auf der Stelle zurück!“ Sie schrie, so laut sie konnte. Rickys Schritte verlangsamten sich. „Auf der Stelle!“ schrie sie nochmals.

Seine Schultern sackten sichtlich zusammen. Seufzend machte Ricky kehrt und trottete langsam zurück.

„Junger Mann, du weißt genau, was wir abgemacht haben“, begann sie streng und stützte die Hände in die Hüften. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“

„Die Fischerboote sind gerade eingelaufen. Ich wollte gucken, ob die Männer was gefangen haben.“ Ricky gab sich alle Mühe, vernünftig zu klingen. „Ich habe Francesca befohlen, den Mund zu halten, weil ich sofort wieder zurückkommen wollte.“ Mit grimmiger Miene wandte er sich an die Verräterin. „Warum hast du gequatscht?“

„Francesca hat genau das Richtige getan“, griff Alice ein, als sie sah, dass das Mädchen kurz davor war, in Tränen auszubrechen. „Das weißt du ganz genau, mein Lieber.“

„Aber es ist echt cool, wenn die Boote in den Hafen einlaufen“, meinte Ricky und warf Alice einen flehenden Blick zu. „Ich finde, dass wir alle zusammen hingehen sollten. Bestimmt lernen wir was über das Fischen.“

„Warum sollte ich dich auch noch dafür belohnen, dass du nicht gehorcht hast?“ hielt Alice dagegen.

„Ich will gar keine Belohnung“, meinte Ricky kleinlaut. „Aber du würdest die anderen bestrafen, wenn du uns nicht gehen lässt.“ Er schaute sie mit ernster Miene an. „Sie haben es nicht verdient, dass du sie bestrafst.“

Sie seufzte auf. „Da hast du Recht. Na schön. Wir werden zum Hafen gehen und uns die Fischerboote anschauen“, stimmte sie schließlich zu. Aber ein muss ich vorher klarstellen: „Wir gehen! Niemand rennt los. Haben wir uns verstanden?“

„Ja, Ma’am“, meinte Ricky und nickte eilfertig.

„Und die anderen?“

„Niemand rennt los“, wiederholte die Gruppe pflichtbewusst.

Zufrieden nahm sie zur Kenntnis, dass sie die Kinder wieder unter Kontrolle hatte. Die Kleinen warfen ihre Abfälle in die Mülleimer, stellten sich brav in Zweierreihen auf und warteten geduldig auf das Signal zum Abmarsch. Natürlich wusste Alice ganz genau, dass der Schein trog. Aber auf die Katastrophe, die sich anbahnte, war sie trotzdem nicht vorbereitet.

Irgendetwas hatte Ricky plötzlich entdeckt. Wie der Blitz rannte er los, und drei andere Kinder folgten ihm. Francesca fing sofort an zu weinen, während Alice Ricky vergeblich nachschrie, dass er auf der Stelle zur Gruppe zurückkehren solle. Ein paar Sekunden später hatte sie die Verfolgung aufgenommen. Der Rest der Gruppe heftete sich ihr an die Fersen. Offensichtlich waren die Kinder hellauf begeistert, dass sie rennen durften, ohne eine saftige Strafe fürchten zu müssen.

Warum geht in meinem Leben nur immer alles schief? schoss es Alice durch den Kopf, während sie den drei Ausbrechern und ihrem kleinen Anführer nachrannte. Warum habe ich bloß diesen Ausflug gemacht? Oder fing es schon an, als ich nach Widow’s Cove zurückgekehrt bin? Oder damals, als ich noch heftiger gegen meine Eltern rebelliert habe, als Ricky jetzt gegen mich rebelliert?

Wann auch immer es begonnen hatte, irgendwie wurde sie das dumpfe Gefühl nicht los, dass ihr Leben unaufhaltsam auf einen schrecklichen Abgrund zuraste. Und sie ahnte, dass alles noch viel schlimmer kommen würde.

Ein Dutzend kleiner Kinder stürmte über den wackligen, schmalen Steg direkt in die Katastrophe. Patrick Devaney hörte ihre entsetzten Schreie und sah gerade noch, wie ihr Anführer über eine Planke stolperte, die sich gelöst hatte, und kopfüber in den eiskalten, aufgewühlten Atlantik stürzte.

Patrick stieß einen deftigen Fluch aus. Ohne zu zögern, sprang er kopfüber ins Wasser, tauchte nach dem Jungen, zog ihn hoch und hatte ihn auf den Steg gesetzt, bevor das Kind überhaupt begriffen hatte, dass es beinahe ertrunken wäre.

Unwillkürlich wandte Patrick sich der Frau zu, die offensichtlich die Aufsicht über die Gruppe führte. „Was zum Teufel haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?“ herrschte er sie an.

Alice erstarrte. Sie war sichtlich schockiert. Die Röte schoss ihr in die Wangen, und es gelang ihr nicht, ihren Blick von Rickys Retter zu lösen. Der Mund stand ihr offen. Urplötzlich brach sie in Tränen aus. Patrick war vollkommen überrascht. Mühsam unterdrückte er einen weiteren Fluch. Beinahe war ein Kind ertrunken. Und jetzt auch noch diese heulende Frau.

Er seufzte laut auf, sprang an Deck seines Bootes, auf dem er auch wohnte, griff nach einer Decke und wickelte sie um den zitternden Jungen. Dann zog er sich das durchnässte Flanellhemd aus und streifte sich eine trockene Wolljacke über. Keine Sekunde ließ er den Jungen aus den Augen. Die heulende Frau dagegen, die für das ganze Desaster verantwortlich war, ignorierte er einfach.

„Alles in Ordnung, Kumpel?“ fragte Patrick den Jungen nach einer kurzen Weile.

Ricky riss die Augen auf und nickte. „Mir ist nur kalt“, erwiderte er zähneklappernd.

„Kein Wunder. Die Badesaison ist schließlich noch nicht eröffnet“, meinte Patrick trocken.

Ricky schaute seinen Retter ängstlich an. „Miss Newberry hat keine Schuld“, gestand er ängstlich. „Ich bin einfach abgehauen.“

Das zweite Kind meldete sich zu Wort. „Miss Newberry wird richtig wütend auf mich sein“, meinte der Junge zerknirscht. „Sie hat uns strikt verboten, einfach loszurennen. Wir sollten alle zusammen bleiben.“

Amüsiert biss Patrick sich auf die Lippen. „Und warum habt ihr nicht gehorcht?“

„Ich hatte es eben eilig“, erklärte Ricky ungeduldig.

Patrick begriff auf Anhieb, was der Junge ihm sagen wollte. Außerdem hatte er ihn erkannt. Es war der Sohn von Matt Foster. Matt rauschte ebenso rücksichtslos durchs Leben wie sein kleiner Sohn und brachte sich oft in riskante Situationen. „Du bist Ricky Foster, stimmts?“

„Jaaa“, bestätigte Ricky irritiert und nickte. „Woher weißt du das?“

„Dein Dad und ich sind zusammen zur Schule gegangen. Ich werde ihn jetzt mal anrufen und ihm erzählen, was passiert ist“, sagte Patrick. „Du musst nach Hause und dir trockene Kleidung anziehen.“

„Ich sorge dafür, dass er nach Hause gebracht wird“, griff Alice plötzlich ein. Krampfhaft versuchte sie, ihre Autorität als Aufsichtsperson wieder zu behaupten.

„Meinen Sie wirklich, dass Sie das durchnässte Kind nach Hause bringen und gleichzeitig ein Auge auf den Rest der Gruppe haben können?“ Patrick deutete mit einer Kopfbewegung auf die Meute, die in alle Himmelsrichtungen auseinander gestoben war. „Ich schlage vor, dass wir sie alle vorläufig ins Jess’s bringen. Da können sich die Kinder aufwärmen, während Sie Matt Foster anrufen und auf ihn warten“, schlug er vor und machte sich auf den Weg, ohne ihre Zustimmung abzuwarten. Ein fester Griff um seinen Oberarm ließ ihn stoppen.

„Ich glaube kaum, dass eine Hafenbar der richtige Aufenthaltsort für Fünfjährige ist“, widersprach Alice. „Vielleicht sollten wir die Gruppe besser in die Schule zurückbringen.“ Merkwürdigerweise schien ihr eigener Vorschlag sie nicht gerade zu begeistern.

Patrick verstand ihr Zögern nur zu gut. Die Direktorin Loretta Dowd war berüchtigt für ihre strenge und unnachsichtige Personalführung. „Miss Dowd ist doch über Ihren Ausflug informiert, oder?“ hakte er nach, weil er ahnte, dass Alices Entschluss zum Picknick im Park spontan gefallen sein musste. „Sicher haben Sie den Antrag zum Verlassen des Schulgrundstücks ordnungsgemäß ausgefüllt.“

Alice zuckte innerlich zusammen. „Nein“, gestand sie kleinlaut. „Ich muss Ihnen Recht geben. Wir sollten die Kinder zum Aufwärmen in die Bar bringen. Jedenfalls für ein paar Minuten.“

„Um diese Tageszeit wird dort nicht viel los sein“, tröstete er sie. „Die meisten Fischer sind schon seit Stunden wieder zurück. Und Sie wissen doch, wie gern Molly Kinder mag.“

Schon seit drei Generationen kehrten die Fischer von Widow’s Cove im Jess’s ein. Jess war schon seit langem verstorben, aber seine Enkelin Molly servierte das kühle Bier und die dampfend heiße Fischsuppe noch genauso wie ihr Großvater.

Als Patrick und Alice Newberry mit den Kindern die Bar betraten, stürzte Molly hinter der Theke hervor, warf einen Blick auf den tropfnassen Ricky und kümmerte sich sofort um ihn.

„Was um Himmels willen ist passiert?“ stieß sie entsetzt hervor und wischte die Frage gleich wieder beiseite. „Mach dir keine Sorgen, mein Junge. In zwei Minuten bekommst du eine heiße Schokolade.“ Stirnrunzelnd schaute sie Alice an. „Alice, du siehst grauenhaft aus. Setz dich, bevor du mir in Ohnmacht fällst. Patrick, bring die Kinder zur Ruhe. Und dann gehst du schleunigst nach Hause und ziehst dir trockene Hosen an. Vergiss nicht das warme Hemd unter der Jacke. Ich gehe schnell in die Küche und rufe Matt an, damit er vorbeikommt und Ricky abholt.“

Patrick kannte Molly ganz genau. Er wusste, dass es sinnlos war, sich ihren Befehlen zu widersetzen. Unwillkürlich fiel sein Blick auf Alice. Die Farbe war vollständig aus ihrem hübschen, herzförmigen Gesicht gewichen, und ihre braunen Locken waren vom Sturm völlig zerzaust. Es sprach Bände, dass sie noch keinen Versuch unternommen hatte, ihre wilde Mähne zu zähmen. Ihre Hände zitterten. Wahrscheinlich hat sie einen Schock erlitten, dachte er. Oder sie ist kurz davor. Er gab sich alle Mühe, sie nicht allzu sehr zu bemitleiden, denn schließlich hatte sie sich den Ärger selbst eingebrockt. Aber trotzdem war eine hilflose Frau in der Lage, sein Herz im Bruchteil einer Sekunde erobern. Normalerweise wusste er, wie er sich dagegen zur Wehr setzen konnte. Aber die Frau, die vor ihm stand, hatte ihn offenbar in einer besonders schwachen Sekunde erwischt.

Plötzlich bemerkte er, dass Alice Newberry ihn mit ernster Miene anschaute. In diesen goldbraunen Augen kann ein Mann glatt ertrinken, dachte er unwillkürlich, wenn er seine Gedanken nicht jederzeit fest im Griff hat.

„Ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt“, meinte Alice. „Sie haben Ricky das Leben gerettet. Ich weiß überhaupt nicht, was ich gemacht hätte, wenn Sie nicht in der Nähe gewesen wären.“

„Dann wären Sie ins Wasser gesprungen und hätten ihn gerettet“, entgegnete er schlicht.

Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. „Nein“, flüsterte sie lautlos. „Ich war wie erstarrt. Das ganze Geschehen zog wie in Zeitlupe an mir vorüber. Und ich war nicht in der Lage, auch nur den kleinen Finger zu rühren.“

„Sie waren nur für den Bruchteil einer Sekunde erstarrt“, korrigierte er sachlich. „Nur einen winzigen Augenblick lang. Aber lassen wir das. Ende gut, alles gut. Ricky wird gleich wieder in Form sein, sobald er aus den nassen Klamotten raus ist. Und Sie werden sich besser fühlen, wenn der Schock nachlässt.“

Überrascht schaute sie ihn an. „An der Anlegestelle haben Sie nicht so vernünftig gesprochen. Sie haben deftig geflucht und wollten wissen, was zum Teufel ich mir mit dem Ausflug eigentlich gedacht hatte.“

Er zuckte die Schultern. „Zu gegebener Zeit war das auch eine berechtigte Frage, finden Sie nicht?“ Aber jetzt war die Gefahr vorüber. Er hatte sich beruhigt, und langsam wurde ihm klar, dass er selbst an dem Unglück nicht ganz unschuldig war. „Es war außerdem auch mein Fehler“, fuhr er fort. „Seit ich die Anlegestelle gekauft habe, weiß ich, dass die Planke lose ist. Aber jedes Mal beim Einkaufen vergesse ich die Nägel. Und ich bin es einfach gewohnt, automatisch einen großen Bogen um das Brett zu machen. Sonst kommt ja niemand zu mir. Es ist ein privater Anleger.“

Wieder schien sie überrascht. „In Widow’s Cove?“

Patrick ärgerte sich über den leisen Vorwurf in ihrer Stimme. „Ich habe den Liegeplatz gekauft, teuer dafür bezahlt und Verbotsschilder aufgestellt. Warum sollte ich Unbefugten das Betreten meines Grundstücks nicht verbieten?“

„An solche Maßnahmen ist man in einem kleinen Städtchen wie Widow’s Cove einfach nicht gewöhnt“, erklärte sie. „Hier gibt es keine Verbotsschilder.“

„Ich mag es nicht, wenn man mich stört.“ Es geht sie einen feuchten Dreck an, dass ich mir mit den Schildern ganz bestimmte Leute vom Leib halten will, dachte Patrick. Wenn es alle anderen genauso abschreckt, umso besser.

Er ließ seinen Blick zur Tür schweifen und entdeckte Matt Foster, der gerade die Bar betrat. „Rickys Vater ist hier.“ Patrick gab sich keine Mühe, seine Erleichterung zu verbergen. „Ich werde ihm erklären, was passiert ist, und dann wieder auf mein Boot verschwinden.“

„Ich werde es ihm erklären“, beharrte Alice, hob entschlossen das Kinn und stand auf. „Ich bin schließlich verantwortlich für die Kinder.“

„Wie Sie meinen“, erwiderte er schulterzuckend. „Wenn ich Ihnen trotzdem noch einen Rat geben darf: Bevor Sie das nächste Mal mit den Kindern das Schulgelände verlassen, schalten Sie Ihr Gehirn ein. Oder halten Sie die Gruppe von meinem Privatgrundstück fern.“

Ihre Augen blitzten temperamentvoll auf. Es sah so aus, als wollte sie ihm eine passende Antwort geben, aber in Gegenwart der Kinder gelang es ihr, sich zu zügeln. „Das nächste Mal werde ich Ihren Rat ganz sicher beherzigen, Mr. Devaney.“

Patrick schüttelte unwillig den Kopf. „Das nächste Mal machen Sie mit Ihrer Bande gefälligst einen großen Bogen um meine Anlegestelle.“ Er gab sich keine Mühe mehr, freundlich zu klingen. „Und damit wir uns richtig verstehen, Miss Newberry. Das ist keine Bitte. Das ist ein Befehl.“

Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Bar. Ihr kleiner Temperamentsausbruch hatte ihn so aufgebracht, wie es schon lange niemandem mehr gelungen war. Er genoss das Gefühl einen Moment lang, um es dann entschlossen zu unterdrücken. Seine Reaktion bewies ihm nur, dass er sich von Alice Newberry tunlichst fern halten sollte. Wenn eine Frau ihn so schnell nervös machte, dann konnte das nur heißen, dass er zu lange auf weibliche Begleitung hatte verzichten müssen. Und die Kindergärtnerin mit dem hilflosen Blick war die Letzte, der er gestatten sollte, daran etwas zu ändern.

2. KAPITEL

Patrick stellte sich unter die heiße Dusche, zog sich in Windeseile trockene Kleidung an und fuhr in den Eisenwarenladen von Widow’s Cove. Nach der Tragödie, die ein Kind beinahe das Leben gekostet hatte, duldete die Reparatur der Planke keinen Aufschub mehr.

In dem altmodischen Laden stapelten sich Schrauben, Bolzen und Nägel jeder Größe vom Boden bis zur Decke. Patrick suchte sich die richtigen Nägel für die Planke heraus, klemmte sich passendes Bauholz für die anderen Bretter, die sich demnächst lösen würden, unter den Arm und ging damit zur Kasse.

Caleb Jenkins hatte den Laden vor fünfzig Jahren von seinem Vater übernommen und ihn seitdem nur zaghaft modernisiert, wenn man vom Warenangebot absah. Er nickte seinem Kunden zu und bemühte sich um ein freundliches Lächeln. „Hab mir schon gedacht, dass du vorbeikommst.“

„Wieso?“

„Hab gehört, was unten am Hafen passiert ist“, erklärte Caleb. „Das Brett ist schon lose, seit Red Foley die Anlegestelle vor dreißig Jahren gekauft hat. Hab ihm hundert Mal gesagt, dass die Sache gefährlich werden kann. Hätte es dir auch gesagt, wenn du dich hier mal eher hättest blicken lassen. Aber du lebst wie ein Mönch, seit du deine Familie verlassen hast und wieder in Widow’s Cove wohnst.“

Patricks Lächeln verschwand. Er hatte nicht die geringste Absicht, über seine Familie zu sprechen. Nicht mit Caleb, und nicht mit irgendjemand anderem. Er hatte seine Familie ein für alle Mal abgeschrieben, und die Gründe gingen niemanden etwas an. Mr. und Mrs. Devaney und sein Zwillingsbruder Daniel wohnten zwar nicht mehr direkt in Widow’s Cove, aber nur ungefähr dreißig Meilen entfernt. Und deshalb begegnete er manchmal Leuten, die Daniel und seine Eltern noch aus der Zeit kannten, in denen er mit seiner Familie in Widow’s Cove aufgewachsen und zur Schule gegangen war. Doch deswegen fühlte er sich noch lange nicht verpflichtet, seine Familienangelegenheiten mit fremden Leuten zu diskutieren.

Stattdessen konzentrierte Patrick sich auf den ersten Teil von Calebs Bemerkung. „Wahrscheinlich hätte ich auch nicht besser auf dich gehört als Red“, meinte er.

„Glaub ich dir aufs Wort“, bemerkte Caleb kopfschüttelnd. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass Alice Newberry die Sache gar nicht gut verkraftet hat.“

„Sie hat einen kleinen Schock, aber sie wird schon darüber hinwegkommen. Schließlich ist niemandem ernsthaft was zugestoßen.“

„Loretta wird das vermutlich anders sehen“, meinte Caleb und schüttelte wieder den Kopf. „Unbegreiflich, dass diese Frau jemals Direktorin der Grundschule werden konnte. Sie hat niemals einen guten Draht zu den Kindern gehabt. Man muss die Kleinen die Welt selbst erobern lassen, auch dann, wenn sie dabei ein paar Schrammen abbekommen. Und man muss das Leben nehmen, wie es ist. Oder was meinst du?“

Darüber hatte Patrick noch nie nachgedacht. Er hatte keine Kinder und hatte auch nicht vor, eine Familie zu gründen. „Du könntest Recht haben“, stimmte er zu, um die Unterhaltung zu beenden. Langsam dämmerte ihm, dass Caleb die Unterhaltung auf ein Thema bringen wollte, das ihm gar nicht in den Kram passte.

Unglücklicherweise ließ Caleb sich nicht entmutigen. „Vielleicht solltest du zur Schule gehen und ein Wort mit Loretta reden.“

Entsetzt riss Patrick die Augen auf. „Ich? Warum sollte ich mich da einmischen?“

„Du steckst mit drin“, erklärte Caleb. „Der Junge ist schließlich nur deshalb von deinem Steg gestürzt, weil du die Planke nicht erneuert hast. Außerdem sollte ein Mann einer Frau zur Seite stehen, wenn sie ihn braucht. Ohne Wenn und Aber.“

„Gut, ich werde darüber nachdenken“, meinte Patrick ausweichend. „Und wenn mir zu Ohren kommt, dass Miss Newberry auf meine Hilfe wirklich nicht verzichten kann, werde ich mit Loretta reden.“

„Ja, das wird wohl reichen.“ Caleb gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen.

„Ach, ich soll hier wohl alles stehen und liegen lassen und schnurstracks zur Schule rennen?“

Sofort hellte Calebs Miene sich auf. „Genau. Am besten, du lässt erst gar keine Missverständnisse aufkommen. Und grüß Loretta ganz herzlich von mir.“

„Ich habe doch noch gar nicht gesagt, dass ich zur Schule gehe“, entgegnete Patrick.

„Natürlich gehst du. Es sind nur zehn Minuten zu Fuß. Und es kostet dich nicht mehr als ein paar Minuten, Loretta die Sache zu erklären. In einer halben Stunde bist du zurück bei deinem Boot und kannst dich wieder verkriechen. Und du hast eine gute Tat getan.“

„Ich dachte, es wäre meine gute Tat gewesen, dass ich in den eiskalten Ozean gesprungen bin und dem Jungen das Leben gerettet habe“, murmelte Patrick grimmig.

Autor

Sherryl Woods
Über 110 Romane wurden seit 1982 von Sherryl Woods veröffentlicht. Ihre ersten Liebesromane kamen unter den Pseudonymen Alexandra Kirk und Suzanne Sherrill auf den Markt, erst seit 1985 schreibt sie unter ihrem richtigen Namen Sherryl Woods. Neben Liebesromanen gibt es auch zwei Krimiserien über die fiktiven Personen Molly DeWitt sowie...
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