Dein Kuss unterm Mistelzweig

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Weihnachten in der Familie, mit dem Mann, der Shannons Herz im Sturm erobert hat. Zärtlich küsst Alex sie unter dem Mistelzweig. Aber ist der attraktive Witwer wirklich schon bereit für eine neue Beziehung?


  • Erscheinungstag 10.10.2016
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499944
  • Seitenanzahl 123
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julianna Morris

Dein Kuss unterm Mistelzweig

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Elke Schuller

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Meet Me Under The Mistletoe

Copyright © 2005 by Julianna Morris

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises, Toronto

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Maya Gause

Titelabbildung: Harlequin Books S.A.

ISBN eBook 978-3-95649-994-4

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Shannon stellte das Auto auf dem Parkplatz vor der Post ab und nahm die Weihnachtskarten vom Beifahrersitz. Normalerweise hätte sie die vom Büro aus verschickt, aber sie hatte einige Tage freigenommen. Allerdings nur ungern.

Aus einem Geländewagen, der in der Nähe angehalten hatte, stieg gerade ihr neuer Nachbar aus. Sie hatte ihn erst einmal gesehen, wusste aber von der klatschsüchtigen Verwalterin der Reihenhaussiedlung einiges über ihn. Er hieß Dr. Alex McKenzie, war vierunddreißig und verwitwet. Zurzeit lehrte er als Dozent am College in Seattle sein Spezialfach Tiefbau.

Außerdem ist er unglaublich attraktiv, dachte Shannon und stieg aus.

„Jeremy, lass Mr. Tibbles im Wagen“, bat Alex McKenzie den Jungen im Kindersitz. Er löste den Sicherheitsgurt und half dem Kleinen, der ein abgewetztes Plüschkaninchen fest an die Brust presste, aus dem Auto.

Shannon wurde seltsam warm ums Herz, als sie den Jungen sah: eine Miniaturausgabe des Vaters und viel zu ernst für sein Alter.

„Es macht Mr. Tibbles sicher nichts aus, kurz allein zu bleiben“, drängte Dr. McKenzie.

Jeremy schüttelte den Kopf und drückte das Spielzeug noch fester an sich.

„Na gut!“ Seufzend strich sein Vater ihm über das dunkle Haar. „Bleib du hier stehen, während ich die Pakete hole.“

Kurz darauf manövrierte er den Kleinen sowie einen hohen Stapel Pakete zur Tür des Postamts.

Shannon lief ihnen nach. „Dr. McKenzie!“, rief sie. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“

Alex drehte sich um und sah eine umwerfend attraktive junge Frau mit kupferroten Haaren auf sich zukommen. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor, er wusste aber nicht, woher.

„Entschuldigen Sie, aber kennen wir uns?“, fragte er zögernd.

„Ich bin Shannon O’Rourke, Ihre Nachbarin“, stellte sie sich vor.

„Ach ja, richtig!“

Jetzt erinnerte er sich an den Tag, als er und Jeremy in der Reihenhaussiedlung eingezogen waren. Er hatte gerade mit den Möbelpackern geredet, als in der Auffahrt nebenan ein Auto anhielt. Eine Frau in einem weiten Mantel war ausgestiegen und hatte ihm kurz zugewinkt, bevor sie vor dem Regen ins Haus geflüchtet war. Unter der Kapuze hatte er nur einen Schimmer roter Haare wahrgenommen, dann war sie verschwunden.

Jetzt trug sie Designerjeans und einen Kaschmirpullover, ein Outfit, das ihre blendende Figur mit der schlanken Taille und den langen Beinen perfekt zur Geltung brachte.

Shannon O’Rourke wirkte sehr selbstsicher und lächelte ihn gewinnend an.

Eins der Päckchen glitt ihm aus der Hand, und sie fing es geschickt auf. „Lassen Sie mich Ihnen ein paar abnehmen“, bot sie an. Ohne auf seine Zustimmung zu warten, griff sie auch schon zu. „So, kommen Sie?“

Alex zog leicht die Brauen hoch. Schüchtern und zurückhaltend waren Begriffe, die anscheinend nicht zu ihrem Wortschatz gehörten.

Wortlos nahm er Jeremy bei der Hand und folgte Shannon.

Ihm graute vor dem bevorstehenden Weihnachtsfest. Wie sollte er seinem Sohn über diese Zeit hinweghelfen? Jeremy war erst vier, und er würde zum ersten Mal ohne seine Mutter feiern müssen. Ihr Tod im vergangenen Januar hatte eine riesige Lücke in sein Leben gerissen. Eine perfekte Mutter wie sie konnte unmöglich ersetzt werden.

Beim Gedanken an Kim wurde Alex von Trauer überwältigt. Sie war eine wunderbare Frau gewesen, sanft und verständnisvoll. Nachdem er selbst als Kind die Ehehölle seiner ständig streitenden Eltern miterlebt hatte, war ihm das wie ein besonderes Geschenk erschienen.

Ja, eine Liebe wie die zwischen ihm und Kim gab es nur einmal im Leben. Trotzdem hatte er seine Frau oft monatelang allein gelassen, um an Projekten im Ausland zu arbeiten.

Im Nachhinein bedauerte er jede Minute, die er nicht mit ihr verbracht hatte, aber wie so oft kam die Reue zu spät.

Shannon stieß die Tür zum Postamt mit der Hüfte auf und ließ ihren Nachbarn und seinen kleinen Sohn vorausgehen.

„Es wäre eigentlich meine Aufgabe, Ihnen die Tür aufzuhalten“, meinte Alex. „Aber vermutlich sind Sie eine moderne Frau, die auf so etwas keinen Wert legt.“

Sie wollte schlagfertig antworten, ließ es aber bleiben. An altmodischer Höflichkeit liegt mir tatsächlich nichts, aber was ist mir im Leben eigentlich wichtig? fragte sie sich.

Sie wollte sie selbst sein, was immer das genau bedeutete. Außerdem wollte sie sich verlieben und heiraten, aber in letzter Zeit war ihr Liebesleben praktisch auf Eis gelegt. Momentan fühlte sie sich, als würde ihr Leben im Leerlauf dahindümpeln, während es für alle anderen „volle Kraft voraus“ hieß.

„Na ja, mir ist beides recht“, antwortete Shannon schließlich ehrlich.

„Schön.“ Alex drückte die Schulter gegen die Tür, um sie aufzuhalten. „Bitte, Miss O’Rourke. Nach Ihnen.“

Da er jetzt dicht neben ihr stand, nahm sie den dezenten Duft seines Rasierwassers wahr – und plötzlich spürte sie ein erregendes Prickeln auf der Haut. Das gefiel ihr gar nicht. Sie wollte sich auf keinen Fall zu ihrem Nachbarn hingezogen fühlen. Alleinstehende Männer mit Kindern waren kompliziert. Man wusste nie genau, was sie von einer Frau wollten.

„Danke“, sagte Shannon und ging ins Postamt.

Vor dem Schalter stand eine lange Schlange von Leuten. Es würde also dauern, bis sie und Alex McKenzie an der Reihe waren, und das freute sie seltsamerweise.

Hatte sie jetzt völlig den Verstand verloren?

Ganz offensichtlich war er einer von diesen altmodischen Kavalieren wie ihre Brüder, die Frauen die Tür aufhielten und ihnen ins Auto halfen. Normalerweise machte sie um diese Art von Männern einen großen Bogen.

Im College hatte sie sich mit so einem Typen eingelassen, und er hatte ihr das Herz gebrochen. Mit der Begründung, er suche eine perfekte Hausfrau, wie seine Mutter eine war, hatte er ihr den Laufpass gegeben. Sie, Shannon O’Rourke, war alles andere als das. Ihr einziges kulinarisches Talent bestand darin, aus perfekten Zutaten Ungenießbares zu zaubern.

Als sie spürte, wie an ihrem Pullover gezupft wurde, blickte sie nach unten.

„Ich kann auch helfen“, bot Jeremy ihr an und zeigte auf die Päckchen, die sie noch in der Hand hatte.

„Ja, gern! Gib mir doch Mr. Tibbles zum Halten, dann hast du beide Hände frei. Er kann oben auf meiner Tasche sitzen, okay?“

Der Kleine betrachtete sie forschend. Offensichtlich wollte er sein Spielzeug nicht jedem beliebigen Menschen anvertrauen.

Sie beugte sich zu ihm hinunter und lächelte beruhigend. Noch gut konnte sie sich erinnern, wie sie sich mit acht Jahren gefühlt hatte, als ihr Vater gestorben war: traurig und verloren.

„Ich passe gut auf ihn auf. Großes Ehrenwort!“, versprach sie.

Nach einer gefühlten Ewigkeit nickte Jeremy. Er reichte ihr das Stoffkaninchen und nahm dafür zwei Päckchen in Empfang. Shannon setzte Mr. Tibbles so auf ihre Tasche, dass Jeremy ihn ständig im Auge behalten konnte. Dann erst bemerkte sie, wie erstaunt Alex McKenzie sie anblickte.

„Habe ich was falsch gemacht?“, fragte sie.

„Im Gegenteil! Ich habe Jeremy seit dem Tod seiner Mutter nicht von dem Spielzeug trennen können“, erklärte er leise. „Wie haben Sie das jetzt geschafft? Normalerweise lässt er das Kaninchen nur los, wenn er badet. Weil Mr. Tibbles wasserscheu ist, wie Jeremy behauptet. Sie können offensichtlich gut mit Kindern umgehen.“

Shannon schluckte verlegen. Was sie über Kinder wusste, passte auf die Rückseite einer Briefmarke.

„Na ja, ich mag Kinder eben“, erwiderte sie zögernd.

Das meinte sie ehrlich. Eines Tages würde sie gern welche haben. Bis dahin konzentrierte sie ihre Kinderliebe auf ihre Nichten und Neffen.

Alex schaute seinem Sohn nach. Jeremy steuerte auf einen Weihnachtsbaum zu, der in einer Ecke des Postamtes aufgestellt war. In den Augen des Mannes erkannte Shannon so viel Kummer, dass ihr die Kehle eng wurde. Jetzt vor Weihnachten vermisste er seine Frau bestimmt mehr denn je.

„Diese Zeit im Jahr muss für Sie besonders schwierig sein“, sagte sie leise.

„Ja. Vor allem für Jeremy. Seine Mutter hat zu Weihnachten mit ihm Kekse gebacken, mit ihm gebastelt, alles schön dekoriert und so. Ich kann ihm das nicht bieten.“

„Warum ist dem Jungen das Stoffkaninchen so wichtig?“, fragte Shannon.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht finden Sie es ja heraus?“

Sie zuckte die Schultern. Von Kindern verstand sie zwar nichts, aber sie wusste aus eigener Erfahrung, wie es war, seine Trauer in sich zu verschließen. Den Eindruck hatte sie auch bei Jeremy. Vielleicht konnte sie ihm helfen.

„Durch den Umzug ist bestimmt alles noch komplizierter geworden“, meinte sie mitfühlend. „Wenn ich etwas für Sie tun kann, sagen Sie es mir, Dr. McKenzie.“

„Danke für das freundliche Angebot, Miss O’Rourke“, erwiderte Alex höflich.

Sein Ton verriet, dass er nicht daran dachte, es jemals anzunehmen. Vielleicht hätte sie ausdrücklich anbieten sollen, auf Jeremy aufzupassen? Nein, zum Babysitter eignete sie sich nicht, egal wie nett der Junge war.

„Nennen Sie mich doch Shannon“, bat sie freundlich. „Niemand nennt mich Miss O’Rourke, außer um mich zu ärgern. Nicht einmal die Reporter sind bei Pressekonferenzen so altmodisch höflich.“

„Reden Sie oft mit Reportern?“

„Das gehört zu meinem Job. Ich bin die Public-Relations-Direktorin von O’Rourke Enterprises.“

„Ach so, Sie sind eine von diesen O’Rourkes“, bemerkte Alex.

Sie zog die Nase kraus. Ihr ältester Bruder Kane war ein begnadeter Geschäftsmann, der ein Vermögen erarbeitet hatte. Als einer der reichsten Männer des Landes hatte er mehr Aufmerksamkeit von der Presse erfahren als mancher Filmstar. Daher war der Familienname vielen geläufig, vor allem in der Gegend um Seattle.

„Entschuldigung“, murmelte Alex. „Sie haben diese Bemerkung sicher satt.“

Sein zögerndes Lächeln ließ ihr Herz schneller schlagen. Das war seltsam, denn er war so gar nicht der Typ Mann, für den sie sich sonst erwärmte.

„Na ja, manchmal schon“, gestand Shannon und rückte in der Schlange weiter zum Schalter vor.

Jeremy gesellte sich wieder zu ihnen. Ob er sich noch gut an seine Mutter erinnerte? Bestimmt litt er unter dem Gefühl, sie habe ihn im Stich gelassen. Kinder seines Alters verstanden ja noch nicht, dass Eltern nicht absichtlich starben.

„Wie ich gehört habe, unterrichten Sie am College, Dr. McKenzie. Mein Bruder Kane hätte auch gern studiert, aber er musste vor dem Abitur die Schule verlassen, um zu arbeiten.“

„Und ist so zum Milliardär geworden. Ein hartes Schicksal“, meinte Alex ironisch.

Shannon wurde wütend. Sie selbst konnte sich über ihre Brüder beschweren, so viel sie wollte, aber niemand anderes durfte Kane kritisieren. Er hatte alles für die Familie getan, sogar seine Träume aufgegeben. Dass er es dabei zum Milliardär gebracht hatte, bewies, wie intelligent und zielstrebig er war.

„Er ist brillant“, konterte sie kühl. „Bevor er heiratete, hat er vierzehn Stunden am Tag gearbeitet. Das ist nicht unbedingt ein bequemes Leben, oder? Das Geld wollte er für uns, seine Geschwister, verdienen. Mein Vater ist sehr früh gestorben. Kane wäre ein großartiger Ingenieur geworden. Er hat nur nie die Chance bekommen.“

Um Alex’ Mundwinkel zuckte es. Er hätte nie gedacht, dass diese temperamentvolle Rothaarige so frostig klingen und dreinblicken könnte. Sie war schön wie ein Model, aber wenn sie ihren Bruder verteidigte, wurde sie quasi zum Bullterrier, stellte er fest.

„Ich wollte Ihren Bruder nicht kritisieren“, erklärte er.

„Natürlich nicht.“ Sie wandte ihm den Rücken zu.

Alex seufzte leise. Frauen wie Shannon O’Rourke waren einfach zu sprunghaft für einen bodenständigen Mann wie ihn. Zu unberechenbar. Er mochte Formeln, Diagramme und alles, was sich zählen ließ. Alles, worauf man zählen konnte, konkretisierte er und schmunzelte über das Wortspiel. Das Leben war chaotisch genug.

Nach einer Weile waren sie endlich an der Reihe, der Schalterbeamtin die Post zu überreichen. Alex bemerkte, dass alle Umschläge von Shannon bereits frankiert waren. Sie hätte ihre Weihnachtskarten also gleich in den Kasten stecken können, statt zu warten.

„So, Jeremy, jetzt gebe ich dir Mr. Tibbles zurück und lasse euch allein.“ Sie reichte dem Jungen das Stoffkaninchen, das er nicht mehr ganz so fest wie sonst an sich drückte. Dann wandte sie sich um und ging zur Tür.

Nachdenklich blickte Alex ihr hinterher. Sein Sohn hatte noch nie jemanden so schnell akzeptiert. Ein Lächeln von Shannon hatte genügt, um ihr Mr. Tibbles zu überlassen.

„Bitte alles als Eilpost“, sagte Alex zur Schalterbeamtin und schob ihr seine Kreditkarte hin. „Bin sofort wieder da.“

Leises Murren erklang in der Reihe der hinter ihm wartenden Leute, aber er ignorierte es.

Am Ausgang holte er Shannon ein. „Miss O’Rourke! Ich meine, Shannon“, verbesserte er sich schnell.

„Oh, immer der vollendete Kavalier“, erwiderte sie. „Aber ich kann mir die Tür selber aufmachen.“

„Das wollte ich ja gar nicht.“

„Sie wollten mir nicht die Tür aufhalten?“, wiederholte sie.

Es klang beleidigt, und er stöhnte. „Nein, das heißt, doch, natürlich, aber …“

Zu spät entdeckte er den amüsierten Ausdruck in ihren grünen Augen und merkte, dass sie ihn zum Besten gehalten hatte. Sie hatte ihm also die Kritik an ihrem Bruder nicht übel genommen. Was immer ihre Fehler sein mochten, langes Schmollen gehörte offensichtlich nicht dazu.

„Und was möchten Sie von mir?“, erkundigte sie sich.

Er selber wollte gar nichts von ihr. Jeremy zuliebe wollte er allerdings das herzliche Einvernehmen zu seiner neuen Nachbarin nicht gefährden. Also war eine Entschuldigung angebracht.

„Es tut mir leid, dass ich Sie verärgert habe“, begann er. „Und ich weiß wirklich zu schätzen, wie nett Sie mit Jeremy umgegangen sind. Das ist alles.“

„Oh!“ Sie sah verwirrt aus.

Attraktiv und selbstbewusst, wie sie war, rechnete sie wahrscheinlich jetzt mit einer Verabredung, aber er hatte nicht die geringste Absicht, sich wieder auf eine Beziehung einzulassen. Schon gar nicht mit einer Frau wie Shannon O’Rourke. Seine Freunde und Kollegen behaupteten ständig, es sei nur eine Frage der Zeit, bis er eine Frau traf, mit der er so glücklich sein könne wie mit Kim.

Das glaubte er nicht.

Kim zu finden war reines Glück gewesen. Sie hatte ihn genommen, obwohl er mit seinem familiären Hintergrund alles andere als ein idealer Ehemann war. Seine Eltern hatten sich lange bekriegt, bevor sie sich endlich scheiden ließen. Lieber Himmel, wie er Streit und Handgreiflichkeiten zu hassen gelernt hatte.

„Hier warten auch noch andere darauf, ihre Post abgefertigt zu bekommen“, rief die Schalterbeamtin ihm leicht gereizt zu.

„Gehen Sie jetzt besser zurück“, empfahl Shannon und verließ das Postamt.

Er sah ihr nach und bewunderte den Schwung ihrer Hüften, dann atmete er tief durch. Kim war seit nahezu einem Jahr tot. Es gab keinen Grund für Schuldgefühle, nur weil ihm die Figur und der Gang einer anderen Frau gefielen.

Trotzdem hatte er jetzt ein schlechtes Gewissen.

Als vielsagendes Räuspern erklang, erinnerte er sich daran, weshalb er hier war, und eilte zum Schalter zurück. Die anderen Kunden applaudierten.

Nachdem alles erledigt war, ging er mit Jeremy wieder zum Parkplatz. Shannon saß in ihrem Wagen und wartete darauf, sich in den dichten Verkehr einfädeln zu können.

Der Junge sah ihr traurig nach, als sie davonfuhr. „Ich mag sie“, verkündete er.

„Ich weiß. Keine Sorge, du siehst Shannon bestimmt bald wieder. Sie wohnt doch direkt neben uns.“

„Aber du hast sie wütend gemacht.“ Jeremy seufzte wie ein Erwachsener.

Da hatte der Junge recht. Allerdings hatte Shannon die Bemerkung über ihren Bruder nicht lange übel genommen. Offensichtlich hatte sie Temperament und war ihrer Familie gegenüber sehr loyal.

Das kann ich von mir nicht behaupten, dachte Alex bedrückt. Er und seine beiden Geschwister waren damals Schachfiguren im Machtkampf der Eltern gewesen, und nun hatten sie einander seit Jahren nicht mehr gesehen. Dazu lebten sie zu weit auseinander. Sein Bruder erforschte in der Arktis die Klimaerwärmung, seine Schwester arbeitete in Japan. Sowohl der Vater als auch die Mutter hatten wieder geheiratet, doch auch von den neuen Partnern hatten sie sich scheiden lassen. Sie hassten sich noch immer mit einer Bitterkeit, die sogar die Luft um sie herum zu vergiften schien.

„Shannon ist nicht auf dich wütend“, beruhigte er Jeremy. „Also ist das okay.“

„Aber auf dich ist sie sauer“, beharrte der Kleine. Für ihn war das anscheinend ein echtes Problem.

Alex rieb sich den Nacken. „Stimmt, aber mach dir deswegen keine Sorgen.“

„Können wir ihr ein Weihnachtsgeschenk kaufen?“, schlug der Junge vor.

Ein Geschenk? Was kaufte man einer Frau, die bestimmt schon alles hatte?

„Okay, wir besorgen ihr einen Weihnachtsstern“, versprach Alex. Mit Pflanzen machte man so schnell nichts falsch, schon gar nicht jetzt vor Weihnachten. Sie konnte es als Geste der Entschuldigung auffassen für seine kritische Bemerkung über ihren Bruder.

Jeremy sah erleichtert aus. Auf dem Weg zum Auto blickte er in die Richtung, in die Shannon gefahren war. Statt Mr. Tibbles wie üblich eng an sich zu drücken, ließ er ihn locker an der Seite schwingen.

Alex seufzte leise. Er musste aufpassen. Wenn sie Shannon zu oft trafen, setzte Jeremy sich eventuell unmögliche Ideen wegen einer neuen Mum in den Kopf.

Shannon hatte offensichtlich einen eigenen Willen und eigene Meinungen, sie war also ganz anders als die sanfte und nachgiebige Kim. Seit er verwitwet war, hatte er sich gelegentlich mit Frauen verabredet, aber keine von ihnen sonderlich interessant gefunden.

Allerdings war keine von ihnen wie Shannon O’Rourke gewesen.

2. KAPITEL

Shannon legte die Tasche weg und schaltete die Lichter am Weihnachtsbaum ein.

„Babysitten, ich!“, sagte sie laut vor sich hin.

Sie musste vorhin kurzfristig verrückt gewesen sein, auch nur daran zu denken. Was verstand sie von Kindern? Nichts!

Sie war eben nicht der mütterliche Frauentyp. Sie konnte keine Windeln wechseln, ja nicht einmal eine Dose Suppe aufwärmen. Wahrscheinlich brauchte Jeremy in seinem Alter keine Windeln mehr, aber selbst da war sie sich nicht völlig sicher.

Wie alt waren ihre Nichten gewesen, als sie keine mehr brauchten? Sie konnte sich nicht erinnern.

Shannon setzte sich in den Sessel, griff nach dem Telefon und wählte die Nummer ihrer jüngsten Schwester.

„Hallo, Kathleen“, begann sie ohne langatmige Einleitung, „wann sind Amy und Peggy aufs Töpfchen gegangen?“

„Shannon? Bist du das?“

„Ja, klar. Also, wie alt waren deine Zwillinge damals?“

„Knapp zwei.“

Gut. Jeremy sah älter aus. Eigentlich war es ja egal, denn sein Vater hatte kein Interesse an ihr gezeigt und würde den Kontakt mit ihr bestimmt aufs Nötigste beschränken.

„Wieso fragst du überhaupt?“, erkundigte Kathleen sich.

„Nebenan ist ein kleiner Junge eingezogen. Er ist richtig süß. Da musste ich plötzlich an Windeln und so denken. Es hat nichts zu bedeuten. Ich war nur neugierig.“

„Ganz sicher?“

„Ja, klar.“ Shannon verabschiedete sich und legte auf.

Was ist nur in mich gefahren? fragte sie sich gereizt. Wahrscheinlich tickte ihre biologische Uhr und brachte sie dazu, dumme Fragen zu stellen. Wenn man wie sie achtundzwanzig Jahre alt und Single war, klang das Ticken manchmal schon ganz schön laut. Vor allem, da es nicht so aussah, als würde sie jemals den Richtigen zum Heiraten finden, wenn sie so weitermachte.

Kopfschüttelnd ging Shannon nach oben ins Schlafzimmer und zog sich um. Im Jogginganzug stieg sie aufs Laufband in dem kleinen Zimmer, das sie sich als Fitnessraum eingerichtet hatte, und fing an zu trainieren.

Mir geht es doch gut, sagte sie sich aufmunternd. Sie hatte eine großartige Familie, einen tollen Job und genug Geld. Wenn sie die große Liebe nicht fand, wäre das auch nicht das Ende der Welt. Natürlich war es schwer, das zu akzeptieren, wenn alle anderen in glücklichen Beziehungen lebten.

Na ja, ihr jüngster Bruder Connor war noch nicht vergeben, und ihre beiden Schwestern waren auch nicht verheiratet. Kathleen hatte sich scheiden lassen. Beim Gedanken an deren Exmann schnitt Shannon ein Gesicht. Es gab Schlimmeres, als Single zu sein. Zum Beispiel einen Ehemann zu haben, der einen betrog und dann sitzen ließ, wenn man im neunten Monat mit Zwillingen schwanger war.

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