Dem Himmel so nah

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Was für ein Mann! Es ist Liebe auf den ersten Blick für Renata, als sie im Himalaya dem faszinierenden Grant Fowler begegnet. In den schönsten Farben malt sie sich ihr künftiges Leben an seiner Seite aus. Da erfährt sie ausgerechnet nach der ersten Nacht in seinen Armen, dass er leidenschaftlicher Bergsteiger ist. Wie eine Seifenblase zerplatzt Renatas Traum vom Glück. Denn seit sie zwei geliebte Menschen an die Berge verlor, hat sie sich eins geschworen: Nie wieder will sie mit einem Mann zusammensein, der ständig in Gefahr schwebt …


  • Erscheinungstag 24.08.2008
  • Bandnummer 0020
  • ISBN / Artikelnummer 9783863493066
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Da war er wieder.

Der Lärm auf dem Marktplatz verstummte, das bunte Treiben verblasste, und Renata Armstrong blieb unwillkürlich stehen. Sie war so fasziniert, dass ihr nicht einmal auffiel, wie Karen in der Menge verschwand.

Ihn so bald wiederzusehen überraschte Renata nicht. Kathmandu war eine kleine Stadt, und Europäer vielen hier auf. Nein, es war ihre intensive Reaktion auf diesen Mann, die sie verwirrte. Aufregung überkam sie, zusammen mit einer befremdlichen Unruhe und einer Art Vorahnung. Fast war es, als würde der Fremde eine Bedrohung für sie darstellen.

Es war ein seltsames Gefühl, nach all der Zeit wieder etwas für einen Mann zu empfinden – sowohl erregend als auch unbehaglich. Als würde sie aus einem langen Kälteschlaf erwachen. Gleichzeitig fühlte Renata sich schuldig, so als würde sie einen Verrat begehen. Natürlich hatte sie immer gewusst, dass die Trauer eines Tages vorbei sein musste. Der Verlust blieb, doch der Schmerz ließ für einen Moment nach.

Es war nur natürlich. Sie war jung und gesund, und dieser Fremde zog die Blicke auf sich. Renata wusste, dass sie ihn anstarrte, doch sie konnte nichts dagegen tun. Die Gestalt in der engen Jeans und dem dunkelblauen Hemd war schlank und erweckte den Eindruck von beherrschter Kraft.

Eine Kraft, die in den breiten Schultern und den gebräunten Unterarmen zu erahnen war. Sein markantes Profil, gerahmt von dunklem Haar, war das eines Mannes, der sich seiner Macht voll und ganz bewusst war.

Fühlte sie sich deshalb bedroht? Er war ein Mann, der befahl, vielleicht sogar drohte. Mit Sicherheit war er ein fordernder Liebhaber …

Renata errötete prompt, weil ihre Gedanken auf ein solches Gebiet abschweiften. Der Mann war doch ein Fremder. Und dann war es, als könnte er ihre Gedanken lesen. Denn genau in diesem Moment drehte er sich um und sah zu ihr hin.

Genau wie gestern, beim Affentempel. Dunkelgraue Augen musterten Renata von Kopf bis Fuß, ungerührt von ihrer jähen Verlegenheit. Es war eine gründliche Musterung, ohne dabei unverschämt zu sein. Renata stockte der Atem, für einen Augenblick verspürte sie Panik, aber da gab es auch eine Art Erkennen. Das Blut floss schneller durch ihre Adern, als ihr bewusst wurde, dass er sie begehrenswert fand.

Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen. Volle, sinnliche Lippen, die Lippen eines leidenschaftlichen Liebhabers. Seine Energie schien auf sie überzufließen, sie zu umschließen und festzuhalten, ohne dass er sich einen Zentimeter von der Stelle gerührt hätte. Mühelos schlug er sie in seinen Bann, indem er einfach nur dort stand und sie anschaute.

Es war zu früh. Sie war nicht bereit dazu.

Entschlossen steckte Renata die Hände in die Taschen ihrer nepalesischen Seidenjacke und richtete sich kerzengerade auf. So einfach ließ sie sich nicht in Besitz nehmen! In ihre dunkelblauen Augen trat der Ausdruck von Abwehr, so viel sie aufbringen konnte, und dann wandte sie den Blick von ihm. Seine Reaktion erfolgte prompt: Ärger flackerte in seinen sturmgrauen Augen auf. Mit harter Miene nahm er ihre Weigerung zur Kenntnis, das spontane gegenseitige Erkennen zu akzeptieren. Und dies schon zum zweiten Mal.

Gestern war es inmitten des Schmutzes und Gestanks im Affentempel passiert. Der Affentempel war lange Zeit der letzte Rückzugsort der westlichen Hippie-Kultur gewesen, bis die nepalesische Regierung den Drogenkonsum endgültig verbot. Heute fanden hier arme Nepalesen einen Unterschlupf, und Renata kam öfter hierher, um Medizin für ein Baby zu bringen, auch wenn sie es geheim hielt. Ihr grauste bei dem Gedanken, man könne sie für eine barmherzige Samariterin halten.

Diese erste Begegnung mit diesem Mann war ebenso stumm und intensiv gewesen wie die heutige und hatte ebenso geendet. Schon gestern hatte Renata Stunden gebraucht, um die Gedanken an den Fremden zu verdrängen. Tausend Fragen hatten sie bestürmt. Wer war er? Woher kam er? Was tat er hier in Kathmandu? Ja selbst, ob eine Frau an seine Seite gehörte, hatte sie sich gefragt. Gestern war er mit einem Begleiter unterwegs gewesen, ein junger Mann mit auffallend hellen blauen Augen, der eine teure Kamera um den Hals trug. Weshalb Renata sich gefragt hatte, ob die beiden wohl Touristen waren. Eigentlich sahen sie nicht danach aus. Aber der Mann, ihr Mann, hatte den Jüngeren ganz offensichtlich auf interessante Dinge aufmerksam gemacht.

Heute aber war er allein, und sie fragte sich, was er wohl auf dem Markt suchte.

„Wo bleibst du denn?“ Karen Richards, Renatas Freundin, kam auf der Suche nach ihr zurück. „Ich drehe mich um, und du bist nicht mehr da. Ich habe die ganze Zeit mit der Luft geredet.“

„’Tschuldigung, ich bin einfach langsamer gegangen.“ Den Grund dafür wollte sie weder analysieren noch mit Karen teilen. Doch ihre Hoffnung, Karen würde ein so umwerfend aussehender Mann entgehen, war offensichtlich vergebens.

„Na, ist der sexy oder ist der sexy!“ Karens grüner Blick hatte den Fremden längst erspäht. „Was sagst du, Renata?“

„Ich nehme es an“, gab sie ausweichend zur Antwort.

„Dann muss er es wohl sein, wenn selbst du es sagst“, neckte Karen gutmütig. „Werfen wir eine Münze, oder schlagen wir uns um ihn? Und wie können wir ihn kennenlernen? Ich meine, es sollte schon etwas Originelleres sein, als ihn anzurempeln.“

„Karen!“, protestierte Renata lachend. „Wir können ihn doch nicht … einfach ansprechen. Außerdem geht er sowieso in die andere Richtung.“

„Zu schade.“ Karen seufzte. „Aber so, wie er aussieht, ist er bestimmt schon vergeben. Jemanden wie uns beachtet der sowieso nicht. Wie alt mag er wohl sein? Mitte dreißig? Auf jeden Fall kein Amerikaner.“

„Woher weißt du das?“

„Das sehe ich.“ Ungerührt zuckte Karen die Schultern – schließlich war sie selbst Amerikanerin. „An der Art, wie er sich kleidet. Apropos Kleidung … komm, lass uns endlich die Hosen abholen. Ich hoffe, sie sind fertig.“

Sie gingen die schmale Gasse entlang, bogen in die nächste ein, vorbei an niedrigen Häusern und winzigen Geschäften, wobei sie genau darauf achteten, wohin sie traten. Alle möglichen Tiere und Hunderte von hungrigen Hunden liefen frei auf den Straßen und Marktplätzen von Kathmandu herum.

Die Spätsommersonne war golden hinter den Dächern untergegangen, aber noch immer herrschte geschäftiges Treiben in den Gassen. Die Nepalesen waren ein schönes Volk, ihre Gesichtszüge verrieten das Vermächtnis von Burmesen und Malaysiern. Renata und Karen waren hier inzwischen bekannt, sie wurden nicht fälschlicherweise für Touristen gehalten. Deshalb konnten sie sich in der Stadt frei bewegen, ohne von einer Traube von hübschen dunkelhaarigen Kindern belagert zu werden, die Mädchen mit bunten Bändern in den langen Zöpfen, die Nägel mit Henna gefärbt und die Augen mit Kajal umrandet.

„Ich habe übrigens mit Alec gesprochen“, erzählte Karen jetzt. „Er hat ein Abschiedsdinner vorgeschlagen. Wir vier zusammen? Heute Abend?“

„Ja, gern“, stimmte Renata zu. „Wo? Wieder im ‚Yak und Yeti‘?“

„Nein, ich habe Lust auf Chinesisch. Also im Restaurant vom ‚Annapurna‘, einverstanden? Wir treffen uns dort, gegen halb neun.“

Alec Lumley und Wes Davies waren zwei junge Ärzte aus Neuseeland, die drei Jahre im Krankenhaus der Sola-Khumbu-Region arbeiteten. Ab und zu besuchten sie Kathmandu und gingen mit Renata und Karen aus. Etwas Festeres hatte sich aus dieser Freundschaft allerdings nicht entwickelt. Renata wusste zwar, dass Karen mit Alex eine lockere Affäre hatte, aber Pläne für eine gemeinsame Zukunft gab es nicht. Renatas Freundschaft mit dem ruhigeren Wes war dagegen rein platonisch, vor allem seit Wes einmal einen Annäherungsversuch gestartet hatte und nur auf Ablehnung gestoßen war. Inzwischen traf er sich regelmäßig mit einer wunderschönen jungen Sherpani aus einem der Dörfer in Sola Khumbu.

„Sie fahren heute wieder zurück?“, fragte Renata ihre Freundin.

„Ja. Und ich komme mit. Ich habe noch ein paar Tage Urlaub und dachte mir, dass ich ein paar Wanderungen mache und dann von Lukla oder Namche Bazar aus wieder hierherfliege.“

Dass Renata mitkommen könnte, wurde nicht einmal erwähnt. Nie wieder würde sie nach Sola Khumbu gehen, obwohl sie das wunderschöne Kathmandu-Tal mehrere Male zusammen mit Karen durchwandert hatte. Einmal waren sie sogar bis ins Vorgebirge hineingewandert, aber das war eine freudlose Erfahrung gewesen.

Die Hosen, die sie in der kleinen Näherei bestellt hatten, waren fertig, mehrere Paar aus fließendem Stoff mit Bundbändern an der Taille.

„Wenn ich mit den Jungs fahren will, sollte ich mich besser auf den Heimweg machen“, sagte Karen, als sie die Schneiderei wieder verließen. „Ich muss noch meine Ausrüstung zusammenpacken. Was hast du jetzt vor?“

„Ich gehe auch nach Hause. In der Botschaft findet heute nichts statt.“

Karen betrachtete die Freundin abwartend. „Ich nehme an, sie werden einen Empfang für die britische Expedition vorbereiten, oder?“

Renatas Wangen, sonst immer rosig, verloren alle Farbe und wurden bleich. Schatten legten sich über ihre Augen. „Expedition?“ Ihre Stimme klang brüchig, und fast war sie Karen böse, dass sie sie dazu gebracht hatte, das Wort auszusprechen.

„Mount Everest“, bestätigte Karen mitfühlend.

„Im Herbst? Nach dem Monsun?“

„Ja.“

„Davon habe ich gar nichts gehört“, meinte Renata tonlos.

„Sicher, das würdest du auch nicht.“

Sich vollkommen abzuschotten war eine Fähigkeit, die Renata über die Jahre bis zur Perfektion verfeinert hatte – bei einem bestimmten Thema wurde sie automatisch blind und taub. Das war nötig, um den Kummer im Zaum zu halten, auch wenn dabei ihre einstige Leidenschaft mit auf der Strecke blieb.

Doch dieses bewusste Ausblenden widerstrebte ihrem ganzen Wesen und allem, was einst ihr Leben ausgemacht hatte. Während all ihre Klassenkameradinnen sich nur für Popsänger interessierten, hatte Renata als junges Mädchen leidenschaftlich für Männer wie Reinhold Messner und Chris Bonington geschwärmt. Und ganz tief in ihrem Inneren glühte auch jetzt noch ein letzter Funke dieser Begeisterung. Ehe sie es sich versah, hörte sie sich fragen: „Was für eine Expedition ist es denn? Gibt es Basislager, oder sind die Männer ganz auf sich allein gestellt?“

„Weiß ich nicht.“

„Wahrscheinlich mit Basislagern“, entschied Renata – ganz die Tochter ihres Vaters. „Ohne ist viel zu gefährlich. Das wird heute eigentlich nicht mehr gemacht.“

„Jedenfalls wollen sie es ohne Sauerstoffflaschen versuchen. Das habe ich zumindest gehört.“

„Welche Route?“

„Die Südwest-Wand.“

Renatas Miene war mit einem Mal völlig verschlossen. Von klein auf war ihr beigebracht worden, dass man seinen Schmerz nicht zeigt. Denn das war unhöflich und rücksichtslos. Persönliche Tragödien brachten andere nur in Verlegenheit.

Aber Karen kannte ihre Freundin gut genug, um die wahren Gefühle hinter der scheinbaren Gleichgültigkeit zu erahnen. „Auf mich musst du nicht wütend sein, Renata.“

„Das bin ich auch nicht“, bestritt sie. „Ich möchte einfach nur nicht weiter darüber reden.“

„Und auch nicht daran denken. Wie lange ist es jetzt her, Renata? Vier Jahre?“

„Drei Jahre. Drei Männer innerhalb von drei Jahren“, erwiderte sie knapp. Jetzt war sie verärgert, weil die Freundin das Thema nicht fallen lassen wollte.

„Vielleicht ist es gut, wenn du jetzt von dieser Everest-Expedition hörst. Irgendwann hättest du dich dem Thema so oder so stellen müssen“, bemerkte Karen nüchtern. „In der letzten Zeit galt das Interesse ja hauptsächlich anderen Bergen. Aber der Everest ist und bleibt die große Herausforderung – wenn du verstehst, was ich damit sagen will.“

„Nur zu gut“, murmelte Renata bitter. Sie waren inzwischen auf der Hauptstraße angekommen, hier würden sich ihre Wege trennen. „Vergiss es einfach, Karen, du kannst nichts dafür. Niemand kann etwas dafür. Es gibt Berge, und es gibt Männer, die sie bezwingen müssen. Aber nie wieder werde ich mich auf einen solchen Mann einlassen. Wir sehen uns dann um halb neun. Im ‚Annapurna‘.“

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne verliehen der Hauptstraße einen goldenen Schimmer. Eilig lief Renata weiter, um vor der Dunkelheit das kleine Apartment zu erreichen, das ihr die Botschaft zur Verfügung gestellt hatte.

Es war wohl Ironie des Schicksals, dass sie für ihren ersten Auslandsposten ausgerechnet nach Kathmandu versetzt worden war. Aber sie hatte auch nie daran gedacht, ihre Kenntnisse in Nepalesisch zu verheimlichen. Diese Sprache hatte sie sich angeeignet, als ihr Vater damals die ganze Familie mit in das Land seiner Träume mitgenommen hatte. Renata arbeitete inzwischen ein Jahr für die Botschaft, und noch immer konnte sie nicht sagen, ob ihre Rückkehr nach Nepal dem Heilungsprozess half oder ihn behinderte. Kathmandu gefiel ihr, das Himalaja-Gebirge war von hier aus weit weg und nicht zu sehen. Und doch so nah …

Mount Everest. Sagarmatha, wie der Berg in Nepal genannt wurde. Jenseits der Grenze zu Tibet hieß er Chomolungma. Und dann gab es noch jene, die ihn „den Witwenmacher“ nannten.

Eine überaus zutreffende Bezeichnung, wie Renata fand. Denn vor sieben Jahren hatte der Berg ihre Mutter zur Witwe gemacht, nur um ihr drei Jahre später auch noch den Sohn zu nehmen.

Renata hatte Vater und Bruder verloren. Und ihre große Liebe. Ang Tsering Lama …

Natürlich gab es auch andere Gipfel, die für den Verlust von geliebten Menschen verantwortlich waren. Aber wie Karen gesagt hatte: Der Everest war ein ganz besonderer Berg. Über die Jahre hatte er einen grausamen Wegzoll verlangt. Allein auf der tibetanischen Seite waren es Mallory, Irvine, Burke, Tasker und viele andere bekannte Bergsteiger gewesen. Zu denen auch Stephen und Darryl Armstrong gehörten.

Und natürlich Ang Tsering Lama.

Renatas Gedanken wanderten zurück zu dem, was Karen über die bevorstehende Expedition gesagt hatte. Sie kannte keinen der Bergsteiger mehr, hatte sämtliche Brücken zu dieser Welt abgebrochen. Dennoch erschauerte sie, trotz ihrer dicken Jacke. Sie wusste zu gut Bescheid, um nicht ein genaues Bild von den Risiken zu haben. Die Südwest-Wand, das bedeutete der Eisbruch. Ein Gletschergebiet, in dem große Blöcke des Eises plötzlich abbrachen, so als wollten die Götter sich lustig machen über die winzigen Menschen, die es wagten, sich dem heiligen Berg zu nähern.

Ein Gebiet, in dem der Körper ihres Vaters irgendwo unter den Seracs, den Eisblöcken, begraben lag.

Wie ihr Bruder und Ang drei Jahre später umgekommen waren, wusste Renata nicht. Die Trauer um ihren Vater, unter der sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr litt, war mit dem Verschwinden der anderen beiden Männer überwältigend geworden. Sie hatte es gar nicht wissen wollen, hatte sich geweigert, zuzuhören. Sie waren tot und ihre Körper nie gefunden worden. Der Berg hatte ihr alles genommen und nichts gelassen.

Nie wieder, hatte sie sich daher mit neunzehn geschworen.

Nie wieder würde sie ihr Herz einem Mann öffnen, der das Abenteuer mehr schätzte als die Liebe. Nie wieder würde sie mit ansehen, wie eine starke Frau an den Folgen dieses Abenteuerdrangs völlig zerbrach.

Die bitteren Tränen ihrer Mutter hatte Renata ein für alle Mal von ihrer Heldenverehrung für sämtliche Bergsteiger kuriert.

Seit ihrer Rückkehr nach England war der Mount Everest mit keinem Wort mehr erwähnt worden. Umso entsetzter hatte Renatas Mutter reagiert, als ihre Tochter den Botschaftsposten in Nepal annahm. Janine, Renatas ältere Schwester, hatte mehr Verständnis gezeigt. Sie war inzwischen glücklich mit einem englischen Immobilienmakler verheiratet und schickte täglich ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihr kleiner Sohn niemals dieselbe Leidenschaft für das Bergsteigen entwickelte. Denn wer konnte ihn aufhalten, wenn es ihn erst einmal gepackt hatte?

Renata schloss die Tür auf und betrat ihre Wohnung, die mit landestypisch schlichten Möbeln und bunten Stoffen eingerichtet war. Sie zog ihre Jacke aus und holte sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Irgendwie fühlte sie sich seltsam verloren. Wahrscheinlich war das heute einfach zu viel für sie gewesen – erst der Mann auf dem Marktplatz und dann die Neuigkeit über die geplante Expedition. Im Schlafzimmer holte sie das gerahmte Foto hervor, das in der Schublade ihres Nachttischchens lag, und setzte sich damit auf ihr Bett.

Das Gesicht, das ihr entgegenlachte, war jung und voller Lebenslust, die dunklen Augen funkelten fröhlich, und das Lächeln war sowohl sanft als auch verschmitzt.

Ang Tsering Lama war erst vierundzwanzig gewesen, als er starb. Von klein auf hatte er sich sein Geld als Bergführer für reiche Touristen verdient. Unter den sogenannten Sherpas hatte er zweifellos zu den besten gehört. Und trotzdem hatte ihn all sein Können nicht vor dem eisigen Tod bewahrt.

Als sie Ang kennenlernte, hatte Renata gerade die Semesterferien in Nepal verbracht. Ihr Bruder gehörte der Expedition an, die die Everestbesteigung vorbereitete. Ang wurde ihm als Sherpa empfohlen, nachdem der junge Tibeter bereits eine österreichische Expedition auf den Cho Oyu begleitet hatte, den achthöchsten Berg der Welt. Ang war ehrgeizig, und der Expeditionsleiter hatte ihm versprochen, ihn trotz seiner Jugend bis zum Gipfel mitzunehmen.

„Ich will ganz nach oben“, hatte er während des Trainings zu Renata gesagt. „Ich will so hoch klettern, wie ein Mann überhaupt klettern kann.“

Ihre Liebe war schnell erblüht. Raum für Zweifel oder Probleme wegen der kulturellen Verschiedenheiten blieb nicht. Ang kannte und schätzte die westliche Lebensart, Renata liebte sein Land und sein Volk wie ihr eigenes.

„Sobald ich zurückkomme, geben wir unsere Verlobung bekannt“, hatte er versprochen. „Aber erst will ich auf den Gipfel. Das wird mein Verlobungsgeschenk für dich, ich widme diese Eroberung dir.“

Doch er war nicht zurückgekommen. Auch ihr Bruder nicht. Ang Tsering Lama und Darryl Armstrong würden nie wieder zurückkommen.

Renata schüttelte die Erinnerungen ab. Das letzte Tageslicht schwand, es wurde dunkel in der Wohnung. Sie legte das Foto in die Schublade zurück, schaltete das Licht an und zog die Vorhänge zu.

Vielleicht war die Zeit gekommen, um loszulassen. Ihre Reaktion auf den Unbekannten schien ein Zeichen dafür zu sein. Das Andenken an ihren Vater, ihren Bruder und Ang würde ihr schließlich für immer bleiben.

Genau wie die ewig Frage, warum ein Mann die Gefahr mehr lieben konnte als die Frauen in seinem Leben. All die Mütter, die Schwestern, die Töchter, die Freundinnen und die Ehefrauen – waren sie nicht wichtiger als jeder Berggipfel? Renata holte tief Luft. Diese Frage war der Hauptgrund für ihre Abneigung gegenüber allen Bergsteigern. Nie wieder! Dabei blieb es. Denn der Berg war für diese Männer eine größere Verlockung als jede Frau.

Nie wieder würde sie einen Berg als Rivalen akzeptieren. Gegen eine andere Frau konnte sie kämpfen, gegen das große Abenteuer hatte sie keine Chance.

Gewaltsam riss sich Renata aus ihren Grübeleien. Es war noch früh, ihr blieb genügend Zeit, um sich für das Dinner mit Karen und den beiden Ärzten zurechtzumachen. Zu viel Zeit. Ihr Apartment schien ihr mit einem Mal ein einsamer Ort. Renata war froh, dass sie heute Abend ausging. Froh, dass sie auch außerhalb der Botschaft Freunde gefunden hatte. Mit dreiundzwanzig war sie praktisch die Jüngste des Personals, so wie Karen in der amerikanischen Botschaft.

Sie musste wieder unter Menschen kommen, wurde ihr plötzlich klar. Und sofort fragte sie sich, wann das angefangen hatte. Lange Zeit war sie in ihrer Trauer eingefroren gewesen, aber nun … Der Mann auf dem Marktplatz hatte ihr klargemacht, dass das Tauwetter einsetzte.

Dieser Mann. Er erfüllte mit einem Schlag ihre ganze Gedankenwelt. Während sie frische Kleider herauslegte, badete und sich anzog, dachte sie immer nur an ihn. Als sie ihr Gesicht im Spiegel erblickte, wurde sie rot. Ihre Fantasie war mit ihr durchgegangen, sie hatte sich den Mann als Liebhaber vorgestellt, doch nicht nur als Bettgefährten, sondern auch als Partner. Als Partner fürs Leben.

Und dabei würde sie ihn höchstwahrscheinlich nie wieder sehen! Dennoch … da war diese Ahnung, dass sie ihm noch einmal begegnen würde. So als sei es vorherbestimmt …

Ungeduldig schalt sie sich wegen dieser Hirngespinste. Er war ein Fremder, sie kannte weder seinen Namen noch seine Geschichte.

Und trotzdem drehten sich ihre Gedanken wieder und wieder um ihn. Damit hatte sie nicht gerechnet. Um genau zu sein – sie hatte sich geirrt. Das war kein langsam einsetzendes Tauwetter, sondern ein plötzliches Sommerhoch, das sie erhitzt und verlegen zurückließ. Und voller Angst.

Denn wenn das Eis zu schnell taute, gab es unweigerlich zu Lawinen. Das wusste jeder Bergsteiger.

Renata traf Karen vor dem Hotel. Gemeinsam warteten sie an der Bar, bis die beiden Männer eintrafen. Als die kleine Gruppe endlich beisammen war, gingen alle gemeinsam in das chinesische Restaurant hinüber und setzten sich an einen Tisch, Alec und Wes gegenüber Renata und Karen. Renata betrachtete die beiden – zwei attraktive junge Männer, die das Leben in vollen Zügen genossen, was sie zu perfekten Begleitern machte. Keine Erwartungen, keine Hintergedanken. Im Moment scherzten sie mit dem Ober, wie schnell sie nach einem chinesischen Essen wieder hungrig seien. Alle am Tisch lachten, auch Renata. Sie persönlich zog das nepalesische Essen vor, gut gewürzt und mit reichlich Curry, Karen jedoch war geradezu süchtig nach Dim Sum.

Es war gut, diese drei als Freunde zu haben. Sie alle waren unbeschwert und leichtherzig, ohne oberflächlich zu sein.

Doch mitten in der heiteren Unterhaltung lief Renata plötzlich ein Schauer über den Rücken. Sie schaute auf – und da war er schon wieder, der Mann vom Marktplatz. Er ging zwischen den Tischen hindurch, in Jeans und hellem Hemd. Einen Moment lang lagen die grauen Augen auf Renata, leuchteten auf, dann wandte er den Blick ab.

Renata saß da wie erstarrt. Panik wollte sich ihrer bemächtigen, vor lauter Schreck wäre sie beinahe in albernes Gekicher ausgebrochen. Das war einfach zu viel! Zufall? Oder Schicksal?

Alec und Wes waren noch immer mit dem Ober beschäftigt, aber Karen hatte die kleine Szene bemerkt.

„Ein wahrer Augenschmaus!“, flüsterte sie Renata verschmitzt zu. „Er hat dich angesehen, oder?“

„Ja. Aber erwähne es nicht, Karen, bitte.“

Und Karen beließ es dabei.

Vielleicht nahm sie das Leben ja zu schwer, aber Renata brachte es einfach nicht über sich, die Situation als lustigen Zufall abzutun. Dieser Blick aus den grauen Augen hatte sie erneut aus dem Gleichgewicht gebracht, und irgendwie schien ihr das zu persönlich, um es mit anderen zu teilen. Es passierte alles viel zu schnell – dabei passierte eigentlich überhaupt nichts. Vielleicht würden sie sich immer wieder über den Weg laufen und sich nie wirklich kennenlernen. Und vielleicht war das auch sicherer so. Der Mann jagte ihr Angst ein … oder nein, ihre Reaktion auf ihn jagte ihr Angst ein. Es war viel zu intensiv. Überwältigend. So hatte sie nie zuvor gefühlt.

Während des Essens wanderte Renatas Blick immer wieder zu dem Mann hinüber. Sie fragte sich, ob der Fremde wohl hier im Hotel untergekommen war oder ob er nur hier aß. Er könnte ein Geschäftsmann sein, da er keine weibliche Begleitung hatte.

Und wenn er verheiratet war? Wenn sie verschiedene Sprachen sprachen? Obwohl … sie hatten ja schon miteinander kommuniziert, ohne Worte.

Das war ja verrückt! Da saß sie hier und bekam Panikattacken, und das alles nur wegen eines unbekannten Mannes.

Trotzdem, sie mussten sich kennenlernen! So stark hatte sie sich seit langem nichts mehr gewünscht. Wenn er sie das nächste Mal ansah, dann würde sie nicht wegschauen. Sie durfte nicht wegschauen! Ihre Wangen begannen zu brennen, als ihr der Ausdruck „Schlafzimmerblick“ in den Kopf schoss – ein Benehmen, das sie sich noch nie erlaubt hatte und das ihre Mutter unmöglich gutheißen würde. Janine allerdings würde ihr wahrscheinlich gratulieren.

Das Essen zog sich in die Länge, Alec und Wes waren in Feierlaune. Schließlich aber winkte Wes den Ober heran und bat um die Rechnung. „Wir müssen langsam mal los, wenn wir noch Karens Gepäck abholen wollen. Schade, dass du nicht mitkommst, Ren. Willst du bei uns im Taxi mitfahren?“

Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Renata sah zu dem anderen Tisch hinüber. Ein Schwarm Schmetterlinge stob in ihrem Magen auf, als ihr bewusst wurde, dass der Mann vom Marktplatz auf sie wartete.

Sie lächelte ihren Freunden zu. „Danke, aber ich bestelle mir noch einen Drink und laufe dann nach Hause.“

Karen blieb etwas zurück, nachdem man sich voneinander verabschiedet hatte. „Ganz schön clever, Renata“, raunte sie. „Pech, dass ich schon mit den Jungs verabredet bin! Obwohl … ich hätte sowieso keine Chance bei ihm. Er hat dich ja den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen – und Wes ebensowenig. Ich glaube, er hat sich ernsthaft überlegt, ob er Wes verprügeln sollte. Sei nur auf der Hut, dass er nicht irgendein Verrückter ist. Oder verheiratet. Und wenn er anfängt, von seiner Mutter zu erzählen, dann solltest du dich auch schnellstens aus dem Staub machen.“

Renata lachte unsicher. „Von seiner Mutter! Er macht nicht den Eindruck, als …“

„Als wäre er von einer Frau geboren?“, bot Karen grinsend an. „Richtig. Eher, als wäre er vom Olymp herabgestiegen. Also, pass auf dich auf, Herzchen.“

Renata musste sich plötzlich zusammennehmen, um den anderen nicht nachzurennen. Was tat sie hier nur?! Der Mann schaute jetzt zu ihr hin, mit düsterem Blick. Himmel, vielleicht war er ja wirklich ein Verrückter. Oder ein Terrorist. Vielleicht ein Spion. Er wusste, dass sie in der Botschaft arbeitete und machte sich an sie heran, um …

Und dann lächelte er sie an, ein richtiges, herzliches Lächeln, das sein Gesicht erhellte und ihn umwerfend aussehen ließ. Und Renata lächelte zurück, schüchtern und unsicher, doch unmissverständlich.

Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen, die Lungen versagten ihr beinahe den Dienst, als er mit geschmeidigen Bewegungen auf ihren Tisch zukam.

„Das ist ein Überfall“, verkündete er mit tiefer Stimme und unverkennbarem britischen Akzent. Er setzte sich ihr gegenüber. „Verzeihung. Ich hätte das gern etwas stilvoller hinbekommen. Aber wir haben offensichtlich keine gemeinsamen Bekannten, die uns vorstellen könnten. Und … ich wollte keine Zeit verlieren. Grant Fowler.“

„Renata Armstrong“, hauchte sie atemlos.

„Darf ich Ihnen einen Drink ausgeben?“

„Ich habe schon einen bestellt.“

„Sie leben hier, oder? Ich habe Sie gehört, wie Sie Nepalesisch mit der Familie im Affentempel sprachen.“ Der Blick, mit dem er ihr Gesicht musterte, war wie eine Liebkosung.

„Ich arbeite bei der britischen Botschaft.“

„Und was tun Sie dort?“

„Ich …“ Sie brach ab und bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. Woraufhin er lachte, ein tiefer, samtener Laut, der ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken jagte.

„Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, wirklich nicht. Aber ich respektiere Ihre Diskretion. In diesem frühen Stadium.“

Autor

Jayne Bauling
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