Der Reiz der Versuchung

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Das sorglose Singleleben von Scheidungsanwalt Reed Hudson endet jäh, als er sich um seine verwaiste kleine Nichte kümmern muss. Zwar hilft die schöne Lilah spontan als Nanny aus. Aber was zunächst wie die perfekte Lösung scheint, ist bald das größte Problem: Kaum ist Lilah bei ihm eingezogen, bringt sie ihn mit ihren erotischen Reizen um den Verstand. Wie sonst lässt es sich erklären, dass er in ihrer Nähe nicht nur von heißem Sex, sondern erstmals von der großen Liebe träumt? Dabei weiß er doch: Ein Happy End gibt es nur im Märchen.


  • Erscheinungstag 27.06.2017
  • Bandnummer 1983
  • ISBN / Artikelnummer 9783733723798
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Paare bleiben selten zusammen“, sagte Reed Hudson. „Trennungen sind an der Tagesordnung und Scheidungen ganz normal.“

Carson Duke, einer der beliebtesten amerikanischen Schauspieler, starrte den Anwalt an. „Das ist hart.“ Und nach einem Moment setzte er hinzu: „Und zynisch.“

Reed schüttelte den Kopf. Carson, den die Amerikaner als großartigen Action-Darsteller kannten, hatte ihn aufgesucht, weil seine Ehe vor dem Aus stand. Doch offenbar akzeptierte der Kinostar noch nicht wirklich, dass seine Frau sich von ihm trennen wollte. Die Romanze zwischen Carson und der Sängerin Tia hatte wochenlang für Schlagzeilen gesorgt und war vielen Menschen im Land wie ein wahr gewordenes Märchen erschienen.

Anders als die meisten überlieferten Märchen endeten die modernen allerdings nur selten damit, dass Eheleute glücklich bis an ihr Lebensende zusammenblieben. Warum hätte Carsons Ehe da eine Ausnahme bilden sollen? Reed runzelte die Stirn. Der größte Teil seiner prominenten Klienten suchte ihn auf, weil die Beziehung zu ihren Partnern langweilig oder unbequem geworden war und weil sie diesen Zustand beenden wollten. Wer berühmt war, legte Wert darauf, dass alles schnell und ohne Aufsehen geregelt wurde. Tiefe Emotionen waren nur selten im Spiel. Aber hin und wieder kamen auch Menschen wie Carson zu Reed. Menschen, die nicht glauben konnten, dass eine Entscheidung, die sie „für immer“ getroffen hatten, sich als falsch herausstellte.

Für immer …

Der Gedanke an eine derart naive Einstellung genügte, um Reed zum Lächeln zu bringen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es kein „für immer“ gab.

„Ich bin nicht zynisch oder gar herzlos“, meinte er freundlich. „Aber ich sehe den Tatsachen ins Auge: Ehen zerbrechen, und Scheidungen sind das Normalste von der Welt.“

Carson lachte kurz auf, verzog den Mund und fragte: „Waren Sie jemals verheiratet?“

Reed schüttelte den Kopf. „Um Himmels willen, nein!“ Es war absurd anzunehmen, er könne sich jemals zu diesem Schritt entschließen. Einerseits blieb ihm wenig Zeit für sein Privatleben. Seine Dienste als Scheidungsanwalt waren sehr gefragt. An ihn wandten sich die Stars. Und wer berühmt war, erwartete Kompetenz, Diskretion und eine zügige Abwicklung. Zudem hatte er schon früh gelernt, dass Ehen zum Scheitern verurteilt waren. Deshalb waren seine Beziehungen zu Frauen nie von langer Dauer. Auf ein paar aufregende Treffen folgte stets ein möglichst schmerzloser Abschied. Etwas anderes hatte er sich nie gewünscht.

Daran hatte selbst sein beruflicher Aufstieg nichts geändert. Auch wenn manches anders geworden war, seit er vor fünf Jahren seinen ersten berühmten Klienten, einen Comedian, so erfolgreich vertreten hatte, dass viele andere Stars auf ihn aufmerksam geworden waren. Seitdem gingen Schauspieler und Tänzerinnen, Musikerinnen und Sänger, Kabarettisten und Komikerinnen sowie andere bekannte Leute in seinem Büro ein und aus. Reed liebte seine Arbeit. Und da er sowohl klug als auch engagiert war, gelang es ihm stets, seine Klienten zufriedenzustellen und sie vor unliebsamer Publicity zu schützen.

Seit Langem wusste er, dass auch die besten Ehen in die Brüche gehen konnten. Das führte sein Beruf ihm täglich vor Augen. Außerdem hatten seine Eltern ihm schon als Kind bewiesen, dass kaum etwas zerbrechlicher war als das eheliche Glück. Zurzeit lebte sein Vater mit Gattin Nummer fünf in London, während seine Mutter mit Ehemann Nummer vier seit mehreren Monaten das tropische Flair von Bali genoss. Es hieß allerdings, dass sie sich bereits nach Ehemann Nummer fünf umschaute. Dank der vielen Ehen seiner Eltern hatte Reed zehn Geschwister beziehungsweise Halbgeschwister im Alter von drei bis dreißig Jahren. Außerdem war ein weiteres Baby unterwegs, denn Reeds Vater hatte eine Vorliebe für sehr junge, fruchtbare Frauen.

Solange Reed denken konnte, war er als Ältester für seine jüngeren Brüder und Schwestern verantwortlich gewesen. Wenn eines seiner Geschwister ein Problem hatte, dann wandte es sich an ihn. Ja, selbst seine Eltern suchten seine Hilfe, wenn sie rasch geschieden werden wollten, weil sie eine neue Liebe gefunden hatten und schnellstmöglich heiraten wollten. Sollte irgendwann zu seinen Lebzeiten der Weltuntergang bevorstehen, würde jedes Mitglied seiner großen Familie – davon war Reed überzeugt – bei ihm auftauchen und ihn anflehen, sich für seine Rettung einzusetzen. Nun, daran war er gewöhnt. Er hatte seine Rolle als Retter schon vor Jahren akzeptiert.

Doch jetzt ging es nicht um seine Verwandten, sondern um Carson Duke und dessen Noch-Ehefrau Tia. Die beiden waren eine Zeit lang die Lieblinge der Regenbogenpresse gewesen. Praktisch jeder im Land wusste von ihrer romantischen Beziehung, von der großen wahren Liebe, die ihren Höhepunkt in einer Traumhochzeit auf Hawaii gefunden hatte. Das Paar hatte so glücklich gewirkt! Trotzdem saß Carson jetzt, kaum ein Jahr später, in Reeds Anwaltsbüro und wollte sich scheiden lassen.

„Kommen wir zum Geschäftlichen“, sagte Reed und betrachtete den attraktiven Schauspieler, der im Moment ganz und gar nicht glücklich aussah.

Carson hatte einige Zeit bei den Marines gedient, jenem hoch angesehenen Marinecorps der amerikanischen Streitkräfte. Seit er nach Hollywood gekommen war, hatte er in vielen Actionfilmen mitgespielt. Noch immer strahlte er Kraft und Entschlossenheit aus.

„Als Erstes möchte ich wissen, wie Ihre Frau darüber denkt.“

„Wie ich bereits sagte: Sie war es, die mich um die Scheidung gebeten hat. Seit ein paar Wochen läuft es nicht mehr so gut zwischen uns. Aber …“ Er sah aus, als habe er in eine Zitrone gebissen. „Aber …“ Er zuckte die Schultern. „Jedenfalls meinte sie … Also, wir denken, dass es für uns beide wohl besser ist, wenn wir uns trennen, bevor es zum offenen Krieg zwischen uns kommt.“

Das hörte sich vernünftig an. Dennoch blieb Reed vorsichtig. Er hatte zu oft erlebt, dass Paare sich im Guten trennen wollten, einander wenig später jedoch lauthals beschimpften und sich gegenseitig die heftigsten Vorwürfe machten.

„Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.“

„Natürlich.“

„Treffen Sie sich mit einer anderen Frau? Wenn das der Grund für die Trennung ist, wird es früher oder später rauskommen. Seien Sie also besser gleich ehrlich! Wenn ich Sie vertreten soll, möchte ich gegen Überraschungen gefeit sein.“

Ärgerlich öffnete Carson den Mund.

Sogleich hob Reed beruhigend die Hände. Fast alle seine Klienten sahen sich in der Rolle des hintergangenen, ungerecht behandelten Ehepartners, selbst wenn es in Wahrheit ganz anders war. Als Anwalt jedenfalls musste Reed über alles Bescheid wissen, was für die Scheidung von Bedeutung sein konnte. „Ich will nicht neugierig sein“, erklärte er. „Solche Fragen gehören zu meinem Beruf.“

„Schon gut.“ Carsons Stimme klang ruhig, doch seine Augen blitzten zornig. Plötzlich sprang er auf, trat ans Fenster und starrte auf den Ozean hinaus. Es dauerte eine Weile, bis er sich umwandte. „Ich habe Tia nicht betrogen. Und sie mich auch nicht.“

„Sind Sie sicher?“ Reed hob die Brauen. Es kam nicht oft vor, dass einer seiner Klienten die eigene Ehefrau verteidigte.

„Vollkommen sicher. Ich bin nicht hier, weil wir einander belogen und betrogen haben.“

Aha! So etwas sagten im Allgemeinen nur Menschen, die etwas zu verbergen hatten. Reeds Neugier war geweckt. „Warum sind Sie dann hier?“

„Weil wir nicht mehr glücklich mit einander sind. Dabei fing alles so gut an! Als Tia und ich uns trafen, war es … Es war irgendwie so, als hätten wir einander schon immer gekannt. Als seien wir für einander bestimmt. Es war magisch. Vielleicht haben Sie das auch schon mal erlebt?“

„Nein. Trotzdem glaube ich Ihnen.“

„Ich konnte die Hände einfach nicht von Tia lassen. Es war wie Magie zwischen uns, unsere Beziehung war etwas ganz Besonderes. Ich meine: Es ging nicht nur um Sex.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Manchmal haben wir nächtelang geredet. Wir haben gelacht, Pläne geschmiedet, überlegt, ob wir aus Hollywood wegziehen und Kinder bekommen sollten. Aber dann stellten wir fest, dass wir beide viele berufliche Pflichten hatten. Wir sahen einander kaum noch, hatten keine Zeit füreinander und entfremdeten uns. Warum also sollten wir die Ehe fortführen?“

Reed hatte schon seltsamere Begründungen für den Wunsch nach einer Scheidung gehört. Einmal hatte einer seiner Klienten behauptet, er wolle sich scheiden lassen, weil seine Frau ständig Schokolade und Kekse vor ihm versteckte. Damals hatte Reed überlegt, ob er dem Mann einfach raten sollte, sich seine eigenen Kekse zu kaufen und sie selbst irgendwo zu verstecken. Natürlich hatte er das nicht getan, sondern dem Mann geholfen, die Scheidung zu bekommen – das war schließlich sein Job.

„Okay“, sagte er, „gleich morgen beginne ich mit den Vorbereitungen. Tia ist also mit der Scheidung einverstanden?“

„Ja.“ Carson schob beide Hände tief in die Hosentaschen. „Es war ja ihre Idee.“

„Das macht alles leichter.“

„Hm … Darüber sollte ich mich wahrscheinlich freuen.“

Tatsächlich sah Carson so geknickt aus, dass er Reed ein wenig leidtat. Reed war kein hartherziger Mensch. Viele seiner Klienten kamen mit dem Gefühl zu ihm, dass ihre Welt im Begriff war, vollkommen zu zerbrechen. Als Anwalt konnte Reed es sich allerdings nicht leisten, zu viel Mitleid zu zeigen. Eine gewisse berufliche Distanz war wichtig. Außerdem brauchten die meisten Scheidungswilligen jemanden, der ihnen den Weg wies. Das galt sicher auch für Carson. „Vertrauen Sie mir einfach“, forderte er ihn daher auf. „Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Privatleben in jeder Zeitung und jedem TV-Magazin breitgetreten wird, dann sollten Sie tun, was ich Ihnen rate.“

Ein Schauder überlief Carson. „Diese verfluchten Reporter! Ich kann noch nicht einmal den Müll rausbringen, ohne dass irgendwer mich dabei fotografiert. Auf der Fahrt hierher dachte ich zuerst, es wäre doch viel einfacher, wenn Sie Ihr Büro in Los Angeles hätten. Doch jetzt glaube ich, dass es ein Vorteil ist, wenn man nicht an jeder Straßenecke einem Reporter begegnet. Hier“, er warf erneut einen Blick aus dem Fenster, „ist es ziemlich ruhig. Nicht dauernd belästigt zu werden gefällt mir.“

Reed nickte. Im Lauf der letzten Jahre hatte er immer wieder überlegt, ob er sein Büro in die Nähe von Hollywood verlegen sollte. Letztendlich war er jedoch zu dem Schluss gekommen, dass er lieber in Orange County nicht allzu weit entfernt von der Film-Metropole bleiben wollte. Er lebte gern in der kleinen Küstenstadt Newport Beach. Und ihm gefiel das 1890 erbaute Haus, in dem seine Kanzlei untergebracht war. Das Gebäude wirkte ehrwürdig historisch, ohne zu viktorianisch zu sein. Das war einer der Gründe, warum er es gekauft hatte. Nachdem er das Innere komplett hatte modernisieren lassen, war er jetzt sehr zufrieden mit dem eleganten Charakter. Außerdem lag sein Zuhause nur fünfzehn Minuten entfernt.

In diesem Moment war er sich ganz sicher, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Er mochte den Ozean, den er vom Fenster aus sehen konnte. Er mochte Newport Beach, obwohl es im Sommer vor Touristen nur so wimmelte. Doch im Vergleich zu Los Angeles war es hier das ganze Jahr über eher ruhig.

Im Übrigen war es den Klienten, die Wert auf einen wirklich guten Anwalt legten, durchaus zuzumuten, die Fahrt nach Newport Beach auf sich zu nehmen. Auf jeden Fall war das besser, als selbst täglich im Stau auf dem Highway nach L. A. zu stehen.

„Ich bereite alle Papiere vor und schicke sie Ihnen in ein paar Tagen“, sagte er zu Carson, der – wie Reed wusste – ein Haus in Malibu besaß.

„Ich habe vor, eine Weile hierzubleiben“, gab der Schauspieler zurück. „Deshalb habe ich ein Zimmer im Saint Regis Monarch reserviert.“

„Gut!“ Da Reed selbst in dem Fünf-Sterne-Hotel wohnte, wusste er, dass Carson dort zumindest eine Zeit lang Ruhe vor den Reportern haben würde. Wenn die Neuigkeit von der Scheidung sich erst herumgesprochen hatte, würden die Paparazzi natürlich auch den Weg nach Newport Beach finden. Und dass die Scheidungspläne des berühmten Paars bekannt wurden, würde sich nicht vermeiden lassen. In Reeds Büro gab es keine undichte Stelle – er bezahlte seine Angestellten überaus gut –, und vermutlich würden auch Carson und Tia den Mund halten. Trotzdem würde irgendwann irgendwer plaudern, vielleicht jemand vom Hotelpersonal, vielleicht jemand aus dem privaten Umfeld des Paares.

„Sie wohnen doch auch im Monarch, oder?“, vergewisserte sich Carson. „Dann können Sie die Papiere einfach an der Rezeption abgeben. Ich habe mich unter dem Namen Wyatt Earp eingetragen. Sobald ich die Unterlagen habe, unterschreibe ich und gebe sie Ihnen zurück.“

Reed schmunzelte. Es war üblich, dass Hollywoodberühmtheiten ihre Zimmer unter falschem Namen reservierten. „Ich werde dafür sorgen, dass Sie alles so schnell wie möglich erhalten“, versprach er.

„Danke.“ Carson wandte sich zu Tür. „Auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen.“

Einen Moment lang blieb Reed noch am Schreibtisch sitzen. Dann erhob er sich und trat ans Fenster. Genau wie kurz zuvor sein Klient schaute er auf den Ozean hinaus. Er wusste, wie Carson Duke sich fühlte, nun, nachdem die schwere Entscheidung gefallen war. Die ersten Vorbereitungen für die Scheidung waren getroffen worden. Das hinterließ stets ein Gefühl der Erleichterung. Aber sicher war Carson auch bekümmert. Und zweifellos fragte er sich, ob er das Richtige tat.

Hin und wieder begegnete Reed Menschen, bei denen die bevorstehende Scheidung nichts als Freude hervorrief. Doch sie bildeten die Ausnahme. Die meisten Scheidungswilligen waren bedrückt, weil sie etwas aufgaben, worauf sie einst so große Hoffnungen gesetzt hatten. Ihre Träume waren zerbrochen. Die Enttäuschung schmerzte. Das wusste Reed schon seit seiner Kindheit. Er hatte es innerhalb seiner eigenen Familie oft genug beobachten können. Wenn seine Mutter oder sein Vater heirateten, dann waren sie stets davon überzeugt, diesmal den richtigen Partner gefunden zu haben. Mit ihrer großen Liebe würden sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben. Doch leider hatten sie sich jedes Mal getäuscht.

Reed beglückwünschte sich insgeheim dazu, das alles durchschaut zu haben. Er selbst würde nie in die Falle tappen. Er würde sich nie so sehr verlieben, dass er den Bezug zur Realität verlor. Gegen ein bisschen Romantik war nichts einzuwenden. Und welcher Mann brauchte keinen Sex? Aber heiraten? Nein, das kam für ihn nicht infrage!

Gut gelaunt ging er zu seinem Schreibtisch zurück und begann mit den Vorbereitungen für Carsons Scheidung.

Lilah Strong fuhr langsam, um den Blick auf den Ozean genießen zu können. Alles hier war ungewohnt und faszinierend, und sie wollte sich jede Einzelheit einprägen, obwohl sich ihr Zorn nicht ganz verdrängen ließ.

Gern war sie nicht zornig. Sie hielt Ärger und Wut für unnütze Gefühle. Man verschwendete Kraft auf sie, die man anderweitig besser hätte nutzen können.

Dummkopf, schalt sie sich, du quälst dich nur selbst. Schließlich war es den Menschen, auf die man zornig war, gleichgültig, was man fühlte.

Leider ließ sich das unangenehme Gefühl dennoch nicht vertreiben. Immerhin konnte Lilah es kurzfristig vergessen, wenn sie sich auf etwas anderes konzentrierte. Auf den wundervollen Ausblick aufs Meer zum Beispiel.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das Licht der Sonne funkelte auf dem bewegten Wasser. Surfer glitten über die Wellen. Am Horizont waren helle Segel zu sehen. Und am Strand spielten Kinder.

Da, wo Lilah herkam, spielten die Kinder unter Bäumen oder auf Lichtungen voller Wiesenblumen. Sie liebte ihre Heimat, den Anblick der Berge, den Wind, der die Blätter im Wald rascheln ließ, und die bunten Wiesen. Sie liebte die Ruhe, die sich so sehr von dem Trubel hier in Kalifornien unterschied. Vermutlich würde die Zahl der Menschen, die Urlaub am Meer machten, noch steigen, denn jetzt im Juni hatte der Sommer gerade erst begonnen.

Gut, dachte Lilah, dass ich in ein paar Tagen wieder zu Hause bin. Trotzdem zog sich ihr Herz bei dem Gedanken schmerzlich zusammen. Das, was sie vorhatte, bedrückte sie. Tatsächlich hatte sie nie zuvor etwas unternommen, das sie derart belastet hatte. Aber ihr blieb keine Wahl.

Rasch warf sie einen Blick in den Rückspiegel. „Du bist so still“, sagte sie zu ihrer kleinen Freundin auf dem Rücksitz. „Bist du womöglich genauso traurig wie ich?“

Da sie keine Antwort erhielt, dachte sie wieder an die vor ihr liegenden Probleme. Zwei Wochen lang hatte sie die Reise nach Orange County vor sich hergeschoben. Verzweifelt hatte sie nach einem Ausweg gesucht. Gefunden hatte sie keinen.

Wie viel einfacher wäre alles gewesen, wenn sie mit Rose zu Hause in Utah hätte bleiben können! Dort kannte sie sich aus. Dort lebten Menschen, die sie mochte und bei denen sie Unterstützung gefunden hätte. Hier war sie allein …

Lilah seufzte.

Wenig später hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie parkte das Auto und kümmerte sich dann um ihre kleine Freundin, ehe sie langsam auf das Gebäude zuging, in dem die Anwaltskanzlei untergebracht war. Der Anblick des Hauses überraschte sie. Sein beeindruckendes Äußeres aus dem neunzehnten Jahrhundert hatte man erhalten, doch im Inneren waren Chrom und Glas die vorherrschenden Elemente. Der Parkettboden war auf Hochglanz poliert, fast so, als wolle man die Leute davon abhalten, ihn zu betreten.

Unsicher schaute Lilah sich um. Dann straffte sie die Schultern. Ja, sie war nervös, aber sie würde es sich nicht anmerken lassen! Entschlossen öffnete sie die gläserne Tür zum Empfangsbüro und trat auf den Tisch zu, hinter dem eine streng dreinblickende Frau saß.

Himmel, wie steril hier alles wirkte! Lilahs bisher unbegründete Abneigung gegen den Anwalt vervielfachte sich. Diese kalte Atmosphäre behagte ihr gar nicht.

„Ich bin Lilah Strong“, sagte sie, „und möchte mit Reed Hudson sprechen.“

„Haben Sie einen Termin?“, fragte die Empfangssekretärin und warf einen zweifelnden Blick auf Lilahs kleine Freundin.

„Nein. Aber er wird mich empfangen, wenn Sie ihm sagen, dass ich wegen seiner Schwester Spring Hudson Bates komme.“

„Einen Moment bitte.“ Die Frau griff zum Telefon. „Mr. Hudson, hier ist eine junge Frau, die behauptet, sie müsse Sie wegen Ihrer Schwester Spring sprechen.“

Die Ausdrucksweise der Sekretärin ließ Lilahs Zorn erneut aufflammen.

„Mr. Hudson nimmt sich ein paar Minuten Zeit für Sie. Die Treppe hinauf, erste Tür links.“

„Danke.“ Lilah wandte sich ab. Sie spürte den neugierigen Blick der Sekretärin im Rücken, bis sie die Treppe halb hinaufgestiegen war.

Vor der schweren Eichentür zum ersten Zimmer links blieb Lilah einen Moment stehen, um sich zu sammeln. Dann klopfte sie und trat ein, ohne auf eine Einladung zu warten.

Das kleine Büro war hell und freundlich. Eine große Zimmerpflanze stand in der Nähe des Fensters, von dem aus das Meer zu sehen war. Hinter einem großen Schreibtisch saß eine hübsche Frau, die sich jetzt erhob. Mit einem warmen Lächeln begrüßte sie Lilah und ihre kleine Freundin.

„Hallo, ich bin Mr. Hudsons Assistentin Karen“, sagte sie. „Bitte, gehen Sie gleich durch.“ Sie öffnete eine weitere Tür. „Mr. Hudson erwartet Sie.“

Lilah kam es vor, als würde sie sich in die Höhle des Löwen begeben. Aber mutig machte sie ein paar Schritte vorwärts.

Mr. Hudsons Büro war riesig. Vermutlich wollte er damit seine Klienten beeindrucken – was ihm zweifellos gelang. Praktisch eine ganze Wand wurde von einem Panoramafenster eingenommen. Dahinter erstreckte sich bis zum Horizont der Ozean. Sonnenstrahlen fielen ins Zimmer und tanzten auf dem Parkettboden überall dort, wo keine kostbaren Orientteppiche lagen. Es gab mehrere schwere Ledersessel und einen großen, offenbar alten Eichenschreibtisch.

Alles wirkte sehr geschmackvoll, wollte aber – wie Lilah fand – nicht recht in ein Haus passen, das mehr als hundert Jahre alt war. Nun, sie war nicht hier, um den Geschmack des Innenarchitekten zu kritisieren. Sie war hier, weil sie mit dem Mann sprechen musste, der ihr jetzt ein paar Schritte entgegenkam.

„Wer sind Sie?“, fragte er in diesem Moment. „Und in welchem Verhältnis stehen Sie zu meiner Schwester Spring?“

Er war groß und breitschultrig, hatte dunkles Haar und grüne Augen. Seine Stimme klang dunkel und sehr männlich, allerdings nicht besonders freundlich.

Da Lilah dem Anwalt absolut keine positiven Gefühle entgegenbrachte, dachte sie: Wie passend, die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit.

Aus irgendeinem Grund war sie trotzdem froh, dass sie sich sorgfältig zurechtgemacht hatte. Daheim benutzte sie nur sehr selten Make-up. Heute jedoch hatte sie sich sorgfältig geschminkt und sich zudem ungewohnt elegant gekleidet: weiße Bluse, rote Jacke, schwarze Hose und schwarze Stilettos. Sie selbst nannte das ihre „Kampfkleidung“.

„Ich bin Lilah Strong“, erklärte sie.

„Das hat meine Sekretärin mir bereits mitgeteilt“, gab er ungeduldig zurück. „Was ich wissen will, ist: Warum sind Sie hier?“

Sie musterte ihn prüfend, ging langsam auf ihn zu. Der weiche Teppich verschluckte die Geräusche ihrer Absätze. Lilah holte tief Luft und nahm dabei einen Hauch von Hudsons Aftershave wahr. Es duftete nach Wald, und einen Moment lang fühlte sie sich an ihre Heimat in Utah erinnert. Dann hob sie entschlossen den Blick, schaute direkt in die grünen Augen des Anwalts.

„Spring war meine Freundin. Sie bat mich um einen Gefallen, und ich konnte nicht Nein sagen. Deshalb bin ich hier.“

„Aha.“

Seine tiefe Stimme brachte irgendetwas in Lilahs Innerem zum Schwingen. Verflixt, dieser Mann war wirklich beeindruckend. Nicht unbedingt sympathisch, aber auf jeden Fall sexy. Seltsam, konnte jemand tatsächlich attraktiv und anziehend wirken, obwohl er so abweisend und kalt dreinschaute?

„Gestatten Sie mir eine Frage“, sagte Hudson. „Nehmen Sie Ihr Baby überall mit hin?“

Sie ließ den Blick über Rose gleiten, die sie sich auf die Hüfte gesetzt hatte. Dieses kleine Mädchen war der Grund dafür, dass sie Utah verlassen hatte und nun in Hudsons Büro stand. Es war der Grund dafür, dass sie wütend und unglücklich war. Wie gern wäre sie zu Haus geblieben. Aber sie hatte tun müssen, worum Spring sie gebeten hatte.

Das Baby begann fröhlich vor sich hin zu brabbeln.

„Ich habe die Kleine hergebracht, weil Sie sich von nun an um sie kümmern müssen“, stellte Lilah fest.

2. KAPITEL

Sogleich verwandelte Reed sich in den kühlen Anwalt, der wegen seines kompetenten und emotionslosen Auftretens vor Gericht zur Legende geworden war. Kalt musterte er die Frau, die ihn anschaute, als sei er ein widerlicher Wurm. Sie war schön, das stand außer Frage. Aber anscheinend hatte sie den Verstand verloren. Vor ein paar Jahren hatte eine seiner Geliebten versucht, ihm weiszumachen, dass sie von ihm schwanger sei. Aber da er stets gewissenhaft verhütete, hatte sie schließlich einen Rückzieher machen müssen. Und mit der attraktiven Rothaarigen, die jetzt vor ihm stand, hatte er nie auch nur eine einzige intime Stunde erlebt. Das wusste er genau. Denn eine Schönheit wie sie vergaß man nicht.

„Warum sollte ich mich um ein Baby kümmern, das nicht von mir ist?“, fragte er. „Ich habe stets dafür gesorgt, keine Nachkommen zu zeugen. Wenn das also alles ist, was Sie von mir wollten, dann können Sie sich jetzt verabschieden.“

„Wie zuvorkommend Sie sind!“, spottete sie.

Einen solchen Ton war er nicht gewohnt. Verflixt, diese Lilah Strong konnte ebenso abweisend und herablassend sein wie er selbst! Ihre blauen Augen sprühten vor Zorn. „Haben Sie ein Problem mit meinem Verhalten?“, provozierte er sie.

„Allerdings! Genau wie ich es erwartet hatte.“

Das Baby auf ihrer Hüfte gab eine Art Schluchzer von sich, und Lilah begann, es rhythmisch zu schaukeln, indem sie sich ein wenig in der Hüfte wiegte.

Reeds Puls beschleunigte sich.

„Dann kennen Sie mich also?“, meinte er in arrogantem Ton.

„Ich weiß, dass Sie Springs Bruder sind. Und dass Sie nicht da waren, als Spring Sie brauchte.“ Lilahs Stimme verriet, wie wütend sie war. „Zudem weiß ich jetzt, dass es Sie nicht im Geringsten berührt, wenn Sie ein Mädchen sehen, das Ihrer Schwester ähnelt wie ein Ei dem anderen.“

Wortlos starrte er sie an.

Einen Moment lang hielt sie seinem Blick stand. Dann schaute sie zärtlich das Baby an. „Die Kleine heißt Rose und ist Springs Tochter.“

Als das Mädchen seinen Namen hörte, jauchzte es und klatschte in die Hände.

„Ja, mein Schatz“, meinte Lilah zärtlich, „du verstehst, wenn wir von deiner Mom reden, nicht wahr?“

Erneut klatschte das Kind in die Hände. Dann schenkte es Lilah ein strahlendes Lächeln.

Reed hatte Rose seine Aufmerksamkeit zugewandt und musterte sie eingehend. Springs Tochter? Ja, die Kleine sah seiner Schwester tatsächlich ähnlich. Das runde Gesicht, das feine dunkle Haar und die grünen Augen, so klar wie Smaragde …

In diesem Moment begriff er, dass seine Schwester tot war.

Es war ein Schock. Genau wie die meisten Mitglieder seiner Familie hatte Spring stets nach der wahren Liebe gesucht. Aber anders als ihre Eltern war sie ein Mensch gewesen, der Verantwortung für Schutzbedürftige empfand. Niemals hätte sie ihr Kind freiwillig abgegeben.

Jetzt begriff er auch, warum Lilah Strong so zornig war. Offenbar war er wirklich nicht da gewesen, als seine Schwester ihn gebraucht hatte. Was, zum Teufel, war geschehen? Warum hatte er nicht gewusst, dass Spring Hilfe brauchte? Warum hatte sie sich nicht – so wie alle anderen es taten – an ihn gewandt, als sie in Schwierigkeiten steckte?

Er dachte an sein letztes Treffen mit seiner Schwester. Es lag etwa zwei Jahre zurück. Damals hatte Spring ihn um einen Vorschuss auf ihr Erbe gebeten. Sie war verliebt gewesen. Wieder einmal. Und wieder in einen Taugenichts. Sie gehörte zu den Menschen, die in anderen stets das Beste sahen – und damit regelmäßig auf die Nase fielen. Genau das hatte er ihr auch gesagt. Unmissverständlich hatte er ihr klargemacht, dass ihr Lover keinen Pfifferling wert war. Dass Coleman Bates keine Moral, keinen Ehrgeiz und natürlich auch kein Geld hatte. „Du willst ihn retten“, hatte er gesagt. „Aber es wird dir ebenso wenig gelingen wie bei den drei oder vier Typen vor ihm.“

Spring war gekränkt gewesen. Anscheinend hatte sie vergessen, wie oft sie schon in seinem Büro gestanden und ihn um Geld gebeten hatte, um einem dieser Loser zu helfen.

Reed erinnerte sich an jedes einzelne Mal. Vielleicht hätte er ihren Wunsch dennoch erfüllt, wenn er nicht kurz zuvor einen Anruf ihrer gemeinsamen Schwester Savannah erhalten hätte. Savannah hatte Coleman kennengelernt und war so entsetzt gewesen, dass sie Reed darüber informiert hatte. Das hatte Reed bewogen, ein paar Auskünfte über den Kerl einzuholen. Coleman war ein Krimineller, der bereits wegen verschiedener Verbrechen im Gefängnis gesessen hatte.

Autor

Maureen Child
<p>Da Maureen Child Zeit ihres Lebens in Südkalifornien gelebt hat, fällt es ihr schwer zu glauben, dass es tatsächlich Herbst und Winter gibt. Seit dem Erscheinen ihres ersten Buches hat sie 40 weitere Liebesromane veröffentlicht und findet das Schreiben jeder neuen Romance genauso aufregend wie beim ersten Mal. Ihre liebste...
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