Der Wind singt deinen Namen

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Die hübsche Lehrerin Becca ahnt, dass es in Aysgarth House für sie und den smarten Kevin Aysgarth ein Wiedersehen geben wird. Ob er ihr nach all den Jahren vergeben hat? Dabei war es nicht mal ihre Schuld, dass ihre Liebe durch eine Intrige seines Bruders Roy zerstört wurde …


  • Erscheinungstag 14.02.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755539
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Rebecca, Darling … wie froh bin ich, dich zu erreichen! Als du dich nicht gleich meldetest, fürchtete ich schon, du seist vielleicht nach Australien geflogen, um deine Eltern und deinen Bruder zu besuchen. Wie geht es dem lieben Robert eigentlich? Und Ailsa und den Mädchen? Die beiden müssen groß geworden sein … zwei und vier Jahre, nicht wahr? Ich …“

„Bitte, Tante Maud“, unterbrach Rebecca den Redestrom. Sie klemmte den Hörer unter das Kinn und versuchte, weiter Schulaufsätze zu korrigieren und gleichzeitig zu verstehen, was ihre Großtante sagte.

„Ach ja, Kind.“ Maud Aysgarth seufzte. „Warum ich dich anrufe? Ich brauche dringend deine Hilfe.“

Meine Hilfe? Rebeccas Stirnrunzeln galt nicht nur ihrer Tante, sondern auch dem Schüler, dessen Aufsatz sie gerade verbesserte.

„Meine Hilfe?“, wiederholte sie laut und betonte dabei absichtlich das erste Wort. Das angespannte Schweigen, das daraufhin am anderen Ende der Leitung eintrat, verriet deutlich, dass sie verstanden worden war.

„An wen hätte ich mich sonst wenden sollen?“, fuhr Tante Maud endlich mit dramatischem Unterton fort. Sie hatte entschieden schauspielerisches Talent und verstand es großartig, noch die nichts sagendste Äußerung pathetisch zu überhöhen. „Natürlich hätte ich lieber deine Mutter gefragt, aber da sie sich zurzeit in Australien befindet …“

Der leichte Vorwurf war deutlich herauszuhören, was Rebecca nicht wunderte. Welche Hilfe Maud Aysgarth auch brauchte – sie hätte sich bestimmt lieber an Rebeccas weichherzige und nachgiebige Mutter gewandt als an Rebecca selbst.

Sie vergaß vorübergehend, dass sie mit ihrer Tante telefonierte, und konzentrierte sich ganz auf den Aufsatz, der vor ihr lag. Die Leute, die meinen, dass ein Lehrer während der Ferien nur an seine Erholung zu denken braucht, sollten jetzt meinen Schreibtisch sehen, dachte sie. Die Aufsätze, die in der exklusiven Privatschule, an der sie unterrichtete, regelmäßig vor den großen Ferien geschrieben wurden, türmten sich zu bedrohlichen Stapeln auf, aber das war noch nicht alles. Die Stundenpläne für das Herbst- und Winterhalbjahr mussten vorbereitet werden, und das erforderte viel Zeit und Sorgfalt.

Rebecca liebte ihren Beruf und wusste auch, dass nur wenige ihrer Kollegen das Glück hatten, an einer Londoner Privatschule zu unterrichten, wo die Kinder im Allgemeinen gut erzogen waren und willig mitarbeiteten, weil sie etwas lernen wollten. Aber gerade darum wurde auch von den Lehrern volle Einsatzbereitschaft verlangt.

Rebecca achtete immer weniger darauf, was ihre Tante sagte. Welche Probleme konnte es schließlich in Aysgarth House geben, solange sich Kevin dort um alles kümmerte? Oder besser gesagt, alles wie ein unumschränkter Herrscher kontrollierte? Was Kevin nicht erlaubte, das geschah nicht. Er war so hart wie die Mauern des alten Hauses, von dem er alles fern hielt, was den Frieden seines kleinen Königreichs hätte stören können. Und doch liebte Rebecca das Haus und hatte einmal sogar davon geträumt …

„Du musst daher verstehen, mein Kind, dass ich mich an niemand anderen wenden konnte – nicht, solange Kevin fort ist und mir alles überlassen hat. Ich weiß nicht, wie lange du brauchen wirst, um herzukommen, aber …“

Um herzukommen? Rebecca fragte sich einen Moment, ob Tante Maud oder sie selbst verrückt geworden war. Kevin hatte ihr zwar nicht ausdrücklich verboten, Aysgarth House zu betreten, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er auf ihre Gegenwart keinerlei Wert legte!

Und warum nicht? Rebeccas Miene verdüsterte sich. Weil sie dummerweise einmal versucht hatte, ihm Kummer zu ersparen. Dafür war sie verurteilt und verbannt worden wie eine Verräterin, die es nicht länger verdiente, im Paradies zu leben.

Nein, lieber Gott, betete sie stumm. Lass mich den Schmerz und die Enttäuschung nicht noch einmal durchleiden. Es ist vorbei, die Vergangenheit ist tot und hat nichts mehr mit meinem Leben zu tun.

Und es war ein gutes Leben, das sie führte. Sie hatte einen Beruf, der ihr Spaß machte, hatte Freunde, die ihre Interessen teilten, Männer, die mit ihr ausgingen, die ihr schmeichelten und sie nicht mit eiskalten grauen Augen ansahen, die so viel Bitterkeit und Verachtung ausdrückten, dass einem das Blut in den Adern gefror.

Sie war glücklich und zufrieden und wünschte sich kein anderes Leben. Wozu verlorenen Möglichkeiten nachtrauern? Wozu sich vorstellen, was hätte sein können und nicht war? Mit sechsundzwanzig Jahren galt sie als erwachsene, reife Frau, die auf eigenen Füßen stand. Sie hatte die Vergangenheit überwunden – jedenfalls glaubte sie das. Warum musste Tante Maud sie aus ihrer Ruhe aufstören und an Dinge erinnern, die besser ein für alle Mal vergessen blieben?

„Was hast du gesagt?“ Rebecca fuhr zusammen. „Kevin ist nicht in Aysgarth? Aber er muss dort sein! Rory und Lillian haben die Kinder dagelassen, weil …“

„Das versuche ich dir ja gerade klar zu machen“, fiel Tante Maud ein. „Kevin war hier, bis er in letzter Minute für einen erkrankten Kollegen einsprang, der eine Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten machen sollte. Kevin hatte gar keine andere Wahl, als Leiter des Instituts musste er sich einfach zur Verfügung stellen. Er wird fast drei Monate fort sein.“

„Drei Monate?“ Rebecca war entsetzt. „Was wird da aus den Kindern?“ Sie wusste von ihrer Mutter, dass Kevins Nichte und Neffe, achtjährige Zwillinge, ziemlich locker erzogen waren und eine feste Hand brauchten. Ihre Eltern hatten sich nie die Mühe gemacht, sie zu bändigen, und jetzt lebten sie in Hongkong, wo Rory vor acht Monaten eine neue Stellung angetreten hatte. Lillian war mit ihm gefahren, die Kinder hatten sie ziemlich leichten Herzens in Kevins Obhut zurückgelassen.

„Kevin hat diesbezüglich genaue Anweisungen hinterlassen“, bemerkte Tante Maud spitz. Sie duldete niemals, dass jemand Kevin kritisierte. Nachdem seine und Rorys Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte sie sich bereit erklärt, nach Aysgarth House zu ziehen. Kevin war damals achtzehn gewesen, sechs Jahre älter als Rory. „Er hatte eine junge Frau engagiert, die sich um die Kinder kümmern sollte. Mehr konnte er schließlich nicht tun.“

Die Worte „eine junge Frau“ klangen so verächtlich, dass sich Rebecca alles andere ziemlich genau zusammenreimen konnte. Sie hatte schon viel von den Missetaten der Zwillinge gehört, denn ihre Mutter stand in regelmäßiger Verbindung zu Kevin, den sie gern ihren Lieblingscousin nannte.

„Ist der Frau etwas passiert?“, fragte Rebecca voller Mitgefühl.

„Ob ihr etwas passiert ist?“, wiederholte Maud höhnisch. „Sie ist fort, das ist passiert – hat einfach gekündigt und dabei beteuert, niemand könne sie zwingen, für zwei so unerzogene Kinder die Verantwortung zu übernehmen. Sie sprach von frechen Gören, stell dir vor.“

Rebecca sah ihre Tante vor sich, mit üppig wogendem Busen, empört darüber, dass jemand es gewagt hatte, die Familie Aysgarth so zu verunglimpfen. Heute ließ sie sich von so viel würdiger Autorität nicht mehr beeindrucken. Der Name Aysgarth hatte seinen einschüchternden Klang verloren. Früher war das anders gewesen. Da hatte sie scheu und benommen den Geschichten gelauscht, die ihre Mutter von den ruhmreichen Heldentaten längst verstorbener Vorfahren erzählte.

Die Ferien, die sie regelmäßig in Aysgarth House verbrachte, hatten nicht dazu beigetragen, diese ehrfürchtige Scheu zu zerstreuen. Daran war vor allem Kevin schuld gewesen – zehn Jahre älter als sie, dunkel, um nicht zu sagen düster, auf fast unheimliche Weise gut aussehend, ein erhabener Gott, der unmerklich von ihrem Leben und ihrem Herzen Besitz ergriffen hatte.

„Freche Gören?“, wiederholte sie jetzt lachend. „Sind sie das etwa nicht?“

Maud Aysgarth schwieg einen Moment und räumte dann widerwillig ein. „Nun, vielleicht sind die beiden etwas temperamentvoll, aber in ihrem Alter …“

„Sie sind außer Rand und Band“, unterbrach Rebecca ihre Tante ungerührt. „Wahrscheinlich hat Rory sie deswegen in Kevins Obhut gegeben – damit seine mustergültige Disziplin etwas auf sie abfärbt. Meiner Meinung nach sollte man sie allerdings schleunigst in ein gutes Internat stecken, wo man es versteht, ein zu eigenwilliges Temperament zu zügeln.“

„Du sprichst mir aus der Seele!“, rief Maud eifrig. „Darum rufe ich dich ja an. Mit deiner pädagogischen Erfahrung …“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber Rebecca merkte bereits, dass sie in eine Falle gegangen war, aus der sie nicht mehr entkommen konnte. „Natürlich, wenn deine Mutter da wäre … Aber wie auch immer, ich erinnere mich, dass du als Kind immer gern hier warst. Weißt du noch? Die schönen langen Sommerferien …“

Rebecca merkte, dass ihre Tante keineswegs davor zurückschreckte, ihrer Bitte durch moralischen Druck nachzuhelfen. Sie sprach es nicht offen aus, aber es war klar, was sie meinte. Sie appellierte an Rebeccas Gewissen und an ihr Verantwortungsgefühl für die Familie. Genauso gut hätte sie sagen können: Es ist deine Pflicht, mein Kind, alles stehen und liegen zu lassen und nach Cumbria zu kommen, um dich um Rorys Zwillinge zu kümmern.

Rebecca brauchte nicht lange zu überlegen, es gab genug Gründe, die gegen einen solchen Schritt sprachen. Nicht zuletzt hatte sie bereits ziemlich konkrete Pläne für eine Griechenlandreise gemacht, die sie mit Freunden unternehmen wollte. Aber sie brachte es nicht fertig, darüber zu sprechen. Sie zappelte schon in dem feinmaschigen Netz, das ihre Tante ausgeworfen hatte und das sich immer dichter zusammenzog.

Rebecca machte einen letzten Versuch, sich zu befreien, und fragte: „Hast du vergessen, dass Kevin meinen Besuch in Aysgarth House nicht gern sehen würde?“

Wieder folgte längeres Schweigen, dann sagte Maud mit müder, etwas klagender Stimme: „Mein liebes Kind, das alles ist doch schon so lange her. Ich bin sicher, dass Kevin die ganze Angelegenheit längst vergessen hat. Er war niemals nachtragend, und dieser dumme Streit damals …“

Dumm oder nicht, der Streit war bedeutend genug gewesen, um eine völlige Entfremdung herbeizuführen. Er hatte Rebecca acht Jahre lang von Aysgarth House fern gehalten und Kevin bewogen, sie kein einziges Mal einzuladen.

Während der ganzen acht Jahre hatten sie sich nur zwei Mal getroffen: einmal bei der Taufe der Zwillinge, an der Rebecca nur aus Stolz teilnahm. Noch jetzt erinnerte sie sich daran, mit wie grimmiger Miene Kevin sie übersehen hatte, so als sei sie gar nicht anwesend.

Das zweite Mal begegneten sie sich bei der Hochzeit ihres Bruders Robert mit Ailsa. Rebecca war Brautjungfer, begleitet von Rorys Zwillingen und einer ganzen Kinderschar aus Ailsas Familie. Sie hatte so viel damit zu tun gehabt, die aufgeregte Gesellschaft ruhig zu halten, dass es nicht weiter schwierig gewesen war, eine direkte Begegnung mit Kevin zu vermeiden.

Es war ein Schock für Rebecca, nach all den Jahren plötzlich aufgefordert zu werden, nach Aysgarth House zu kommen. Wäre Kevin dort gewesen, hätte sie nicht weiter darüber nachzudenken brauchen. Ihr Stolz hätte ihr verboten, einen Fuß über seine Schwelle zu setzen. Freilich wäre das Problem dann gar nicht erst aufgetaucht, denn Tante Maud brauchte ihre Hilfe nur, weil Kevin nicht da war. Rebecca konnte so viel hin und her überlegen, wie sie wollte – trotz der ernsten Zweifel, die sie hatte, trotz aller guten Gründe, die für eine höfliche, aber feste Ablehnung sprachen, fühlte sie sich gebunden. Sie konnte Tante Maud ihre Bitte nicht abschlagen. Sicher handelte sie unlogisch, vielleicht sogar verrückt, aber sie fühlte sich der Familie gegenüber noch immer verpflichtet. Sie hatte genug Grund, dankbar zu sein – wenn vielleicht auch nicht Kevin, so doch Tante Maud, die sie und Robert immer warmherzig aufgenommen hatte, wenn ihre Eltern aus beruflichen Gründen im Ausland waren und sich nicht um sie kümmern konnten.

Jetzt hatte sie Gelegenheit, Tante Maud die Liebe zu vergelten und Kevin gleichzeitig zu zeigen, dass sie freiwillig von Aysgarth House ferngeblieben war und nicht, weil er es von ihr verlangt hatte.

Oh, er hatte ihr nie ausdrücklich verboten zurückzukehren, das war nicht seine Art. Er setzte seine Wünsche leiser und grausamer durch. Mochte Tante Maud noch so bemüht sein, die Angelegenheit herunterzuspielen – Kevins Verbot hatte bestanden und bestand noch immer.

„Ich schaffe es aber erst zum Wochenende“, sagte sie und wusste, dass sie ihren Entschluss wahrscheinlich bereuen würde. „Warte vorher nicht auf mich.“

Worauf habe ich mich bloß eingelassen? fragte sich Rebecca, als sie den Hörer auflegte. Habe ich mich wirklich bereit erklärt, drei Monate lang auf zwei unerzogene, völlig verwilderte Kinder aufzupassen, noch dazu in einem Haus, dessen Besitzer mich verabscheut?

Lucy Summerfield, die mit ihr die Wohnung teilte, machte große Augen, als sie ihr die Neuigkeit erzählte.

„Rebecca Thornton!“, rief sie aufgebracht. „Kannst du nicht einmal an dich selbst denken? Du hattest so schöne Pläne. Die Reise nach Griechenland und …“

„Ich weiß“, unterbrach Rebecca sie, „aber es handelt sich um einen Notfall. Ich konnte einfach nicht Nein sagen. Schließlich sind es meine Verwandten.“

Lucy betrachtete sie nachdenklich. „Du hast mir nie erzählt, dass in Cumbria Verwandte von dir wohnen. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass du sie je besucht hättest.“

Die beiden Freundinnen teilten die Wohnung seit den gemeinsamen Universitätstagen. Anfangs konnten sie sich nur bescheidene Mietwohnungen leisten, bis Rebecca vor einigen Jahren eine kleine Eigentumswohnung erworben hatte, in der Lucy jetzt ihre Untermieterin war.

„Dafür gibt es gute Gründe“, erklärte Rebecca nachdrücklich. „Kevin hätte mir einen Besuch sehr übel genommen.“

„Willst du damit sagen, dass er dir das Betreten des Hauses buchstäblich verboten hat?“, fragte Lucy fassungslos. „Was hattest du denn verbrochen?“

Rebecca schüttelte den Kopf. „So einfach war es nicht. Kevin hat nie ein direktes Verbot ausgesprochen. Er ging feiner vor und ließ nur durchblicken, dass meine Anwesenheit in Aysgarth nicht mehr erwünscht sei.“

„Aber warum?“ Es war Lucy anzusehen, wie absurd ihr die Sache erschien. „Was warf er dir vor? Vielleicht Veruntreuung des Familienschmucks?“

Rebecca biss sich auf die Lippe. Sie hatte noch nie mit jemandem über Kevin gesprochen – nicht mal mit ihren Eltern, die wie Tante Maud davon ausgingen, dass sie sich aus irgendeinem unbedeutenden Grund gestritten hatten.

„Es ist eine ziemlich lange Geschichte“, erklärte sie, überwältigt von dem Bedürfnis, sich endlich einmal alles von der Seele zu reden. Das Gespräch mit Tante Maud hatte alte Wunden aufgerissen, und sie sehnte sich mehr denn je danach, sich jemandem anzuvertrauen, der sie verstehen konnte.

Lucy betrachtete sie gespannt. „Ich habe viel Zeit. Mach es dir gemütlich und erzähle von Anfang an.“

Rebecca setzte sich mit untergeschlagenen Beinen in die Sofaecke und begann zu erzählen.

„Es war kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag. Meine Eltern lebten vorübergehend in Südamerika, und ich sollte die Sommerferien wie üblich in Aysgarth verbringen. Rory kam nach London und holte mich von der Schule ab – nicht um mir einen Gefallen zu tun, sondern um sich in seinem neuen Auto zu zeigen. Er war damals ein halbes Jahr verheiratet, und Lillian erwartete die Zwillinge.“

Rebecca machte eine Pause und fuhr dann fort: „Kevin war von Anfang an gegen die Heirat. Er hielt Rory mit einundzwanzig Jahren für zu jung, um einen so entscheidenden Schritt zu tun, aber Rory hörte nicht auf ihn. Als er mich in London abholte, merkte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Wir hatten uns immer gut verstanden.“

„Wie Bruder und Schwester?“, fragte Lucy vorsichtig.

Rebecca sah sie etwas erstaunt an. „Natürlich wie Bruder und Schwester, was hast du denn gedacht? Während der Fahrt nach Aysgarth fragte ich Rory, warum er verstimmt sei, und erfuhr, was los war. Er hatte eine Affäre, und Kevin wusste davon. Irgendjemand hatte Rory und die Frau zusammen gesehen und Kevin einen Wink gegeben. Daraufhin hatte er Rory zur Rede gestellt und ihn aufgefordert, ihm den Namen der Frau zu nennen.“

„Und tat er das?“, forschte Lucy weiter, als Rebecca abermals schwieg.

„Rory wollte es ihm nicht sagen, denn die Frau, um die es sich handelte, war mit Kevin befreundet. Ihre Familie lebte erst seit Kurzem in der Gegend, und man war allgemein der Ansicht, dass Kevin und Michelle – so hieß sie – ineinander verliebt waren oder doch zumindest ein Auge aufeinander geworfen hatten.“

„Und was geschah dann?“ Lucy verfolgte den Bericht ihrer Freundin mit immer größerer Spannung.

Rebecca zuckte die Schultern. „Eigentlich nicht sehr viel. Rory bat mich, Kevin gegenüber die Rolle seiner Geliebten zu spielen.“ Sie seufzte. „Heute weiß ich, wie naiv und gutgläubig das von mir war, aber damals … Rory hielt mir vor, wie verliebt Kevin in Michelle sei und wie schwer es ihn treffen würde, von ihrer Untreue zu erfahren. Wie auch immer, ich ging auf seinen Vorschlag ein.“

„Ich verstehe“, meinte Lucy nach einer Pause. „Du warst gerade erst achtzehn geworden, unsterblich verliebt und daher ängstlich darauf bedacht, deinem Angebeteten jeden Kummer zu ersparen. Niemand kann dir deswegen einen Vorwurf machen.“

Rebecca verzog das Gesicht. „Sind meine Motive so leicht zu erraten?“

Lucy nickte. „Es passt einfach zu gut zusammen. Du warst doch in Kevin verliebt, oder?“

„Jedenfalls dachte ich das“, gab Rebecca zu, „obwohl sich die Dinge bald so entwickelten, dass diese angebliche Liebe in Hass umschlug.“ Sie schwieg und setzte wie abschließend hinzu: „Heute weiß ich, dass alles nur eine Backfischschwärmerei war.“

Es berührte Rebecca unangenehm, dass Lucy ihr Geheimnis so ohne weiteres erraten hatte. War sie damals vielleicht auch so leicht zu durchschauen gewesen? Vermutlich ja. Sie war viel zu verliebt gewesen, um ihre Gefühle vor anderen zu verbergen.

„Willst du behaupten, dass dieser Kevin tatsächlich glaubte, du und sein Bruder hätten ein Verhältnis?“, fragte Lucy verwundert.

Rebecca dachte einen Augenblick nach. „Ja“, sagte sie dann, „das glaubte er. Mein Gott, war er wütend! Er machte mir bittere Vorwürfe, beschuldigte mich, Rorys Ehe zerstören zu wollen, erinnerte mich daran, dass Lillian schwanger sei … Nun, du weißt schon, was man in einem solchen Fall alles sagt.“

„Und die Möglichkeit, dass du ihm etwas vormachtest, zog er nicht in Betracht?“

Rebecca machte ein erstauntes Gesicht. „Nein. Warum hätte er das tun sollen?“

„Warum?“ Lucy krauste die Stirn. „Aus keinem bestimmten Grund, wenn ich auch zugeben muss, dass mir dein Kevin ziemlich beschränkt vorkommt. Nicht zu merken, dass die Frau, die er liebte, ein Verhältnis mit seinem Bruder hatte, und dann so bereitwillig zu glauben, dass die Frau, die ihn liebte, die Schuldige war … Er muss ziemlich blind sein.“

Rebecca schüttelte den Kopf. „Gar nicht, er ist eher hellsichtig. So hellsichtig, dass es geradezu unheimlich sein kann.“

Lucy sagte nichts dazu, aber ihr Blick verriet deutlich, was sie dachte.

„Vielleicht wollte er mir auch glauben“, räumte Rebecca nach einer Weile ein, ohne zu wissen, warum sie Kevin überhaupt verteidigte. Er verdiente kein Wort der Entschuldigung und brauchte keins. Noch heute hörte sie die bitteren Vorwürfe, mit denen er zu ihr gekommen war, nachdem Rory sein Verhältnis mit ihr „gebeichtet“ hatte.

„Anders ausgedrückt, er zog es vor, in dir und nicht in seiner Freundin die Ehebrecherin zu sehen.“ Lucy rümpfte die Nase. „Das nenne ich nicht gerade hellsichtig, Rebecca.“ Sie schwieg eine Weile und fragte dann leichthin: „Und das Ende der Geschichte? Ich meine, wie ging es mit Kevin und dieser Michelle weiter?“

Rebecca sah nachdenklich vor sich hin. „Das ist das Merkwürdigste von allem … sie trafen sich noch einige Male, dann kühlte sich das Verhältnis ab. Jedenfalls entstand dieser Eindruck und sollte wohl auch entstehen. Vielleicht begann Kevin an Michelles Unschuld zu zweifeln und konnte die Enttäuschung nicht verwinden.“

„Das wäre möglich“, gab Lucy zu. Sie bückte sich nach einem Faden, der auf dem Teppich lag. „Jedenfalls seid ihr beide euch fortan aus dem Weg gegangen, nicht wahr?“

„Kevin gab mir auf unzweideutige Weise zu verstehen, dass meine Anwesenheit in Aysgarth nicht mehr erwünscht sei. Seitdem hat er nichts gesagt oder getan, was auf eine veränderte Meinung schließen ließe.“

„Und trotzdem wirst du jetzt dorthin beordert, um auf die schlecht erzogenen Kinder seines Bruders aufzupassen.“ Lucy lächelte. „Ich kann mir vorstellen, was er sagt, wenn er davon erfährt.“

„Ob ich lieber nicht hinfahre?“, fragte Rebecca und sah ihre Freundin ängstlich an. Trotz ihres blendenden Aussehens, ihrer Intelligenz und ihrer Geschicklichkeit im Umgang mit den Schülern fehlte es ihr manchmal unerklärlicherweise an Selbstvertrauen. Jetzt ahnte Lucy, wo der Grund dafür lag.

„Ganz im Gegenteil“, erklärte sie bestimmt. „Ich finde, du solltest unbedingt fahren.“ Sie bemerkte, wie erleichtert Rebecca war, und fuhr behutsam fort: „Hast du je daran gedacht, ihm die Wahrheit zu sagen?“

„Die Wahrheit?“ Rebecca wurde blass. „Jetzt noch?“

„Warum nicht? Nach seiner Trennung von Michelle besteht kein Grund mehr, die Lüge aufrechtzuerhalten. Warum hast du nicht längst zugegeben, dass du ihn damals nur schonen wolltest?“

Rebecca stand auf, ging zu ihrem Schreibtisch und schob mechanisch einige Hefte hin und her. „Warum sollte ich das tun? Soll er doch schlecht von mir denken, wenn er unbedingt will.“

„Brauchst du seine Verachtung, um dich dahinter zu verstecken?“, fragte Lucy geradeheraus, und die Röte, die sich auf Rebeccas Gesicht ausbreitete, sagte genug. Ihr zarter heller Teint verriet schnell, was sie fühlte, machte zusammen mit dem blonden, weich fallenden Haar aber auch ihren besonderen Reiz aus.

Lucy hatte mehr als einen Verehrer an ihre Freundin verloren, sobald sie sie einmal mit nach Hause gebracht hatte. Keiner schien Rebeccas Schönheit widerstehen zu können, obwohl sie – soweit Lucy wusste – die Gefühle ihrer Bewunderer niemals erwiderte. Lucy hatte sich oft gefragt, warum Rebecca alle Männer auf Abstand hielt. Auch hierauf glaubte sie jetzt die Antwort zu wissen.

„Es geht nicht!“, stieß Rebecca plötzlich heftig hervor. „Ich kann nicht nach Aysgarth fahren!“

„Sei nicht kindisch, Rebecca.“ Lucy stand ebenfalls auf und legte ihrer Freundin den Arm um die Schultern. „Du kannst hinfahren, und du wirst es tun. Außerdem hast du deiner Tante bereits zugesagt, es wäre unfair, sie nachträglich zu enttäuschen. Wovor hast du Angst? Selbst wenn Kevin vorzeitig von seiner Vortragsreise zurückkommt … er kann dich kaum gewaltsam aus dem Haus werfen, oder?“ Sie sah versonnen vor sich hin. „Ich an deiner Stelle wäre froh, endlich eine Gelegenheit zu haben, ihn mir zu verpflichten.“

Rebecca schüttelte den Kopf. „Du kennst Kevin nicht. Er hasst es, anderen verpflichtet zu sein. Und gerade mir! Er würde alles tun, um das zu vermeiden.“

„Zu spät, Darling.“ Lucy sah Rebecca ernst an. „Er ist dir schon seit langem verpflichtet. Du hast deinen guten Ruf geopfert, um Michelle zu decken und seine Gefühle zu schonen. Viel mehr kann man für einen anderen kaum tun. Wozu also noch Angst vor ihm haben?“ Sie sah, dass Rebecca zusammenzuckte, und fragte: „Du hast doch nicht etwa Angst vor ihm?“

„Natürlich nicht!“

„Umso besser. Dann hindert dich ja nichts daran, dein Versprechen einzulösen.“

Rebecca schwieg eine Weile und wiederholte dann: „Nein, nichts.“ Es klang wenig überzeugend.

Zu behaupten, keine Angst zu haben, ist leichter, als die Angst wirklich zu vergessen, dachte Rebecca immer wieder, während sie sich auf die Reise nach Cumbria vorbereitete. Kevin ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Sie stellte sich vor, was geschehen würde, wenn er von ihrer Anwesenheit in seinem Haus erfuhr, was kaum zu vermeiden war.

Dabei gab es weitaus wichtigere Dinge, die zu bedenken waren. Wie sollte sie zum Beispiel mit den Zwillingen fertig werden, die ihrer Erzieherin so zugesetzt hatten, dass sie vor ihnen geflohen war?

Die zehnjährigen Schüler, die sie unterrichtete, waren überwiegend intelligent und gut erzogen. Über die Zwillinge hatte sie weniger Erfreuliches gehört. Vielleicht waren sie ebenfalls intelligent, dafür fehlte es ihnen offensichtlich an Disziplin und an der Bereitschaft, sich berechtigten Wünschen der Erwachsenen zu fügen.

Rebecca dachte an ihre und Roberts Kindheit. Sie hatten beide darunter gelitten, dass ihre Eltern so oft ohne sie ins Ausland gereist waren. Ob es den Zwillingen ähnlich ging? Wollten sie durch ihre Ungebärdigkeit nur auf sich aufmerksam machen?

Rebecca berechnete die Fahrt genau. Großtante Maud besaß zwar einen üppigen Busen, aber in Fragen der Etikette war sie eher kleinlich. Rebecca hatte ihr versprochen, rechtzeitig zum Nachmittagstee, also pünktlich um sechzehn Uhr, in Aysgarth House einzutreffen.

„Dann hast du gleich Gelegenheit, Helen und Peter persönlich kennen zu lernen“, hatte Tante Maud gesagt, denn sie konnte trotz ihrer angeblichen Schusseligkeit und Weltfremdheit erstaunlich diplomatisch sein. Rebecca verstand überhaupt nicht so recht, warum sie Unterstützung für die Zwillinge brauchte. Nach allem, was sie von früher wusste, war Tante Maud durchaus fähig, zwei Plagegeister in Schach zu halten. Doch das war fast zwanzig Jahre her. Sie war damals Anfang fünfzig gewesen und nicht Anfang siebzig, wie jetzt. Heute konnte man kaum noch von ihr verlangen, zwei schwierige und offenbar etwas außer Kontrolle geratene Kinder zu bändigen.

2. KAPITEL

Aysgarth lag im nördlichen Teil Cumbrias, ziemlich weit entfernt vom berühmten Lake District. Rory hatte das oft genug beklagt und gesagt: „Wir leben am Ende der Welt, weit weg von allem, was das Leben lebenswert macht.“

Autor

Penny Jordan
<p>Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...
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