Ein Fall für Brody

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Wer will die zarte Jessica töten? Das muss der erfahrene Detektiv Brody herausfinden. Auf seiner Ranch in Colorado beschützt er sie. Aber nicht gut genug! Jessica stürzt von ihrem Pferd, als dieses angeschossen wird. Lange schwebt sie in Lebensgefahr …


  • Erscheinungstag 09.05.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733756970
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Jessica Lockhart drückte ihre Stirn gegen die verspiegelte Fensterscheibe und starrte auf den lebhaften Verkehr auf Chicagos Straßen, fünfundvierzig Stockwerke unter ihr. Sie seufzte. Ihr Atem hinterließ eine feuchte Spur auf dem kalten Glas.

Wie seltsame Insekten, die ihre Fühler in Form von Scheinwerferlicht ausstreckten, um ihren eiligen Besorgungen nachzugehen, huschten die Autos die Straßen entlang. Jessica blickte auf die Uhr. Es war fast zwei.

Sie stand auf einer Aussichtsterrasse, die zu einer Galerie gehörte, welche das zwei Stockwerke tiefer gelegene Atrium umsäumte. In dem schummerigen Licht, das von dem Fenster reflektiert wurde, konnte sie sehen, wie die Blätter der Feigenbäume im warmen Luftstrahl der Klimaanlage zitterten. Auch der Umriss ihres Bodyguards spiegelte sich in der Scheibe.

Brody Smith, Privatdetektiv. Mitinhaber eines kleinen privaten Sicherheitsunternehmens, das nur spezielle Aufträge übernahm. Doch dank ihrer Erbschaft war es Jessicas Treuhändern möglich gewesen, ihn zu engagieren.

Diese Vorstellung erschien ihr ein wenig widersinnig. Geld sollte das Leben vereinfachen. Und das tat es zweifellos auch. Aber es war gleichzeitig auch eine schwere Last.

Sie beobachtete Brody, der die Umgebung betrachtete. Schließlich fiel sein Blick auf sie. Wahrscheinlich fragte er sich, wie lange sie noch hier oben stehen und in die Nacht hinausstarren würde.

Die Galerie oberhalb des Atriums war ihr Lieblingsplatz. Er passte gut zu ihr, dieser hoch gelegene, einsame Ort.

Sein Spiegelbild stand still, dann streckte es sich. Er ließ seine Schultern kreisen, als wären sie steif geworden. Brody war ein hoch gewachsener, schlanker Mann mit schwarzen Haaren und dunklen, geheimnisvollen Augen. Er lächelte selten, doch wenn er es tat, dann veränderten sich seine rauen Gesichtszüge auf eine geradezu verblüffende Art und Weise.

Als gut aussehend konnte man ihn eigentlich nicht bezeichnen. Er hatte ein hartes Leben hinter sich, was man ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – schon an der Nasenspitze ansah, die offensichtlich schon einmal gebrochen gewesen war. Zweimal sogar, wie er in diesem großspurigen Tonfall bemerkte, den er immer aufsetzte, wenn sie ihm Privates zu entlocken versuchte. An seiner rechten Schläfe befand sich eine zwei Zentimeter lange Narbe. Eine Schussverletzung, hatte er ihr erzählt.

Irgendwie verschaffte ihm diese Narbe ein beinahe bedrohliches Aussehen. Sie vermittelte dem Betrachter, dass sich dieser Mann vor nichts fürchtete.

Im Gegensatz dazu war sein – wenn auch seltenes – Lächeln geradezu atemberaubend. Er hatte wunderbar ebenmäßige Zähne, deren strahlendes Weiß einen interessanten Kontrast zu seiner dunklen Haut bildete.

Sie seufzte erneut. Es war Zeit, sich auf den Nachhauseweg zu machen. Zuhause, das war das Anwesen ihres Großvaters, eine Stunde vom Stadtzentrum entfernt. Dort hatte sie die letzten sechs Monate verbracht. Widerstrebend drehte sie sich um. „Wollen wir gehen?“

„Wenn Sie bereit sind.“

Dem vollen Klang seiner Stimme waren keinerlei Gefühlsregungen zu entnehmen, weder Ungeduld noch Gereiztheit. Was konnte den Mann eigentlich aus der Ruhe bringen?

Vielleicht ein Annäherungsversuch ihrerseits? Nein, er würde sie sicherlich wieder mit diesem verständnislosen Blick ansehen, als hätte er keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. Weder Ärger noch Leidenschaft würde in seinen Augen auflodern.

Doch das stellte keinerlei Hindernis für ihre Pläne dar.

Sie sah wieder zum Fenster. Kälte durchdrang ihre Handflächen, als sie sie an die Scheibe presste. Sie unterdrückte das Bedürfnis, gegen das Glas zu schlagen. In letzter Zeit hatte sie öfters das Gefühl gehabt, ein Vogel in einem Käfig zu sein, der verzweifelt mit den Flügeln schlägt, um gegen ein Schicksal anzukämpfen, das sich ohnehin nicht ändern ließ.

„Wenn ich heirate“, sagte sie gedehnt, „würde das all meine Probleme lösen, nicht wahr?“

„Das kommt auf den Mann an.“

Sie überhörte geflissentlich seinen sarkastischen Unterton. „Ich spreche von meiner Erbschaft. Ich hätte den letzten Willen meiner Mutter erfüllt.“

Der Privatdetektiv umrundete die Plattform, während er aufmerksam auch nach dem kleinsten Anzeichen drohender Gefahr Ausschau hielt. Ihre Treuhänder vermuteten, dass ihr jemand nach dem Leben trachtete. Sie hegten sogar einen konkreten Verdacht – gegen ihren Onkel. Er würde das gesamte Vermögen erben, sollte sie bei ihrem Tod keine Nachkommen hinterlassen.

„Sie müssten aber ein ganzes Jahr verheiratet bleiben.“

„Naja, ein Jahr. Das ist doch nicht viel, wenn man bedenkt, wie lange die Menschen heutzutage leben.“

„Hm“, antwortete er vage.

Sie blickte ihn wieder an. „Nach einem Jahr kann ich das Geld vermachen, wem ich will. Oder es für wohltätige Zwecke spenden.“

„Mit fünfunddreißig würden Sie auch ohne Heirat erben“, entgegnete Brody. Argwöhnisch sah er sie an – wie ein Mann, der schon vielen Gefahren getrotzt hatte und wusste, wann es brenzlig wurde.

„Das dauert ja noch ewig. Ich möchte frei sein!“

Er nickte beinahe unmerklich. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Er würde es ihr nicht leicht machen.

„Seit fast einem Jahr habe ich schon einen Leibwächter. Soll das nun noch weitere neun Jahre …“ Sie schüttelte ablehnend den Kopf.

„Jemand hat versucht, Sie zu töten“, erinnerte er sie.

„Die Polizei sagt, es waren Unfälle.“ Sie klammerte sich an diese Version wie an einen Strohhalm.

„Wie viele solche Unfälle hatten Sie denn schon?“, fragte Brody scharf und zwang sie damit, sich an die seltsamen Vorfälle zu erinnern, die sich seit ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag ereignet hatten – von dem Moment an, als sie die Möglichkeit hatte, durch eine mindestens einjährige Ehe über ihr geerbtes Vermögen frei zu verfügen.

„Kurz nach meinem Geburtstag versagten die Bremsen meines Autos. Die Bremsflüssigkeit war ausgelaufen. Glücklicherweise trete ich immer auf das Bremspedal, wenn ich den Wagen starte. Es ließ sich durchdrücken, also wusste ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Der Mechaniker sagte, dass das Kabel durchgeschnitten war.“

Sie verstummte. Ihr fiel ein, dass die Polizei bei den Ermittlungen in der Nähe des Parkplatzes ein Medaillon mit dem Namen des Gärtners ihres Onkels gefunden hatte, der plötzlich auf mysteriöse Art verschwunden war. Doch es gab nichts, was die Schuld – oder Unschuld – ihres Onkels bewiesen hätte. Onkel Jesse wiederum beschuldigte ihren Großvater, ihm die Sache anhängen zu wollen. Die zwei Männer hatten sich nie gemocht.

Ebenso wenig wie Jessicas Mutter und ihr Großvater, der eigentlich ihr Stiefgroßvater war. Ihre Mutter hatte ihn in ihrem Testament nicht berücksichtigt. Sie hatte ihn wie ihr Bruder Jesse nie als Vater akzeptiert.

Für Jessica allerdings war er ihr einziger Großvater gewesen. Er hatte sie als elfjährige Waise aufgenommen und großgezogen. Dafür würde sie ihm immer dankbar sein. Außerdem war er einer ihrer Treuhänder, seit einer der drei Männer, die ihre Mutter bestimmt hatte, verstorben war.

„Und dann?“, bohrte Brody.

„Jemand versuchte, mich nachts von der schneeglatten Straße abzudrängen. Ich hatte das Gefühl, dass der Gärtner den Wagen fuhr. Seither hatte ich zwei verschiedene Bodyguards, aber beide Versuche verliefen nicht sonderlich befriedigend.“ Sie fröstelte.

„Vor einem Monat wurde es Ihnen dann zu viel, und Sie haben den letzten Kerl gefeuert?“

„Es war eine Sie. Ich habe sie dabei erwischt, wie sie in meinem Kleiderschrank herumschnüffelte. Sie war mir zu neugierig und zu aufdringlich.“

„Und in der Zeit, in der Sie keinen Leibwächter hatten, blockierte die Lenkung Ihres Wagens, der weniger als ein Jahr alt ist. Sie hatten großes Glück, dass es Ihnen gelungen ist, rechtzeitig zu bremsen, bevor Sie in die Mauer rasten. Die Fingerabdrücke Ihres Onkels waren auf dem Auto – und Sie sagen, Sie hätten bei einem Wohltätigkeitsball mit ihm gesprochen und dabei hätte er sich an Ihr Auto gelehnt.“

„So war es auch.“ Jessica suchte am Geländer Halt. Die Vorstellung, dass ein Verwandter nach ihrem Leben trachtete, war erschreckend. „Der Mann einer Freundin hat Sie mir empfohlen, Brody. Er meinte, Sie würden bestimmt herausfinden, wer hinter all dem steckt, sofern das überhaupt möglich ist. Und nun sind Sie seit drei Wochen hier – ohne Ergebnis. Die anderen haben in acht Monaten nichts entdeckt. Ich habe mir eine andere Lösung überlegt, eine viel einfachere.“ Sie lächelte spröde. „Ich brauche nur zu heiraten.“

„Und ein ganzes Jahr lang verheiratet zu bleiben.“

Sie fing seinen dunklen, lauernden Blick auf und fragte herausfordernd: „Sie denken wohl, das schaffe ich nicht?“

„Erraten.“

Seine harsche Antwort brachte ihr Blut zum Kochen. Eine Mischung aus Ärger und Demütigung durchflutete sie. „Haben Sie eine so schlechte Meinung von mir?“

Er zuckte mit den Schultern. „Fragen Sie nicht, wenn Sie die Antwort nicht ertragen.“

„Ich werd’s mir merken.“ Ihr Handtäschchen an sich gepresst, steuerte sie auf den Aufzug zu.

Brody ging neben ihr her. Sie steigerte das Tempo. Er hielt mühelos Schritt.

Am Lift drückte er den Zahlencode. Die Tür öffnete sich. Er musterte das Innere des Aufzugs genau, bevor sie ihn betreten durfte.

Sie hüllte sich enger in ihren Silberfuchs, den zu einer Jacke umgearbeiteten Lieblingsmantel ihrer Großmutter, und schlug den Kragen hoch, damit Brody die Röte in ihrem Gesicht nicht sehen konnte.

In der Tiefgarage unterzog er den Wagen einer genauso sorgfältigen Prüfung wie zuvor den Aufzug, obwohl ihn der langjährige Chauffeur der Familie seit ihrer Ankunft keinen Moment aus den Augen gelassen hatte.

Sie fühlte sich schuldig, weil die beiden Männer heute ihretwegen so lange arbeiten mussten. Aber sie hatte die Ruhe hier einfach gebraucht. Als Organisatorin des Wohltätigkeitsballs war sie den größten Teil des Abends im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gestanden. Mit Brody, der darüber gar nicht begeistert gewesen war, immer an ihrer Seite. Eine ihrer Freundinnen hatte ihn bei jeder sich bietenden Möglichkeit hemmungslos angeflirtet. Doch Brody hatte ihr die kalte Schulter gezeigt.

Das hatte Jessica auf die Idee gebracht. Er war unverheiratet und hatte offensichtlich Zeit, den ganzen Tag damit zu verbringen, auf sie aufzupassen und Nachforschungen über ihre Freunde und Familie anzustellen. Eine Frau schien es in seinem Leben nicht zu geben – konnte das nicht bedeuten, dass er eventuell auf ihren Vorschlag eingehen würde?

Im Auto fasste sie sich ein Herz und fragte ihn rundheraus: „Wären Sie bereit, mich für ein Jahr zu heiraten?“

Er starrte sie an. Ihr schien es eine Ewigkeit, bis er schließlich antwortete. „Nein.“

Sie war auf eine ablehnende Antwort gefasst gewesen, aber trotzdem traten ihr die Tränen in die Augen. „Ich würde Sie gut bezahlen. Ihr reguläres Gehalt und zusätzlich einen Bonus in derselben Höhe.“

„Nein.“

Sie zwang sich, ihr Angebot als eine rein geschäftliche Angelegenheit anzusehen. War es ja auch. „In Ordnung“, sagte sie mit einem Anflug von Galgenhumor. „Doppeltes Gehalt plus Bonus gegen ein Jahr Ihrer kostbaren Zeit.“

„Es ist nicht das Geld.“

„Was dann?“

„All die Verpflichtungen, die eine Ehe mit sich bringt.“

„Es ist ja keine richtige Ehe. Sie bekommen eine großzügige Entlohnung, und ich … ich könnte vielleicht endlich ein richtiges Leben führen.“

„Können Sie das jetzt etwa nicht?“

Sie blickte ihn an. „Nein, nicht, solange Sie immer um mich herum sind.“

„Und das sagt sie dem Mann, dem sie gerade einen Heiratsantrag gemacht hat“, murmelte er spöttisch.

„Seit meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag habe ich kein normales Leben mehr – seit jemand hinter meinem Geld her ist“, sagte sie heftig. „Meine Treuhänder bestehen darauf, dass Sie bei mir bleiben, bis ich heirate. Oder irgendein anderer starker Beschützer“, fügte sie düster hinzu. Sie blickte aus dem Fenster. Es begann zu schneien. Der Luxus, in dem sie lebte, erschien ihr zunehmend wie ein Käfig. Ein goldener zwar, aber eben ein Käfig.

Brody war der einzige Mensch, dem sie vertraute, ganz instinktiv. Er schien immer genau zu wissen, was er tat und wieso er es tat. Seine Anwesenheit wirkte beruhigend auf sie.

Aber sie war seit Ewigkeiten keine Minute mehr allein gewesen. Niemals allein, doch immer einsam. Hör auf, dich im Selbstmitleid zu suhlen, befahl sie sich streng.

„Ich meine es ernst, Brody. Es würde alle Probleme lösen, nachdem meine Treuhänder mir verbieten, Onkel Jesse Geld zu geben. Ein Jahr Ehe, und sie haben mir nichts mehr zu sagen!“

„Sie wollen Ihr Erbe Ihrem Onkel vermachen?“, erkundigte sich Brody beinahe neugierig.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie ehrlich. „Als Kind mochte ich ihn sehr. Wir hatten immer viel Spaß, wenn er zu Besuch kam. Auch meine Mutter fand ihn großartig. Leider schafft er es nicht oft, einen Job länger als einige Tage zu behalten. Mutter gab ihm häufig etwas. Das störte meinen Großvater. Ich kann mich erinnern, dass es einmal zu Weihnachten einen hässlichen Streit gab. Er sagte, Onkel Jesse sei ein schlechter Mensch. Meine Mutter wurde fuchsteufelswild, und wir gingen.“

„Sie haben bei Ihrem Großvater gelebt, nachdem Ihre Mutter starb?“ Brody kannte die wichtigsten Stationen ihres Lebens genau, aber manchmal fragte er nach, als wäre ihm etwas unklar.

Jessica nickte. „Meine Mutter hat zwar verfügt, was mit dem Erbe geschehen soll, aber nicht, wer das Sorgerecht erhält. Natürlich, sie hatte nicht erwartet, dass sie Krebs bekommen und innerhalb von acht Monaten sterben würde. Es gab eine Vormundschaftsverhandlung, und dann kam ich hierher. Mein Onkel hat zweifellos viel Charme, aber zu Geld ist er nie gekommen.“

„Hat er das selbst gesagt?“

„Nein, das hat mir Großvater erzählt.“

„Ihrem Onkel scheint es doch ganz gut zu gehen.“

Sie wurde wütend. Sie wollte ihren Onkel in Schutz nehmen. Er hatte eine andere Vorstellung vom Leben, aber sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass er versuchte, ihr zu schaden. „Er hat seinen Weg gefunden.“

„Und eine wohlhabende Freundin.“

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Brodys tiefe Stimme hatte diesen Unheil verkündenden Unterton, der verriet, dass er auch die dunklen Seiten des Lebens kennengelernt hatte.

Forschend sah sie ihn an, doch sie konnte nicht ergründen, was er damit meinte. „Was soll das heißen?“

„Nichts.“

Sein schroffer Ton ließ sie verstummen. Brody traute niemandem, soviel war klar.

Brody kontrollierte den Bereich unterhalb der Terrasse, die das Landhaus umgab. Alle Sicherheitssysteme schienen einwandfrei zu funktionieren. Verwundert über seinen steifen Rücken bewegte er die Schultern.

Er war angespannt, das war es.

Ein gewisses Maß an Anspannung war gut. Ein Mann musste wachsam sein. Doch das hier war etwas anderes.

Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. Er wusste genau, was sein Problem war. Als er vor ein paar Wochen das Büro eines alten Freundes, eines Rechtsanwalts, betrat, witterte er sofort, dass Gefahr im Verzug war. Der Anwalt stellte ihm Jessica Lacey Lockhart vor. Sie hatte einen Auftrag für ihn. Alle seine Sinne waren schlagartig in höchste Alarmbereitschaft versetzt gewesen.

Er erkannte Unheil von Weitem – selbst wenn es ihm in Gestalt eines wohlgeformten Körpers gegenüberstand, mit vom Wind zerzaustem, sonnengebleichtem Haar und einem Lächeln, das den verletzlichen Ausdruck der grauen Augen Lügen strafte. Er hatte diesen Fall – wider besseren Wissens – angenommen.

Und nun bot sie ihm die Heirat an.

Er hätte sich zurückziehen müssen, solange es noch ging. Nun war es zu spät. Schwache, verfolgte Menschen riefen in ihm unwillkürlich den Beschützerinstinkt hervor.

Und Jessica gehörte trotz ihres Reichtums zu ihnen. Sie bezahlte einen hohen Preis für ihr luxuriöses Leben.

Er rieb sich den Nacken. Er hatte Sehnsucht nach Colorado, danach, über sein Land zu reiten und die kalte Bergluft einzuatmen. Dort konnte man sich frei fühlen, unbelastet von dem gesellschaftlichen Druck, der in der Stadt auf einem lastete.

Während er um das jahrhundertealte Herrenhaus herumging, überprüfte er erneut die Sicherheitsvorkehrungen. Aus einem der Schlafzimmerfenster fiel ein Lichtschein in den Garten. Er blieb stehen.

Jessicas Zimmer.

Einen Augenblick lang fragte er sich, ob sie auf seiner Ranch, in die er seine gesamten Ersparnisse investiert hatte, dasselbe Gefühl von Freiheit empfinden würde wie er. Da sich sein Büro in Denver befand und ihn seine Aufträge durch ganz Amerika führten, konnte er sich dort nicht so oft aufhalten, wie er gerne wollte.

Doch das würde sich bald ändern. Langsam begann sich die Schafzucht selbst zu tragen, gelegentlich gelang es ihm sogar, einen kleinen Profit zu erwirtschaften. Darüber hinaus hatte er schon beinahe genug Geld, um sich aus dem aktiven Arbeitsleben zurückziehen zu können. Er könnte sein Sicherheitsunternehmen von der Ranch aus leiten und vor Ort einen Vertreter einstellen. Jessicas Geld würde dafür reichen.

Verblüfft hielt er inne. Er zog ihr Angebot tatsächlich in Erwägung.

War er von Sinnen?

Eine Bewegung in Jessicas Zimmer erregte seine Aufmerksamkeit. Wachsam blickte er über den Rasen zwischen ihrem Fenster und dem Zaun des Grundstücks. Nichts deutete auf einen Eindringling hin. Auf seiner Ranch konnten Tage vergehen, ohne dass man ein anderes lebendiges Wesen zu Gesicht bekam, vom zufälligen Besuch eines Kojoten oder Berglöwen einmal abgesehen. Ihm gefiel das.

Als er zur Terrassentür zurückkehrte, sah er Jessica dort stehen. Gedankenverloren starrte sie in die Nacht hinaus. Sie trug ein weißes, seidenes Nachthemd, darüber einen spitzenbesetzten Morgenmantel. Ihr kurzes, lockiges Haar umgab sie im Licht der Nachttischlampe wie ein Heiligenschein.

Sie sah aus wie ein Engel, doch eines Tages würde sie eines Mannes Untergang sein. Er würde diese Rolle keinesfalls übernehmen.

Als er aus der Dunkelheit trat, wich sie zurück, entspannte sich aber, als sie ihn erkannte.

Sie blickten einander durch die Scheibe hindurch an, zehn Sekunden, die ihm schienen wie eine Ewigkeit. Dann öffnete sie die Tür.

„Alles ruhig draußen, Sheriff?“, fragte sie und zog eine ihrer fein geschwungenen Augenbrauen hoch.

„Ja.“ Prüfend sah er sich im Zimmer um, dann glitt sein Blick langsam über ihren Körper. Sie hatte äußerst weibliche Formen: eine schmale Taille, aber breite Hüften und volle Brüste. Die Unschuld in ihren Augen bildete dazu einen krassen Gegensatz.

Brody blickte zu Boden. Sie war barfuß. Ihre Zehen waren zierlicher als alles, was er je gesehen hatte. Glatt, rosa, die manikürten Nägel hell lackiert.

Ein plötzliches Verlangen überkam ihn. Unwillig schüttelte er den Kopf. Die Wirkung, die diese Frau, die ihn nur als Ausweg aus ihrer misslichen Lage betrachtete, auf ihn ausübte, gefiel ihm gar nicht. Mit einem raschen Blick nach unten versicherte er sich, dass die heftige Reaktion seines Körpers noch nicht sichtbar wurde.

Als er aufsah, bemerkte er, dass ihre Augen seinem Blick gefolgt waren.

„Ich hatte mich schon gefragt, wie viel es wohl braucht, um Sie aus der Ruhe zu bringen“, murmelte sie heiser.

Brody machte eine abwehrende Handbewegung. „Dunkelheit. Ein Schlafzimmer. Eine Frau im Nachthemd. Jedem anderen Mann würde es ähnlich ergehen.“ Seine Stimme klang beherrscht, doch das Blut pulsierte heftig in seinen Adern.

Ihr verführerischer Duft, feminin und sexy, nach Parfüm, Puder und mehr, erfüllte den Raum. Tief sog er die Luft ein.

Für nur zwei lächerliche Cents würde er sie sofort auf das noble weiße Bett mit den vielen neckisch darauf verstreuten Kissen werfen.

„Haben Sie es sich anders überlegt?“, fragte sie. Er brauchte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, wovon sie sprach.

„Der Heiratsantrag?“, hakte er nach.

„Ja.“

„Auf keinen Fall lasse ich mich auf so etwas ein.“

Schamvolle Röte überzog ihr Gesicht, doch ihr Lächeln war eisig. „Schade.“

„Warum nehmen Sie nicht einen dieser High-Society-Typen von dem Ball heute Abend?“

„Ich traue keinem von ihnen.“ Jessica blickte ihn herausfordernd an.

Brody beherrschte sich mühsam. „Soll das heißen, dass Sie mich für zuverlässig halten? Tut mir leid, aber mit solchen Schmeicheleien kommen Sie bei mir nicht weit.“ Mit was aber würde sie bei ihm weiter kommen? schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Eigentlich müsste sie nur näher kommen und ihre straffen Brüste an seinen Oberkörper pressen. Das würde wahrscheinlich schon reichen, um ihm jedes Versprechen abzuringen.

Jessica warf aufgebracht den Kopf zurück. Er drehte ihr das Wort im Mund herum. Er, der so viel Vertrauenswürdigkeit ausstrahlte, schien keinem anderen vertrauen zu können. In ihrem Psychologiekurs hatte sie gelernt, dass die meisten Menschen in anderen ihre eigenen Fehler erkannten – und diese ihnen dann ankreideten. Bei Brody verhielt sich das anders. Er vertraute grundsätzlich niemandem.

„Wenn es nicht einmal hilft, an Ihr gutes Herz zu appellieren, was dann?“, fragte sie offen. Ihr gefiel die Idee, ihr Problem mit Brodys Hilfe zu lösen. Als ihr Ehemann würde er sie weiterhin beschützen, nur sein Gehalt wäre höher. Und nach einem Jahr …

Ein Jahr Ehe mit Brody. Plötzlich fragte sie sich, was er noch von ihr erwarten würde – und was sie zu geben bereit wäre.

Sex?

Wäre sie imstande, ihm für die Sicherheit, die ihr diese Ehe garantierte, ihren Körper zu schenken? Frauen hatten das schon immer getan, und oft genug weniger als Gegenleistung erhalten. Jessica wusste instinktiv, dass sie von ihm mehr als nur Sicherheit bekommen würde. Brody würde wissen, wie man eine Frau glücklich macht. Er war zu mannhaft, um sich seiner Partnerin nicht bewusst zu sein. Er würde zuerst ihre Lust stillen, bevor er sich der seinen hingab.

Sie spürte eine seltsame Hitze in sich aufsteigen, als hätte jemand in ihrem Inneren ein loderndes Feuer entfacht. Sie bemühte sich, seinem Blick standzuhalten, und bewegte sich nicht, als er näher kam.

Er streckte seine Hand aus und strich über den Spitzensaum ihres Morgenmantels. „Was ist das?“

Ein Blitz durchzuckte sie, weckte ein tiefes Begehren in ihr, dem sie erst selten nachgegeben hatte. Sie fragte sich, wie er wohl küsste, wie er eine Frau berührte, die seine Leidenschaft wachrief.

Seine Erregung war unübersehbar. Er konnte sie in diesen hautengen Jeans nicht verstecken. In seinen dunklen Augen sah sie Zuneigung, so flüchtig wie Tau im Sonnenschein. Er war ein vorsichtiger Mann.

„Ein Morgenmantel“, antwortete sie lässig und schob seine Hand beiseite.

„Eine Versuchung“, korrigierte er sie. „Der ich nicht vorhabe zu erliegen.“ Er drehte sich um und ging zur Tür.

„Feigling“, sagte sie sanft.

Mit dem Rücken zu ihr gewandt, blieb er stehen. „Vielleicht bin ich nur noch nicht verzweifelt genug.“ Er verschwand in der Dunkelheit.

Autor

Laurie Paige
Laurie Paige lebte mit ihrer Familie auf einer Farm in Kentucky. Kurz bevor sie ihren Schulabschluss machte, zogen sie in die Stadt. Es brach ihr das Herz ihre vierbeinigen Freunde auf der Farm zurück lassen zu müssen. Sie tröstete sich in der örtlichen Bibliothek und verbrachte von nun an ihre...
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