Ein Hauch von Verlangen

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Der Duft eines teuren Aftershaves weht herüber … und Natalie wagt einen Blick auf den faszinierenden Fremden im Zug. Dass er ungefragt für ihre verlorene Fahrkarte aufkommt, überzeugt sie: Ludo ist ebenso freundlich wie attraktiv. Tags darauf erfährt sie, dass eben jener Ludovic Petrakis die Hotels ihres Vaters zum Spottpreis kaufen will. Empört verlangt Natalie eine faire Summe, und tatsächlich gibt der griechische Investor nach - vorausgesetzt, sie begleitet ihn auf seine Heimatinsel. Als seine Scheinverlobte! Natalie wird klar: Ludo kann nicht nur ihrem Vater gefährlich werden …


  • Erscheinungstag 05.08.2014
  • Bandnummer 2139
  • ISBN / Artikelnummer 9783733700850
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Die Fahrkarten, bitte.“

Natalie Carr hatte sich eben erst auf ihren Platz fallen lassen und war noch ganz außer Atem. Sie hatte rennen müssen, um den Zug noch zu erwischen. Jetzt beugte sie sich über ihre große rote Ledertasche, öffnete das Innenfach, um ihre Fahrkarte herauszuholen, und stellte mit Schrecken fest, dass die Karte nicht da war. Mit heftig klopfendem Herzen hob Natalie den Kopf und lächelte den Zugbegleiter entschuldigend an. „Tut mir leid … die Fahrkarte muss hier irgendwo sein …“

Doch das war sie nicht. Natalie ging in Gedanken noch einmal genau durch, was sie getan hatte, bevor sie auf den Bahnsteig gerannt war. Sie war noch kurz auf der Toilette gewesen. Dort hatte sie das Erster-Klasse-Ticket hervorgeholt, um nach ihrer Sitzplatznummer zu sehen. Womöglich hatte sie es auf der Ablage vor dem Spiegel liegen gelassen, als sie sich den Lippenstift nachgezogen hatte.

Mit leicht mulmigem Gefühl durchsuchte sie ihre Tasche noch einmal und seufzte, als sie die Fahrkarte noch immer nicht fand. „Ich fürchte, ich habe mein Ticket verloren. Bevor ich in den Zug gestiegen bin, war ich kurz im Waschraum. Möglicherweise habe ich es dort liegen gelassen …“

„Dann müssen Sie ein neues Ticket lösen oder am nächsten Halt aussteigen – und selbstverständlich das Entgelt für die entsprechende Strecke zahlen.“

Der strenge Tonfall des grauhaarigen, diensteifrigen Zugbegleiters machte deutlich, dass er sich nicht erweichen lassen würde. Aber Natalie konnte kein neues Ticket bezahlen. Sie hatte das Zugticket völlig unerwartet von ihrem Vater zugeschickt bekommen, zusammen mit ein paar beunruhigenden Zeilen. Er hatte sie quasi angefleht, ihn in seiner ‚schwersten Stunde nicht im Stich zu lassen‘, und sie damit in blanke Aufregung versetzt. Und so hatte sie bei ihrer überstürzten Abreise geistesabwesend ein Portemonnaie eingesteckt, in dem sich nur ein paar Münzen befanden, und nicht das, in dem ihre Kreditkarte steckte.

„Ich kann nicht aussteigen. Es ist furchtbar wichtig, dass ich heute noch nach London komme. Wäre es möglich, dass Sie meinen Namen und meine Adresse aufnehmen und ich die Fahrkarte bezahle, sobald ich wieder zu Hause bin?“

„Leider widerspricht es unseren Anweisungen, dass …“

„Ich bezahle für die Dame. War es eine Rückfahrkarte?“

Jetzt erst bemerkte Natalie den einzigen anderen Reisenden im Abteil. Er saß jenseits des Ganges auf einem Platz mit Tisch. Sie fragte sich, wie sie ihn hatte übersehen können. Wenn der betörende Duft seines teuren Rasierwassers sie nicht davon überzeugt hätte, dass er ein sehr wohlhabender Mann mit ausgezeichnetem Geschmack war, so hätte es der perfekt sitzende dunkelgraue Nadelstreifenanzug getan, der aussah, als käme er direkt aus einem Armani-Showroom.

Aber auch ohne diese Details wäre seine Erscheinung beeindruckend gewesen. Er hatte leicht gewelltes blondes Haar, der Blick seiner hellblauen Augen war intensiv und seine Haut sonnengebräunt. Ein Grübchen am Kinn unterstrich seinen Sex-Appeal. Als Natalie ihm in das schön geschnittene Gesicht blickte, war ihr, als würde sie ein von einem großen Künstler geschaffenes Porträt betrachten.

Zu allem Überfluss fühlte sich Natalie von einem wohligen Gefühl ergriffen, das ihr durch und durch ging. Jeder Muskel in ihrem Körper schien sich zusammenzuziehen. Doch eine kleine Stimme in ihrem Kopf warnte sie, sich diesem Gefühl hinzugeben. Sie kannte weder diesen Mann noch seine Gründe dafür, ihre Fahrkarte zu bezahlen, und die Zeitungen waren voll mit unerfreulichen Geschichten über leichtgläubige Frauen, die vermeintlich vertrauenswürdigen Männern auf den Leim gegangen waren.

„Das ist sehr nett, aber ich kann Ihr Angebot nicht annehmen. Ich kenne Sie ja gar nicht.“

In höflichem Ton und mit einem leichten Akzent, den Natalie nicht einordnen konnte, antwortete der Fremde: „Lassen Sie mich zunächst die Angelegenheit mit Ihrer Fahrkarte regeln. Anschließend werde ich Ihnen sagen, wer ich bin.“

„Aber ich kann nicht zulassen, dass Sie die Karte für mich bezahlen … wirklich nicht.“

„Sie haben eben noch betont, wie wichtig es für Sie sei, heute noch nach London zu kommen. Meinen Sie nicht, dass Sie da jede Hilfe annehmen sollten?“

Zweifellos steckte sie in der Klemme – und der gutaussehende Fremde wusste es. Doch Natalie erwiderte: „Ja, ich muss unbedingt nach London. Aber ich kenne Sie nicht – und Sie mich nicht.“

„Trauen Sie mir etwa nicht?“

Angesichts seines belustigten Gesichtsausdrucks kam sie sich noch unbeholfener vor als ohnehin schon.

„Wollen Sie nun eine Fahrkarte oder nicht?“, fragte der Zugbegleiter ungeduldig.

„Ich glaube nicht, dass ich …“

„Ja, die Dame möchte gern eine Fahrkarte lösen“, warf der Fremde ein.

Natalies Protest war offenbar auf taube Ohren gestoßen. Dieser Mann sah nicht nur aus wie ein moderner Adonis, er hatte obendrein eine rauchige, angenehme und ungeheuer aufregende Stimme. Natalie merkte, wie ihre Entschlossenheit, vorsichtig zu sein, bedrohlich schwand.

„Na gut … wenn Sie darauf bestehen …”

Dass sie nach London kam, war so absolut vorrangig, dass sie ihre Bedenken ignorierte. Außerdem sagte ihr der Instinkt, dass dieser Mann aufrichtig war und keine Gefahr darstellte. Natalie hoffte inständig, dass sie sich nicht täuschte. Währenddessen sah der Zugbegleiter irritiert zwischen den beiden hin und her, als fragte er sich, warum dieser gutaussehende, wohlhabende Reisegast darauf bestand, die Fahrkarte einer Wildfremden zu bezahlen.

Natalie wusste, dass sie mit ihrer legeren Kleidung, dem langen dunklen Haar mit den rausgewachsenen Strähnchen und dem nachlässigen Make-up nicht unbedingt die Art von Frau war, die einen derart gepflegten und gut betuchten Mann wie diesen anzog. Aber falls der aschfarbene Kajal, den sie aufgetragen hatte, um ihre großen grauen Augen zu betonen, sie attraktiver machte, als sie tatsächlich war, dann war Natalie dankbar für diesen Effekt. Denn sie hatte keine andere Wahl, als das Angebot des Fremden anzunehmen. Sie musste unbedingt ihren Vater treffen.

Er hatte wirklich so verzweifelt geklungen! Und er hatte während des Telefonats mehr als einmal betont, wie wichtig es sei, dass sie zu ihm käme. Es war ungewöhnlich für ihn, dass er jemanden um etwas bat, und es zeigte, dass er doch ebenso fehlbar und verletzlich war wie jeder andere auch. Vor langer Zeit hatte ihre Mutter ihm vorgeworfen, unfähig zu sein, jemanden zu lieben oder zu brauchen, und dass er sich ausschließlich für sein Unternehmen und sein Bankkonto interessiere. Natalie zweifelte nicht daran, dass sein beruflicher Ehrgeiz ein wichtiger Grund für die Trennung ihrer Eltern gewesen war.

Nach der Scheidung hatte ihre Mutter beschlossen, zurück nach Hampshire zu ziehen. Natalie, die dort einen Großteil ihrer Kindheit verbracht hatte, war damals sechzehn gewesen und hatte entschieden, mit ihrer Mutter zu gehen. Auch wenn sie ihren Vater sehr geliebt hatte, so war ihr doch bewusst gewesen, dass er viel zu unzuverlässig war, um bei ihm bleiben zu können. Doch sie hatte ihn so oft wie möglich besucht und gespürt, dass er im Grunde seines Herzens wusste, dass all das Geld ihm einen geliebten Menschen an seiner Seite nicht ersetzen konnte.

Ab und zu hatten sich in seinem Blick Einsamkeit und Kummer gezeigt, und Natalie war sicher gewesen, dass die Trennung von seiner Familie der Grund dafür war. Seine Versuche, den Schmerz durch Affären mit jungen, gut aussehenden Frauen zu vertreiben, machten ihn auch nicht glücklicher. Ihr Vater war mit allem unzufrieden … sogar mit der phänomenal erfolgreichen Luxushotelkette, der er seinen Reichtum zu verdanken hatte.

„Eine einfache Fahrt reicht“, antwortete sie dem faszinierenden Fremden. „Und es braucht auch nicht erster Klasse zu sein. Mein Vater hat mir das Ticket geschickt, aber ich kann genauso gut zweiter Klasse fahren – wie normalerweise auch.“

Es gelang ihr nicht, ihre Verlegenheit zu verbergen, als sie zusah, wie der Mann dem Zugbegleiter seine Kreditkarte reichte. Dass er über ihre Bemerkung hinwegging und ein Erster-Klasse-Ticket löste, verstärkte ihr Unbehagen. Natalie hoffte inständig, dass er ihr wenigstens glaubte, dass sie das Ticket von ihrem Vater erhalten hatte. Denn sie sah sicher nicht aus, als könne sie sich ein teures Ticket leisten.

Ihr Vater reiste stets erster Klasse, weshalb er Natalie automatisch die teurere Fahrkarte gekauft hatte. Nun wünschte sie, dass er dies nicht getan hätte.

Nachdem der Zugbegleiter das Ticket ausgestellt und ihnen beiden eine angenehme Fahrt gewünscht hatte, reichte der Fremde Natalie lächelnd das Ticket. Sie war froh, dass außer ihnen niemand im Abteil war, denn es wäre ihr sterbenspeinlich gewesen, wenn irgendjemand mitbekommen hätte, wie überaus ritterlich dieser Mann sich ihr gegenüber verhalten hatte.

Errötend nahm sie das Ticket entgegen und hoffte, dass die verräterische Gesichtsfarbe so schnell wie möglich verschwinden würde. „Das ist sehr liebeswürdig von Ihnen. Vielen, vielen Dank.“

„Gern geschehen.“

„Würden Sie so nett sein, mir Ihren Namen und Ihre Adresse zu geben, damit ich Ihnen den Betrag, den ich Ihnen schulde, zusenden kann?“, fragte sie und kramte in ihrer roten Tasche nach Stift und Notizblock.

„Das hat Zeit. Warum klären wir das nicht, wenn wir in London sind?“

Um Worte verlegen und ein wenig erschöpft von ihrer wachsenden Anspannung stellte Natalie die Tasche auf den Fensterplatz neben sich und seufzte tief.

Mit einem entwaffnenden Lächeln sagte er nun: „Ich würde vorschlagen, dass wir einander zuerst vorstellen.“

„Na schön. Ich bin Natalie.“

Sie wusste nicht, warum sie sich gleich so persönlich gab und sich nicht förmlicher vorstellte. Dass sein blendendes Aussehen sie verwirrt hatte, mochte sie nicht als Erklärung durchgehen lassen. So etwas fehlte ja gerade noch! Wie oft hatte sie sich darüber geärgert, dass ihre Freundinnen offenbar vom gesunden Menschenverstand verlassen wurden, sobald ein attraktiver Mann sie in ein Gespräch verwickelte. Doch ihr war so etwas zu töricht. Lieber blieb sie den Rest ihres Lebens Single, als dass sie sich derart lächerlich machte.

„Mein Name ist Ludovic. Aber meine Freunde und Verwandten nennen mich einfach Ludo.“

Sie runzelte die Stirn. „Ludovic? Ein ungewöhnlicher Name …“

„Er wird schon lange in meiner Familie weitergegeben. Das ist Tradition. Ihr Name auch?“

„Nein. Die Schulfreundin meiner Mutter hieß so. Sie ist als Jugendliche gestorben, aber sie hat meiner Mutter viel bedeutet.“

„Was für eine traurige Geschichte … Entschuldigen Sie meine Neugier, aber Sie scheinen keine hundertprozentige Engländerin zu sein. Oder irre ich mich?“

„Ich bin Halbgriechin. Meine Mutter wurde auf Kreta geboren und ist mit siebzehn nach England gegangen, um hier zu arbeiten.“

„Und Ihr Vater?“

„Er ist Engländer … aus London.“

Ludo sah sie amüsiert an. „Also vereinen sich in Ihnen die Hitze des Südens und die eisige Kälte der Themse? Faszinierend!“

„So habe ich das noch nie gesehen.“ Bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass seine Bemerkung sie ärgerte, fragte sie sich insgeheim, wie sie ihm höflich klarmachen könnte, dass sie für den Rest der Fahrt nach London gern ihre Ruhe gehabt hätte.

„Offenbar habe ich Sie verärgert“, sagte er nun leise. „Das war nicht meine Absicht. Entschuldigen Sie bitte.“

„Nein, schon in Ordnung. Ich muss mich nur auf ein Treffen in London vorbereiten.“

„Ist es etwas Geschäftliches?“

Sie lächelte flüchtig. „Ich sagte doch, dass ich die Fahrkarte von meinem Vater bekommen habe, und mit ihm werde ich mich treffen. Ich habe ihn seit über drei Monaten nicht gesehen, und bei unserem letzten Gespräch schien er sehr beunruhigt … Ich hoffe, dass es nichts Gesundheitliches ist. Er hat schon einen Herzinfarkt hinter sich.“ Der Gedanke daran ängstigte sie.

„Das tut mir leid. Lebt er in London?“

„Ja.“

„Aber Sie wohnen in Hampshire?“

„Ja … mit meiner Mutter, in einem kleinen Dorf namens Stillwater. Kennen Sie es?“

„Allerdings. Ich lebe etwa acht Kilometer entfernt in Winter Lake.“

„Oh.” Winter Lake war eine der vornehmsten Gegenden in Hampshire und wurde oft als Millionärsviertel bezeichnet. Also hatte Natalie mit ihrer ersten Einschätzung, dass Ludovic gut betucht war, richtig gelegen. Aus irgendeinem Grund gab ihr dies ein ungutes Gefühl.

Als er sich vorbeugte und seine Hand auf die Sitzlehne stützte, bemerkte Natalie den auffälligen goldenen Ring, eingefasst mit einem Onyx. Rasch schaute sie wieder weg.

„Leben Ihre Eltern getrennt?“, fragte er nun höflich.

„Ja. Aber ich sehe meinen Vater regelmäßig … und heute bleibe ich bei ihm, es gibt sicher eine Menge zu bereden.“

„Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrem Vater?“

Die unerwartete Frage überraschte Natalie. Sie starrte in seine unergründlichen, ernsthaften blauen Augen und wusste einen Moment lang nicht, was sie sagen sollte. Oder was sie von sich preisgeben konnte.

„Zumindest hatte ich das, als ich klein war. Als meine Eltern sich haben scheiden lassen … na ja, da war es eine Weile lang ziemlich schwierig. Aber in den vergangenen Jahren ist es wesentlich besser geworden. Auf jeden Fall ist er der einzige Vater, den ich habe, und er bedeutet mir viel – darum ist es mir auch wichtig, nach London zu fahren und herauszufinden, was ihm Sorgen bereitet.“

„Ihr Vater kann sich glücklich schätzen, dass Sie sich so um ihn sorgen.“

„Ich bemühe mich redlich, liebevoll und verantwortungsvoll zu sein. Aber ich muss zugeben, dass es mir nicht immer leichtfällt. Er ist manchmal sehr unberechenbar, und es kommt vor, dass ich ihn nicht so recht verstehe.“ Sie errötete. Wie kam sie dazu, solche persönlichen Dinge vor einem Wildfremden zu äußern? Um sich selbst zu beruhigen, fragte sie: „Sind Sie selbst Vater? Ich meine – haben Sie Kinder?“

Als sie sah, wie sein wohlgeformter Mund sich schmerzhaft verzog, bereute sie ihre Frage, mit der sie offenbar zu weit gegangen war.

„Nein, meiner Meinung nach sollten Kinder in geordneten und stabilen Verhältnissen aufwachsen, und momentan ist mein Leben viel zu unstet, um dies zu gewährleisten.“

„Und wahrscheinlich wäre Ihrer Meinung nach eine feste Beziehung eine weitere Voraussetzung?“

Ludos geheimnisvolle blaue Augen blitzten belustigt auf. War sie zu weit gegangen? Warum sollte er einem wildfremden Mädchen, dem er aus der Klemme geholfen hatte, so etwas Persönliches über sich erzählen?

„Allerdings.“

Seine knappe Antwort machte ihn noch rätselhafter. Als Natalie ein Gähnen unterdrückte, glaubte sie, einen perfekten Vorwand gefunden zu haben, das merkwürdige Gespräch zu beenden.

„Wenn Sie nichts dagegen haben, ruhe ich mich ein bisschen aus. Gestern Nacht war ich lange mit einer Freundin unterwegs, und die Nacht war doch ein wenig kurz.“

„Nur zu. Ich selbst habe auch noch zu arbeiten“, antwortete Ludo und wies auf seinen Laptop, der aufgeklappt auf dem Tisch vor ihm stand. „Wir können uns ja später weiter unterhalten.“

Komischerweise klang das wie ein Versprechen.

Seine rauchige, betörende Stimme noch immer im Kopf lehnte sich Natalie zurück, schloss die Augen und schlief augenblicklich ein.

Sie kreischte vor Freude, als ihr Vater sie in dem Garten des Hauses, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, im Kreise herumwirbelte.

„Aufhören, Daddy! Mir wird schwindelig!“, schrie sie.

Aus den Augenwinkeln sah sie den vorbeifliehenden blauen Sommerhimmel, und die Sonne, die ihr ins Gesicht schien, machte sie so glücklich, dass sie die Welt umarmen wollte. Die Luft war von Vogelgezwitscher erfüllt. Ihre Mutter rief sie zum Tee hinein.

Natalie erwachte von dem gedämpften Geräusch einer sich öffnenden Tür, und der ergreifende Traum endete so abrupt, wie er begonnen hatte. Es frustrierte Natalie, dass sie nicht länger darin schwelgen konnte. Als Kind hatte sie wirklich geglaubt, das Leben sei wundervoll. Sie hatte sich so sicher und geborgen gefühlt und gemeint, ihre Eltern seien glücklich miteinander. Als Natalie die Augen öffnete, sah sie eine Bahnangestellte mit dem Getränkewagen ins Abteil kommen. Sie war jung und schlank, trug ihr rotbraunes Haar zurückgebunden und lächelte.

„Möchten Sie etwas essen oder trinken, Sir?“, fragte sie Ludo.

Dieser wandte sich Natalie zu. „Sie sind ja auch schon wieder wach. Wie wär’s mit einem Sandwich und einem Kaffee?“, fragte er freundlich. „Es ist fast Mittag.“

„Ach, schon?“ Noch ein wenig benommen straffte sich Natalie und sah auf die Uhr. Erstaunt stellte sie fest, dass sie fast eine Stunde geschlafen hatte. „Eine Tasse Kaffee wäre großartig“, sagte sie und griff in ihre Tasche, um Kleingeld hervorzuholen.

„Lassen Sie nur”, sagte Ludo abwehrend, „ich lade Sie ein. Wie trinken Sie Ihren Kaffee? Mit Milch oder Zucker?“

„Mit Milch und einem Stück Zucker, bitte.“

„Und wie sieht es mit einem Sandwich aus?“ Er wandte sich der Bahnangestellten zu. „Dürfte ich mal die Karte sehen?“

Als ihm das Mädchen die Karte reichte, gab er diese direkt an Natalie weiter.

Natalie war drauf und dran, ihm zu erzählen, dass sie nicht hungrig sei, als ihr Magen laut knurrte. Errötend starrte sie die mit goldener Schrift bedruckte Karte an.

„Ich hätte gern ein Sandwich mit gekochtem Schinken und Senf. Vielen Dank.“

„Also zwei davon und zu dem Kaffee mit Milch noch einen ohne“, sagte er zu der Bahnangestellten und sprach erst weiter, nachdem diese ihnen das Gewünschte auf den Tisch gestellt hatte und verschwunden war. „Gut geschlafen? Sie haben so komische Geräusche gemacht.“

Natalie erstarrte. Sie dachte an ihren Traum und vermutete, dass sie vielleicht laut aufgeschrien haben könnte, als ihr Vater sie herumgewirbelt hatte. „Habe ich im Schlaf gesprochen?“

„Nein – ich würde es eher als leises Schnarchen bezeichnen“, neckte er sie.

Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. „Ich schnarche nicht! Ich habe noch nie geschnarcht!“, protestierte sie. Als sie sah, dass Ludo noch immer lächelte, fügte sie etwas verunsichert hinzu: „Zumindest nicht, dass ich wüsste.“

„Ihr Freund ist wahrscheinlich zu höflich, es Ihnen zu sagen.“ Er nippte vorsichtig an seinem dampfenden Kaffee.

Ihr Herz pochte heftig. Sie fand seine Unterstellung überhaupt nicht witzig und sah ihn über den Gang hinweg empört an. „Ich habe keinen Freund. Aber auch wenn ich keinen habe, steht es Ihnen nicht zu, mich einfach im Schlaf …“ Der verwirrende Blick seiner blauen Augen ließ sie verstummen.

„… zu beobachten?“, beendete er ihren Satz.

Um nicht komplett irritiert zu wirken, antwortete Natalie nicht auf die Frage, sondern biss in ihr Sandwich und rührte den Zucker in ihren Kaffee.

„Sehr lecker“, bemerkte sie. „Ich habe gar nicht gemerkt, wie hungrig ich war. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich heute nicht gefrühstückt habe.“

„Man sollte nie ohne Frühstück aus dem Haus gehen.“

„Das sagt meine Mutter auch immer.“

„Sie sagten doch, dass sie von Kreta kommt, nicht wahr?“

Angesichts dieser weniger verfänglichen Frage entspannte sich Natalie wieder ein bisschen. Auch wenn sie nur ein paar Mal in Griechenland gewesen war, so hatte ihre Mutter früher stundenlang von ihrem Heimatland erzählt. „Ja. Waren Sie schon mal auf Kreta?“

„Ja, war ich. Eine sehr schöne Insel.“

„Ich war nicht oft da, aber ich würde zu gern mal wieder hinfahren!“, sagte sie. „Aber irgendwie geht die Zeit immer so schnell rum, und es kommt immer irgendetwas an Arbeit oder so dazwischen.“

„Nimmt Ihr Beruf Sie sehr in Anspruch?“

Natalie lächelte. „Als Beruf kann man es nicht gerade bezeichnen, aber ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich mache. Meine Mutter und ich betreiben zusammen eine kleine Pension.“

„Und was macht Ihnen daran am meisten Spaß? Der Umgang mit den Gästen, das Bettenbeziehen und das Kochen? Oder eher die geschäftliche Seite?“

Der Umstand, dass ihr Vater eine äußerst erfolgreiche Hotelkette betrieb, hatte ihr viel Wissen vermittelt. Trotz des Zerwürfnisses ihrer Eltern hatte sie sich die Tipps, die er ihr hier und da gegeben hatte, zu Herzen genommen. „Eigentlich beides“, antwortete sie. „Aber um die Gäste kümmert sich vor allem meine Mutter. Sie ist eine großartige Wirtin und Köchin, und unsere Gäste lieben sie. Ich bin vor allem für die geschäftliche Seite zuständig – dafür, dass alles glattläuft. Das liegt mir mehr als ihr.“

In Ludos Augenwinkeln bildeten sich Lachfältchen. „Also bestimmen Sie gern, wo es langgeht?“

Seine Bemerkung verunsicherte Natalie. Dachte er womöglich, dass sie prahlte? „Klingt das, als sei ich besserwisserisch und herrisch?“, wollte sie verunsichert wissen.

Ludo schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Dafür, dass man Verantwortung übernehmen kann, wenn die Situation es erfordert, braucht man sich nicht zu entschuldigen. Das gilt besonders im Job. Ein Unternehmen kann wohl kaum erfolgreich sein, wenn keiner die Zügel in die Hand nimmt. Ich bewundere so etwas sehr.“

„Danke.“ Plötzlich fiel Natalie auf, dass Ludo kaum etwas über sich preisgegeben hatte, während er sie dazu gebracht hatte, ziemlich viel über sich zu erzählen.

War er vielleicht Psychologe? Seinem äußerst selbstbewussten Verhalten und seiner teuren Kleidung nach zu urteilen musste er mit dem, was er machte, ein Vermögen verdienen. Sie hätte wirklich gern etwas mehr über ihn gewusst. Welche empfindsame Frau hätte sich nicht für einen so überaus attraktiven Mann interessiert? Es wurde Zeit, dass sie ihm auch ein paar Fragen stellte.

„Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“, wagte sie sich vor.

Ludo blinzelte. Dann starrte er eine Weile vor sich hin, bevor er sich ihr wieder zuwandte und ihr ein betörendes Lächeln schenkte. Als sie merkte, wie sehr sein Blick sie fesselte, machte ihr Herz einen Satz.

„Mein Beruf ist ziemlich vielfältig. Ich bin an verschiedenen Projekten beteiligt.“

„Also sind Sie Unternehmer?“

Er zuckte nur mit den Schultern. Warum war er so zugeknöpft? Dachte er etwa, sie wäre nur deswegen an ihm interessiert, weil er reich war? Eine grässliche Vorstellung – vor allem, nachdem er so nett gewesen war, ihre Fahrkarte zu bezahlen. So großzügig waren nur sehr wenige Leute.

„Ich möchte uns die unerwartet nette Zugfahrt nicht verderben, indem ich Sie mit Geschichten über meinen Beruf langweile“, antwortete er. „Außerdem würde ich gerne noch ein wenig mehr über Sie erfahren, Natalie.“

„Ich habe doch schon erzählt, was ich mache.“

„Was Sie beruflich machen, sagt aber noch nichts darüber aus, wer Sie sind. Ich wüsste gern ein bisschen mehr über Ihr Leben und Ihre Interessen.“

Sie errötete. Ludos unerwartete Direktheit machte sie einen Moment lang sprachlos, und ihr wurde ganz flau im Magen vor Wonne darüber, dass er die Fahrt mit ihr genoss. Das letzte Mal, dass sie etwas Derartiges empfunden hatte, war, als sie ihren ersten Kuss von einem Jungen, in den sie furchtbar verknallt gewesen war, bekommen hatte. Ihr Interesse an dem Jungen war nicht von langer Dauer gewesen, aber sie erinnerte sich noch gut an den aufregenden Kuss, der zärtlich und unschuldig gewesen war.

Autor

Maggie Cox
Schreiben und Lesen gingen bei Maggie Cox schon immer Hand in Hand. Als Kind waren ihre liebsten Beschäftigungen Tagträumen und das Erfinden von Geschichten. Auch als Maggie erwachsen wurde, zu arbeiten begann, heiratete und eine Familie gründete blieben ihre erfundenen Heldinnen und Helden ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Was immer...
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