Ein Marquess zum Verlieben!

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Lady Sara ist Witwe und genießt ihre Unabhängigkeit. Eine zweite Heirat? Niemals. Eine heiße Affäre? Jederzeit! Der attraktive Marquess kommt ihr da gerade recht. Doch je größer ihre Gefühle für ihn werden, desto banger fragt sich Sara: Was, wenn die Freiheit doch nicht das Wichtigste im Leben ist - sondern die Liebe?


  • Erscheinungstag 03.04.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505826
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

September 1818, Sandbay in Dorset

Die meergrüne Ladenfassade mit dem Hauch von Gold und den strahlend sauberen Fensterscheiben war ausgesprochen elegant. Aphrodites Muschel. Eine sehr pikante Namensgebung, fand Lucian, wenn man bedachte, dass Aphrodite die griechische Göttin der Liebe war und aus dem Schaum geboren wurde, der entstand als Kronos beschloss, Uranos um seine männlichsten Attribute zu erleichtern und sie kurzerhand in den Ozean zu werfen. Abgesehen davon sah das Geschäft feminin und leicht frivol aus, wie es sich für seinen Zweck und seine Lage ziemte. Es war kein Ort, an den er normalerweise den Fuß setzen würde, wäre er nicht vollkommen verzweifelt gewesen.

Doch Mr. L. J. Dunton, in der feinen Gesellschaft auch bekannt als Lucian John Dunton Avery, Marquess of Cannock, war in der Tat verzweifelt. Sonst hätte er sich nicht einmal auf hundert Meilen einem unbedeutenden Kurort wie diesem genähert, noch dazu im September. Doch besagte Verzweiflung hatte ihn dazu getrieben, um Rat zu fragen, und der Gastwirt des respektablen Royal Promenade Hotels hatte ihm dieses Geschäft empfohlen. Also öffnete Lucian die Tür und wurde von einem süßen Glockenklang begrüßt, als er eintrat.

Sara zupfte ein letztes Mal am Vorhangstoff und machte einen Schritt zurück, um die Zeichenutensilien zu bewundern, die sie gerade geschickt neben dem Ladentisch arrangiert hatte – Staffelei, Paletten, eine Schachtel Aquarellfarben, die Anfänge einer Skizze von der Bucht auf einer Leinwand –, alles geschmackvoll zu einem Stillleben zusammengestellt, dazu ein Sonnenschirm inmitten großer Muscheln und farbfroher Strandkiesel.

So, dachte sie zufrieden. Das sollte so manche Kundin dazu inspirieren, Pinsel und Farben zu kaufen und an den nächsten malerischen Aussichtspunkt zu eilen, um ein Meisterwerk zu kreieren.

Sie stellte die Gläser mit den Muscheln, die sie benutzt hatte, wieder zurück auf das Regal mit den übrigen Gläsern, die mit buntem Sand gefüllt waren, und den anderen geheimnisvollen Schachteln und Büchsen, die die Neugier der stöbernden Kundin wecken sollten. Ein Blick nach links zeigte Sara, dass die Regale mit den Büchern und Bilderrahmen und der Tisch mit den darauf verteilten Broschüren und Zeitschriften einen einladend ungezwungenen Eindruck machten.

Hinter ihr ertönte die Türglocke. Sara wandte sich um, und ihr herzliches Lächeln wurde unwillkürlich zurückhaltender. Es handelte sich nicht um eine ihrer üblichen Kundinnen. Tatsächlich war es nicht einmal eine Dame. Ihr Besucher war nicht nur ungewöhnlich, es war ein Mann – sogar ausgesprochen männlich und ganz offensichtlich ein besonders überragendes Exemplar seines Geschlechts. Saras Lächeln blieb ein wenig kühl. Sie war eine Frau und gewiss jung genug, um seine Vorzüge zu schätzen zu wissen, doch zu stolz, um es sich anmerken zu lassen.

„Guten Morgen, Sir. Ich glaube, Sie haben sich womöglich verlaufen. Leihbibliothek und Lesesaal befinden sich zwei Gebäude weiter auf dieser Seite der Straße.“

Er musterte das Innere des Geschäfts, drehte sich jetzt aber zu ihr um, als sie sprach, und nahm den Hut ab. „Ich war auf der Suche nach Aphrodites Muschel, nicht nach der Leihbibliothek.“

„Dann sind Sie hier richtig. Willkommen. Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?“

Aphrodite, nehme ich an? Die Frage lag ihm offensichtlich auf den Lippen, aber er hielt sie mit einem kaum merklichen Lächeln um die Mundwinkel zurück und antwortete lediglich: „Das hoffe ich.“ Er blickte flüchtig auf ihre Hand und bemerkte den Ehering. „Mrs. …?“ Seine Stimme klang reserviert, gebildet und sehr selbstbewusst.

Sara kannte diese Sorte Mann. Ihr Vater gehörte dazu und ihr Bruder genauso, beide Vollblüter allererster Güte, Aristokraten, die sich auszeichneten durch ein blindes Selbstvertrauen, das ihnen Generationen nie angezweifelter Vorrechte geschenkt hatten. Aber sie waren auch harte Männer, die alles taten für ihre körperliche Ertüchtigung, denn so konnten sie bei allen sportlichen Freizeitbeschäftigungen, derer man in ihrer Klasse gemeinhin frönte, brillieren – im Reiten, Wagenlenken, Boxen und Krieg führen.

Ob diese Gentlemen jedoch über Geld verfügten oder nicht, konnte man fast unmöglich sofort erkennen, weil sie eher hungern würden als sich weniger als makellos herausgeputzt den Blicken der Gesellschaft zu zeigen. Ihre Manieren waren vorzüglich und ihr Benehmen Frauen gegenüber – den Frauen ihrer eigenen Klasse – nachsichtig und fürsorglich. Nichts war ihnen wichtiger als ihre Ehre, die sie hauptsächlich mit jenen Frauen verbanden, in deren Namen sie sich duellierten, um selbst die geringste Beleidigung zu rächen.

Sara konnte dieser Art von Benehmen nichts abgewinnen. Sie fürchtete sie sogar. Ebenso wenig billigte sie ihr Benehmen den übrigen Frauen gegenüber, mit denen sie in Kontakt kamen. Achtbare Damen jeder Klasse wurden von ihnen mit Höflichkeit und Respekt behandelt – mit einer Ausnahme. Attraktiven Witwen begegneten sie zwar mit Höflichkeit, aber nicht unbedingt mit Respekt, und Sara wusste, dass sie eine attraktive Witwe war.

Sie beschwor im Geiste das Bild eines sehr großen, besitzergreifenden Gatten herauf. „Mrs. Harcourt.“

Die Herzlichkeit in seinem Blick, die kaum merklichen, unbestreitbar attraktiven Lachfältchen in den Augenwinkeln, die auf ein unterdrücktes Lächeln hinwiesen, waren der einzige Anhaltspunkt auf das, was er Saras Vermutung nach dachte.

Er war wirklich ein sehr ansehnlicher Mann, wie sie zugeben musste, und sie brachte es zu ihrem Ärger nur mit Mühe fertig, gelassen zu bleiben. Er war hochgewachsen, wohlproportioniert und hatte dichtes mittelbraunes Haar und haselnussbraune Augen. Seine Nase war leicht gebogen, das Kinn entschlossen und der Mund … sündhaft. Zwar konnte Sara nicht sagen, warum ihr das so erschien, aber sie wusste, dass es entschieden unklug von ihr gewesen wäre, ihm auf den Mund zu starren.

„Sir?“, ermunterte sie ihn.

„Ich habe eine Schwester. Sie ist achtzehn, und ihre Gesundheit ist ein wenig angeschlagen. Sie ist gedrückter Stimmung und alles andere als glücklich darüber, hier in Sandbay zu sein.“

„Vielleicht ist ihr langweilig?“

„Sehr“, gab er zu. Und als Sara nichts daraufhin sagte, ließ er sich dazu herab, die Lage genauer zu erklären. „Es geht ihr nicht gut genug, als dass sie im Meer baden könnte, und in jedem Fall ist sie nicht an den Ozean gewöhnt. Deswegen fühlt sie sich auch nicht wohl genug, um am Strand spazieren zu gehen. Sie hat hier keine Freunde, und es wohnen nicht viele junge Damen hier, soweit ich sehen kann. Zu Hause – wenn es ihr besser ginge – würde sie zu Gesellschaften und Picknicks gehen, zum Theater oder Tanzveranstaltungen oder zum Einkaufen in den Geschäften. Zumindest wären ihre Freundinnen zur Stelle. Hier fühlt sie sich nicht kräftig genug für Abendveranstaltungen.“

„Sie möchten also eine Beschäftigung für sie finden. Etwas, das ihr helfen wird, sich die Zeit zu vertreiben. Kann sie zeichnen?“

„Ihre Gouvernante hat es ihr beigebracht, aber ich glaube nicht, dass sie sich je bemüht hat, ihre Kunst zu vervollkommnen. Marguerite war stets zu rastlos für so etwas.“

Wenn die junge Frau von Natur aus lebhaft war, dann mussten die Genesungszeit und deren Einschränkungen besonders unangenehm für sie sein. „Kann sie sich wenigstens ein bisschen draußen an der frischen Luft bewegen?“

„Einige hundert Meter an der Promenade entlang scheinen ihr zu gelingen. Dann macht sie schlapp. Ich weiß nicht, ob ihre Erschöpfung mit Schwäche zu tun hat oder mit ihrer Niedergeschlagenheit.“

„Würde sie ins Geschäft kommen und sich das Angebot ansehen wollen?“

„Das weiß ich nicht. Wohl nicht, wenn ich es ihr vorschlage.“ Er presste die Lippen zusammen, was bewies, dass er mehr von seiner Verärgerung offenbart hatte, als ihm lieb war.

Die junge Dame war also unzufrieden mit ihrem Bruder. Wahrscheinlich wollte sie mit ihren Freunden in London sein, so ungesund diese rußverschmutzte Stadt auch für sie war. „Soll ich dann zu ihr kommen? Ich könnte ihr Dinge zeigen, die sie vielleicht gerne ausprobieren würde, zum Beispiel Zeichenmaterialien.“ Während sie sprach, deutete Sara auf die Fülle von Gegenständen in ihrem Geschäft. „Etwas von alldem könnte sie verlocken.“

„Verlocken?“ So wie er das Wort aussprach mit seiner warmen, tiefen Stimme, war es wie eine Berührung. Er stand ungewöhnlich ruhig da für einen Mann seiner Größe. Aus irgendeinem Grund machte es Sara unruhig, obwohl ihre engsten männlichen Verwandten die gleiche Unerschütterlichkeit an den Tag zu legen pflegten. Sie rührte von ihrer körperlichen Kraft her und von dem Wissen, dass sie nichts zu tun brauchten, um sich bemerkbar zu machen. Aber jetzt handelte es sich weder um ihren Vater noch ihren Bruder. „Das wäre äußerst freundlich, Mrs. Harcourt. Aber wer achtet dann für Sie auf Ihr Geschäft? Vielleicht Ihr Gatte?“

Das war sehr ungeschickt von ihm, die erste taktlose Geste, die er sich erlaubte, und der klägliche Zug um jene aufregenden Lippen wies darauf hin, dass er sich dessen wohl bewusst war.

„Ich bin verwitwet, Mr. …?“ Keinen Moment kam ihr der Gedanke, sie würde weniger als einen Titel zu hören bekommen oder zumindest einen Familiennamen, der ihr bekannt sein würde. Sie erkannte ihn zwar nicht, aber sie war ja auch nur eine Saison in London gewesen, bevor sie Michael geheiratet hatte und mit ihm nach Cambridge gezogen war. Also war es gut möglich, dass sie dem Gentleman nicht begegnet war.

„Dunton.“ Er holte sein Kartenetui hervor und legte eine Visitenkarte auf den Tresen. „Wir wohnen im Royal Promenade Hotel.“

„Wo sonst?“, murmelte Sara. Für einen Mann mit einer so akkurat geschneiderten Jacke und diesen Manieren waren selbst die besten Privatunterkünfte in Sandbay nicht gut genug. Sie nahm die Karte, spürte die teure Gravierung unter ihrem Daumen, warf einen Blick darauf und war überrascht. Ein schlichter Mister? Nicht einmal mit dem Zusatz eines Honourable vor seinem Namen? Sara war nicht sicher, ob sie das glauben konnte, allerdings konnte sie seine Behauptung nicht infrage stellen. Und solange er in keine kriminellen Aktivitäten verwickelt war, konnte er sich nennen, wie es ihm beliebte.

Leise Geräusche waren hinter dem Vorhang zu hören, der die Tür zum Hinterzimmer verbarg. „Entschuldigen Sie, Sir. Mrs. Farwell, hätten Sie einen Moment Zeit?“

So viel musste man ihm lassen, Mr. Dunton zuckte nicht mit der Wimper, als Dot mit dem Nudelholz in der Hand erschien. Sie war eine große Frau, wie die meisten Frauen, die die Badekarren hier bedienten. Finster blickte Dot ihn an, wie sie es immer tat, wenn ein Mann in Saras Nähe kam. Und er erwiderte ihren Blick gleichmütig. Dot grunzte leise, als hätte er eine Art Test bestanden.

„Ich werde diesen Gentleman ins Hotel zu seiner Schwester begleiten. Macht es Ihnen etwas aus, eine Stunde allein zurechtzukommen? Ich erwarte zum heutigen Nachmittagstee nicht mehr Leute als gewöhnlich, und alles ist schon fertig.“ Sara reichte ihrer Hausangestellten die Karte. Dot konnte nicht gut lesen, aber es schadete nicht, Mr. Dunton sehen zu lassen, dass jemand wusste, mit wem sie unterwegs war. Sie mochte ja unabhängig sein – mehr als gut für sie war, wie ihr Bruder Ashe fand –, aber sie war nicht so leichtsinnig, mit einem fremden Mann mitzugehen, ohne Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Ganz besonders mit diesem Mann, der nicht war, wer er vorgab zu sein, wovon sie überzeugt war.

„Ja, alles ist vorbereitet. Ich muss nur noch den Tee aufgießen. Sandwiches sind geschmiert, Früchtekuchen und einfache Brötchen mit Erdbeermarmelade müssen nur noch hingestellt werden. Und der Junge hat einen ordentlichen Brocken Eis gebracht, sodass die Sahne und die Butter schön kalt liegen. Ich nehme einfach mal meine Schürze ab und komm nach vorn.“ Dots Akzent mochte ja der reinste Dorset-Akzent sein, doch keiner von Saras Kundinnen hatte je Probleme, Dot zu verstehen. Hätte das Schicksal entschieden, sie irgendwo anders als in einem Fischerdorf zur Welt kommen zu lassen, hätte Dot sehr viel mehr aus sich gemacht, als es sowieso schon der Fall war.

„Ihr Geschäft ist auch ein Teeladen?“, fragte Mr. Dunton, während Sara nach einem Korb griff und begann, verschiedene Dinge hineinzulegen, mit denen sie versuchen wollte, das Interesse seiner Schwester zu erregen. Es war schwierig zu entscheiden, was sie auswählen sollte, da Miss Dunton entweder krank und zerbrechlich war oder lediglich ein eigenwilliges, verzogenes Kind. Man würde sehen.

„Wir bieten zweimal in der Woche Tee und Erfrischungen an. Die Kundinnen arbeiten an ihren jeweiligen Projekten oder ihren Schreibversuchen. Sie tauschen Ideen aus und trinken dabei ihren Tee. Hier finden die Damen einen angenehmen Ort, an dem sie sich versammeln können und man nicht von ihnen erwartet, sich auf müßiges Geplauder zu beschränken oder lediglich dekorativ herumzusitzen.“

„Und es ermutigt sie, ihre Materialien aufzustocken, wenn sie schon einmal hier sind.“

„Genau. Schließlich handelt es sich um ein Geschäft, Mr. Dunton. Die Damen beratschlagen sich untereinander, lernen neue Fertigkeiten kennen, nachdem sie sie bei den anderen beobachten konnten, und verbringen einige unterhaltsame Stunden miteinander. Sind Sie so weit?“

Sie warf sich eine leichte Pelisse über, setzte sich ihren neuen, erfreulich schicken Hut auf, und legte ihr Retikül zu den Materialien in ihrem Korb. Mr. Dunton streckte die Hand nach dem Korb aus, doch Sara ließ nicht los. „Es ist jemand da, der ihn für mich tragen wird, vielen Dank, Sir. Ich bin bald wieder zurück, Dot.“

Er hielt die Tür für sie auf und wollte schon wieder einen höflichen Kampf um ihren Korb beginnen, da trottete Tim Liddle aus der Gasse neben der Modistin auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er war acht Jahre alt und die wichtigste Unterstützung für seine verwitwete Mutter, also übertrug Sara ihm jede kleinere Arbeit, die sie finden konnte, und manche, die sie selbst erfinden musste. Er war sauber, aber sehr dünn, trotz ihrer Bemühungen, ihn aufzupäppeln, und er trug Sachen, die abgenutzt und oft zu groß für ihn waren. Doch sein Lächeln, mit denen er seine niedlichen Zahnlücken zur Schau stellte, war fröhlich.

„Da bist du ja, Tim. Bring das hier bitte zum Hotel für mich, sei so lieb.“ Sara reichte ihm den vollen Korb, nahm den Arm, den Mr. Dunton ihr bot, und warf ihm unter ihrer Hutkrempe einen Seitenblick zu, während sie den Hügel zur Promenade hinuntergingen. „Sie glaubten doch nicht allen Ernstes, ich würde mit einem mir unbekannten Gentleman in ein Hotel gehen? Einfach so, ohne Begleitung?“

„Dieser Junge stellt wohl keinen besonderen Schutz dar, wenn Sie es mit einem skrupellosen Mann zu tun hätten, würde ich sagen.“

„Nein? Wenn ich nicht wieder zur angegebenen Zeit erscheine, wird Tim das gesamte Hotelpersonal zusammentrommeln, dann Dot holen und danach den Konstabler, der ein Cousin zweiten Grades ist.“

„Ah, die beeindruckende Dot. Sie würde gewiss jeden übel gesinnten Mann in Angst und Schrecken versetzen. Sehr gut möglich, dass sie Kronos in seinem Angriff auf Uranos hätte beistehen können, wenn man ihre kräftigen Arme in Betracht zieht und den Blick, mit dem sie mich bedachte. Missfällt ihr mein Gesicht im Besonderen, oder hat sie grundsätzlich etwas gegen das gesamte männliche Geschlecht?“

Sara ließ sich nicht davon provozieren, dass er die Geburt der Aphrodite erwähnte. „Dot war Bademeisterin. Und jene Frauen müssen sehr stark sein, um mit den aufgeregten Kunden fertigwerden zu können, die noch nie zuvor im Meer geschwommen sind. Einige von ihnen fallen hinein und müssen aus den Wellen herausgezogen werden, andere werden wieder sehr aufgeregt, wenn sie ins Wasser eingetaucht werden sollen, und müssen sehr energisch angepackt werden. Dot verletzte sich den Rücken, sodass sie nicht mehr in der Lage war, die schwere Arbeit zu verrichten, also hilft sie mir jetzt im Geschäft. Sie war dankbar für die Gelegenheit und hat es sich völlig unnötigerweise zur Aufgabe gemacht, mich vor … Aufdringlichkeit zu beschützen.“

Das sollte jede Neigung, die Mr. Dunton verspüren sollte, mit ihr zu flirten, im Keim ersticken. Sara, die nichts dagegen hatte, die Begleitung eines großen, eleganten Gentlemans zu genießen, ebenso wenig wie das Gefühl eines muskulösen Arms unter ihrer Hand, ließ die fünf Minuten, die sie bis zum Royal Promenade Hotel brauchten, schweigend verstreichen.

Das Hotel war ein weitläufiges Bauwerk, das aus einer Reihe nebeneinander liegender Gebäude bestand, alle durch Verbindungstüren und Gänge miteinander verbunden. Alles schien gut zusammenzupassen durch die einheitlich helle Farbe, mit der die gesamte Fassade gestrichen worden war, von der die königsblaue Verkleidung sich elegant abhob. Der Name des Hotels wurde in großen Goldbuchstaben verkündet.

Mr. Dunton nahm Tim den Korb ab und blieb vor dem Empfang stehen, wo der Besitzer mit dem Rezeptionisten sprach. „Mr. Winstanley, würden Sie bitte Mrs. Harcourt zu unserem Privatsalon führen, während ich meine Schwester hole?“

Sehr geschickt, Sir, dachte Sara, während man sie zusammen mit ihrem Korb nach oben führte und weiter zu einem angenehmen Raum mit großem Erkerfenster, das den Blick auf die Promenade freigab. Alles einwandfrei, und Mr. Winstanley soll beweisen, was für ein respektabler Mann Sie sind, der sich tatsächlich mit seiner Schwester hier aufhält. Und doch stimmt da etwas nicht mit Ihnen, Mr. Dunton.

Doch was es auch sein mochte, es änderte nichts an der männlichen Anziehungskraft des Mannes, selbst wenn Saras Bauchgefühl sie vor ihm warnte. Er war sich ihrer Weiblichkeit sehr bewusst, das spürte sie – so wie auch sie sich seiner Gegenwart nur allzu sehr bewusst war. Sie musste nur darauf achten, es sich nicht anmerken zu lassen.

Sara setzte sich an den Tisch, nahm einen Zeichenblock und einen Bleistift aus dem Korb und fing an, die Szene zu malen, die sich ihr vom Fenster aus bot. Sie konzentrierte sich darauf, schnell eine amüsante Skizze zweier Damen zu erstellen, die neben dem Fahnenmast standen und sich unterhielten. Eine war groß, die andere dünn, und beide hielten zwei lächerlich kleine Schoßhunde an der Leine. Als die Tür geöffnet wurde, erhob Sara sich und legte den Zeichenblock scheinbar beiläufig mit der Zeichnung nach oben auf den Tisch.

Die junge Frau, die den Raum mit Mr. Dunton betrat, war ganz offenkundig seine Schwester. Sie hatte das gleiche braune Haar und die haselnussbraunen Augen, doch ihre Nase war gerader und ihr Kinn nicht so fest. Außerdem war sie sehr jung, augenscheinlich unpässlich und schmollte.

„Marg… Mrs. Harcourt, darf ich Ihnen meine Schwester Marguerite vorstellen.“ Mr. Dunton schien sich über seinen Schnitzer zu ärgern, und das Mädchen warf ihm einen alarmierten Blick zu. „Marguerite, dies ist Mrs. Harcourt, deren Geschäft ich heute zufällig entdeckte. Sie war so freundlich, einige Dinge mitzubringen, die dich interessieren könnten.“

Miss Dunton knickste sehr knapp und setzte sich auf die andere Seite des kleinen, runden Tisches im Erkerfenster.

Wie äußerst interessant. Dunton hatte begonnen, sie seiner Schwester vorzustellen, was korrekt gewesen wäre, wenn das Mädchen einen höheren Rang bekleidet hätte. Dann hatte er sich aber unterbrochen und das Mädchen ihr, der älteren verheirateten Frau vorgestellt. Das bedeutete zwei Dinge. Zunächst einmal, dass er sie wie eine Dame behandelte und nicht wie eine Geschäftsinhaberin, und dann, dass er und seine Schwester im Rang über einer respektablen verheirateten Dame standen, obwohl er nicht wissen konnte, mit wem sie verheiratet gewesen war.

Wenn Sie keinen Titel besitzen, mein lieber Gentleman, fresse ich meinen teuren neuen Hut, Federn eingeschlossen.

Was hatte er also hier in Sandbay zu suchen, und was stimmte nicht mit seiner Schwester?

Sara setzte ihr professionelles Lächeln auf und sprach knapp, doch freundlich. „Guten Morgen, Miss Dunton. Mein Geschäft stellt alles für die sinnvolle Unterhaltung einer Dame zur Verfügung.“ Das brachte ihr nur einen ausdruckslosen Blick ein, woraufhin sie etwas deutlicher wurde. „Mein Angebot umfasst alles, was Sie sich vorstellen können – von einem Hammer zum Herausschlagen von Fossilien aus dem Felsen bis zu Netzen, mit denen man Felstümpel erforschen kann.“

Endlich war es ihr gelungen, einen Hauch von Neugier in dem Mädchen zu wecken. „Hammer?“

„Und Zeichenutensilien, schlichte Holzkästchen und Spiegelrahmen und so weiter, die man mit Farbe oder Muscheln oder sonstigen Verzierungen dekorieren kann. Stoffe und Stickgarn, Strickwolle, Wassertröge für Seetangbilder, Schablonen, Bücher und Zeitschriften.“ Sie wies mit einer Kopfbewegung auf den Korb. „Vielleicht möchten Sie es sich ansehen. Entschuldigen Sie mich, während ich versuche meine Zeichnung von den zwei Damen da draußen zu beenden. Sie ergeben ein so lustiges Bild.“

Hinter ihrem Sessel wedelte sie mit der Hand in Richtung Tür und hoffte, dass Mr. Dunton ihren Wink verstehen würde. Kurz darauf, während sie Zeichenblock und Bleistift aufnahm, hörte sie, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, und beugte den Kopf über ihre Zeichnung. Jetzt, da der Mann nicht mehr im Zimmer war, kam es ihr vor, als könnte sie aufhören, die Luft anzuhalten, und wieder frei atmen. Irgendwie schien er den gesamten Raum einzunehmen, selbst wenn sie ihn nicht ansah.

Sara wartete einen Moment, bis sich ihr Atem wieder beruhigt hatte und ihre Hand nicht mehr zitterte. Sie war schließlich nicht wegen Mr. Dunton hier.

2. KAPITEL

Aus dem Augenwinkel sah Sara, wie Marguerite zögerte und sich dann daran machte, den Inhalt des Korbes zu erforschen. „Warum sollte man auf Felsen einschlagen wollen?“ Sie öffnete ein Glas mit kleinen Muscheln und ließ sie in ihre Handfläche rieseln. „Und was ist ein Fossil?“

Sara hörte nicht auf zu zeichnen, während sie es Marguerite erklärte, und erwähnte dann ganz nebenbei, wie befreiend es sich anfühlte, am Fuße der Klippen entlangzuklettern und hart auf Dinge einzuschlagen. „Ich finde wirklich nicht, dass junge Damen oft genug die Möglichkeit haben, auf Dinge einzuschlagen, meinen Sie nicht auch?“

„Ich möchte es jedenfalls oft.“ Marguerite ergriff den Hammer und wiegte ihn in der Hand, als stellte sie sich bereits ein passendes Ziel vor. Trotz ihrer offensichtlichen Zerbrechlichkeit gelang ihr das ohne besondere Mühe. „Sind Felstümpel nicht voller schleimiger Dinge?“

„Sie sind voller wunderschöner Dinge, von denen einige ein wenig schleimig sind. Doch die Freude daran, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und im Wasser zu planschen, übertrifft ein gelegentliches glitschiges Gefühl.“

„Keine Strümpfe? In der Öffentlichkeit?“ Endlich ein wenig Lebhaftigkeit.

„Selbstverständlich nur am Strand. Hier, was halten Sie davon?“ Sie drehte den Block herum, damit Marguerite die Zeichnung sehen konnte.

„Oh, das ist wirklich lustig! Die dicke Dame mit dem kleinen Hund und die dünne Dame mit dem fetten Mops. Wie geschickt von Ihnen. Ich könnte niemals so gut zeichnen.“

„Die Technik ist gar nicht so gut. Ich zeichne nur zu meinem eigenen Vergnügen und zeige meine Zeichnungen nur selten jemandem.“

„Ich weiß nicht, was ich tun möchte.“ Wieder ließ das Mädchen die Schultern sinken, der kurze Moment der Lebhaftigkeit war vorüber. Es war nicht Langeweile oder Launenhaftigkeit, vielmehr schien ihr Blick ins Leere zu gehen, fand Sara. Das Problem reichte tiefer als eine schlichte Niedergeschlagenheit oder ein Anfall schlechter Laune, weil sie von ihrem Bruder ans Meer geschleppt worden war. „Ich kann nicht so gut zeichnen wie Sie. Ich sticke nicht gern …“

„Ich auch nicht. Hat Ihre Gouvernante darauf bestanden, langweilige Muster zu nähen?“ Marguerite nickte, also fuhr Sara ermutigt fort. „Ich halte in meinem Geschäft Nachmittagstees ab, zu denen die Damen ihre Arbeit oder ihre Schreibversuche mitbringen, miteinander plaudern, neue Projekte planen und sündhaft leckeren Kuchen essen. Es ist nicht nötig, dass Sie sich unterhalten, wenn Sie nicht möchten. Einige Damen lesen ganz einfach nur oder blättern in den Zeitschriften.“

„Ich nehme an, sie erzählen sich Geschichten von ihren Bewunderern.“ Der hübsche Mund wurde zu einer dünnen Linie zusammengepresst.

„Ganz und gar nicht.“ Interessant. Hat sie vielleicht eine Enttäuschung in der Liebe hinter sich? „Wir treffen uns nicht, um über Männer zu sprechen, sondern über Dinge, die uns amüsieren. Und Männer sind so oft alles andere als amüsant, nicht wahr?“

„Ja, das stimmt.“ Marguerite warf einen flüchtigen Blick zur Tür. „Was hat Lucian Ihnen über mich erzählt?“, fragte sie plötzlich.

Jeden Moment wird sie in Tränen ausbrechen, armes Kind. Was ist nur geschehen? Ich darf sie nicht anlügen. Sie würde es merken. Sie ist nicht dumm.

„Dass Sie krank gewesen sind, dass Sie hier sind, um zu genesen, sich aber sehr langweilen. Und er hofft, ich könnte etwas finden, womit Sie sich beschäftigen mögen. Wünschen Sie, wieder in London zu sein? Wenn Sie dort leben, meine ich.“

„Nein … Ja, dort steht unser Stadthaus, und dort wohnt mein Bruder. Ich wünschte, ich wäre in Frankreich.“ Die haselnussbraunen Augen mit den Lidern, die vom Weinen geschwollen zu sein schienen, blickten auf das Meer hinaus. „Ich wünschte, ich wäre tot“, flüsterte Marguerite so leise, dass Sara sich entschied, so zu tun, als hätte sie es nicht gehört. Was in aller Welt hätte sie zu dem armen Kind sagen können, das keine hohle Phrase gewesen wäre?

„Ich war noch nie in Frankreich. Ich wurde in Indien aufgezogen.“

„Ist Ihre Haut deswegen so goldbraun? Oh, verzeihen Sie. Es war ungezogen von mir, eine so persönliche Frage zu stellen. Aber Sie sind so beeindruckend.“

„Schon gut. Ich bin mütterlicherseits zu einem Viertel Inderin. Meine Großmutter war eine Radschput-Prinzessin.“

Plötzlich waren die Tränen in Marguerites Augen verschwunden. „Eine Prinzessin? Und Sie besitzen einen Laden?“

„Weil es mir Spaß bringt. Als mein Mann starb, wollte ich für eine Weile etwas Praktisches tun, um von allem fortzukommen, das bis dahin mein Leben ausgemacht hatte. Ich habe festgestellt, dass es hilft.“ Ein wenig. Meistens hält es sogar die Albträume in Schach.

Das würde wahrscheinlich alles bald an Mr. Duntons Ohren geraten oder wie er auch hieß, aber ihre wahre Identität war in Sandbay kein Geheimnis. In jedem Fall würde es den Mann verwirren. Würde er auch mit einer teils indischen Nachfahrin königlichen Geblüts flirten wollen?

Sie blickte zur Uhr auf dem Kaminsims. „Ich muss jetzt gehen. Kann ich heute Nachmittag mit Ihnen rechnen?“ Sara fragte fast schon gleichgültig, als wäre es ihr vollkommen egal, wie Marguerite sich entscheiden würde. Die junge Frau wurde viel zu sehr gedrängt, Dinge zu tun, die gut für sie waren, da war es nur natürlich, dass sie sich wehrte, weil es ihr das Gefühl gab, noch ein wenig die Kontrolle über ihr Leben zu behalten. Sara kannte diese Reaktion selbst sehr gut. Ohne Eile sammelte sie die Gegenstände ein, die Marguerite aus dem Korb genommen hatte, und schüttete die Muscheln wieder in das Glas zurück.

„Ja, das können Sie, vielen Dank. Muss mein Bruder auch kommen?“

„Oh, nein. Wir erlauben den Gentlemen nicht teilzunehmen. Er kann Sie selbstverständlich bringen und wieder abholen.“

Und endlich lächelte das Mädchen. Ein kleines, flüchtiges, aber immerhin ein Lächeln. Was in aller Welt mochte dem Kind nur zugestoßen sein? Und warum war die Beziehung zu ihrem Bruder so angespannt?

Sie verabschiedeten sich, Sara tief in Gedanken. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, wurde ihr der Korb aus der Hand genommen.

„Was für eine Reaktion haben Sie erhalten?“

„Mr. Dunton, ich schlage vor, dass Sie Ihre Schwester fragen. Ich bin kein Vermittler zwischen Ihnen und ihr und werde sie ganz gewiss nicht für Sie ausspionieren.“ Dann sah sie die fest zusammengepressten Lippen und die Sorge in seinen Augen und gab nach. „Miss Dunton möchte heute Nachmittag zu unserem Tee kommen. Drei Uhr, nur für Damen.“

„Es sind alles auch respektable Damen …“, begann er.

„Entweder Sie vertrauen mir, Mr. Dunton, oder Sie tun es nicht. Einen guten Tag. Ich hoffe, Ihre Schwester nachher begrüßen zu dürfen.“ Sie hielt nicht inne, um zu sehen, ob ihm die Betonung seines Namens aufgefallen war. „Tim! Trag bitte meinen Korb, sei so lieb.“

Respektable Damen, also wirklich! Wofür hält er mich eigentlich?

Eine wilde kleine Schönheit. Lucian war versucht, ihrem Gassenjungen den Korb abzunehmen und Mrs. Harcourt wieder den Hügel hinaufzubegleiten. Dann erinnerte er sich, weswegen er hier war, und zwar nicht weil er mit Ladenbesitzerinnen flirten wollte, so redegewandt sie auch sein mochten. Oder wie schön. Mrs. Harcourt war schlank, hatte aber einen üppigen Busen, und sie war blond, grauäugig und hatte eine goldbraune Haut. Vielleicht floss in ihr italienisches Blut. Sehr schön, sehr selbstbeherrscht und schlicht, wenn auch teuer gekleidet. Das hatte er nicht erwartet vorzufinden, als er sich auf den Weg gemacht hatte, mit einer Ladenbesitzerin zu reden.

Er nickte dem Pförtner zu, der die Vordertür für ihn aufhielt, und schlenderte über die Straße, wo er sich an das Geländer lehnte, das den Weg vom Strand trennte. Von hier konnte er Mrs. Harcourt beobachten, die den Hügel hinaufging, ohne den Eindruck zu vermitteln, er starre ihr nach. Selbst in Bewegung strahlte sie eine Gefasstheit aus, die auf eine strenge Erziehung hinwies. Und wenn er dicht neben ihr stand, hing ein Hauch von Parfum in der Luft, ein aufwühlend exotischer Duft, der einen starken Kontrast zu der salzhaltigen Brise in dieser kleinen Stadt in Dorset bildete. Sandelholz und noch etwas anderes, etwas Würziges. Wahrlich eine Versuchung. Sein Körper reagierte heftig.

Ihre Stimme war nicht nur vornehm und wohlklingend, sie gehörte eindeutig einer Dame der feinen Gesellschaft. Was in aller Welt brachte eine Dame, eine anständige junge Witwe, dazu, sich in einem Badeort als Ladenbesitzerin auszugeben? Noch dazu nur unter dem Schutz ihres Miniaturpolizisten und ihrer Respekt einflößenden Hausgehilfin? Lucian wurde sich bewusst, dass das Rätsel nicht dazu beitrug, seine nicht zu leugnende Erregung zu dämpfen.

Wie lange war es her, seit er eine Frau genommen hatte? Seit der Albtraum mit Marguerite angefangen hatte. Vor fast sechs Monaten – eine sehr lange Zeit für ihn. Seit er erwachsen war, hatte er sich stets in einer diskreten Beziehung befunden. Manchmal waren es lediglich Affären gewesen, doch in letzter Zeit auch länger anhaltende Arrangements mit einer festen Geliebten. Es war ihm immer darum gegangen, weder seine Partnerinnen zu kompromittieren, noch sich selbst gefühlsmäßig zu sehr mit einer Frau zu verstricken. Niemals vergaß er, was er seinem Namen und seiner Stellung schuldig war. Der Ruf eines Frauenhelden, den sein Vater sich erworben hatte, hatte Lucian den Wunsch nach einem ausschweifenden Leben ein für alle Mal ausgetrieben. Dass er auch für seine Schwester Verantwortung trug, war ein weiterer Grund für ihn, diskret zu sein. Außerdem wollte er in der nächsten Saison einer passenden jungen Dame den Hof machen und sie heiraten – auch deshalb hatte er beschlossen, keine neue Geliebte zu suchen. Es war nicht seine Absicht, ein untreuer Ehemann zu sein.

Aber sechs Monate … Kein Wunder, dass der Gedanke an eine Geliebte ihm verlockend erschien. Und hübsche Witwen waren oft gern bereit zu einer kurzen Liaison. Was könnte also idealer sein, da sein Aufenthalt hier notgedrungen nur von kurzer Dauer sein würde? Für diese Witwe galt das aber wohl nicht, da sie ihm das beunruhigende Gefühl verlieh, Gedanken lesen zu können, und nicht die Absicht zu haben schien, ihm in dieser Hinsicht entgegenzukommen.

Mrs. Harcourt war inzwischen fast außer Sicht, ging noch immer langsam und sprach mit dem Jungen an ihrer Seite, der ihr den Kopf zugewandt hatte. Aus irgendeinem Grund erschien ihm das langsame Tempo nicht zu ihr zu passen – er konnte sie sich vielmehr in schneller Bewegung vorstellen, flink, wirbelnd, gefährlich.

Gefährlich? Er musste seine Fantasie wirklich ein wenig zügeln.

Er war aus dem Hotel gekommen und beobachtete sie, das spürte Sara, obwohl sie natürlich nicht den Fehler beging, sich nach ihm umzusehen. Sie beschleunigte ihre Schritte jedoch nicht – sollte er doch schauen. Sie würde gewiss nicht davonhuschen wie eine verschüchterte Jungfrau und preisgeben, wie sehr er sie verunsicherte.

„Gib das im Geschäft ab und bitte Dot um zwei Pennys“, sagte sie zu Tim. Sie selbst ging an Aphrodites Muschel vorbei und in das dritte Gebäude neben ihrem – Makepeaces Leihbibliothek und Warenhaus.

„Guten Morgen, Mr. Makepeace.“

James Makepeace saß hinter der Buchausgabe und stellte eine Bestellung für einen der Gäste des Hotels zusammen, während ein Page, der das Gewünschte überbringen sollte, darauf wartete. Er erhob sich, neigte den Kopf und setzte sich wieder. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Mrs. Harcourt?“ Er wusste sehr wohl, wer sie wirklich war, so wie auch der Rest der Stadt, aber er hielt ihre beiden Identitäten, das Geschäft und ihr gesellschaftliches Leben, penibel getrennt voneinander, genau wie alle anderen.

„Ich würde gerne etwas im Adelsverzeichnis nachschlagen, wenn es verfügbar ist, Mr. Makepeace.“

Wenn die Bibliothek leer gewesen wäre, was nur selten vorkam, hätte er sie zurückhaltend mit Sara angesprochen, und sie hätte ihn James genannt, woraufhin er erröten und ihr eine Tasse Tee anbieten würde. Doch seine Werbung ging nie weiter als das.

Sara ermutigte ihn nicht, da es nicht fair gewesen wäre. Zwar mochte sie ihn sehr gern, aber nicht in romantischer Hinsicht. Außerdem hatte sie bereits eine Ehe mit einem süßen, weltfremden Mann hinter sich und wusste, dass sie einen ganz besonderen Gentleman brauchte, der sich nicht von ihrer direkten Art dominieren lassen würde. Der Bibliothekar war ein Freund, mehr nicht.

„Es steht auf dem üblichen Regal oben, Mrs. Harcourt. Bitte lassen Sie mich wissen, ob ich noch etwas für Sie tun kann.“

Sie bedankte sich und stieg die kurze Treppe zum Leseraum hinauf, von dem aus man einen Panoramablick auf die Bucht hatte. Einige Leute befanden sich im Sonnenschein auf dem Balkon und benutzten das Teleskop, zwei ältliche Gentlemen stritten sich erbittert darum, wer als Erstes die Times lesen durfte, und zwei junge Damen kamen aus der Leihabteilung heraus, in den Händen einen ganzen Stapel von Schauerromanen.

Sara fand den vertrauten, dicken roten Band von Debrett’s Peerage und legte ihn auf einen Tisch. Sie war kaum ein Jahr in die Gesellschaft eingeführt gewesen, als sie und Michael heirateten und sofort nach Cambridge umzogen, wo er seinen Posten an einem der Colleges antrat. Es war sehr gut möglich, dass sie einer ganzen Reihe von Mitgliedern des ton, einschließlich Mr. Dunton, nicht begegnet war, besonders da ihre Familie erst kurz vor Beginn der Saison von Indien nach England gekommen war.

Wenn ich mir einen falschen Namen zulegen wollte, würde ich einen nehmen, der meinem echten ähnlich ist, um ohne zu zögern darauf zu reagieren, wenn man mich damit anspricht, dachte sie. Mr. Dunton war ungefähr acht- oder neunundzwanzig Jahre alt, schätzte sie. Auf seiner Karte standen nur die Initialen L. J., allerdings hatte Marguerite ihn Lucian genannt. Das war also ein Anfang. Sara wollte mit den Marquesses anfangen und sich die Hierarchie hinunterarbeiten, weil sie glaubte, die Dukes zumindest zu kennen, wenn auch nur vom Sehen.

Es bestand die Möglichkeit, dass er der Erbe eines Titels war, was die Suche erschweren würde, aber sie ging eigentlich davon aus, dass er kein jüngerer Sohn war. Dieser Gentleman war mit dem sprichwörtlichen silbernen Löffel im Mund geboren worden, wenn nicht gar mit einem ganzen Besteck. Zwei Seiten brachten kein Ergebnis, auf der dritten fand sie, was sie suchte.

Lucian John Dunton Avery, dritter Marquess of Cannock, geb. 1790. Einzige Schwester Marguerite Antonia, geb. 1800. Landsitz Cullington Park, Hampshire.

Sara schloss das Buch mit einem zufriedenen Knall, worauf die älteren Gentlemen aufsahen und sie finster anfunkelten. Doch sie lächelte ihnen nur süß zu, und sie beugten sich wieder über ihre Zeitungen.

Warum nur hielt sich der Marquess inkognito im Hotel auf? Es war weder unmodern noch skandalträchtig, im Sommer seinen Urlaub in einem Badeort zu verbringen. Ungefähr die Hälfte des ton tat nichts anderes, auch wenn es sich hier um einen sehr ruhigen Badeort handelte und keinen Magneten für die Überflieger der feinen Gesellschaft wie zum Beispiel Brighton oder Weymouth.

Er floh gewiss nicht vor irgendwelchen Gläubigern, und wenn es einen Skandal um ihn gegeben hätte, wäre ihr das gewiss in den Zeitungen aufgefallen. Oder ihre Mutter hätte es ihr in ihren langen wöchentlichen Briefen erwähnt, in denen sie sich mit allem beschäftigte – von dem jüngsten Ehebruch bis zu den Vorlesungen in der Royal Society.

Also musste die Notwendigkeit für Anonymität mit seiner Schwester zusammenhängen, und da es keine Schande war, krank zu sein, ging es wohl um einen Skandal, der verborgen werden musste. Das arme Mädchen. Sara würde sie mit noch größerem Feingefühl behandeln müssen, wenn ihre Vermutung zutraf.

Sara stellte das Adelsverzeichnis wieder zurück auf seinen Platz im Regal und ging die Treppe hinunter.

„Haben Sie gefunden, was Sie suchten, Mrs. Harcourt?“

Sie war so in Gedanken versunken, dass James’ Frage sie zusammenfahren ließ. „Hm? Oh, ja, vielen Dank.“

„Werden Sie heute Abend im Gemeindesaal sein? Heute findet ein Ball statt.“ Obwohl James Makepeace schüchtern war, tanzte er doch sehr gerne, und das Programm im Gemeindesaal wies jede Woche während der Sommersaison an zwei Abenden einen Ball auf. Als Sara nickte, fragte er: „Werden Sie einen Tanz für mich reservieren, Mrs. Harcourt?“

Autor

Louise Allen
<p>Louise Allen lebt mit ihrem Mann – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.</p>
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