Ein verführerischer Pakt

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Sie ist Pfarrerstochter, er hat den Teufel im Leib, aber als Lily Bradshaw sich in Not befindet, ist der mysteriöse Lord Guy ihre einzige Hoffnung: Nur er kann ihr das Leben retten, ihren geliebten kleinen Sohn beschützen - und ihre schlummernde Leidensch


  • Erscheinungstag 06.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733760359
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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HISTORICAL erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

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© 2005 by Lynda Stone
Originaltitel: „The Viscount“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL
Band 214 - 2006 by CORA Verlag GmbH & Co. KG Hamburg
Übersetzung: Andrea Schwinn

Abbildungen: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 07/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733760359

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. Kapitel

 

London, April 1859

 

Lily Bradshaw schlüpfte hastig aus dem Bett. Sicherheitshalber drapierte sie die dicke Decke so, dass es den Anschein hatte, sie läge noch schlafend darunter. Dann kauerte sie sich neben die verschlossene Tür. Es gab kein anderes Versteck, und es würde auch nicht lange dauern, bis man sie dort entdeckte.

"Ist sie schon aufgewacht?" ertönte ein heiseres Flüstern, das Lily nach der vorangegangenen Stille allerdings überlaut vorkam.

"Unter den gegebenen Umständen wird das wohl eine Weile dauern", lautete die gleichmütige Antwort, wobei der Sprecher sich nicht einmal die Mühe machte, die Stimme zu dämpfen.

Nach ihrer eigenen Einschätzung war Lily bereits seit beinahe einer Stunde wach. Sie hatte dagelegen, die Finger um die kratzige Decke geklammert, und sie war vor Angst wie gelähmt gewesen. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an das schwache Licht, das durch das kleine, vergitterte Fenster oben in der Tür fiel. Der Raum, eigentlich eher eine Zelle, roch nach Urin und Verzweiflung. Und es war kalt. Sehr kalt. Auch jetzt zitterte sie. Sie zwang sich, langsamer zu atmen, um einer Panikattacke entgegenzuwirken. So etwas konnte sie sich im Augenblick nicht leisten.

"Ist sie allein dort drinnen?" Ein Schatten schob sich vor das helle Rechteck, als spähte jemand zu ihr herein, doch derjenige konnte anscheinend nichts erkennen und verschwand wieder.

"Ja. Hier isolieren wir die Neuzugänge, bis sie untersucht und in die eigentliche Abteilung verlegt werden können. Dazu hatten wir bei ihr natürlich noch keine Zeit, denn sie wurde ja als Notfall eingewiesen. Möchten Sie sie sehen?" Diese samtige, glatte, dunkle Stimme war weitaus furchteinflößender als die grollende des Spähers.

"Nicht nötig. Sie wissen, was Sie als Nächstes zu tun haben?"

"Natürlich." Der Mann mit der Samtstimme machte eine kleine Pause, ehe er weitersprach. "Heute Abend, ehe sie vollends aufwacht, werde ich ihr eine weitere Dosis Laudanum verabreichen. Dadurch ist sie leichter zu lenken. Später werde ich ihr dann ein anregendes Mittel geben, damit sie in bester Verfassung für die Untersuchung ist. Haben Sie die zuständigen Behörden benachrichtigt?"

"Gleich morgen früh wird das geschehen, sobald ich von Ihnen gehört habe, dass hier alles in Ordnung ist."

"Ausgezeichnet."

Lily zuckte zusammen, und sie presste die Hand vor den Mund, um ein entsetztes Aufstöhnen zu unterdrücken. Sie war sich nicht ganz sicher, wer sie da untersuchen wollte, aber dem Heulen und Schreien nach, das sie in der vergangenen Stunde in den Fluren vernommen hatte, lag eine Vermutung nahe. Jemand hatte sie in ein Irrenhaus gesperrt und wollte beweisen, dass sie wahnsinnig war.

Ihr nächster Gedanke galt Beau. Was hatten sie mit ihrem Sohn angestellt? Bestimmt war er noch wohlbehalten auf Sylvana Hall. Gut aufgehoben bei seinem Kindermädchen, spielte er gewiss mit seinen Spielsachen, las in seiner Fibel und zählte die ersten Zahlen zusammen. Niemand konnte irgendeinen Grund haben, einem kleinen siebenjährigen Jungen etwas antun zu wollen. Andererseits hatte aber auch niemand einen Grund, sie in eine Anstalt zu bringen. Oder etwa doch?

Schlagartig meldete sich ihr gesunder Menschenverstand zurück, und sie erkannte ganz deutlich, wer davon profitieren würde. Wenn sie für wahnsinnig erklärt wurde, würde Clive, der Bruder ihres Mannes, ihren Sohn und das Erbe in der Hand haben. Als Beaus Onkel und einzigem männlichen Verwandten trennte ihn dann nichts mehr von dem Titel. Nur der kleine Junge, der ihn jetzt trug.

Jonathan war vor zwei Jahren gestorben. Hatte Clive absichtlich so viel Zeit verstreichen lassen, um keinen Argwohn zu erregen? Vielleicht war sein eigenes Vermögen aufgebraucht, oder ihn hatte ganz einfach die Gier übermannt.

Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sich hinter der grollend flüsternden Stimme ihr Schwager verbarg, aber möglich war es, ja sogar wahrscheinlich. Wer sollte es sonst sein?

Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, ertönte prompt wieder dieses Flüstern. "Angenommen, sie ist bei klarem Verstand, wenn sie kommen? Zwei kurze Anfälle von Hysterie reichen ihnen vielleicht nicht aus, um sie endgültig für geistesgestört zu erklären."

"Keine Angst, sie wird sie schon überzeugen." Lily konnte regelrecht das Lächeln aus der Stimme des anderen Mannes heraushören. "Doch sobald Sie die Einweisungsverfügung erhalten haben, sollten wir sie schleunigst nach Plympton bringen."

"Warum lassen wir sie nicht einfach hier in London?"

Sie war in London? Wie, um alles in der Welt, war sie bloß hierher gekommen?

"Weil Plympton eine privat geführte Anstalt ist", erklärte der Mann mit der Samtstimme. "Ihre Pflege wird dort einfacher zu kontrollieren sein. Das ist sicherer und auf jeden Fall bequemer für mich. Außerdem werde ich mich ja auch noch um den Earl kümmern müssen, wenn alles wie geplant läuft."

Ein verächtliches Schnauben war die Antwort. "Um den alten Schwachkopf? Duquesne hätte ihn schon vor Jahren wegsperren lassen müssen, anstatt ihn bei sich zu Hause aufzunehmen. Sie werden also einer seiner Betreuer werden?"

Da war wieder die Samtstimme: "Vorausgesetzt, Lord Duquesne stellt mich ein, aber dessen bin ich mir eigentlich sicher. Mein Bewerbungsgespräch mit dem Viscount findet morgen früh um neun statt, und ich verfüge über gute Referenzen. Ich glaube nicht, dass er sehr wählerisch ist, und selbst wenn – ich bin gut ausgebildet."

"Hauptsache, Sie sind hier, wenn sie untersucht wird. Ich warne Sie – wenn Sie das hier vermasseln, werden Sie nirgendwo mehr arbeiten, Brinks. Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Ich will das ein für alle Mal erledigt sehen."

Stille. Dann schien einer der beiden Männer fortzugehen. Lilys Herz klopfte so laut, dass sie befürchtete, der noch verbliebene Mann hinter der Tür – Brinks, hieß er nicht so? – könnte es hören.

Sie musste fort von hier. Augenblicklich. Ehe ihr habgieriger Schwager ihre dauerhafte Einweisung veranlasste. Aber wo sollte sie hingehen? Sie hasste London; wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, kam sie nicht hierher. Sie kannte auch keine Menschenseele in dieser Stadt.

Du solltest es dennoch tun, meldete sich ihre innere Stimme. Er hat dir schon einmal geholfen.

Lily tat diesen absurden Gedanken mit einem Kopfschütteln ab. Er war ihr nur eingefallen, weil sie eben seinen Namen vernommen hatte. Viscount Duquesne hatte seine eigenen Sorgen. Warum sollte er etwas für sie tun?

Obwohl sie beide aus derselben Grafschaft stammten, hatte sie ihn seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen. Finstere Gerüchte, er gäbe sich mit dem Abschaum der Gesellschaft ab und sei bereit, für einen entsprechenden Preis die schlimmsten Dinge zu tun, hatten ihn zu einem Paria in seinen Kreisen werden lassen. Selbst wenn das nicht den Tatsachen entsprach, so war er doch wegen seines mangelnden Vermögens und der Krankheit seines Vaters völlig indiskutabel. Kein Mann, an den sich eine Dame wenden würde, wenn sie Hilfe brauchte. Duquesne sei ein Geächteter, hatte sie gehört, der in einem ehemals prachtvollen, jetzt aber fürchterlich heruntergekommenen Herrenhaus am Rande von Mayfair lebte.

Angenommen, sie könnte sich seines Beistands sicher sein – wie sollte sie von hier fliehen können? Für eine Frau war sie zwar recht groß, ihre körperlichen Kräfte reichten indes bestimmt nicht aus, einen Mann zu überwältigen.

Nervös nahm sie eine bequemere Sitzhaltung ein, dabei scharrte der Absatz ihres Stiefels über den Boden. Erschrocken hielt sie den Atem an, aber nichts geschah.

Sie erinnerte sich, dass sie nach ihrem Ausritt am Nachmittag in die Bibliothek von Sylvana Hall zurückgekehrt war, ihren Hut abgesetzt und von Clive einen Sherry angeboten bekommen hatte. Sie mochte zwar keinen Sherry, aber Clives unerwartete Höflichkeit hatte sie so überrascht, dass sie ihn angenommen hatte. Ein Glück nur, dass sie das meiste davon in die Topfpflanze geschüttet hatte, als Clive zum Fenster gegangen war, sonst wäre sie jetzt wahrscheinlich immer noch bewusstlos. Der Schurke musste sie mit irgendetwas betäubt haben.

Wenn es denn wirklich Clive gewesen war. Die Stimme von eben hatte zu gedämpft geklungen, auch ein wenig zu erregt. Lily konnte einfach nicht sicher sein. Zwar hatten sie sich nie besonders nahe gestanden, aber sie waren eigentlich immer recht gut miteinander ausgekommen. Zumindest hatte sie das geglaubt.

War sie an diesem Nachmittag hierher gebracht worden? Oder schon gestern? Vorgestern? Es gab kein Fenster nach draußen, so dass sie nicht sagen konnte, ob es Nacht oder Tag war. Vermutlich eher Nacht, da Lampenschein durch das vergitterte Fenster in der Tür fiel. Aber wenn draußen im Flur auch keine Fenster waren, konnte es genauso gut Mittag sein.

Die nüchterne Zelle war nur mit einem Bett und einem kleinen Nachtgeschirr aus Blech ausgestattet. Sie warf einen Blick darauf und beschloss, dass es nicht als Waffe infrage kam.

Zum Glück hatte man sie nicht entkleidet, selbst ihre Reitstiefel trug sie noch. Das konnte gehen. Die Absätze der Stiefel mit ihren halbmondförmigen Eisenbeschlägen, die das Leder vor dem Abnutzen schützen sollten, waren sehr solide. Lily zog die Stiefel aus und wog einen prüfend in ihrer Hand.

In diesem Moment vernahm sie sich entfernende Schritte. "Brinks? Ach, Mr. Brinks!" rief sie und versuchte, so verzweifelt wie möglich zu klingen. Nicht, dass sie das besonders viel Mühe gekostet hätte. "Könnten Sie bitte hereinkommen?" Hoffentlich hatte sie seine Neugier geweckt, wie sie wohl seinen Namen in Erfahrung gebracht haben mochte. Die Schritte verstummten augenblicklich, und Lily konnte seine Anwesenheit jenseits der Tür förmlich spüren. Betont schleppend sprach sie weiter. "Ich bin so durstig, ich würde alles geben, um etwas zu trinken zu bekommen. Alles!" fügte sie laut seufzend hinzu. "Ich fühle mich so … müde. So schwach."

Endlose Minuten verstrichen. Er war nicht fortgegangen. Vielleicht dachte er nach, ob es ratsam sei, einzutreten. Oder er bereitete wieder etwas von der Mixtur zu, die sie bewusstlos gemacht hatte. Komm herein. Komm. Schnell, ehe ich wieder den Mut verliere.

Ihr stilles Bitten wurde offenbar erhört, denn jetzt steckte er den Schlüssel ins Schloss. Ein Kopf wurde sichtbar, eine Schulter. Schließlich eine Hand, die eine Lampe hielt. Lily wusste, bald schon würde er merken, dass nur die zusammengeknüllte Decke auf dem Bett lag, nicht sie selbst. Verzweifelt packte sie ihn bei den Haaren und zerrte ihn ins Zimmer, so schnell, dass er gar nicht dazu kam, sich zu wehren. Gleichzeitig trat sie mit aller Kraft gegen seine Schienbeine. Mit einem lauten Stöhnen fiel er vornüber auf den Boden. Lily schlug sofort zu. Der schwere Stiefelabsatz traf ihn an der Schläfe – und Mr. Brinks blieb regungslos liegen.

Seine Lampe war auf dem Boden zerschmettert, die kleine Öllache fing sofort Feuer. Lily griff nach der Bettdecke und warf sie über die Flamme, um sie zu ersticken. Als dies gelang, atmete sie auf, allerdings war es nun wieder völlig dunkel, bis auf den schwachen Lichtschein, der durch den schmalen Türspalt und das vergitterte Fenster fiel.

Entschlossen zog sie erst ihre Reitjacke, dann die Bluse, den Rock und den Unterrock aus. Nach kurzem Zögern entledigte sie sich auch ihres Unterhemds. Nackt bis auf die Strümpfe und die Strumpfhalter begann Lily, den Mann komplett zu entkleiden.

In Windeseile schlüpfte sie in seine Sachen. Sie waren ihr etwas zu weit, aber nicht viel. Für einen Mann war er recht schmal gebaut, und er war auch nicht sehr viel größer als sie. Seine Stiefel waren ihr zu groß, aber sie musste sie anziehen, da ihre eigenen sich eindeutig als Damenstiefel ausgaben. Kurzerhand stopfte sie die Spitzen mit ihren Strümpfen aus.

Der Mann fing an, sich zu bewegen, und hastig schlug sie wieder mit ihrem Stiefel zu, ehe sich ihr Gewissen regen konnte. Warum sollte es ihr überhaupt etwas ausmachen, ob sie den Schuft verletzte? Was hatte er schließlich mit ihr vorgehabt!

Lily entdeckte seinen Geldbeutel und zwei Briefe. Diese beiden Schreiben brachten sie auf eine Idee, wie sie an Duquesne herantreten konnte. Vorausgesetzt, ihre Flucht verlief erfolgreich.

In seiner Tasche entdeckte sie auch zwei kleine, verkorkte Flaschen. Ob das die für sie bestimmten Elixiere waren? Keine der beiden Flaschen war beschriftet. Der Inhalt der einen roch wie Laudanum. Sie zwang die Lippen des Manns auseinander, hielt ihm die Nase zu und goss ihm die Flüssigkeit in die Kehle. Alles, bis auf den letzten Tropfen. Er schluckte, hustete und stöhnte nur einmal kurz auf. Lily betrachtete die andere Flasche und erinnerte sich, dass er erwähnt hatte, sie vor der Untersuchung wieder in beste Verfassung bringen zu wollen. Sie steckte die Flasche ein.

Eine kurze Überprüfung seines Geldbeutels ergab, dass der Inhalt gerade eben für eine Droschkenfahrt reichen würde. Sie schob ihn zurück in die Innentasche des Gehrocks. Fieberhaft suchte sie nach dem Taschenmesser, das auf den Boden gefallen war, als sie den Mann entkleidet hatte. Jeder, dem sie draußen begegnete, würde sie sofort als Frau erkennen. Ohne weiter nachzudenken, klappte sie das Messer auf, nachdem sie es entdeckt hatte, und schnitt sich die langen Locken ab – bis sie sie für kurz genug hielt, um ihre Verkleidung glaubwürdig aussehen zu lassen. Dann sammelte sie die abgetrennten Haarsträhnen und ihre Kleidung ein und breitete die Sachen flach unter der Matratze aus, damit er sie nicht sofort fand, wenn er erwachte. Vollkommen nackt würde er wahrscheinlich eine Weile zögern, ehe er um Hilfe rief.

Sie öffnete die Tür etwas weiter, um mehr Licht zu haben, und fand den Schlüsselbund, den er beim Sturz fallen gelassen hatte. Rasch steckte sie ihn ein.

Mit gewaltigem Kraftaufwand gelang es ihr, den Mann auf das Bett zu hieven. Sie sah sich prüfend um. Ja, der Raum einschließlich Mr. Brinks würde einer flüchtigen Überprüfung standhalten, wenn jemand durch das Türfenster blicken sollte. In der Zelle gab es nichts, womit sie ihn hätte fesseln können, also hatte es auch keinen Sinn, ihn zu knebeln. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich zu verschwinden, ehe er aufwachte und einen großen Aufruhr auslöste. Sie hoffte nur, dass der Trank, den sie ihm eingeflößt hatte, stark genug war, um ihn eine Weile schlafen zu lassen.

Nachdem sie ihn in der Zelle eingeschlossen hatte, steckte sie die Schlüssel in die Tasche und ging nach rechts, den kaum beleuchteten Flur entlang. Das war die Richtung, in die sie den anderen Mann hatte fortgehen hören. Auf der einen Seite des Flurs befanden sich Fenster, auf der anderen geschlossene Türen. Sie stellte fest, dass es draußen tatsächlich schon dunkel war.

Der Gestank in der Anstalt war grauenhaft, und die immer wieder ertönenden Laute menschlichen Elends brachen Lily schier das Herz. Sie zwang sich, nicht darauf zu achten – und vor allem nicht daran zu denken, wie viele Menschen hier wohl genauso zu Unrecht eingesperrt waren wie sie eben noch.

Im Weitergehen versuchte sie, die Gangart eines Mannes nachzuahmen. Selbstbewusst. Größere Schritte, die Zehenspitzen eher etwas nach außen gerichtet als nach innen. Sie zupfte an ihren Manschetten, denn diese Angewohnheit hatte sie oft bei ihrem Vater beobachtet. Sobald sie die Schultern straffen wollte, merkte sie, dass dadurch ihr Busen zu auffällig sichtbar wurde, und daher ließ sie sie rasch wieder sinken.

Der Flur führte in einen größeren Saal. Lily lief an einem schlafenden Wärter vorbei, durchquerte einen weiteren Flur und erreichte schließlich die hohe Eingangshalle. Zwei Männer unterhielten sich in einer Ecke, sie befanden sich ein ganzes Stück vom Haupteingang entfernt. Einer von beiden wünschte ihr eine gute Nacht, und sie hob grüßend die Hand, ohne ein Wort zu sagen oder ihn dabei anzusehen. Doch als sie endlich an der großen Doppeltür angekommen war, dem letzten Hindernis auf ihrem Weg in die Freiheit, musste Lily feststellen, dass sie abgeschlossen war.

Vor Schreck verschlug es ihr den Atem, aber dann fiel ihr der Schlüsselbund wieder ein. Sie zog ihn aus der Tasche, wählte den größten Schlüssel und hoffte nur, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag. Sie steckte ihn ins Schloss – und er ließ sich mühelos umdrehen. Grenzenlos erleichtert, aber auch ein wenig beklommen, trat sie ins Freie, eilte die steinernen Stufen zur Straße hinunter und verschwand in der Dunkelheit.

Erst nachdem sie von Southwark aus die Themse überquert hatte und sie ganz sicher sein konnte, ihrem Albtraum fürs Erste entronnen zu sein, blieb sie stehen und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Sie kannte sich in London so gut wie gar nicht aus.

Sollte sie es wirklich wagen, sich an Duquesne zu wenden? Hatte sie denn eine andere Wahl? Würde er ihr überhaupt helfen, wenn Clive womöglich schon überall verbreitet hatte, dass sie geistesgestört war? Immerhin hatte sie auf der Soiree der Dansons tatsächlich eine Szene gemacht, daran gab es nichts zu rütteln.

War das einer der hysterischen Anfälle gewesen, mit der er seine Behauptung untermauern würde? Ehrlich gesagt war sie an jenem Abend nicht sie selbst gewesen, und sie konnte sich kaum noch daran erinnern, was sie gesagt oder getan hatte. Wie lang hatte er wohl schon geplant, sie einfach verschwinden und wegsperren zu lassen? Hatte er sie vielleicht auch an dem besagten Abend unter Drogen gesetzt, damit es den Anschein hatte, sie wäre verrückt?

Lily lehnte sich mit dem Rücken an die Ziegelwand eines geschlossenen Kurzwarengeschäfts und zitterte plötzlich am ganzen Leib. Tränen strömten ihr über die Wangen, ihre Kehle war wie zugeschnürt und die Knie drohten unter ihr nachzugeben. Wie sie es auch drehen und wenden mochte, sie kam zu keinem Entschluss, was sie nun tun sollte. Was für ein behütetes Leben hatte sie doch vor ihrer Ehe und sogar noch nach Jonathans Tod geführt. Jetzt, da sie es so dringend nötig hatte, konnte sie niemand mehr beschützen. Ihr Vater war tot. Ihr Ehemann ebenfalls. Ihr Sohn war noch viel zu klein. Ihr Schwager stellte für sie eine Gefahr dar. Plötzlich packte sie die Wut, weil niemand sie darauf vorbereitet hatte, sich allein durchzuschlagen. Sie fluchte. Heftig und laut.

Alles, was sie sich gewünscht hatte, war ein beschauliches Leben auf dem Land gewesen, wo sie ihren geliebten Sohn zu einem aufrechten, liebenswürdigen Menschen hatte erziehen wollen, so wie sein Vater es auch gewesen war. Und wo befand sie sich jetzt?

Diese furchtbare, allumfassende Wut war ein ganz neues Gefühl für sie, trotzdem war sie sogar dankbar dafür. Zumindest hatte sie Lily dazu gebracht, zu handeln, anstatt sich von ihrer Furcht lähmen zu lassen. Und nun, wo sie schon so weit gekommen war, würde sie ihrer Angst erst recht nicht mehr nachgeben.

Konnte sie sicher sein, dass Duquesne sie nicht geradewegs wieder zu Clive zurückschickte, wenn sie ihm erst einmal erzählt hatte, was geschehen war? Oder sollte sie den tollkühnen Einfall in die Tat umsetzen, auf den sie durch die beiden Briefe gekommen war, die sie bei Brinks gefunden hatte?

Die Tatsache, dass sie überhaupt in Betracht zog, sich an einen so gefährlichen Mann zu wenden, ließ in ihr einen noch weitaus beunruhigenderen Gedanken aufkommen. War es möglich, dass Clive Recht hatte? War sie vielleicht wirklich nicht ganz bei Trost?

 

Guy beobachtete, wie sein hoch betagter Butler Bodkins ins Zimmer schlurfte. Der arme Mann hätte längst im Bett sein sollen, aber er war immer noch auf den Beinen, obwohl Guy sich schon für die Nacht zurückgezogen hatte. Wie Bodkins das alles in seinem Alter schaffte, war ihm ein Rätsel.

Es war beinahe neun Uhr. Noch einen Eintrag ins Rechnungsbuch, dann war es wieder auf dem neuesten Stand. Endlich. Er zupfte einen Fussel von der Spitze seiner Schreibfeder und betrachtete stirnrunzelnd den Tintenfleck auf seinem Daumennagel. "Ja, Bodkins, was gibt es?"

"Ein junger Herr ist eingetroffen, Mylord. Ein gewisser Mr. Pinks."

"Brinks?" Das Gespräch sollte doch erst am kommenden Morgen stattfinden. Es sei denn, Bodkins hatte vergessen, ihm mitzuteilen, dass sich etwas geändert hatte. Der alte Butler hörte kaum noch, und sein Gedächtnis war auch nicht mehr das, was es einmal war.

Aber egal, Brinks war da, also konnte er die Sache genauso gut gleich hinter sich bringen. Entweder war er für die Stellung geeignet, oder er war es nicht. Es sollte wohl nicht allzu lange dauern, das herauszufinden. "Schön, schicken Sie ihn herein." Als Bodkins keine Anstalten machte zu gehen, wiederholte Guy seine Worte noch einmal mit lauterer Stimme.

Langsam ging der Butler davon. Guy schüttelte traurig den Kopf und fragte sich, wie lange er dem guten Alten noch erlauben sollte, für ihn zu arbeiten. Der Ruhestand würde ihn mit Sicherheit umbringen, aber wenn er weiterhin blieb …

"Lord Duquesne", meldete Bodkins sich mit vor Alter brüchiger Stimme. Er räusperte sich geräuschvoll. "Mr. Pinks ist hier."

Guy sah auf, wobei er lächelte. Ein wenig Charme konnte nie schaden und war oft hilfreich im Umgang mit Angestellten. "Mr. Brinks, wie nett, dass Sie gekommen sind." Er beugte sich vor, um den Docht der Lampe höher zu drehen, doch selbst jetzt blieb die Beleuchtung dürftig. Die dunklen Mauern des Gebäudes schienen das Licht förmlich aufzusaugen.

Guy betrachtete seinen Besucher und versuchte, die Augen dabei nicht zu verengen. Er würde wohl bald eine Brille benötigen, wenn er sich nicht noch ein paar zusätzliche Lampen zulegte. Sparsamkeit war für ihn zu einer festen Angewohnheit geworden, seit damals, als es notwendig gewesen war. Doch obwohl er den Anschein von Armut weiterhin aufrechterhalten wollte, würde er demnächst einige Anschaffungen für seinen persönlichen Bedarf tätigen müssen.

Das war also Brinks. Der Kerl war für die Arbeit, an die Guy dachte, zu schmächtig gebaut, und er war offensichtlich auch zu jung. Aber vielleicht konnte er ja Mimms zur Hand gehen. Die Pflege des Earls war eine zeitraubende und körperlich anstrengende Betätigung, und der Diener, der sich bislang um ihn kümmerte, kam allmählich in die Jahre. Guy hatte beschlossen, dass zwei Pfleger besser sein würden als einer. Beinahe wäre er bei dem Gedanken an die zusätzlichen Kosten zusammengezuckt. Alte Angewohnheiten ließen sich eben nur schwer ablegen.

Er setzte eine freundliche Miene auf. "Ich dachte, wir hätten uns für morgen früh verabredet?"

"Es hat sich … eine plötzliche Veränderung in meiner Planung ergeben", erwiderte Brinks zögernd. "Ich bin äußerst interessiert an dieser Anstellung und könnte sofort anfangen, noch heute Nacht, Sir. Ich müsste nur dorthin gebracht werden."

Seine Stimme klang ziemlich hoch. Und er schien Angst zu haben, so wie er den Kopf gesenkt hielt. Das konnte nicht gut gehen. Wenn er schon vor einem normalen Menschen Furcht hatte, dann würde er eine derart schwierige Persönlichkeit wie den Earl erst recht nicht ertragen.

"Nun, noch habe ich Sie ja nicht eingestellt, nicht wahr? Ist Ihnen gekündigt worden?" fragte Guy unverblümt.

"Nein, Mylord. Ich habe zwei Empfehlungsschreiben dabei."

"Darf ich sie sehen?"

"Selbstverständlich." Mit vorsichtigen Schritten und immer noch gesenktem Kopf trat der junge Mann näher.

"Los, los, geben Sie sie her", drängte Guy ungeduldig.

Brinks gehorchte, und Guy fiel auf, wie weich die Hand aussah, die ihm jetzt die Umschläge reichte. Die Fingernägel waren zwar sorgfältig geschnitten, aber ein wenig schmutzig. Guy hätte lieber ein Anzeichen dafür entdeckt, dass der Kerl kräftig zupacken konnte, zumindest aber, dass er auf Reinlichkeit Wert legte. Er zog die Schreiben aus den Umschlägen und überflog sie flüchtig. Das eine stammte von einem Sir Alexander Morison, der vor drei Jahren Arzt im Hoxton-Hospital für Geisteskranke gewesen war, das andere von dem Direktor, der jetzt dort tätig war. In beiden stand, dass Mr. John Brinks ein engagierter Angestellter gewesen war, der stets pünktlich und zuverlässig seine Pflichten wahrgenommen hatte.

Guy legte die Schreiben beiseite, spreizte beide Hände flach auf dem Tisch und betrachtete seinen Besucher mit einer gewissen Belustigung. "Meinen Sie, ich könnte von Ihnen noch mehr zu sehen bekommen als nur Ihren Scheitel? Sie haben doch sicher keine Angst vor mir, oder, Mr. Brinks?"

Jetzt war das Gesicht im warmen Schein der Lampe zu erkennen, und Guy stockte der Atem. Kein Wunder, dass der Junge es vor ihm verborgen hatte. Ein so hübscher Kerl musste es schwer haben, eine Anstellung zu finden, es sei denn auf einer Theaterbühne, um weibliche Rollen darzustellen. Oder vielleicht in einer Anstalt, in der seine Schutzbefohlenen so krank waren, dass ihnen sein Aussehen gar nicht mehr auffiel.

Wie dem auch sein mochte, irgendetwas stimmte hier nicht. Brinks sah nicht so alt aus, als hätte er schon seit drei Jahren gearbeitet. "Wie alt sind Sie?" erkundigte Guy sich und ließ den Blick interessiert über die schlanke, anmutige Gestalt wandern, ehe er ihn wieder auf das junge Gesicht richtete.

"Sechsundzwanzig, Mylord. Fast siebenundzwanzig."

"Was Sie nicht sagen!" meinte Guy kopfschüttelnd. "Trotzdem. Ich bedauere, aber ich kann Sie leider nicht einstellen. Sie sind nicht geeignet."

"Warum nicht?" Die Frage war kaum mehr als ein Flüstern.

"Unter anderem, weil Sie zu schmächtig sind. Diese Arbeit erfordert sehr viel Kraft. Es tut mir Leid."

Brinks rührte sich nicht.

"Ach so." Guy merkte, dass die Empfehlungsschreiben immer noch auf dem Tisch lagen. Rasch schob er sie wieder in die Umschläge und gab sie zurück. "Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrer weiteren Suche. Und noch einmal – vielen Dank für Ihre Bewerbung." Trotz dieser eindeutigen Entlassung machte Brinks keinerlei Anstalten zu gehen. Er schien außer Stande, sich zu bewegen. "Gibt es noch etwas?" fragte Guy und stützte das Kinn auf seine verschränkten Hände.

"Sie müssen mich einstellen, Mylord, bitte! Ich muss London umgehend verlassen. Je eher, desto besser."

Guy studierte eingehend seine einzigartigen Gesichtszüge. Furcht spiegelte sich in den ehrlich wirkenden dunkelblauen Augen mit den langen Wimpern. Hohe Wangenknochen, um die ihn jede Frau beneiden würde. Schön geschwungene rote Lippen, die er jetzt allerdings zu einem schmalen Strich zusammenpresste. "Warum haben Sie es so eilig, fortzukommen, Mr. Brinks? Erklären Sie es mir, vielleicht kann ich Ihnen ja helfen."

Einen Augenblick lang schien Mr. Brinks verwirrt, dann seufzte er schwer. "Ein Patient, Mylord. Er ist aus der Anstalt entlassen worden und verfolgt mich jetzt. Ich wage es nicht einmal mehr, in meine Wohnung zurückzukehren und meine Sachen zu holen. Der Mann ist gefährlich, er hat mich bedroht!"

Eine Lüge. Ganz eindeutig und schnell durchschaut. Guy fragte sich, ob Brinks sich eigentlich bewusst war, wie mädchenhaft seine flehende Stimme geklungen hatte. Interessant. "Wie kommt es überhaupt, dass man ein so gefährliches Geschöpf entlassen hat?"

"Es war … ein Irrtum, Mylord."

Guy verschränkte die Arme vor der Brust und strich sich nachdenklich mit dem Finger über die Lippen. "Ich dachte, alle kriminellen Geisteskranken seien schon vor geraumer Zeit von Bedlam nach Broadmoor überstellt worden?"

"Der Mann hat meines Wissens kein Verbrechen begangen. Und doch … In seiner geistigen Verwirrung macht er nun mich für seinen Aufenthalt in der Anstalt verantwortlich, weil ich sein Pfleger war."

"Aha. Und wie hat er Sie bedroht? Bitte drücken Sie sich deutlicher aus", verlangte Guy.

"Nun ja, er hat mich verfolgt." Brinks schluckte krampfhaft, offenbar hatte er Mühe, den Faden nicht zu verlieren. Wahrscheinlich war er es nicht gewohnt, zu lügen.

"Er hat Sie also verfolgt, und dann?" Guy beharrte auf seiner Frage.

"In der Stadt gibt er sich für mich aus. Er hat sogar schon in mehreren Geschäften Kredit bekommen! Auf meinen Namen! Ich traue mich kaum noch auf die Straße, aus Furcht, jemand könnte mich mit dem Betrüger verwechseln!"

"In der Tat, wie abscheulich von ihm!" rief Guy. Diese hanebüchene Geschichte faszinierte ihn von Minute zu Minute mehr. "Sagen Sie, was hat er denn sonst noch so angestellt?"

"Ich wage es nicht einmal, auch nur daran zu denken, Mylord. Bitte, könnten Sie nicht eine Kutsche für mich bereitstellen und mich in dieser Nacht nach Edgefield schicken?"

"Ich verstehe. Wenn ich das täte, würden Sie sich dann sicher fühlen?"

Mr. Brinks nickte heftig. "Ich glaube, ja. Ich wäre Ihnen zutiefst zu Dank verpflichtet, wenn Sie das arrangieren könnten. Ich verspreche auch, hart zu arbeiten und für Ihren Vater zu sorgen, als wäre er mein eigener."

Guy beugte sich nach vorn. "Sie wissen von Edgefield? Wie kommt das? In meiner Anfrage bei Ihrem Direktor habe ich nie erwähnt, wo sich der zukünftige Arbeitsplatz befindet!"

Brinks zögerte und atmete dann tief durch. "Ihr Vater lebt doch dort, nicht wahr?"

"Ich bevorzuge es, dass der Aufenthaltsort meines Vaters geheim bleibt. Die meisten Leute glauben, er befände sich auf unserem Familiensitz in Northumberland, und ich möchte, dass sie das weiterhin glauben. Sie werden niemandem davon erzählen, verstanden?"

"Selbstverständlich, Mylord." Entweder konnte oder wollte Brinks dem nichts mehr hinzufügen.

Trotzdem war Guy fest entschlossen herauszufinden, woher der Jüngling diese Information hatte. "Offensichtlich wissen Sie mehr über meine privaten Umstände, als Ihnen zusteht. Stammen Sie selbst aus Kent?"

"Nun … ich komme aus der Nähe von Maidstone. Wahrscheinlich habe ich zufällig mitbekommen, wie jemand einmal …" Die Worte erstarben und wichen einem unbehaglichen Schweigen.

Guy war klar, dass es sinnlos war, auf diese Weise weiterzukommen. Er musste direkter werden. Hier war etwas Seltsames im Gange, und er wollte wissen, was das war. Diese Bewerbung war kein Scherz, davon war er jetzt überzeugt. Zu viel Verzweiflung und Angst spiegelten sich in diesen blauen Augen wider, die seinem Blick auswichen. Die Sache machte ihm keinen Spaß mehr, und es wurde Zeit, sie zu beenden. Er stand auf. "Hören wir mit der Befragung auf. Ich glaube, dass Sie wirklich Hilfe benötigen", erklärte er aufrichtig.

"Sie werden mich also einstellen? Ich darf London sofort verlassen?" Der Ausdruck grenzenloser Erleichterung veränderte das Gesicht so sehr, dass es nicht länger nur hübsch war. Guy runzelte die Stirn bei dieser Erkenntnis. Nun, da die größte Furcht offenbar ausgestanden war, hatte Brinks sich in eine strahlende Schönheit verwandelt.

"Nein, Sie sind nicht eingestellt", erwiderte Guy mit Nachdruck und beugte sich noch weiter vor.

"Bitte, Sir! Sie müssen!"

Guy schüttelte bedächtig den Kopf. "Ich denke, es wird Zeit, dass Sie diese Farce beenden und mir erklären, warum sich eine junge Frau stümperhaft das Haar abschneidet, billige Männerkleidung anzieht und sich um eine Stellung für einen Mann bewirbt! Sie treiben ein gefährliches Spiel, aus welchen Gründen auch immer. Sind Sie verrückt?"

2. Kapitel

 

Lily rannte los, ihre letzte Hoffnung hatte sie schneller verloren als ihre Füße laufen konnten. Sie riss die Tür auf, stürzte hinaus in den Flur und prallte dort geradewegs gegen den alten Butler. Beide verloren das Gleichgewicht und gingen zu Boden, doch ehe Lily wieder auf die Beine kommen konnte, packte sie eine große Hand.

"Halten Sie still!" Duquesne beugte sich wie der Leibhaftige wütend über sie. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm in die Stirn und der durchbohrende Blick aus stahlgrauen Augen warnte sie, jetzt bloß nichts Falsches zu tun.

Lily schreckte zurück. Sein Griff wurde zwar etwas lockerer, aber er ließ sie nicht los, als er seine Aufmerksamkeit auf den alten Diener richtete.

"Bodkins, alles in Ordnung? Lassen Sie sich Zeit mit dem Aufstehen. Ist auch nichts gebrochen?" Er sprach sehr laut, und doch schwang unüberhörbar liebevolle Anteilnahme in seiner Stimme mit.

Erstaunt beobachtete sie, wie er mit seinem Butler umging. Er forderte ihn auf, sich vorsichtig zu vergewissern, ob auch alle Knochen heil waren, dann half er dem alten Mann fürsorglich beim Aufstehen. Lily zog er mit der anderen Hand weniger sanft zu sich empor.

"Nichts passiert, Mylord", sagte Bodkins, während er gleichzeitig Lily stirnrunzelnd ansah.

"Gott sei Dank", erwiderte Duquesne erleichtert. Wieder sprach er sehr laut, doch ohne jeden ärgerlichen Unterton. "Trotzdem, ich glaube, Sie sollten sich jetzt lieber hinlegen. Stützen Sie sich auf mich, ich bringe Sie in Ihr Zimmer."

Der Butler straffte sich und trat einen Schritt zurück. Er reckte das Kinn vor und ordnete den Sitz seiner Weste. Sein Blick fiel erneut auf Lily. "Ich werde die Nachtwache übernehmen", sagte er.

"Das ist nicht nötig", versicherte Duquesne. "Ins Bett mit Ihnen, das ist ein Befehl!" Seine Stimme hallte in dem hohen Flur wider.

"Wie Sie wünschen, Mylord." Der Diener sah Lily ein letztes Mal drohend an und verzog sich dann, missmutig vor sich hin murmelnd.

Duquesne zerrte Lily zurück in sein Arbeitszimmer, hin zu einem der hochlehnigen Ledersessel. "Setzen Sie sich", befahl er knapp und ließ ihr Handgelenk los.

Wie grimmig er aussah. Und wie unglaublich attraktiv – ein großer, breitschultriger Mann mit markanten, klassischen Gesichtszügen und einer ungeheuer selbstbewussten Ausstrahlung.

Das war das Erste gewesen, was ihr an ihm aufgefallen war, sein unverschämt gutes Aussehen. Sie hatte schon vorher einige außergewöhnlich schöne Männer kennen gelernt, allesamt Schurken. Clive, zum Beispiel, sah exzellent aus, ihr Ehemann Jonathan hingegen nicht. Daraus ließ sich schließen, dass ein anziehendes Äußeres noch lange nicht dazu berechtigte, sich auf den betreffenden Mann auch verlassen zu können. Die Anteilnahme, die Duquesne für seinen Butler gezeigt hatte, konnte er für sie offensichtlich nicht erübrigen.

Er richtete sich nun zu seiner vollen, nicht unbeträchtlichen Größe vor ihr auf und stemmte die Hände in die Hüften. "Entweder Sie geben jetzt eine vernünftige Erklärung ab, oder ich schleppe Sie geradewegs vor den Friedensrichter. Dann kann er vielleicht feststellen, warum Sie sich mit falschen Referenzen um eine Stelle beworben haben."

Ihr fiel keine Lüge ein, die besser als die Wahrheit geeignet gewesen wäre, ihm ein Hilfsangebot zu entlocken. Anfänglich hatte sie überlegt, ihm ganz einfach zu erklären, in welcher Situation sie sich befand, und ihn dann um Beistand zu bitten. Hätte sie das doch bloß getan, dann wären ihre Aussichten sicher besser gewesen. Jetzt hatte sie keine andere Wahl, sie musste offen sein.

Ihr einziger Wunsch war es doch nur gewesen, so schnell wie möglich nach Hause zurückzukehren und sich zu vergewissern, dass ihr Sohn in Sicherheit war. Da sie bereits verkleidet gewesen war – und weder die Männer im Krankenhaus noch der Droschkenkutscher oder Bodkins hatten sie durchschaut –, ging sie davon aus, die Rolle von Brinks erfolgreich weiterspielen zu können. Nur hatte sie nicht mit dem unbestechlichen Blick von Lord Duquesne gerechnet.

Aber sie hatte beschlossen, sich nicht einem Mann anzuvertrauen, über den sie nichts weiter wusste, abgesehen von einer flüchtigen Begegnung, als sie noch ein Kind gewesen war, und den Gerüchten, die über ihn im Umlauf waren. Natürlich war Lily bekannt, dass Edgefield, eines der Anwesen seines Vaters, an das ihres Sohnes angrenzte. Sie hatte auch gehört, dass Duquesnes Vater, der Earl, sich dorthin zurückgezogen hatte, während der Viscount selbst schon vor Jahren beschlossen hatte, dauerhaft in London zu leben.

Wenn Brinks nicht seinen Namen erwähnt hätte, wäre ihr wohl nie eingefallen, hierher zu kommen. Das Problem war nur, Duquesne war der Einzige, den sie in London überhaupt kannte.

Sein Haus verriet mehr über seine derzeitige finanzielle Situation, als sie geahnt hatte. Es gab nur wenige Möbelstücke, zumindest was die Eingangshalle, den Flur und dieses Arbeitszimmer betraf. Nirgends waren Bilder, Skulpturen oder andere Anzeichen von Wohlstand zu entdecken. Abgesehen von diesem Zimmer hier, machte das Haus einen verlassenen, unbewohnten Eindruck.

Der Sessel, auf dem sie saß, bedurfte dringend einer Reparatur, und die alten Samtvorhänge vor den Fenstern wirkten zerschlissen, selbst bei dem schwachen Licht der Lampe. Jetzt bemerkte sie auch, dass die Bücherregale, die sich an drei Wänden aneinander reihten, fast völlig leer standen.

Eine vage Hoffnung keimte in ihr auf. Wenn sie schon nicht an Duquesnes Ehre appellieren konnte, dann ließ er sich ja vielleicht bestechen? Jeder wusste, dass er Geld brauchte. Warum sollte er sonst so leben? Andererseits war er ein Einzelgänger, das war nicht zu übersehen. Vielleicht gefiel es ihm so am besten. Aber wenn nicht … Lily entschied, es darauf ankommen zu lassen. Sie würde sich seine Hilfe erkaufen, mochte es kosten, was es wollte.

Beim Anblick seiner Kleidung zögerte sie. Diese war auf jeden Fall nicht billig. Seine Hose aus erstklassigem Nankingstoff war offenbar maßgeschneidert, genau wie das leicht zerknitterte Leinenhemd. Darüber trug er einen langen, offenen Hausmantel aus Samt, der sehr teuer aussah, auch wenn er alt und nicht mehr ganz in Mode war.

Ihr fiel auf, dass seine Füße bloß waren. Sie waren wohlgeformt und verliehen ihm einen Hauch von Verwundbarkeit, wodurch er auf seltsame Weise menschlicher wirkte.

Jetzt lehnte er sich an den alten, zerkratzten Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. "Nun?"

Lily räusperte sich und legte die Hände auf ihre Knie. Sie sah ihn an und kam sich vor wie eine zerknirschte Sünderin. Ein schreckliches Gefühl. "Ich muss an Ihre Gnade appellieren, Mylord, und kann nur hoffen, dass Sie mir Schutz gewähren werden."

Er neigte den Kopf zur Seite, als wollte er sie ermutigen, fortzufahren. Kein Anzeichen von Mitgefühl.

Seufzend blickte sie kurz auf den abgewetzten Teppich, dann wieder zu dem Viscount. "Ich bin Baroness Bradshaw." Sie zögerte, weil sie erwartete, dass er ihre Behauptung anzweifeln würde, doch nichts dergleichen geschah. "Ich glaube, dass der Bruder meines Mannes versucht hat, mich gestern – oder vielleicht auch vorgestern … welchen Tag haben wir heute?"

"Samstag", gab er Auskunft.

"Dann also gestern. Meiner Meinung nach hat er mich unter Drogen gesetzt. Ich kam von meinem Ausritt zurück, betrat die Bibliothek – und er bot mir ein Glas Sherry an. Ich trank es nur zur Hälfte aus. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich in einer Zelle in Bedlam aufwachte. Dass es diese Anstalt war, begriff ich natürlich erst bei meiner Flucht, aber …"

Lord Guy lächelte leicht und biss sich auf die Unterlippe, doch noch immer sagte er nichts.

"Nachdem ich aufgewacht war, konnte ich die Unterhaltung zweier Männer draußen vor der Zellentür belauschen. Als der eine fortging und der andere eintrat, schlug ich ihn mit dem Absatz meines Reitstiefels nieder und betäubte ihn mit dem Mittel, was er offensichtlich für mich vorgesehen hatte. Hier ist es." Sie zog die beiden kleinen Flaschen aus ihrer Tasche. "Dann flüchtete ich in seiner Kleidung." Lily sah vielsagend an sich herab.

Er wandte den Blick zur Seite, schüttelte den Kopf und lachte leise.

Sie sprang auf, Tränen schossen ihr in die Augen. "Wie können Sie es wagen, über mich zu lachen!"

Unvermittelt wurde er wieder ernst. "Wer auch immer Sie zu mir geschickt hat – richten Sie dem Spaßvogel aus, dass ich kein Dummkopf bin. Das war eine ungeheure Verschwendung nicht nur meiner, sondern auch Ihrer Zeit."

"Niemand hat das getan!"

"Dann kann ich mir nicht erklären, warum Sie hier sind und mir diese haarsträubende Lüge auftischen. Zufällig weiß ich, dass Bradshaw vor zwei Jahren nach einem Herzversagen gestorben ist. Sagen Sie mir endlich die Wahrheit, sonst …!"

Lily rang verzweifelt die Hände und seufzte. "Ich bin Jonathans Witwe. Die Mutter von Beaumont, dem jetzigen Lord Bradshaw."

"Ach", erwiderte Duquesne mit unüberhörbarer Ironie. "Dann ist Ihnen wohl nicht bekannt, dass ich der Person, die John Bradshaw geheiratet hat, schon einmal begegnet bin, und das waren ganz eindeutig nicht Sie."

"Sie kannten meinen Vater, Vikar Upchurch. Bestimmt erinnern Sie sich daran, dass seine Tochter, also ich, vor acht Jahren über ihren Stand geheiratet hat? Das war damals das Gesprächsthema in der Grafschaft. Ich wette, sogar hier in London wurde darüber getuschelt."

Unvermittelt beugte er sich zu ihr und betrachtete prüfend ihr Gesicht. Er stieß einen Fluch aus, schüttelte den Kopf und schob unsanft ihren Ärmel nach oben. "Das lässt sich ja leicht feststellen", meinte er hastig und hielt ihren Arm ins Licht. Die gezackte Narbe auf ihrem Unterarm schimmerte weiß im Schein der Lampe. Plötzlich verwirrt sah er ihr in die Augen. "Aber … aber das Kind von damals war …"

"Spindeldürr ist wahrscheinlich das Wort, das Sie suchen", fuhr Lily ihn an. "Viel zu mager und viel zu klein für ihr Alter. Ich bedauere es außerordentlich, dass ich mich kaum noch an unsere Begegnung erinnern kann, Mylord. Ich bin sicher, wir hätten uns blendend verstanden!"

Natürlich erinnerte sie sich an den großen, schlaksigen Jugendlichen mit den freundlichen Augen, der so viel Mitgefühl für ihre Schmerzen gezeigt hatte. Unbedingt hatte er helfen wollen und sogar ihrem Vater Befehle erteilt, der sich sonst von niemandem herumkommandieren ließ. Dann hatte er sie auf den Arm genommen, sie fortgetragen und ihr unaufhörlich beruhigende Worte ins Ohr geflüstert. Sie hoffte inständig, dass von dieser Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft noch etwas übrig geblieben war.

Duquesnes Blick wurde abwesend, so als versuchte er, sich an Einzelheiten des damaligen Vorfalls zu erinnern. "Der Vikar unterbrach mich bei meinem nachmittäglichen Golfspiel und bat mich um meinen Phaeton, um Sie so schnell wie möglich zu Dr. Ephriam zu bringen. Sie waren von einem Baum gefallen und hatten sich den Arm gebrochen. Der Knochen war … Lassen wir das." Wieder betrachtete er die Narbe. "Der Mann hat keine sehr gute Arbeit geleistet. Ist der Bruch ohne Komplikationen verheilt?"

Lily entzog ihm ihren Arm und streifte den Ärmel wieder herunter, um das Mal zu verdecken. "Also glauben Sie mir jetzt?"

Er berührte sie sanft und nickte. Fast schien es ihm Leid zu tun, dass er einen eindeutigen Beweis für ihre Identität gesucht hatte. "Ja, ich glaube Ihnen."

"Dann werden Sie mir helfen? Mein Sohn ist möglicherweise in Gefahr. Wenn Sie mir ein Pferd für den Heimritt besorgen könnten, wäre ich Ihnen über alle Maßen dankbar."

"In Gefahr? Warum?"

Sie verdrehte ungeduldig die Augen. "Weil mein Kind nun das Einzige ist, was noch zwischen Jonathans Bruder und dem Titel steht, natürlich!"

"Der Junge ist zurzeit auf Sylvana Hall?"

Lily presste kurz die Hand vor den Mund, ehe sie antworten konnte. "In der Obhut seines Kindermädchens, wie ich hoffe." Mit Mühe unterdrückte sie die Tränen. Großer Gott, welche Angst sie um Beau hatte.

Beruhigend legte Duquesne ihr die Hand auf die Schulter. "Ich werde sofort das Nötige veranlassen. Bedienen Sie sich von dem Brandy, während Sie warten."

"Ich komme mit Ihnen", verkündete sie.

Er schüttelte lächelnd den Kopf. "Bitte, vertrauen Sie mir … Verzeihung, ich kann mich nicht mehr an Ihren Vornamen erinnern."

Eine Weile betrachtete sie seine Augen. Sie waren von einem klaren Grau, und sie konnte keine Spur von Unaufrichtigkeit in ihnen entdecken. "Ich heiße Lillian", sagte sie.

Sein Lächeln vertiefte sich. "Lily, natürlich! Ihr Vater pflegte Sie Lily zu nennen." Damit verschwand er. Einfach so. Sie hatte keine Ahnung, wohin. Vielleicht alarmierte er ja die Polizeiwache, oder er sandte eine Nachricht an Clive, er solle sie hier abholen. Doch irgendwie glaubte sie das nicht. Nein – sie wusste, dass er das nicht tun würde. Duquesne hätte es ihr geradeheraus gesagt, wenn er vorgehabt hätte, sie auszuliefern. Lily fühlte in ihrem tiefsten Innern, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Wie seltsam, jemandem so blind zu vertrauen, nachdem sie so schändlich verraten worden war.

Aber Lily sah etwas in dem Viscount, das sie zutiefst berührte. Er war einsam, und dennoch nicht verbittert darüber. Auch spürte sie eine gewisse Behutsamkeit in seinem Verhalten ihr gegenüber, und ihr war bewusst, dass das auf unmittelbarer Anziehungskraft beruhte. Zwar hielt sie sich für keine strahlende Schönheit, aber sie war auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie fand ihn ebenfalls ausnehmend attraktiv, und das auf eine sehr physische Art. Wenn sie dem nicht Einhalt gebot, konnte das die Lage ernsthaft erschweren. Sie würde für den Beistand eines Mannes niemals ihren Körper hergeben. Oder etwa doch? Nein, auf so einen unehrenhaften Handel würde sie sich auf keinen Fall einlassen.

Es blieb die Tatsache, dass sie kein Geld mehr hatte, über das sie verfügen konnte, das letzte hatte sie für die Droschke ausgegeben. In diesem heruntergekommenen Haus war bestimmt auch keins zu finden, das sie hätte entwenden können. Und zu Fuß nach Sylvana Hall zu gehen, war sinnlos, es hätte viel zu lange gedauert. Außerdem war das mit größter Wahrscheinlichkeit genau das, was Clive von ihr erwartete, und er würde sie gewiss unterwegs abfangen.

Ihre einzige Chance bestand jetzt darin, dass Duquesne einen Weg fand, sie möglichst schnell nach Hause zu bringen, ehe Brinks aufwachte, Alarm schlug und Clive von ihrer Flucht benachrichtigte.

Lily grübelte darüber nach, was sie tun sollte, sobald sie auf Sylvana Hall war. Wie konnte sie Beau in Sicherheit bringen, und wohin sollte sie mit ihm gehen? Ja, wohin? Sylvana Hall war ihr Zuhause, sie hatte dort eine Verantwortung zu tragen, die sie definitiv nicht an Clive weiterzugeben gedachte. Solange sie aber nicht beweisen konnte, was er ihrer Meinung nach getan hatte, würde er eine Bedrohung bleiben. Was sie und Beau dringend benötigten, war ein ständiger Bewacher. Und in dem Moment nahm in ihr eine ungeheure Idee Gestalt an …

Stechende Kopfschmerzen machten sich auf einmal bemerkbar, der Beginn einer Migräne, die sie sich in Anbetracht dessen, was sie bis zum Morgen noch alles zu erledigen hatte, auf keinen Fall leisten konnte. Sie griff nach der halb leeren Brandyflasche und sah sich nach einem Glas um. Da sie keins fand, setzte sie die Flasche direkt an die Lippen und nahm einen Schluck, um sich Mut anzutrinken.

Genau in dieser Haltung fand Guy sie vor, als er zurückkehrte.

 

Bei ihrem Anblick unterdrückte Guy nur mühsam ein Lachen. Die Baroness hatte sich mit einer Hand auf seinem Schreibtisch abgestützt und den Kopf nach hinten geneigt, während sie seinen Brandy wie ein Mann von der Straße genoss. Der Schein der Lampe zauberte Reflexe in ihr stümperhaft abgeschnittenes rotgoldenes Haar. Lily, der Wildfang, dachte er innerlich schmunzelnd.

Er war über alle Maßen froh, dass sie nicht das war, wofür er sie anfangs gehalten hatte – für eine Betrügerin oder gar eine Spionin. Vor solchen Personen war er eigentlich immer auf der Hut, da er gelegentlich für das Kriegsministerium arbeitete und sich dadurch den einen oder anderen zum Feind gemacht hatte. Zum Glück herrschte inzwischen Frieden, und derartige Aufträge gab es kaum noch. Das fehlende Einkommen außen vor gelassen, war er darüber erleichtert.

Lilys Geschichte wirkte zu absurd, um erfunden zu sein. Zwar kannte Guy Clive Bradshaw nicht persönlich, aber er wusste, dass es Männer gab, die für einen Titel und alles, was damit zusammenhing, über Leichen gehen würden. Zu Recht war sie in Sorge um ihren Jungen. Und wenn man bedachte, was Bradshaw ihr bereits angetan hatte, dann war es kein Wunder, dass sie mehr Angst um ihr Kind hatte als um sich selbst. Er zollte ihr größte Bewunderung für ihren Mut.

Lily stellte den Brandy energisch auf den Schreibtisch zurück und sah ihm direkt in die Augen, so wie es auch ein Mann getan hätte. "Ist mein Pferd gesattelt?"

Guy ging zu ihr, griff ebenfalls nach dem Alkohol und tätigte einen kräftigen Schluck. Als er ihr wieder die Flasche anbot, lehnte sie ungeduldig ab. "Ich habe nach einem Mann schicken lassen, dem ich bedingungslos vertraue. Sobald er hier ist, soll er losreiten und Ihren Sohn und das Kindermädchen holen. Es ist sicherer, wenn Sie hier bleiben."

Lily riss die blauen Augen auf. "Ich kann hier nicht einfach ausharren, bis Beau eingetroffen ist!"

"Es ist besser als das Irrenhaus", erwiderte er und sah sich um. "Wenn auch nicht viel, fürchte ich."

Sie begann, auf und ab zu gehen, und rieb sich dabei mit den Handflächen über die Arme. So bestürzt hatte er sie bislang noch nicht gesehen. "Mrs. Prine trifft bestimmt der Schlag, wenn ein völlig fremder Mann plötzlich verlangt, die beiden sollten ihn nach London begleiten. Außerdem kann sie nicht reiten", meinte Lily über die Schulter hinweg, als sie am Fenster stehen blieb.

"Wie auch immer, ich verspreche Ihnen, dass Mrs. Prine und ihr Schützling spätestens am frühen Nachmittag hier eintreffen werden. Seien Sie unbesorgt."

Hilflos warf sie die Hände hoch. "Ich kann doch nicht einfach still herumsitzen und abwarten!"

"Natürlich nicht. Sie werden nach oben gehen und erst einmal richtig ausschlafen. Ihr Sohn wird schon allein wegen Ihrer Aufmachung einen Schock bekommen; wenn Sie dazu noch vollkommen erschöpft aussehen, ängstigt er sich zu Tode."

"Da kennen Sie Beau nicht." Verächtlich schaute sie Duquesne an.

Guy schmunzelte. "Ich wette, er hat genauso viel Schneid wie Sie, nicht wahr? Wie alt ist er denn?"

Er hielt ihr wieder den Brandy hin, und dieses Mal nahm sie ihn an. Sie trank einen Schluck, und anschließend nahm sie ihre ruhelose Wanderung wieder auf. "Er ist letzten Monat sieben geworden."

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