Eine Lady auf Abwegen

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"Nein und nochmals nein!" Lord Rhys Denham fällt aus allen Wolken: Nicht nur, dass Lady Thea ihn als Mann verkleidet zu später Stunde aufsucht - sie bittet ihn auch noch um einen Gefallen, der sie beide ihren Ruf kosten könnte! Wird Rhys es schaffen der ebenso temperamentvollen wie attraktiven Thea ihren Wunsch abzuschlagen?


  • Erscheinungstag 15.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729479
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

London, 3. Juni 1814

Die Uhr auf dem Kaminsims schlug viermal. Es war sinnlos, noch schlafen zu gehen. Abgesehen davon, war er betrunken, wenn auch leider nicht genug, um sich nicht zu fragen, was ihn auf die hirnrissige Idee dieser Reise gebracht hatte. Aber jeder würde denken, dass er nicht wusste, was er wollte, wenn er jetzt alles absagte.

„Stimmt ja auch“, teilte Rhys Denham dem struppigen, fuchsroten Kater mit, der ihn vom Kaminvorleger aus mit dem herablassendem Blick einer Herzoginwitwe beobachtete. „Dass ich nicht weiß, was ich eigentlich will.“

Bisher war der Mäusejäger noch nie aus der Küche nach oben gekommen, schon gar nicht in das Studierzimmer des dritten Earl of Palgrave. Es war unerhört. Vermutlich waren alle im Haus mit der bevorstehenden Abreise ihres Herrn zum Kontinent beschäftigt gewesen, sodass niemandem eine offene Tür an der Dienstbotentreppe aufgefallen war.

„Es schien mir ein guter Plan zu sein“, sagte Rhys laut. Der Brandy in seinem Glas schimmerte im Kerzenlicht. Er goss noch etwas nach und schüttete alles hinunter. „Ich bin betrunken wie seit Jahren nicht mehr.“ Nicht mehr, seit er eines Nachmittags mit der Erkenntnis aufgewacht war, dass Alkohol die Erinnerung an seinen katastrophalen Hochzeitstag nicht auszulöschen vermochte. Ebenso wenig würde davon sein Vertrauen in die Menschen wieder aufleben oder sein Glaube an die wahre Liebe.

Der Kater wandte seine Aufmerksamkeit nunmehr dem Teller mit den Resten von Fleisch, Käse und Brot zu, der neben der Karaffe stand. „Und du kannst aufhören, dir die Schnurrhaare zu lecken.“ Rhys griff nach dem Teller. „Ich brauche das jetzt mehr als du. In drei Stunden muss ich mehr oder weniger nüchtern sein.“ Dass er dieses Ziel erreichen würde, kam ihm selbst in seinem benebelten Zustand eher unwahrscheinlich vor.

„Du musst zugeben, dass ich einen Urlaub verdient habe. Mein Landbesitz ist in bester Ordnung, um meine Finanzen könnte es nicht besser bestellt sein, ich bin zutiefst gelangweilt von der Stadt und Bonaparte ist schon seit einem Monat auf Elba kaltgestellt“, teilte er dem Kater mit vollem Munde mit. „Denkst du etwa, ich bin zu alt für die Kavalierstour? Finde ich nicht. Mit achtundzwanzig weiß ich sogar alles besonders gut zu schätzen.“ Der Kater grinste höhnisch, hob ein Hinterbein und begann, sich an seinen intimsten Stellen zu lecken.

„Hör damit auf. Ein Gentleman tut so etwas nicht im Studierzimmer.“ Rhys warf dem Tier ein Stückchen Speck zu. „Aber ein ganzes Jahr? Was habe ich mir dabei gedacht?“ Selbstverständlich konnte er jederzeit zurückkommen, aber aus einer Laune heraus alles abzusagen, wäre kein verantwortungsvolles Verhalten. Es würde anderen Menschen Umstände bereiten und sie im Stich lassen. Rhys Denham verachtete Leute, die andere im Stich ließen.

„Nein, ich muss das jetzt durchstehen“, erklärte er dem Kater. „Der Szenenwechsel wird mir guttun, und dann finde ich auch irgendwann ein hübsches, bescheidenes, gut erzogenes und häusliches Mädchen mit gebärfreudigem Becken. Ich werde vor meinem dreißigsten Geburtstag verheiratet sein.“ Und mich zu Tode langweilen. Vor seinem inneren Auge sah er eine Reihe appetitlicher Frauen vorbeiziehen, die bisher verhindert hatten, dass er der Langeweile zum Opfer fiel. Sie hatten auf Treue keinen Wert gelegt, aber eine Ehefrau würde es tun. Rhys seufzte.

Die Freunde, die gemeinsam mit ihm im Club Abschied gefeiert hatten, waren alle verheiratet oder zumindest verlobt. Einige von ihnen hatten sogar schon Kinder. Und alle waren sich einig in ihrer Meinung über ihn: „Es wird Zeit, dass ein Schwerenöter wie du nicht nur am Käse knabbert, sondern einen großen Bissen davon nimmt und endlich selbst in die Falle geht, Denham.“

„Und warum ist das ein so verdammt deprimierender Gedanke?“

„Das kann ich nicht sagen, Mylord.“ Griffin stand in der Tür, sein Gesicht zeigte die ausdrucklose Maske, mit der er seine Missbilligung auszudrücken pflegte.

Rhys hievte sich aus dem Sessel. In seinem eigenen Hause durfte ein Mann doch wohl ein Glas zu viel trinken, verflucht noch mal. „Ich habe zu dem Kater gesprochen, Griffin.“

„Wenn Sie es sagen, Mylord.“

Rhys schaute zum Kaminvorleger. Das rötlichbraune Biest war verschwunden und hatte nur seinen Abdruck auf dem Stoff hinterlassen.

„Jemand möchte Sie sehen, Mylord.“ Das war wohl auch der Grund für seinen versteinerten Gesichtsausdruck.

„Wer ist es?“

„Eine junge Person, Mylord.“

„Ein Knabe? Ich bin nicht zu Ratespielchen aufgelegt, Griffin.“

„Wie Sie meinen, Mylord. Es scheint ein Knabe zu sein. Darüber hinaus möchte ich mich nicht festlegen.“

Scheint zu sein? Meint Griffin das, was ich befürchte? „Nun, wo ist … er?“ Sie?

„Im kleinen Empfangszimmer. Er kam zur Vordertür, weigerte sich, den Lieferanteneingang zu benutzen, und meinte, er sei sicher, dass Ihre Lordschaft ihn zu sehen wünschten.“

Rhys schaute blinzelnd zu der Karaffe. Wie viel hatte er getrunken, seit er von White’s zurück war? Ziemlich viel, das ja, aber trotzdem bildete er sich den leicht verzweifelt klingenden Ton in Griffins Stimme nicht ein. Dieser Mann wurde normalerweise mit allem fertig, ohne mit der Wimper zu zucken, ob es diebische Dienstboten waren oder porzellanwerfende ehemalige Mätressen.

Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Mätressen. Hatte Georgina den Abschied doch nicht so einfach hingenommen, wie es gestern den Anschein erweckt hatte? Rhys stand vom Sessel auf und zerrte sich das bereits gelockerte Tuch vom Hals, seinen Rock ließ er auf dem Sofa liegen. Lächerlich. Es stimmte zwar, dass er sein Vergnügen ohne emotionale Verstrickungen bevorzugte, aber er war kein Lord Byron, der ständig auf der Flucht war vor überreizten, als Knaben verkleideten Frauen. Er achtete darauf, sich nur an fest verheiratete Frauen oder Professionelle zu halten, die wussten, worum es ging. Auf keinen Fall suchte er die Gesellschaft alleinstehender Damen und schon gar von solchen, die sich als Männer verkleideten.

„Nun gut, dann schauen wir mal, wer dieser geheimnisvolle Knabe ist.“ Erstaunlicherweise gehorchten ihm seine Beine, wofür er dankbar war, als er Griffin leicht schwankend den Gang hinunterfolgte. Morgen früh – nein heute Morgen – würde er einen monumentalen Kater haben.

Griffin öffnete die Tür zu dem Raum für diejenigen Besucher, die nach seinen strengen Maßstäben nicht in den Chinesischen Salon gehörten. Die Person auf dem harten Stuhl an der hinteren Wand erhob sich. Sie war klein, gekleidet in den schlecht sitzenden Anzug eines Bürogehilfen, und hatte zwei Koffer zu ihren Füßen stehen. Ein zerbeulter Biberhut lag auf einem Stuhl.

Rhys blinzelte. So betrunken war er nun doch nicht. „Griffin, wenn das ein Knabe ist, dann sind Sie und ich Eunuchen am Hofe des Großen Khans.“

Die junge Frau in den Männerkleidern seufzte verzweifelt, stemmte die Fäuste in die runden Hüften, die ihr Geschlecht verrieten, und sagte: „Rhys Denham, du bist betrunken – gerade als ich mir sicher war, dass ich mich auf dich verlassen kann.“

Thea?

Lady Althea Curtiss, die Tochter des Earl of Wellingstone aus erster Ehe, eine unscheinbare kleine Göre, die ihm auf Schritt und Tritt gefolgt war, als er noch ein Junge gewesen war. Sie war ihm eine gute Freundin geworden, aber seit dem Tag, als seine Welt zerbrochen war, hatte er sie kaum gesehen. Doch hier stand sie nun am frühen Morgen, als Knabe verkleidet, in seinem Junggesellenhaushalt. Ein Skandal auf zwei Beinen – die Situation war so brenzlig, als hätte jemand eine rauchende Granate in den Raum geworfen. Fast hörte er die Lunte zischen.

Rhys war größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, härter, männlicher, als er in Hemdsärmeln an der Tür auftauchte. Sein Kinn wies einen dunklen Bartschatten auf, die dunklen Haare, die er von seiner walisischen Mutter hatte, hingen ihm unordentlich in die blauen Augen. Alkohol und Schlafmangel hatten seinen Blick offenbar vernebelt. Ein gefährlicher Fremder. Doch dann fiel ihr wieder ein dass sie ihn seit sechs Jahren nicht mehr aus der Nähe gesehen hatte. Natürlich hatte er sich verändert.

„Thea?“ Er kam steifbeinig zu ihr herüber und packte sie an den Schultern. Sein Blick war wieder scharf, trotz des Brandys, den sie in seinem Atem riechen konnte. „Was zum … Was tust du hier? Und in diesen Kleidern?“ Er zog ihren mausbraunen Zopf aus dem Kragen ihrer Jacke. „Wen wolltest du damit täuschen, du kleiner Dummkopf? Bist du von zu Hause ausgerissen?“

Rhys presste ärgerlich die Lippen aufeinander. Thea trat zurück, um sich seinem Griff zu entwinden, aber ihre Knie schlotterten. „Ich bin so angezogen, weil diese Aufmachung in einer dunklen Postkutsche lüsterne Männer fernhält. Es ist mir klar, dass ich bei hellem Licht nicht als Knabe durchgehen würde. Und ich bin von zu Hause fortgegangen, nicht ausgerissen.“

Rhys bewegte die Lippen. Sie konnte sehen, dass er auf Walisisch bis zehn zählte. Als er noch ein Junge gewesen war, hatte er das schon getan, und sie hatte die Zahlen gelernt. Un, dau, tri

„Griffin, mehr Brandy. Tee und etwas zu essen für Lady Althea. Die selbstverständlich nicht hier ist.“

Thea ließ sich von ihm in das Studierzimmer führen. Rhys warf ihre Koffer auf den Kaminvorleger und schob eine hässliche rotbraune Katze von einem der Stühle vor dem Kamin. „Setz dich. Katzenhaare können deinen Aufzug nicht noch schlimmer machen.“ Der Kater fauchte sie beide an und legte die Ohren flach am Kopf nach hinten.

Als Thea mit den Fingern schnipste, stellte das Tier den Schwanz wie ein Fragezeichen nach oben und stolzierte davon. „Ist das deine Katze?“

Rhys sah sie mit halb zusammengekniffenen Augen an. „Es ist der Küchenkater, und er glaubt wohl, dass er hier der Herr im Haus ist.“ Er ließ sich ihr gegenüber auf einen der Stühle sinken und fuhr sich mit den Fingern durch seine Haare. „Sage mir, dass es nicht um einen Mann geht. Bitte. Um sieben Uhr fahre ich los nach Dover und würde die Abreise nicht gern verschieben, um mich mit irgendeinem Kerl zu duellieren, in den du glaubst verliebt zu sein.“

Wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte man darüber nachdenken können. Aber Thea befürchtete, dass er in diesem Zustand nicht einmal ein Scheunentor mit einer Donnerbüchse treffen würde. „Sei nicht albern. Natürlich geht es nicht um einen Mann.“ Eigentlich doch, aber wenn ich dir die Einzelheiten erzähle, bringt uns das nicht weiter. „Und warum solltest du meinetwegen ein Duell ausfechten, bitte schön?“ Erstaunlicherweise fiel es ihr schwer, ihre Stimme ruhig zu halten. Sie musste müder sein, als sie angenommen hatte.

„Früher habe ich dich immer verteidigt“, sagte Rhys und lächelte plötzlich. Er zeigte auf seine Nase, deren perfektes, klassisches Profil beim Kampf mit ein paar Dorfjungen sehr gelitten hatte. Sie hatten Thea Schimpfworte nachgerufen, als sie sechs gewesen war und er zwölf. Er wurde wieder ernst. „Wenn es also nicht um einen Mann geht …“

„Irgendwie schon.“ Sie hatte sich ihre Worte zurechtgelegt, während sie stundenlang in der muffigen dunklen Postkutsche gesessen hatte. Keine glatten Lügen, aber auch nicht die volle Wahrheit. „Vielleicht weißt du, dass ich drei Saisons mitgemacht habe. Nein, woher solltest du das wissen? In der Stadt haben sich unsere Wege nie gekreuzt. Du hast nicht an diesen grässlichen ‚Heirats-Basaren‘ teilnehmen müssen. Von mir wurde es verlangt.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Dumm und taktlos, vom Heiraten zu sprechen. Es ist ihm immer noch nicht gleichgültig, es muss ihn immer noch schmerzen. „Jedenfalls war Papa der Meinung, es sei Geldverschwendung, und dass eine weitere Saison mit all den jüngeren Mädchen meine Chancen nicht verbessern würde. Also schickte er mich zurück nach Longley Park und machte sich persönlich daran, mir dort einen Ehemann zu suchen.“

„Willst du damit sagen, dass du gar keine Anträge bekommen hast …?“ Rhys verstummte, als Griffin ein Tablett hereinbrachte. Dann bedeutete er Thea, sich zu bedienen, und goss eine dunkle Flüssigkeit in sein Glas. „Ich meine, da deine Mutter …“

„Oh ja. Mehrere sehr passende junge Männer aus gutem Hause machten mir Angebote. Meine Mitgift ist respektabel, und außerdem gibt es ja noch den Treuhandfonds.“ Beides waren durchaus Anreize, die alles andere ausgleichen konnten – ihre Offenheit, den intellektuellen Enthusiasmus, ihr durchschnittliches Aussehen. Ganz abgesehen von ihrer Mutter, die Schauspielerin gewesen war und mit ihrem Vater in wilder Ehe gelebt hatte, bevor sie unüberlegt heirateten. Sie verstarb im Kindbett. „Ich habe sie alle abgewiesen.“

„Warum?“ Rhys blinzelte erneut und schaute sie dann über sein Glas hinweg an. Offenbar hatte er Schwierigkeiten, seinen Blick zu fokussieren.

„Keinen von ihnen habe ich geliebt.“ Keiner hat sich in mich verliebt … nicht ein Einziger. „Papa entschied sich für Sir Anthony Meldreth.“ Würde Rhys sie verstehen, wenn sie ihm erklärte, warum sie sich betrogen fühlte? Warum sie fortgehen musste? Der alte Rhys hätte Verständnis gehabt, aber dieser Mann hier? In diesem Zustand? Nein, lieber ein bisschen schummeln. „Wir passen nicht zusammen, aber Papa sagt, wenn ich Anthony nicht heirate, muss ich für den Rest meines Lebens in Longley bleiben und meiner Stiefmama Gesellschaft leisten.“

„Hölle.“ Offenbar erinnerte sich Rhys noch an ihre Stiefmutter und deren Neigung zu eingebildeten Krankheiten, Überspanntheit und absolut selbstsüchtigem Verhalten. Er rieb sich die Stirn mit seinen langen, schmalen Fingern, als wollte er die Kopfschmerzen dahinter vertreiben, um zusammenhängend denken zu können. „Ich verstehe dein Problem.“

Versteht er mich wirklich? Wahrscheinlich nicht, denn von einem Mann wie Rhys konnte man nicht erwarten, dass er die enervierende Eintönigkeit nachvollziehen konnte, in der eine unverheiratete alte Jungfer dahinschwand. Es war so, als wäre man lebendig begraben. Ebenso wenig konnte sie von ihm erwarten, dass er die Schrecken verstand, die die Vorstellung auslöste, sich in einer Ehe mit einem Mann wiederzufinden, den sie weder mochte noch ihm vertraute, und mit dem sie keinerlei Gemeinsamkeiten hatte.

„Aber wegzulaufen …“ Er sah sie unfreundlich an. „Ich bin gerade dabei, zu einer Reise auf den Kontinent aufzubrechen.“

„Ich weiß, Papa hat es mir erzählt. Er findet, es ist eine lobenswerte Kulturbeflissenheit, die er dir bislang nicht zugetraut hätte. Bitte, höre mir zu, Rhys. Ich bin zweiundzwanzig und damit volljährig. Ich laufe nicht davon, ich nehme mein Leben selbst in die Hand.“

„Zweiundzwanzig? Unsinn. So siehst du nicht aus.“ Es war kein Kompliment.

Thea biss die Zähne zusammen und fuhr fort. „Ich benötige lediglich das Einverständnis von zwei bis drei meiner Treuhänder, um über mein Geld frei verfügen zu können und damit unabhängig zu sein.“ Es war kein Vermögen, aber es würde ihr Freiheit verschaffen und ihr die Möglichkeit gewähren, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Wenn ich deren Zustimmung nicht bekomme, erhalte ich gar nichts. Ebenso wenig, wenn Papa mit meiner Wahl nicht einverstanden sein sollte, wenn ich mir selbst einen Ehemann aussuche.“

„Dein Vater ist vermutlich einer der Treuhänder.“ Rhys nahm die Karaffe, betrachtete sie einen Moment und setzte sie dann ab.

„Ja, das ist er“, bestätigte sie. „Und Großmutter wusste ziemlich genau, wie er ist.“ Es hatte keinen Sinn, kindlichen Respekt vorzutäuschen. Ihren Vater hatte sie in ihrer Kindheit nur aus der Ferne gesehen, und er hatte erst begonnen, sie zur Kenntnis zu nehmen, als sie bereits zu alt gewesen war, um in ihr Kinderzimmer verbannt zu werden. Eine Tochter war schlimm genug, aber dieses Mädchen, das keinen Schimmer der legendären Schönheit und des Charmes ihrer Mutter hatte, war wertlos, wenn es nicht eine gute Partie machte. Thea kannte ihren Vater kaum und vermisste ihn auch nicht.

Wenn ihr Plan nicht aufging und ihr Vater mitbekäme, was sie vorhatte, würde er den dritten Treuhänder, Mr Heale, unter Druck setzen. Dann saß sie in der Falle. Sie schauderte, wenn sie an das kalte, lieblose Heim ihrer Kindheit dachte. Die Saison war eine Abwechslung gewesen, aber hatte ihr auch keinen Ausweg geboten, und die Mauern um sie herum wuchsen immer höher.

„Großmutter musste Papa als Treuhänder einsetzen, denn es hätte sehr seltsam ausgesehen, wenn sie es nicht getan hätte. Um ihn umgehen zu können, fügte sie dem Vertrag die Klausel hinzu, dass ich die Zustimmung von nur zwei Treuhändern benötige, wenn es gilt, eine wichtige Entscheidung zu treffen.“

Sie goss sich eine zweite Tasse Tee ein, denn sie merkte jetzt erst, wie hungrig und durstig sie war. „Einer der beiden anderen Treuhänder ist der jüngere Mr Heale, der Sohn von Großmutters Anwalt. Ich habe mit ihm gesprochen und er hat nichts dagegen einzuwenden, dass ich mich ab jetzt selbst um meine finanziellen Angelegenheiten kümmere. Ich habe einen Brief von ihm als Beweis dabei. Solange Papa nicht genau weiß, was ich plane, und versucht, ihn zu beeinflussen …“ Sie tastete nach dem Schriftstück über ihrem Herzen und fühlte das beruhigende Knistern des Pergaments. Würde unter dem Druck ihres Vaters dieser Brief seine Gültigkeit verlieren? „Mein anderer Treuhänder ist meine Patin Agnes.“

„Unsere Patin. Nun, sie findet es sicher gut, dass du die Kontrolle über dein Vermögen bekommst.“ Der Brandy schien dankenswerterweise keine ernsthafte Auswirkung auf Rhys’ Denkvermögen zu haben. „Obwohl ich nicht verstehe, was du in deinem Alter damit anfangen willst.“

Er hörte ihr also zu, obwohl er sie anscheinend immer noch für sechzehn hielt, unfähig, für sich selbst Verantwortung zu tragen. Thea fühlte sich besser nach einem weiteren Schluck Tee und griff nach einem Scone. Seit ihrem Frühstück in Longley Park waren viele Stunden vergangen, und in der Zwischenzeit hatte sie nur beim Pferdewechsel ein Rosinenbrötchen ergattert.

„Ist dir schon einmal in den Sinn gekommen, was für ein Glück wir mit unserer Patin haben?“, fragte Rhys. Beim Gedanken an Lady Hughson musste er sogar ein wenig lächeln.

„Jeden Tag“, sagte Thea zustimmend. „Als wir noch Kinder waren, dachte ich nicht darüber nach, aber heute begreife ich, was für ein Glück wir hatten, dass sie sich immer trotz ihrer Trauer mit so viel Freude ihren Patenkindern gewidmet hat.“ Nur bei ihr und in Großmamas Haus hatte sie Liebe und Wärme erfahren.

„Die fünfzehn Lämmchen in Agnes’ Herde.“

„Genau. Sie muss ihren Gatten sehr geliebt haben, doch sie verlor ihn, als sie noch jung war und bevor sie eigene Kinder haben konnte.“

Rhys nickte. „Aber das ist Geschichte. Als du weggelaufen bist – entschuldige: fortgegangen –, wolltest du sicher zu ihr, aber sie ist nicht in London. Bist du deswegen zu mir gekommen?“ Er musterte sie aus schläfrigen blauen Augen.

„Ich wusste, dass sie nicht in der Stadt ist, aber ich wagte es nicht, ihr zu schreiben, weil ich Angst hatte, ihre Antwort würde Papa in die Hände fallen. Sie ist in Venedig. Darum bin ich geradewegs hierher gefahren. Sobald ich herausfand, wo sie ist und was du vorhast …“ Jetzt wurde es heikel.

Er war nicht betrunken genug, um sie falsch zu verstehen. Vielleicht kannte er sie auch zu gut. „Oh nein. Nein, nein, nein. Du kommst nicht mit mir auf den Kontinent. Es ist unmöglich, unnötig und empörend.“

„Bist du so feige und zimperlich geworden, dass du einer alten Freundin nicht helfen willst?“, fragte sie herausfordernd. Der alte Rhys hätte diesen Köder geschluckt.

„Ich bin nicht feige.“ Rhys verstand sehr wohl, dass ihre Worte beleidigend gemeint waren, und knallte sein Glas auf den Tisch, wobei er Brandy auf das glänzend polierte Mahagoni vergoss. Der intensive Geruch breitete sich im Raum aus. „Und auch nicht zimperlich. Ein abstoßendes Wort …“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er seine Gedanken wieder auf den richtigen Kurs bringen. „Du kannst unmöglich durch Europa reisen mit einem Mann, mit dem du nicht verheiratet bist. Denke an den Skandal.“

„Es ist nur dann ein Skandal, wenn man mich erkennt, und wer sollte das tun? Ich werde mich nur verschleiert in die Öffentlichkeit begeben, und jeder wird denken, dass ich deine Mätresse bin.“ Er konnte nur noch die Augen verdrehen. Sie eignete sich nicht zur Mätresse, egal ob mit oder ohne Schleier. „Ehrlich gesagt, ist es mir auch gleichgültig, denn für mich kann es nicht noch schlimmer werden. Rhys, ich bitte dich nicht, mich herumzuführen wie auf einer Vergnügungsreise. Ich brauche nur eine Transportmöglichkeit, weil ich nicht allein reisen kann. Wenn du mir nicht helfen willst, werde ich einen Reisebegleiter und eine Zofe einstellen und es auf eigene Faust versuchen.“

„Mit welchem Geld?“, fragte er. „Oder erwartest du von mir, dass ich dir die Mittel zur Verfügung stelle, um dich zu ruinieren?“

„Durchaus nicht. Aber wenn ich hierbleibe, gleicht mein Leben ohnehin einem Trümmerhaufen.“ Er sah nicht überzeugt aus. „Ich habe das Taschengeld für achtzehn Monate bei mir.“ Die Banknoten und Münzen, die sie in ihre Unterwäsche eingenäht hatte, hatten ihr auf der langen Fahrt ein beruhigendes Gefühl gegeben.

„Ich vermute mal, dein Vater hat es dir ausgehändigt, ohne Fragen zu stellen?“ Seine Mundwinkel zuckten. Es ließ sie hoffen, dass der alte Rhys, der leichtsinnige, unbekümmerte Junge, der für jeden Spaß zu haben war, immer noch irgendwo in diesem respekteinflößenden Mann steckte.

„Natürlich nicht. Ich habe in den letzten drei Monaten kaum etwas von meinem Geld verbraucht. Den Rest habe ich aus der Geldschatulle in Papas Studierzimmer genommen. Aber ich habe eine Quittung dagelassen.“

„Und woher weißt du, wie man Schlösser knackt, Madam?“

„Von dir gelernt.“

„Zum Teufel. Stimmt.“ Jetzt lächelte er wieder. „Du warst ziemlich gut darin. Weißt du noch, wie du die Schreibtischschublade unserer Patin aufgebrochen und meine Steinschleuder gerettet hast? Und ich hatte ein perfektes Alibi, weil ich in der Zeit unter Aufsicht des Gärtners das Glashaus aufräumen musste, nachdem ich drei Fenster eingeworfen hatte.“

„Du sagtest, du stündest für immer in meiner Schuld.“ Sie machte nicht den Fehler, triumphierend zu lächeln.

„Ich glaube, ich war damals dreizehn“, entgegnete Rhys. „Ich würde sagen, meine Schuld ist verjährt.“

„Ein Gentleman vergisst niemals eine Schuld, besonders nicht bei einer Lady.“ Sie räusperte sich. „Du hast drei Möglichkeiten, Rhys. Entweder du nimmst mich mit, oder du überlässt mich meinem Schicksal in London, oder du schickst mich zurück zu Papa.“ Thea lächelte, um ihre Forderung abzumildern. „Betrachte es als ein letztes Abenteuer. Oder traust du dich nicht?“

Er schüttelte den Kopf. Dann zuckte er zusammen, als sich ihre Blicke trafen. „Glaube nicht, dass du mich auf solche Weise provozieren kannst, Thea. Ich bin achtundzwanzig, viel zu alt für diesen Unsinn.“

Rhys ist für gar nichts zu alt, dachte sie und bemühte sich, eine offene, treuherzige Miene zu bewahren. Sie konnte sich hervorragend vorstellen, mit ihm ein letztes Abenteuer zu erleben, einen letzten Traum. „Bitte, lieber Rhys!“

Das hatte immer funktioniert. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum von allen Patenkindern, die die langen Sommer bei Lady Hughson verbracht hatten, sie die Einzige gewesen war, die Rhys stets hatte alles abschmeicheln können. Sie, die gewöhnliche kleine Althea, weder die anderen Jungen noch Serena, die blauäugige Schönheit, in die er damals verliebt gewesen war.

„Ich muss verrückt geworden sein.“ Sie hielt den Atem an, als er einen großen Schluck Brandy trank. „Nun gut, ich nehme dich mit. Aber du benimmst, dich, du Gör, oder ich verfrachte dich auf das nächste Schiff nach Hause.“

2. KAPITEL

Rhys war zwar überrumpelt worden, aber er konnte seine Angelegenheiten immer noch mit Charme und Autorität regeln. Was Seine Lordschaft befahl, wurde sofort ausgeführt. Thea lief mit einem müden Zimmermädchen auf der Treppe nach oben, um sich umzukleiden, und bald saß sie in der Kutsche. Sie trug jetzt ein schlichtes, leicht zerknittertes Kleid und einen Umhang, beides hatte sie in ihrer Reisetasche mitgebracht. Das verwirrte Zimmermädchen war zu ihrer Zofe befördert worden und schwatzte aufgeregt mit Rhys’ Diener Hodge, während das übrige Gepäck in die Kutsche gepackt wurde.

Thea zupfte noch einmal an der Jalousie des Seitenfensters, obwohl sich niemand auf der dämmerigen Straße aufhielt, der sie in der Kutsche hätte sehen können. Außerdem hatte sie ihr Gesicht mit einem dichten Schleier bedeckt, den sie jetzt hochschlug. Sie gähnte und wackelte mit den Zehen. Mit dem dicken Teppich und den Sitzpolstern war es hier sehr viel bequemer als in der spartanisch ausgestatteten Postkutsche. Ihre neue Zofe – Molly, Polly? – fuhr sicher in ihrem Wagen mit, und vermutlich reiste Rhys in der anderen Kutsche mit seinem Diener.

Das war auch gut so. Thea hatte nicht geahnt, was für eine Wirkung der Anblick des erwachsenen Rhys auf sie haben würde. Während ihrer Saison hatte sie ihn nur gelegentlich von Weitem gesehen, und ihre letzte Erinnerung an ihn war die an einen jugendlichen, arglosen Zweiundzwanzigjährigen, der mit weißem Gesicht am Altar stand, als die Welt für ihn zusammengebrochen war. Danach war er in London geblieben, und als sie in ihrer ersten Saison in die Gesellschaft eingeführt wurde, hatten sich die Wege des reichen, eleganten Lebemannes nicht mit denen der heiratsfähigen jungen Dame gekreuzt.

Die Tür ging auf, und ein Diener schaute herein. „Entschuldigung, Mylady, soll ich Ihren Sitz in die Schlafposition bringen?“ Sie hatte schon von Schlafsitzen gehört, aber sie hatte noch nie einen gesehen.

„Nein danke.“ Sie war zu aufgeregt, um sich hinzulegen. Wieder öffnete sich die Tür. „Rhys?“

„Schläfst du noch nicht?“ Er war frisch rasiert, aber seine Augen wirkten müde. Er stieg an ihr vorbei in den Wagen, entledigte sich seines Rocks und klappte das zweite Bett herab. „Wecke mich, wenn wir zum Frühstücken anhalten.“ Er schloss die Augen und rollte sich auf der Liegefläche zusammen. „Oder bei einem Überfall.“

Ohne die Jacke konnte Thea ungehindert seine breiten Schultern, die muskulösen Oberschenkel und – sie machte keinen Versuch, den Blick abzuwenden – sein festes, gut geformtes Hinterteil ansehen.

Sie betrachtete ihn genau, denn immerhin war sie auch nur eine Frau. Oh ja, ihr alter Freund aus Kindertagen war erwachsen geworden. Er war immer noch Rhys, aber er war auch ein Mann. Ein erwachsener Mann. Und ihm eilte ein gewisser Ruf voraus.

Während die Kutsche losfuhr, dachte Thea daran, wie sie ihn einmal in einer Theaterloge in Covent Garden gesehen hatte, wo er einer schönen Frau Champagner spendierte. Alle verheirateten Damen in ihrer Gesellschaft hatten darüber getuschelt.

Nach wenigen Minuten öffnete sie die Jalousie, weil es weniger aufwühlend war, aus dem Fenster zu schauen, als den schlafenden Mann neben sich anzustarren. Er schnarchte leise, was vermutlich kein Wunder war nach all dem, was er getrunken hatte. Irgendwie wirkte es beruhigend auf sie.

Sie sah Wasser glänzen und wusste, dass sie gerade über die Westminster Bridge fuhren. Neben ihr murmelte Rhys leise im Schlaf und drehte sich mit geschlossenen Augen herum. Seine Haare waren modisch kurz geschnitten, aber eine dunkle Locke fiel ihm in die Stirn und erinnerte sie an den Jungen von früher. Thea streckte die Hand aus, um sie zurückzustreichen, doch dann faltete sie die Hände im Schoß. Manchmal sollte man es vielleicht besser bei Träumen und Erinnerungen belassen. Nach ein paar Minuten zog sie den Reiseführer aus ihrem Retikül und breitete die Karte aus. Sie näherten sich Southwark.

In Gedanken zählte sie auf, was sie schon erreicht hatte. Tagelang hatte sie unauffällig alles, was sie für ihre Reise brauchte, zusammengetragen. Nachdem sie ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatte, war sie aus dem Haus geschlichen und zum King’s Head gegangen, wo sie die Postkutsche nach London genommen hatte. Dort angekommen, war sie in einer Mietdroschke zu Rhys’ Haus gefahren und hatte ihn überredet, sie mitzunehmen. Das war der schwierigste Teil gewesen.

Ob er sich wohl dazu bereit erklärt hätte, wenn er nicht betrunken gewesen wäre? Oder wenn ihm aufgefallen wäre, dass sie jetzt eine erwachsene Frau war? Sie schaute auf sein Gesicht hinunter, das auf seinen angewinkelten Arm gebettet lag. Die blauen Augen waren geschlossen, die dichten Wimpern lagen auf den Wangen auf. Seine Lippen bewegten sich ein wenig im Schlaf. Unter dem Ohr hatte er eine kleine Narbe. Die war neu.

Thea wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Karte und dem Blick aus dem Fenster zu. Enttäuscht sah sie nur schmutzige Straßen voller Menschen. Die Kutsche holperte auf den Pflastersteinen, aber zu ihrer Erleichterung wachte Rhys nicht auf. Wenn er später verkatert erwachte, würde er dann seine Meinung über ihre gemeinsame Reise ändern?

Sie hatten London verlassen, und die Straße führte jetzt bergauf von Deptford nach Blackheath. Thea fragte sich, wo er wohl den ersten Zwischenstopp angeordnet hatte. Hoffentlich nicht zu nah an der Stadt, denn dann war die Gefahr größer, dass er sie zurückschicken würde. Sie ratterten an mehreren Gasthäusern vorbei auf dem Shooter’s Hill nach oben, und Thea entspannte sich ein wenig.

Dann verlangsamte sich die Fahrt, und die Kutsche bog in den Hof des Red Lion ein. Stallburschen rannten heraus, um sich um die Pferde zu kümmern, und der Wirt trat an die Kutsche heran.

Thea öffnete das Fenster. „Psst! Seine Lordschaft schläft“, flüsterte sie dem Mann zu. Hodge kam dazu, und sie sagte leise: „Sie können etwas essen, wenn Sie wollen, aber wecken Sie Seine Lordschaft nicht.“

Hodge zeigte keine Überraschung, denn er kannte den Zustand seines Herrn. Er nickte und ging in den Pub, Theas Zofe folgte ihm. Thea schloss das Fenster und blieb sitzen, um Rhys zu bewachen. Doch trotz des Lärms bei der Ankunft einer weiteren Kutsche, des schrillen Gelächters einer Magd und einer Auseinandersetzung zwischen zwei Hunden vergrub Rhys seinen Kopf nur noch tiefer in die Armbeuge und wachte nicht auf. Wahrscheinlich würde er den ganzen Morgen verschlafen. Bald nickte auch Thea ein.

Als Hodge die Tür öffnete, wachte sie ruckartig auf. Er reichte ihr einen Becher mit Kaffee und ein mit gebratenem Speck belegtes Brötchen, eingewickelt in eine Serviette. Er warf einen Blick auf seinen tief schlafenden Herrn.

„Schläft er immer so fest?“, flüsterte Thea.

Der Diener schüttelte den Kopf. „Nein, Mylady.“ Er nahm ihr den leeren Becher ab, und schloss leise die Wagentür. Sie blieb nachdenklich zurück. Es beunruhigte sie, dass Rhys den Brandy hinuntergegossen hatte, als handelte es sich um Limonade.

Nach der gescheiterten Hochzeit gingen Gerüchte um, er sei ohnehin ein leichtfertiger Mann, der froh sei, keine Verantwortung für eine Ehefrau übernehmen zu müssen, und dass er sich bereitwillig in ein ausschweifendes Leben gestürzt habe.

Aber natürlich war es ein harter Schlag für ihn gewesen. Sie hatte sein Gesicht gesehen, als er begriff, dass sein Vertrauen missbraucht worden war. Sie hatte gefühlt, wie seine Hände zitterten, als sie ihm ihr Taschentuch zusteckte, und als sie ihn kurz umarmte, war er ganz starr gewesen. Doch dann hatte er sich vom Altar abgewandt und entschuldigend lächelnd gesagt, er habe schon geahnt, dass seine Braut durchbrennen werde, und er wünsche den beiden viel Glück.

Es war eine bemerkenswerte Vorstellung für einen Mann gewesen, der Unehrlichkeit verabscheute. Er hatte damit die Klatschmäuler verwirrt und sie ein wenig von dem schändlichen Verhalten von Serena und Paul abgelenkt. Wahrscheinlich war er auch zu stolz gewesen, um als bemitleidenswertes Opfer dazustehen.

Als sie während ihrer ersten Saison in London gewesen war, hatte sie nur in Erfahrung bringen können, dass er seinen Sitz im Oberhaus eingenommen hatte und seine Güter mit fester Hand bewirtschaftete. Und dass er einen furchtbar schlechten Ruf im Umgang mit Frauen hatte. Es lag ihm offenbar fern, eine neue Braut zu suchen, stattdessen flirtete er auf Teufel komm raus. Dabei hielt er sich eine Mätresse nach der anderen, die alle – laut Gerüchteküche – sehr schön und sehr kostspielig waren. Entweder wurde er zu den Veranstaltungen nicht eingeladen, die für junge Damen schicklich waren, oder er zog es vor nicht hinzugehen.

Die Mütter hoffnungsvoller junger Damen nahmen ihm dieses Verhalten sehr übel – ein junger, ansehnlicher Earl mit Vermögen sollte an seine künftigen Erben denken. Jedes dieser Mädchen war besser erzogen als die flatterhafte Lady Serena Haslow. Wenn Lord Denham irgendwann aufhörte, die Freuden des Fleisches und der Spielsäle zu genießen, hofften sie, er würde sich besinnen und eine ihrer Töchter ehelichen.

Die Kutsche fuhr klappernd aus dem Hof und auf die Straße in Richtung Dartford. Niemand hatte Rhys gezwungen, diese Europareise zu unternehmen. Bis vor Kurzem hatte sich der Kontinent noch im Krieg befunden, und er hätte nicht einmal daran denken können. Warum tat er es ausgerechnet jetzt?

Das holpernde Bett kippte plötzlich zur Seite. Im Halbschlaf tastete Rhys vergeblich nach der Kante, rutschte ab und stieß mit dem Stiefel gegen ein Hindernis. Stiefel im Bett? Ein Gentleman sollte immer wenigstens die Stiefel ausziehen. „Wo zum Hades …?“

„Wir befinden uns auf dem West Hill in Richtung Dartford. Im Reiseführer steht, dass die Strecke ungewöhnlich steil ist.“ Die sachliche Stimme ließ ihn abrupt wach werden.

„Thea?“ Rhys richtete sich auf, strich sich die Haare aus den Augen und stöhnte im hellen Sonnenlicht. Wenn dies ein Traum war, dann ein besonders unbequemer. „Was zum Teufel machst du in meiner Kutsche?“

„Du sagtest, ich dürfe mit dir auf den Kontinent fahren. Bestimmt warst du gestern Abend nicht so betrunken, dass du dich nicht an dein Versprechen erinnerst?“ Wie aus dem Ei gepellt, so saß sie da, gekleidet in dunkle, braune Wolle, und so gewöhnlich wie ein Londoner Spatz. Sie sah ihn mit offener Missbilligung an.

„Ich hatte gehofft, dass es nur ein Albtraum war. Und warum schaust du mich so an?“ Er klappte den Sitz in die aufrechte Position und setzte sich hin. „Mein Mund fühlt sich an wie der Boden einer Hahnenkampfarena.“

„Das wundert mich nicht – du warst völlig hinüber. Ich schlage vor, du gibst dem Kutscher die Anweisung, hier für dein Frühstück zu halten. Alle Übrigen haben bereits auf Shooter’s Hill gegessen.“

Wenn er jetzt darauf beharrte, selbst entscheiden zu wollen, wo sie anhielten, würde es sie in ihre Kindheit zurückwerfen. Obwohl Thea eigentlich nie gezankt hatte. Nicht einmal gequengelt. Sie riss nur ihre unscheinbaren braunen Augen weit auf, bis er das Gefühl hatte, sie irgendwie enttäuscht zu haben. Außerdem musste er wirklich etwas essen und eine große Kanne Kaffee trinken, und wenn er Glück hatte, schlug ihn dann jemand über den Kopf, damit er die schrecklichen Schmerzen darin loswurde.

Rhys öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und rief: „Zum nächsten ordentlichen Gasthof.“

„Das müsste The Bull sein.“ Thea schaute in ihr Buch.

„Ist mir egal, wie der Pub heißt, Hauptsache, ich bekomme dort einen anständigen Kaffee. Was zum Teufel soll ich nur mit dir anfangen?“ Er musste mehr als betrunken gewesen sein, um dem Mädchen nachzugeben. Verschwommene Bilder eines grauenhaften Männeranzugs tauchten in seinem Gedächtnis auf.

„Mich zu unserer Patin bringen.“ Sie sah ihn aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen an. „Wie du es versprochen hast.“

„Du hast meinen Zustand ausgenutzt“, gab Rhys zurück.

„Passiert es dir öfter, dass Frauen dich ausnutzen?“, erkundigte sie sich mit süßer Stimme.

„Wenn ich Glück habe“, murmelte Rhys und Thea lachte. Wie hatte er dieses boshafte Lächeln vergessen können? Er biss sich auf die Unterlippe. „Dies ist eine höchst unpassende Unterhaltung und eine äußerst anstößige Situation. Wenn das bekannt wird, bist du ruiniert.“ Er blinzelte sie an. „Du bist kein Kind mehr.“ Oder doch? Sie sah höchstens wie siebzehn aus.

„Nein, bin ich nicht. Und was das Ruinieren betrifft …“ Thea zuckte die Achseln, während die Kutsche langsamer wurde. „Gut. Dann hört Papa wenigstens auf, mich jedem hinterhältigen Mitgiftjäger als Ehefrau anzubieten … Ich will damit sagen, dass ich dann die Freiheit habe, mein Leben so zu verbringen, wie ich es möchte, und nicht als alte Jungfer verkümmern muss.“

Was stimmt nicht mit ihr? Jedes Mädchen will einen Ehemann, Punkt. Warum muss Thea eine Ausnahme bilden? „Ist das bevor oder nachdem dein Vater mich erschießt?“, erkundigte er sich, als sie anhielten und ein Pferdeknecht an den Wagen trat. Rhys öffnete die Tür. „Wir brauchen keinen Pferdewechsel, nur ein Frühstück.“

„Wenn ich so darüber nachdenke, möchte ich auch etwas essen.“ Thea sprang aus der Kusche, bevor Rhys ihr seine Hand reichen konnte. „Ein Brötchen mit Speck und warmer Kaffee wären schön.“ Sie hatte ihr Gesicht wieder mit dem Schleier bedeckt.

Sie betraten den Gasthof und bekamen einen Raum für sich. Thea setzte sich. „Wenn dies eine Theaterkomödie wäre, würde jemand durch die Tür hereinstürmen, wenn ich gerade meinen Schleier abgenommen hätte, um zu essen. Und durch einen scheußlichen Zufall wüsste derjenige genau, wer ich bin, und würde es sofort überall herumerzählen.“

„Du hast wahrscheinlich zu viele Komödien gesehen … Hast du nicht vielleicht Freunde in Kent oder Sussex, bei denen du unterkommen könntest?“

„Habe ich nicht, und du hast es versprochen.“ Das hatte er. Trunkenheit war keine Entschuldigung – ein Gentleman sollte sich immer unter Kontrolle haben. Und er schuldete es ihr. Nicht wegen der Geschichte mit dem aufgebrochenen Schloss, sondern für die vielen Jahre der Freundschaft, die in dem Moment gipfelten, als sie ihm in der Kirche ihr Taschentuch zugesteckt, ihn kurz umarmt und ihn nur ruhig angesehen hatte.

Thea hatte damals nichts gesagt und ihn sofort losgelassen, als hätte sie gewusst, dass er sonst zusammengebrochen wäre. Die Sechzehnjährige hatte ihm das Einzige angeboten, was sie ihm geben konnte – Verständnis. Ihre ruhige Gegenwart hatte verhindert, dass er etwas Unüberlegtes getan hatte.

Was wäre geschehen, wenn sie nicht dort gewesen wäre? Hätte er die beiden verfolgt, seinen besten Freund zum Duell gefordert? Ihn erschossen und drei Leben zerstört statt nur sein eigenes?

„Ja, das habe ich. Wie du meinst. Ich werde nicht mehr davon sprechen.“

„Danke.“ Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie die Tasse hob.

Sie war schon immer ein tapferes kleines Ding gewesen. Rhys hatte ein schlechtes Gewissen, weil er nicht mit ihr in Verbindung geblieben war, aber Gentlemen schrieben nicht an junge Mädchen.

„Warum warst du …?“ Thea zögerte. „Ach nichts.“

„Warum ich gestern so betrunken war? Das weiß ich selbst nicht. Ich sagte mir wohl, dass ich noch einen Urlaub verdient hätte, bevor …“ Fast hätte er den Satz nicht beendet, aber er hatte Thea immer alles sagen können. „Bevor ich mir in der nächsten Saison eine Ehefrau suche.“

Und ich verachte mich dafür, dass ich eine Ausrede benutze, um die Suche um ein weiteres Jahr aufzuschieben. Darum habe ich getrunken. Feigling. Die Geschichte würde sich nicht wiederholen. Sein Verstand wusste das, aber offenbar seine Gefühle nicht. Es gab wohl doch einige Dinge, die er Thea nicht gestehen wollte.

„Du hast doch immer einen Plan“, sagte sie mit so kühler Stimme, dass er sprachlos war. Aber was hatte er erwartet? Dass sie entsetzt sein würde, weil er Serena vergessen hatte?

„Und dazu gehört, dass wir nun wieder aufbrechen sollten. Um halb fünf Uhr müssen wir in Dover sein, dann habe ich genug Zeit, um die Wagen aufzuladen und die Flut zu nutzen.“

Autor

Louise Allen
<p>Louise Allen lebt mit ihrem Mann – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.</p>
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