Eingeschneit - und wachgeküsst!

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Jemand hat ein Baby vor ihrer Haustür abgelegt, während ein Schneesturm über Manhattan tobt? Carrie ist entsetzt. Aber weil die Stadt komplett lahmgelegt ist, müssen sie und ihr Nachbar, der sexy Polizist Dan Cooper, sich um das kleine Mädchen kümmern. Was in Carrie einen schrecklichen Schmerz übermächtig werden lässt, den sie für immer vergessen wollte. Doch Dan scheint ihre Verzweiflung zu spüren. Tröstend zieht der attraktive Cop sie in seine starken Arme – und plötzlich schmilzt das Eis um Carries trauerndes Herz …


  • Erscheinungstag 05.10.2021
  • Bandnummer 202021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507035
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ratternd fuhr die U-Bahn in die Station ein. Carrie schaute kaum auf, als die Türen sich öffneten und sie von der Menschenmenge am Bahnsteig vorwärtsgeschoben wurde. In ihrem erbärmlich dünnen Mantel fror sie entsetzlich.

Dicht gedrängt standen die Menschen in der Bahn. Viel dichter als sonst. Durch den plötzlichen Schneesturm waren viele Bahnen stecken geblieben. Innerhalb weniger Stunden waren die sonst grauen geschäftigen Straßen völlig weiß geworden. Die Autos am Straßenrand waren unter dem vielen Schnee kaum zu erkennen.

Ein plötzlicher heftiger Schneesturm. Mitten im Oktober und mitten in New York City. Die Reporter hatten ihren Spaß – zumindest die im Studio. Die vor Ort hatten weniger zu lachen, was Carrie gut verstehen konnte. Ihr Wintermantel war zwar bestellt, würde aber erst in zwei Wochen geliefert werden. Bis dahin könnte sie erfrieren. Seit zehn Minuten hatte sie kein Gefühl mehr in den Fingern. Und würde ihr die Nase laufen, hätte sie sicher Eiszapfen an der Nasenspitze hängen.

„Manche Busse fahren nicht mehr“, sagte die Frau neben ihr. „Ich muss dreimal umsteigen, um heute Abend noch nach Hause zu kommen.“

Besorgt sah Carrie sich um. Diese Linie fuhr zum Teil oberirdisch. Bitte lass den Zug bis zur Endstation fahren.

Ein Jahr in New York. Das hatte großartig geklungen, nahezu magisch. Eine Chance, ihr Schreckensjahr hinter sich zu lassen und ihren Dämonen aus dem Weg zu gehen. Vor ein paar Monaten hatte ihr Boss sie zu sich gerufen, ihr gesagt, sie solle sich setzen, und ihr eröffnet: „Carrie, wir brauchen jemanden, der für das nächste Jahr in unserem Büro in New York die Leitung des Projektteams übernimmt. Ich habe sofort an Sie gedacht. Dieses Jahr war sehr schwer für Sie. Und wenn es nicht der richtige Zeitpunkt ist, dann …“ Er beendete den Satz nicht, aber sie verstand auch so. Es gab bereits zwei Angestellte, die scharf auf ihren Job waren und nur auf ihre Chance warteten.

Sie biss sich auf die Lippe. „Der Zeitpunkt ist perfekt. Ein Tapetenwechsel ist genau das Richtige. Eine neue Herausforderung. Und Abstand.“

Er reichte ihr die Hand. „Also abgemacht. Perfekt. Sie müssen sich um nichts kümmern. Wir haben ein Firmenapartment in Greenwich Village in Manhattan. Eine nette und sichere Gegend. Es wird Ihnen dort gefallen.“

Sie nickte. „Wie lange habe ich, bevor es losgeht?“

„Nur drei Wochen. Einer der Partner muss geschäftlich nach Japan reisen und möchte Sie vorher noch einarbeiten.“

Bemüht, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen, stand sie auf und strich ihren Rock glatt. „Kein Problem. Das schaffe ich.“ Ihre Stimme hatte leicht gezittert. Hoffentlich hatte er nichts bemerkt.

Auch ihr Boss hatte sich erhoben. „Wunderbar, Carrie. Ich bin sicher, Sie werden gute Arbeit leisten.“

Der Zug fuhr in die nächste Station ein, und die Menschen rückten noch enger zusammen, um Platz für die auf dem Bahnsteig wartenden Fahrgäste zu machen. Offenbar war ganz New York früher nach Hause geschickt worden.

Carrie spürte eine kalte Hand an ihrer. Eine Frau lächelte sie müde an. „Sie haben den Central Park geschlossen. Wegen des vielen Schnees ist ein Baum umgestürzt. Hoffentlich fahren wenigstens die Schulbusse noch. Einige Straßen sind gesperrt, weil es nicht genug Schneepflüge gibt, und das Streugut wird erst in zwei Wochen geliefert.“ Sie verdrehte die Augen. „So schlimm habe ich es noch nie erlebt. Sie etwa? Bestimmt sind wir die nächsten Tage eingeschneit.“

Carrie zuckte mit den Schultern. „Ich komme aus London. Dies ist mein erster Aufenthalt in New York.“

Die Frau seufzte leise. „Sie Ärmste. Willkommen im Irrenhaus.“

Langsam verließ der Zug die Station. Er schien überhaupt keine Fahrt aufzunehmen. Lag Schnee auf den Schienen oder war das Gewicht der vielen Leute schuld, die nur noch nach Hause wollten, bevor der öffentliche Verkehr komplett zusammenbrach? Nur noch zwei Haltestellen, dachte Carrie. Dann bin ich zu Hause. Zu Hause?

Das Apartment lag in einem Sandsteingebäude in West Village und war wunderschön. Von ihrem Gehalt hätte sie es sich nie leisten können. West Village war perfekt. Mit seinen vielen Läden, Cafés und Restaurants erinnerte es an London. Aber es war nicht zu Hause. Mitten in diesem Schneesturm wollte sie nur nach Hause zu dem Duft einer warmen Suppe und einem heißen Bad mit Kerzen drumherum. Sie sehnte sich nach einem Ort mit einem Feuer im Kamin und geschlossenen Vorhängen. Sie sehnte sich nach London.

Nur nicht zurück in das leere Apartment, wo sie nur ihre eigenen Schritte auf dem Parkett hörte und erst am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit wieder mit anderen menschlichen Wesen reden würde. Carrie zog die Nase kraus. Vielleicht nicht einmal das. Der Himmel wurde immer dunkler. Vielleicht hatte die Frau neben ihr recht, und sie würden einschneien. In dem Fall könnte sie tagelang mit niemandem reden. Wenigstens hatte sie genug Arbeit mitgenommen und ihr Laptop. Ihr Boss hatte allen gesagt: Nehmen Sie so viel wie möglich mit. Kommen Sie nicht um jeden Preis ins Büro. Wenn es weiter so schneite, bekäme sie vorerst keinen ihrer Kollegen zu Gesicht.

Die Menschen in ihrem Apartmenthaus nickten einander nur höflich zu. Gesprochen hatte sie bisher mit niemandem. Nie ein freundlicher Gruß. Vielleicht wussten alle, dass das Apartment einer Firma gehörte und die Bewohner immer nur kurze Zeit blieben. Warum also ihre Bekanntschaft suchen? Carrie überlegte. Hatte sie genug Vorräte für den Notfall? Wie würde es sich anfühlen, in New York eingeschneit zu sein, wo sie keine Menschenseele kannte?

In den letzten zwei Monaten hatte sie zwar auf der Arbeit Kollegen kennengelernt und war auch nach Feierabend ein paar Mal mit ihnen auf einen Drink ausgegangen. Doch die Arbeit im Büro war hektisch und schnelllebig, echte Gespräche waren daher nicht möglich.

Der Zug hielt an der nächsten Station, die Türen öffneten sich. Eine Stimme verkündete: „Bitte alle aussteigen! Dieser Zug endet hier.“

Carrie hob den Kopf. Im Wagen erklang allgemeines Stöhnen und diverse Protestrufe.

„Was?“

„Auf keinen Fall!“

„Was ist los?“

Ein Wachmann stand neben der Tür. „Hier ist jetzt Endstation, Leute. Schnee auf den Gleisen. Der Zugverkehr wird eingestellt. Alle aussteigen.“

Carrie sah auf das Schild. Vierzehnte Straße. Eine Haltestelle von ihrem Apartment entfernt. Sie blickte auf ihre knöchelhohen roten Wildlederstiefeletten. Die Straßen waren von einer dicken Schicht Schneematsch bedeckt. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie ihre Stiefel bei der Ankunft in ihrem Apartment aussehen würden.

Die Menschen verließen den Zug und fuhren mit den Rolltreppen hinauf zur Straße. Manche überlegten laut, wie sie jetzt am besten nach Hause kamen. Wenigstens konnte Carrie zu Fuß nach Hause gehen. Egal, wie schlimm es draußen aussehen mochte.

Am Himmel hingen dicke dunkle Wolken. Es schneite unaufhörlich. Eigentlich war Schnee ja etwas Wunderschönes. Als Kind hatte Carrie stundenlang Schneeflocken aus Papier ausgeschnitten und damit die Fenster, die Wände des Klassenzimmers oder den Weihnachtsbaum dekoriert. Doch der Schnee hier sah nicht so aus wie der in den Kinderbüchern. Am Straßenrand türmten sich Schneeberge, und trotzdem waren die Straßen mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, wodurch der Verkehr zum Erliegen kam.

Plötzlich hörte Carrie ein knirschendes Geräusch auf der anderen Straßenseite und dann Rufe: „Weg da! Schnell!“ Sie beobachtete, wie sich vom Dach eines vierstöckigen Hauses ein großes Stück Schnee löste und langsam abrutschte. Unten eilten die Menschen vorbei. Ahnungslos, was gerade über ihren Köpfen geschah.

Unwillkürlich hielt Carrie die Luft an. Eine Frau in einem roten Mantel. Ein kleiner Junge. Ein älteres Paar, das Hand in Hand ging. Ein paar Geschäftsleute mit hochgeschlagenem Kragen, die am Handy sprachen. Plötzlich war da etwas Dunkelblaues. Die Frau in dem roten Mantel und der kleine Junge wurden blitzschnell in die Mitte der leeren Straße geschubst. Das ältere Paar drückte sich an ein Schaufenster, während eindringliche Rufe die Geschäftsleute aufmerksam machten.

Mit einem ohrenbetäubenden Krachen fiel der Schnee zu Boden. Es bildete sich eine Wolke aus Pulverschnee und Schneematsch. Von Letzterem landete einiges auf Carries Gesicht. Ein paar Sekunden lang war es still. Totenstill.

Dann weinte ein Kind leise. Der kleine Junge, der auf der Straße gelandet war. Sekunden später brach Chaos aus. Passanten eilten der Frau und dem kleinen Jungen zu Hilfe und brachten sie zu einem nahe gelegenen Café. Fast gleichzeitig geleitete jemand das ältere Paar unter dem Vordach des Ladens weg, das sie vor dem schlimmsten Schnee geschützt hatte.

„Wo ist der Polizist?“

„Was ist mit dem Polizisten passiert?“

Ein Polizist? Hatte er die Menschen gerettet? Erst jetzt bemerkte Carrie das Blaulicht eines Polizeiwagens, der mitten auf der Straße stand. Das sah man in New York so oft, dass sie es mittlerweile gar nicht mehr wahrnahm.

Es wurde verzweifelt gegraben und heftig geflucht. Dann hatte man den Polizisten und einen der Geschäftsmänner gefunden. Jemand schubste Carrie von hinten. Automatisch ging sie weiter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Hier konnte sie nichts tun. Sie hatte keine Erfahrung in Erster Hilfe. Außerdem waren genug Helfer da. Sie sah, wie der Polizist wütend den Schnee von seiner Uniform wischte. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Aber woher? Er hielt seine Hand in einem merkwürdigen Winkel und sah sich hektisch nach den Leuten um, die er versucht hatte zu retten.

Jemand hielt ihr ein Taschentuch vor die Nase. „Damit können Sie Ihr Gesicht säubern“, sagte eine Frau und sah auf Carries mit Schneematsch befleckten Mantel, ihre Schuhe und ihr Gesicht.

Carrie betrachtete sich im nächstgelegenen Schaufenster und zuckte zusammen. Sie sah schrecklich aus. „Danke“, erwiderte sie und versuchte, ihr Gesicht zu reinigen, machte es aber nur noch schlimmer. Sie schaute zu dem immer dunkler werdenden Himmel hinauf. Zeit, nach Hause zu gehen, auch wenn es sich nicht wie ein Zuhause anfühlte.

Statt der Skyline von New York sah Daniel Cooper plötzlich nur noch schweren grauweißen Schneematsch. Sollte Schnee nicht leicht und luftig sein? Warum fühlte es sich an, als hätte er Gewichte auf der Brust? Schmerz schoss seinen Arm hinauf. Er versuchte, ihn zu ignorieren. Konzentrier dich. Konzentrier dich.

Er hörte Geräusche. Schnee geriet ihm in Nase und Mund. Er musste husten. Es fühlte sich unwirklich an, unter dem Schnee begraben zu sein. Er hatte nicht das Gefühl zu ersticken, der Schnee war nicht so dicht. Aber er konnte sich nicht bewegen. Dan hasste es, wenn er die Dinge nicht unter Kontrolle hatte. Die Geräusche über ihm kamen näher. Plötzlich wurde er von zwei starken Armen gepackt und hochgezogen. Sofort sah er sich nach der Mutter und ihrem Kind um. Waren sie in Sicherheit?

Da. Auf der anderen Seite der Straße sah er ihren roten Mantel. Die beiden auf die Straße zu schubsen, war nicht besonders klug gewesen, doch die Straße war zugeschneit, kein Auto weit und breit. Menschen standen um die beiden herum, es ging ihnen gut. Sie sahen nur etwas erschrocken aus. Die Frau hob den Kopf und sah ihn an. Entsetzt betrachtete sie den riesigen Berg Schnee, der sie und ihren Sohn beinahe begraben hätte. Danke formte sie lautlos mit den Lippen.

Dan lächelte erleichtert. Der Schnee in seinem Kragen schmolz und lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Als wäre er nicht schon nass genug. Wo war das ältere Paar? Und warum tat sein Handgelenk so weh? Er sah sich um. Jemand brachte das ältere Paar gerade in ein nahe gelegenes Café. Gott sei Dank. Er mochte gar nicht daran denken, welche Knochenbrüche und Kopfverletzungen die beiden hätten davontragen können.

Officer, Ihr Arm. Sind Sie verletzt?“ Ein Mann in einem dicken Wollmantel stand vor ihm und musterte ihn besorgt.

Dan schaute erst auf seine Hand und dann auf den Schneehaufen, unter dem er begraben gewesen war. Darin lagen auch einige Dachziegel. Er hatte Glück gehabt, dass einer davon nur seine Hand getroffen hatte und nicht seinen Kopf. Verdammt. Er sah dem Mann vor ihm in die Augen. „Darum kümmere ich mich später. Ich muss erst nachsehen, ob es allen gut geht.“

Der Mann nickte. „Für den Mann dort wurde ein Krankenwagen gerufen.“ Er deutete mit dem Kinn zum Gehweg, wo einer der Geschäftsmänner saß. Sein Gesicht war blass. Er sah aus, als wäre ihm übel. Dan musste zugeben, dass ihm auch nicht gut war, aber das würde er sich nicht anmerken lassen.

Er versuchte, den gröbsten Schnee von seiner Uniform zu wischen. „Wer weiß, wann die hier sein können. Vielleicht sollten wir ihn besser in die Klinik auf der Sechzehnten Straße bringen.“ Er winkte einem anderen Polizisten zu, der eingetroffen war und schnell zu ihm gelaufen kam. „Kannst du die Zentrale rufen und herausfinden, wann der Krankenwagen hier sein wird?“

Der andere Polizist schüttelte den Kopf. „Die ganze Stadt ist dicht. Ich glaube nicht, dass bald jemand kommen wird.“ Er schaute sich um. „Ich sehe nach, wie viele Menschen medizinische Hilfe brauchen, dich eingeschlossen. Dann bringen wir alle irgendwie in die Klinik.“ Er verdrehte die Augen. „Das wird eine lange Schicht.“

Dan zog eine Grimasse. In der Stadt herrschte Ausnahmezustand. Leute steckten fest, kamen nicht nach Hause. Flüge fielen aus. Der öffentliche Verkehr stand praktisch still. Er betrachtete die vielen Menschen, die aus der U-Bahnstation strömten. Es konnte nur noch schlimmer werden. Er sollte seine Pflicht tun, Menschen helfen und sich nicht in einer Klinik verkriechen. Aber was konnte er mit einer verletzten Hand schon tun?

Carrie schaute aus dem Fenster. Die Straßen waren mit weiß glitzerndem Schnee bedeckt. Nicht mit diesem grässlichen Schneematsch, durch den sie hatte nach Hause laufen müssen, sondern mit frischem, weißem Schnee. Von ihrem warmen Apartment aus sah er fast einladend aus.

Ihr knurrte der Magen. Zum Glück wohnte Mr. Meltzer direkt über seinem Laden. So hatte sie noch schnell einkaufen können. Alle anderen Geschäfte in der Gegend waren geschlossen. Sie betrachtete die Vorräte auf ihrem Küchentisch. Milch, Wasser, Brot, Bagels, Käse, Makkaroni und Schokolade. Essen für die Seele. Wenn sie schon in New York eingeschneit war, wollte sie essen können, worauf sie Appetit hatte. Durch den Stress des letzten Jahres hatte sie viel Gewicht verloren, vielleicht konnte sie jetzt wieder etwas zunehmen. Dann würden ihre Kleider nicht mehr wie ein Sack an ihr hängen. Merkwürdig. Manche Frauen hungerten sich fast zu Tode. Sie dagegen wollte ihre Kurven zurück.

Sie lauschte. Da war es wieder. Dieses merkwürdige Geräusch, das sie zum Fenster gelockt hatte. In diesem Apartment gab es viele komische Geräusche. An die meisten hatte sie sich gewöhnt. Laute Heizungsrohre, in denen sich Luft gefangen hatte, knarrende Türen und Fußböden, unerklärbare Zugluft. Aber dieses Geräusch war anders. Kam es von draußen?

Sie presste die Nase ans Fenster, das durch ihren warmen Atem sofort beschlug. Alles schien totenstill. Wer würde in so einer Nacht überhaupt auf die Straße gehen? In den Nachrichtenkanälen hieß es ständig: Bleiben Sie zu Hause. Unternehmen Sie keine Reisen, die nicht absolut notwendig sind. Jeder halbwegs vernünftige Mensch würde sich nicht auf die Straße wagen.

Carrie öffnete das Fenster einen Spalt breit. Sofort strömte eiskalte Luft herein. Dem Himmel sei Dank für warme Schlafanzüge, kuschelige, dicke Socken und einen weichen Morgenmantel. Sie hielt den Atem an und lauschte. Da war es wieder. Es klang wie ein Miauen. War das eine Katze? Aus dem Apartment unter ihr drang laute Musik. Das musste der Polizist sein. So konnte er natürlich nichts hören. Sie kannte seinen Namen nicht, wusste aber wegen seiner Uniform, dass er Polizist war. Ein großer, dunkelhaariger und sehr gut aussehender Polizist. Doch seit ihrer Ankunft hatte er sie nicht einmal angesehen.

Wer ließ denn seine Katze in einer solchen Nacht nach draußen? Ihr Gewissen regte sich. Vielleicht war es eine kleine Katze, die wegen des vielen Schnees nicht mehr nach Hause fand. Sollte sie hinuntergehen und nachsehen? Im Morgenmantel? Es würde nur einige Sekunden dauern. Niemand würde sie sehen. Sie könnte die Katze in ihre Wohnung holen, ihr ein warmes sicheres Plätzchen bieten und ihr etwas Wasser geben. Eine Katze. Bei dem Gedanken wurde ihr warm ums Herz. Sie hatte noch nie eine Katze gehabt. Es wäre schön, sich für eine Nacht die Katze eines anderen auszuleihen. Wenigstens könnte sie dann mit dem Tier reden.

Carrie öffnete ihre Wohnungstür und sah ins Treppenhaus. Alle anderen Mieter waren in ihren Apartments. Auf Socken eilte sie hinunter und öffnete die schwere Haustür.

Nein! Das kann nicht sein! Schnell schloss sie die Tür wieder.

Ihr Herz schlug heftig. Ihr Verstand musste ihr einen bösen Streich spielen. Ließ sie im Glauben, sie hätte alle Erinnerungen verdrängt. Und dann das. Vielleicht war sie nicht richtig wach. Vielleicht war sie oben auf dem Sofa vor dem wärmenden Feuer eingeschlafen und würde gleich schweißgebadet aufwachen.

Ganz langsam drehte sie den Türknauf und betete, dass ihre Fantasie nicht wieder mit ihr durchging. So etwas passierte Menschen wie ihr nicht. Sie öffnete, sog die eiskalte Nachtluft in ihre Lungen und bekam eine Gänsehaut – allerdings nicht von der Kälte.

Ein Baby. Jemand hatte ein Baby vor ihre Haustür gelegt.

2. KAPITEL

Einen Moment stand Carrie stocksteif da. Weder ihr Verstand noch ihr Körper wollten funktionieren. Das Geräusch war kein Miauen, wie sie gedacht hatte, sondern ein Wimmern. Und es klang immer beängstigender.

Am liebsten wäre sie davongelaufen, um sich vor dieser Situation zu schützen und die Mauer um ihr Herz stabil zu halten. Das konnte nicht gut gehen. Aber ein anderer Instinkt in ihr war stärker. Also tat sie, was jede Frau tun würde. Sie hob das kleine Bündel auf und drückte es an ihre Brust. Sogar die Decke war eiskalt. Oh, nein! Das arme Baby.

Ohne lange zu überlegen, ging sie direkt zur nächsten Wohnungstür – die, aus der die laute Musik drang – und hämmerte mit der Faust dagegen. „Hilfe! Ich brauche Hilfe!“

Zuerst geschah nichts. Dann wurde die Musik abgestellt, und jemand kam auf nackten Füßen zur Tür und öffnete.

Da war er, in all seiner Schönheit. Zerzauste dunkle Haare, übermüdete Augen, nur mit einer eng anliegenden Jeans bekleidet und mit einem pinkfarbenen Gips am Handgelenk. Sie blinzelte und versuchte, den unerwarteten Anblick zu verarbeiten. Der Mann runzelte die Stirn. „Was zum …“

Carrie drängte sich an ihm vorbei in die Wärme seiner Wohnung. „Ich brauche Hilfe. Ich habe gerade dieses Baby vor unserer Haustür gefunden.“

„Ein Baby?“, fragte er erstaunt. Dann fasste er Carrie an der Schulter und schob sie zu einem Sessel am Kamin.

„Was soll ich tun? Was soll ich mit einem Baby? Wer tut so etwas?“ Carrie konnte nicht aufhören zu reden. Sie war in der Wohnung eines fremden halb nackten Mannes in New York – mit einem ausgesetzten Baby im Arm. Und sie trug einen Schlafanzug. Das konnte alles nicht wahr sein. Ihr Verstand sagte ihr: Mach, dass du hier rauskommst.

Doch sie starrte nur auf das kleine Gesicht, das aus der Decke herauslugte. Die Augen des Babys waren fest geschlossen, aber es zog die Augenbrauen zusammen. War es ein Mädchen oder ein Junge? Ihr Herz schmerzte. Das war so verdammt schwer. Sie sollte nicht hier sein. Sie war nicht die Richtige, um sich um ein Baby zu kümmern. Ganz und gar nicht. Doch ihr Körper hörte nicht auf ihren Verstand. Denn sie hob die Hand und strich mit dem Finger sanft über die weiche, wenn auch kalte Wange des Babys.

Der Tag hatte schon nicht gut angefangen, aber das hier war lächerlich. Dan Cooper erkannte die Frau. Sie war das Mädchen mit den traurigen Augen aus der Wohnung über ihm. Im Moment sah sie allerdings eher panisch aus.

Natürlich hatte er bemerkt, wie sie seinen nackten Oberkörper gemustert hatte. Hätte sie nicht so heftig an die Tür geschlagen, hätte er sich erst noch ein T-Shirt angezogen. Schnell griff er jetzt nach dem Shirt, das über der Lehne des Sofas hing, und zog es an. Dabei bemühte er sich, dass die Frau keinen Blick auf seinen Rücken werfen konnte. Dann sah er sie wieder an. Nun sah sie nicht mehr panisch aus. Sie hatte aufgehört zu plappern, saß schweigend am Feuer und starrte völlig fasziniert auf das Baby.

Hoffentlich ist sie keine Verrückte, dachte er eingedenk jahrelanger Polizeierfahrung. Er ging zu ihr, berührte ihre Hand und kniete sich hin, damit er ihr in die Augen sehen konnte. In seinem Beruf hatte er schon viele verrückte Geschichten erlebt, aber dies war die verrückteste.

„Wie heißen Sie?“

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, konnte aber kaum die Augen von dem Baby lösen. „Carrie. Carrie McKenzie. Ich wohne über Ihnen.“

Er nickte. Ihr Akzent fiel ihm auf. Das Apartment über ihm gehörte einer Firma, die dort Mitarbeiter ihrer multinationalen Partner unterbrachte. Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte diese Frau schon einige Male gesehen, aber nie mit ihr gesprochen. Sie sah immer so traurig aus – als trüge sie eine riesige Last auf den Schultern. Er überlegte fieberhaft. War sie schwanger gewesen? Hätte ich das bemerkt? Hat sie das Baby oben zur Welt gebracht?

Dan musterte sie. Pyjama und ein Morgenmantel konnten ziemlich viel verstecken. Er holte tief Luft. Er musste sie fragen, alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. „Carrie, ist das Ihr Baby?“

Abrupt hob sie den Kopf. „Was?“ Sie sah vollkommen entsetzt aus, aber da war noch etwas anderes in ihrem Blick. „Natürlich nicht!“

Dan war erleichtert. Er war lange genug Polizist, um zu wissen, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Gott sei Dank. Eine verrückte Nachbarin mit einem Baby hätte er nun wirklich nicht gebrauchen können. Er streckte die Hand aus und zog behutsam die Decke vom Gesicht des Babys. Es atmete, war aber ganz blass.

Die nächste Kinderklinik lag am Central Park – weit weg. Bei diesem Wetter konnten sie sie unmöglich zu Fuß erreichen. Auch ein Krankenwagen würde sicher nicht durchkommen. Er war zwar kein Experte, aber dem Baby schien es gut zu gehen. Dan stand auf. „Wie haben Sie das Baby gefunden?“

„Ich habe ein Geräusch gehört und ging hinunter, um nachzusehen. Ich dachte, es wäre eine Katze.“

„Sie haben das Baby für eine Katze gehalten?“, fragte er ungläubig.

Mit ihren blauen Augen sah sie ihn missbilligend an. „Nun, wegen Ihrer lauten Musik konnte ich es nicht richtig hören.“

Er ignorierte ihren Sarkasmus, auch wenn er ihn amüsierte. Vielleicht hatte die Frau mit den traurigen Augen doch etwas Biss. „Wann haben Sie das erste Mal etwas gehört?“ Das war äußerst wichtig.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Vor ungefähr fünf Minuten?“

Schnell lief er zur Tür, zog die Jacke an, die an der Garderobe hing, und steckte die nackten Füße in seine Baseballstiefel.

Sie sprang auf. „Wo wollen Sie hin? Lassen Sie mich nicht allein. Ich habe keine Ahnung von Babys.“

Er sah sie an. „Carrie, jemand hat dieses Baby vor unsere Tür gelegt.“ Es schneite immer noch heftig. „Vielleicht ist da draußen jemand in Not oder verletzt. Ich muss nachsehen.“

Sie biss sich auf die Lippe, warf einen Blick auf das Baby und nickte dann.

Dan ging hinaus in die Eiseskälte und schaute sich um. In welche Richtung sollte er gehen? Überall nichts als Schnee. Und der fiel so dicht, dass Fußspuren binnen weniger Minuten darunter verschwanden. Er ging auf die andere Straßenseite und schaute auf das Haus. Warum ausgerechnet dort? Warum hatte jemand das Baby vor ihre Haustür gelegt? Auch in den anderen Wohngebäuden entlang der Straße brannte in einigen Wohnungen Licht, allerdings im zweiten oder dritten Stock. Nur in ihrem Haus brannte auch im Erdgeschoss Licht. Vermutlich deshalb. Das Baby sollte schnell gefunden werden.

Eilig ging er die Straße entlang und suchte nach Hinweisen oder Spuren. Er überprüfte sogar einige Nebenstraßen, sah hinter Mülltonnen und an Hintertüren nach. Nichts. Niemand. Er kehrte um und machte dasselbe in der anderen Richtung. Der Schnee war schwer und nass. Das dünne Leinen seiner Baseballstiefel war schon durchgeweicht. Er hätte Socken anziehen sollen. Seit Sonnenuntergang musste die Temperatur stark gefallen sein. Er war erst wenige Minuten hier draußen und fror bereits erbärmlich.

Als er aufschaute, geriet sein Herz ins Stolpern. Carrie stand am Fenster mit dem Baby auf dem Arm. Sie sah völlig verzweifelt aus. Offenbar hoffte sie aus ganzem Herzen, dass er die Mutter fand. Dieses Bild hätte er nie erwartet. Eine Frau mit einem Baby auf dem Arm in seinem Apartment.

Sie hatte die Vorhänge aufgezogen, sodass man das Apartment sehen konnte. Seine große plumpe, aber gemütliche Couch, der alte Sessel seiner Großmutter, sein Küchentisch, seine Kommode, seine Küchenschränke, das Bild über dem Kamin. Irgendwie missfiel ihm das. Sein Apartment war sein Rückzugsort. Die wenigen Frauen, die es über seine Türschwelle geschafft hatten, konnte er an einer Hand abzählen. Und jede dieser Beziehungen hatte in einem Desaster geendet. Langfristige Beziehungen waren nicht sein Ding. Sobald seine Freundinnen diesen hoffnungsvollen Blick bekamen, trennte er sich auf sanfte Weise von ihnen. Es war besser so.

Carrie zu sehen, wie sie mit einem Baby im Arm an seinem Fenster stand, war ein Schock. Je schneller das alles vorbei war, desto besser. Aber sie war hübsch und – was noch besser war – aus England. Sie würde also nicht lange bleiben. Vielleicht doch ein Flirt, um sich die Zeit zu vertreiben?

Autor

Scarlet Wilson
<p>Scarlet Wilson hat sich mit dem Schreiben einen Kindheitstraum erfüllt, ihre erste Geschichte schrieb sie, als sie acht Jahre alt war. Ihre Familie erinnert sich noch immer gerne an diese erste Erzählung, die sich um die Hauptfigur Shirley, ein magisches Portemonnaie und eine Mäusearmee drehte – der Name jeder Maus...
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