Entführung in die Highlands der Liebe

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Voller Hoffnung legt Angelica das Collier an, das bereits ihren zwei Schwestern Glück beschert hat. Sie spürt es genau: Heute wird sie ihrem Schicksal, ihrem zukünftigen Ehemann begegnen! Und in der Tat: Kaum auf dem Ball angekommen, fällt ihr Blick auf einen hochgewachsenen Gentleman, von dem sie die Augen nicht mehr abwenden kann. Nur zu gern gewährt sie ihm den Wunsch, mit ihm durch den nächtlichen Garten zu spazieren. Doch kurz darauf stockt ihr der Atem: Ihr mysteriöser Verehrer entpuppt sich als niemand anderes als Dominic, Earl of Glencrea, der bereits ihre beiden älteren Schwestern verfolgte. Welche dunklen Absichten hegt dieser geheimnisvolle Schurke?

"Laurens‘ großartige Sinnlichkeit ist atemberaubend!”

New York Times-Bestsellerautorin Lisa Kleypas

"Ein historischer Liebesroman voller Leidenschaft und Köpfchen”

Romance Review Junkies


  • Erscheinungstag 18.07.2016
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499036
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

1. Juni 1829

Cavendish House, London

Oh … mein … Gott.“ Angelica Rosalind Cynster stand am Rande von Lady Cavendishs Salon und kehrte dem Großteil der schnatternden Gäste Ihrer Ladyschaft den Rücken zu. Sie starrte auf die hohen Fenster, die auf die unbeleuchtete Terrasse und den dunklen Garten dahinter hinausgingen. Oder vielmehr starrte sie auf das Spiegelbild des Gentlemans, der sie von der anderen Seite des Salons aus seinerseits fixierte.

Vor etwa einer halben Stunde hatte sie seinen verstörenden Blick erstmals gespürt. Sie hatte ihn gefühlt, während sie Walzer getanzt, mit anderen gelacht und geplaudert hatte. Aber der Urheber des Blickes war ihr verborgen geblieben, so diskret sie sich auch umgeschaut hatte. Als die Musik verstummt war, hatte sie sich enerviert im Raum umherbewegt, war von Gruppe zu Gruppe geschlendert, hatte Bekannte begrüßt und Kommentare fallen lassen, in der Hoffnung, den Mann zu entdecken.

Nun, da sie ihn gefunden hatte, konnte sie kaum fassen, was sie sah. „Er ist es!“

Ihre schlecht verhohlene Erregung trug ihr einen fragenden Blick von ihrer Cousine Henrietta ein, die neben ihr stand, doch Angelica schüttelte den Kopf. Jemand aus der Gruppe neben ihnen nahm Henrietta in Beschlag, sodass Angelica Muße hatte, den faszinierendsten Mann genauer zu mustern, den sie je gesehen hatte.

Sie betrachtete sich als eine Kennerin der Kunst, Gentlemen einzuschätzen. Schon früh hatte sie Männer als „anders“ wahrgenommen, und durch jahrelange Beobachtung kannte sie deren Stärken und Schwächen recht gut. Wenn es um Gentlemen ging, stellte sie hohe Ansprüche.

Vom Aussehen her stach der Gentleman auf der anderen Seite des Salons all seine Konkurrenten aus.

Er stand mit sechs weiteren Männern zusammen, deren Namen ihr allesamt bekannt waren. Nur seinen kannte sie nicht. Sie war dem Herrn noch nie begegnet, hatte ihn nie zuvor zu Gesicht bekommen. Wäre sie ihm vorgestellt worden, hätte sie auf der Stelle gewusst – so wie jetzt –, dass er der Gentleman war, auf den sie gewartet hatte.

Sie war immer felsenfest überzeugt davon gewesen, dass sie ihren Helden – den Gentleman, den das Schicksal ihr zum Gatten erkoren hatte – auf den ersten Blick erkennen würde. Nicht erwartet hatte sie, dass sie ihn das erste Mal in einer Fensterscheibe gespiegelt in einem überfüllten Salon erspähen würde. Doch das Ergebnis war dasselbe – sie wusste, dass er es war.

Die „Lady“, eine schottische Gottheit, hatte den Cynster-Mädchen einen Talisman zukommen lassen, der ihnen helfen sollte, ihre wahre Liebe zu finden. Er war von Angelicas ältester Schwester Heather an ihre mittlere Schwester Eliza weitergereicht worden. Eliza war kürzlich mit ihrem frischgebackenen Verlobten nach London zurückgekehrt und hatte die Kette, der geschwisterlichen Reihenfolge entsprechend, Angelica gegeben. An der Kette aus Goldgliedern und Amethystperlen hing ein Anhänger aus Rosenquarz, ein uralter, geheimnisvoller Talisman. Sie spürte die Glieder und Perlen unter ihrem Fichu auf der Haut; der Kristallanhänger lag zwischen ihren Brüsten.

Am Abend vor drei Tagen war sie zu dem Schluss gelangt, dass der Zeitpunkt gekommen war, dass nunmehr sie an der Reihe war. Bewaffnet mit der Kette, ihrem Bauchgefühl und ihrer unerschütterlichen Entschlossenheit, hatte sie sich voller Eifer in die Suche nach ihrem Helden gestürzt. Zu diesem Zweck weilte sie auf der Soiree der Cavendishs, auf der sich eine ausgewählte Schar aus der Crème de la Crème des ton eingefunden hatte, um Kontakte zu pflegen und sich in Konversation zu ergehen. Angelica hingegen verfolgte die Absicht, jeden vielversprechenden Kandidaten unter den Männern, die Lady Cavendish hatte herlocken können, in Augenschein zu nehmen.

Der Talisman hatte Heather, die inzwischen mit Breckenridge verlobt war, gute Dienste geleistet. Auch Eliza und Jeremy Carling hatte er zusammengebracht. Angelica hatte gehofft, dass er auch ihr helfen würde, hatte indes nicht mit einem solch raschen Resultat gerechnet.

Gleichwie. Nun, da sie ihren Helden gesichtet hatte, würde sie keine weitere Minute verschwenden.

Er hatte nicht bemerkt, dass sie ihn musterte. Von seiner Position auf der anderen Seite des Raums aus konnte er sie vermutlich nur verschwommen sehen. Sie starrte sein Spiegelbild an und verschlang ihn förmlich mit Blicken.

Er war eine eindrucksvolle Erscheinung und überragte die nicht eben kleinen Männer um ihn her um einen halben Kopf. Seine elegante Abendgarderobe bestand aus schwarzem Frack, blütenweißem Hemd und Krawattentuch sowie einer schwarzen Hose. Alles an ihm, von den breiten Schultern bis zu den langen Beinen, passte von den Proportionen her perfekt zu seiner hochgewachsenen Gestalt.

Sein Haar wirkte tiefschwarz. Es war glatt, und er trug es recht lang, aber modisch zerzaust, als wäre der Wind hindurchgefahren. Angelica versuchte, sein Gesicht genauer zu betrachten, doch im Spiegelbild blieb es undeutlich. Sie konnte keine Einzelheiten ausmachen bis auf die scharf geschnittene Nase und das markante Kinn. Beides wies ihn als einen Sprössling aus aristokratischem Hause aus; nur jemand mit adeliger Herkunft besaß solch harte, wie gemeißelt wirkende Züge von kühler Schönheit.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Vor Aufregung.

Sie hatte ihn also gefunden. Was nun?

Wäre es auch nur ansatzweise tragbar gewesen, so wäre sie herumgewirbelt, hätte resoluten Schritts den Salon durchquert und sich dem Herrn selbst vorgestellt. Das jedoch wäre zu impertinent gewesen, selbst für ihre Verhältnisse. Da er sie schon eine geschlagene halbe Stunde lang beobachtet und keine Anstalten gemacht hatte, sich ihr zu nähern, würde das wohl auch nicht mehr geschehen, zumindest nicht hier und heute.

Das gefiel ihr ganz und gar nicht.

Sie richtete den Blick auf den lockeren Herrenzirkel, bei dem er stand. Er lauschte der Unterhaltung, ohne viel dazu beizutragen. Das Gespräch diente ihm offenbar lediglich dazu, sein Interesse an Angelica zu kaschieren.

Während sie die Gruppe betrachtete, verabschiedete sich einer der Männer und entfernte sich.

Angelica lächelte. Ohne ein Wort stahl sie sich von Henrietta fort und bahnte sich einen Weg durch die Menge in der Mitte des Salons.

Sie erwischte den Ehrenwerten Theodore Curtis gerade noch am Ärmel, ehe er sich zu einer Gruppe junger Damen und Gentlemen gesellen konnte. Er wandte sich um und lächelte. „Angelica! Wo hattest du dich denn versteckt?“

Mit einem Wink zeigte sie auf die Fenster. „Dort drüben. Theo, wer ist dieser Gentleman bei den Herren, mit denen du dich gerade unterhalten hast? Der hünenhafte Mann, dem ich noch nie begegnet bin.“

Theo war ein Freund der Familie und kannte Angelica viel zu gut, um sich Hoffnungen auf sie zu machen. Er lachte leise. „Ich habe ihm gesagt, dass es nicht lange dauern würde, bis die jungen Damen ihn ins Visier nehmen und umschwärmen würden.“

Angelica ließ sich auf das Spiel ein und machte einen Schmollmund. „Lass die Fopperei. Wer ist er?“

Theo grinste. „Debenham. Viscount Debenham.“

„Und der ist wer?“ Mit einer Geste forderte sie ihn auf, mehr preiszugeben.

„Ein famoser Bursche. Ich kenne ihn seit Jahren – ist in meinem Alter, kam zur selben Zeit in die Stadt wie ich, hat ähnliche Interessen, du weißt ja, wie das ist. Sein Anwesen liegt in der Nähe von Peterborough, aber er hat sich rargemacht im ton, und zwar … vier Jahre müssen das gewesen sein. Ist damals gegangen, weil er sich um familiäre und geschäftliche Angelegenheiten hat kümmern müssen. Erst kürzlich ist er in die Salons und Ballsäle zurückgekehrt.“

„Hm. Somit spricht nichts dagegen, dass du mich ihm vorstellst?“

Nach wie vor grinsend, zuckte Theo mit den Achseln. „Wenn du möchtest.“

„Ich möchte.“ Angelica fasste ihn am Arm und drehte sich mit ihm zu ihrem Helden Debenham herum. „Ich verspreche dir, mich zu revanchieren, wenn du das nächste Mal das Rennen um ein neues, hübsches junges Füllen machen willst.“

Theo lachte. „Ich nehme dich beim Wort.“ Er legte seine Hand auf ihre und geleitete Angelica durchs Gewühl.

Sie schlängelten sich durch diverse Grüppchen, nickten lächelnd diesem oder jenem zu und blieben nur stehen, wenn es unvermeidlich war. Derweil unterzog Angelica ihre Erscheinung einer hastigen Prüfung und stellte sicher, dass ihr blass seegrünes Seidenkleid glatt hinabfiel und der Spitzenfichu, der ihr Dekolleté teilweise verhüllte, anständig saß und die Kette verbarg. Einmal hielt sie inne, um ihren seegrünen und silberfarbenen Seidenschal neu zu drapieren, damit er ihr vorteilhafter über die Ellbogen fiel. Sie hatte sich heute Abend gegen Retikül und Fächer entschieden, sodass ihr beides nicht zur Verfügung stand, um ihre Finger beschäftigt zu halten.

Ihr Haar wagte sie nicht anzurühren. Die widerspenstigen rotgolden schimmernden Strähnen waren auf dem Scheitel zu einem komplizierten Knoten aufgesteckt, der durch unzählige Nadeln und einen perlenbesetzten Kamm gehalten wurde. Aus Erfahrung wusste sie, dass schon die kleinste Erschütterung das gesamte Kunstwerk auseinanderfallen lassen konnte. Kein Gentleman hätte sich je darüber beschwert, dass sie sich in eine bekleidete Version der schaumgeborenen Venus verwandelte, aber so wollte sie sich ihrem Helden keinesfalls bei der ersten Begegnung zeigen.

Er wusste, dass sie sich ihm näherte; durch die Menge hindurch erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht. Noch immer musterte er sie, aber selbst aus der Nähe vermochte sie seine Miene nicht zu deuten.

Schließlich schob sich Theo am letzten Schulterpaar vorbei, drehte Angelica zur Herrengruppe herum und präsentierte sie mit einer schwungvollen Geste. „Heda! Seht, wen ich gefunden habe.“

„Miss Cynster!“, schallte es angenehm überrascht aus mehreren Kehlen.

„Bezaubernde, elegante Damen sind uns stets willkommen, wissen Sie.“ Millingham verbeugte sich, ebenso wie alle anderen Männer – bis auf einen.

Nachdem Angelica einen jeden begrüßt hatte, wandte sie sich Debenham zu. Theo war so zuvorkommend gewesen, sie neben Debenham zu platzieren. Sie hob den Blick zu seinem Gesicht, versessen darauf, es zu sehen, darin zu lesen, zu erkennen …

„Debenham, alter Junge“, sagte Theo, der an ihrer anderen Seite stand. „Darf ich dir die Ehrenwerte Angelica Cynster vorstellen? Miss Cynster – Viscount Debenham.“

Angelica nahm die Worte kaum wahr, so gebannt war sie von dem Paar großer, durchdringender Augen unter schweren Lidern. Die Augen waren von einem hellen grünlichen Grau und fesselten sie. Der Ausdruck – weniger darin als vielmehr dahinter – kündete von Scharfsinn, einem guten Urteilsvermögen und kühlem, nüchternem Zynismus.

Ihr Held betrachtete sie unverwandt, musterte sie leidenschaftslos, taxierte sie. Sie vermochte nicht zu sagen, ob ihm gefiel, was er sah, oder nicht.

Der letzte Gedanke riss sie zurück in die Gegenwart. Verhalten lächelnd schaute sie ihn an und nickte verhalten. „Ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind, Mylord.“ Sie reichte ihm die Hand.

Seine Lippen bildeten eine unverbindliche gerade Linie. Kaum merklich lächelnd, löste er eine Hand vom Silberknauf seines Gehstocks – den sie von der anderen Seite des Salons aus nicht gesehen hatte. Er ergriff ihre Finger.

Sein Händedruck war distanziert, aber nicht unpersönlich. Zu nachdrücklich, zu fest war der Griff, um ihn als gewöhnlich abzutun. Innerlich geriet sie ins Straucheln, aus dem Gleichgewicht, während sie der Berührung nachhing, ohne den Blick von seinen Augen zu wenden. Dabei gewann sie den schwachen, aber unleugbaren Eindruck, dass er zögerte, sie loszulassen. Mit einem Mal war ihr die Brust wie zugeschnürt. Sie knickste.

Debenham hielt den Blick seiner verstörenden Augen auf sie gerichtet, während er sich verbeugte. Es war eine geschmeidige, fließende Bewegung, die nicht durch den Gehstock behindert wurde. „Miss Cynster. Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Ihr war, als dränge ihr seine tiefe Stimme in den Körper und umschmeichelte lüstern ihr Rückgrat.

Verstärkt durch die Wirkung, die seine kühlen Finger auf sie hatten, sandte diese Stimme ihr Wärme unter die Haut und ließ heiße Flammen in ihrem Unterleib auflodern. Aus der Nähe erwies sich ihr Held als sinnliche Macht, so als ginge eine elementare fleischliche Verlockung von ihm aus, die allein ihr galt …

Großer Gott. Sie unterdrückte den Drang, sich Luft zuzufächeln. Zudem war sie versucht, der Lady hier und jetzt zu danken, doch sie riss sich zusammen und entzog ihm ihre Hand. Er ließ es geschehen – wobei sie sich überdeutlich bewusst war, dass die Entscheidung bei ihm und nicht bei ihr gelegen hatte. In ihrem Innern schrillten Alarmglocken, aber sie wollte verflucht sein, wenn sie sich eingestände, dass dieser Mann ihr hoffnungslos überlegen war. Er war ihr Held; ergo durfte sie voller Zuversicht fortfahren. Scharf atmete sie durch. „Wie ich hörte, sind Sie erst seit Kurzem wieder in London, Mylord.“

Im Sprechen drehte sie sich ihm zu, fort von den anderen, und nötigte ihn dadurch, es ihr gleichzutun. So waren sie immer noch Teil der Gruppe, konnten jedoch die anderen sich selbst überlassen und sich ungestört unterhalten. Theo verstand den Wink und verwickelte Millingham in ein Gespräch über dessen neu erworbene Ländereien.

Debenham nahm den Blick nicht von ihr, die Augen großenteils verborgen durch die schweren Lider und dichten schwarzen Wimpern. Nach einer kaum merklichen Pause erwiderte er: „Ich bin vor einer Woche zurückgekehrt. Debenham Hall liegt in Cambridgeshire und somit nicht allzu weit weg, aber geschäftliche Dinge haben mich einige Jahre vom gesellschaftlichen Leben ferngehalten.“

Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte unverhohlen sein Gesicht, wobei sie all die – ungehörigen, unstatthaften – Fragen, die ihr auf den Lippen brannten, in ihren Blick legte …

Er verzog die Lippen – es war kein Lächeln im eigentlichen Sinn, sondern gab lediglich zu verstehen, dass er begriffen hatte. „Ich habe mich um mein Anwesen gekümmert. Ich nehme meine Pflichten überaus ernst.“

Obwohl er leichthin sprach, spürte sie deutlich, dass er die Wahrheit sagte und es ihm ernst war. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Anwesen nun hinreichend floriert, dass Sie es nicht länger rund um die Uhr im Auge behalten müssen und sich daher wieder den Lustbarkeiten Londons widmen können?“

Abermals betrachtete er sie, als suchte er mit dem Blick seiner bemerkenswerten Augen ihre selbstsichere, kultivierte Gesellschaftsmaske zu durchdringen. Devil Cynster, ihr Cousin, sowie dessen Mutter Helena hatten blassgrüne Augen, und auch ihr Blick wirkte stechend. Debenhams Augen waren heller, die Farbe changierte stärker Richtung Grau, und Angelica fand seinen Blick noch intensiver als Devils oder Helenas.

„So könnte man es ausdrücken“, räumte er ein, „doch die ungeschönte Wahrheit lautet, dass ich aus demselben Grund nach London gekommen bin, der die meisten meiner Alters- und Standesgenossen dazu veranlasst, die Ballsäle des ton heimzusuchen.“

Ihre Augen weiteten sich. „Sie sind auf der Suche nach der richtigen Partie?“ Es war überaus anstößig, dies derart unverblümt zu fragen, aber sie musste es einfach wissen.

Wieder verzog er die Lippen zu einem Lächeln, sichtbarer dieses Mal. „Ganz recht.“ Er hielt ihrem Blick stand. „Wie ich schon sagte, der banalste aller Gründe für eine Rückkehr in Hauptstadt und Gesellschaft.“

Bedingt durch das dichte Gedränge um sie her, trennten nur wenige Zoll sie voneinander. Weil er hochgewachsen und sie eher klein war, musste sie zu ihm aufsehen, so wie er auf sie herabschaute. Trotz der Nähe der übrigen Herren haftete der Art, wie sie beieinanderstanden, etwas sonderbar Vertrauliches … beinahe Intimes an.

Seine Größe, die pure Kraft, die von seinem Körper ausging – mochte diese auch durch eine erlesene Abendgarderobe verhüllt sein –, vernebelten ihr die Sinne. Die verführerische Wärme seiner Nähe betörte sie, umgarnte sie heimtückisch, lockte sie, ihm noch näher zu kommen.

Je länger sie ihm in die Augen blickte …

„Angelica – dachte ich’s mir doch, dass ich dich im Gewühl erspäht hätte.“

Blinzelnd wandte Angelica den Kopf und entdeckte Millicent Attenwell, die vor ihr aufgetaucht war und sie anlächelte, während Millicents Schwester Claire sich von der anderen Seite an Debenham heranschlich.

„Wirklich, obwohl wir schon Juni haben, sind diese Festivitäten nach wie vor völlig überlaufen, findest du nicht?“ Fragend sah Claire Debenham an und lächelte kokett. „Ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind, Sir.“

Theo warf Angelica einen Blick zu und kam ihr zu Hilfe, indem er Millicent und Claire vorstellte, ehe er Julia Quigley und Serena Mills denselben Dienst erweisen musste. Letztere hatten sich dem wachsenden Zirkel schnurstracks hinzugesellt, kaum dass sie bemerkt hatten, dass den Schwestern Attenwell ein attraktiver neuer Gentleman ins Auge gefallen war.

Wenngleich Angelica alles andere als erfreut über die Unterbrechung war, nutzte sie diese, um ihre überwältigten Sinne zur Ruhe kommen zu lassen und ihren Verstand zur Ordnung zu rufen. Letzterer war von Debenhams allzu schönem Gesicht, seinen faszinierenden Augen und seinem verstörend einnehmenden Körper wie benommen – eine gänzlich neue Erfahrung für sie. Nie zuvor war sie derart verzaubert gewesen. Jedenfalls war es das erste Mal, dass sie sich in den Augen eines Mannes verloren hatte.

Zugegeben, er war ihr Held, was vermutlich seine außergewöhnliche Wirkung auf sie erklärte. Dennoch, dass er sie derart mühelos überwältigen und ihr den Verstand rauben konnte, ließ sie auf der Hut sein.

Millicent, Claire, Julia und Serena hatten die Unterhaltung an sich gerissen und untermalten sie mit lebhaften Gesten. Dabei ließen sie den Blick ihrer leuchtenden Augen immer wieder verstohlen zu Debenham gleiten, in der wenig bemäntelten Hoffnung, ihn dazu bewegen zu können, sich zu beteiligen. Doch obwohl er höflich lauschte, brachte er sich nicht ein.

Flüchtig schaute Angelica ihn an. Im selben Moment sah er sie an, und ihre Blicke trafen sich … verschmolzen.

Ein Herzschlag verstrich.

Ihr stockte der Atem, sie wandte den Blick ab – richtete ihn auf Julia, die gerade eine prickelnde Anekdote zum Besten gab.

Einen Moment lang spürte sie Debenhams Blick noch auf ihrem Gesicht, ehe auch er Julia anschaute – und kaum merklich näher an Angelica heranrückte.

Ihr Herz tat einen Satz, um dann ins Stolpern zu geraten.

Er hatte es ebenfalls gespürt. Er war genauso fasziniert von dem Band zwischen ihnen wie sie.

Gut und schön. Wie aber sollte sie vorgehen, wie ihnen beiden eine Gelegenheit verschaffen, sich näherzukommen?

Ein Geiger, der nicht zu sehen war, stimmte sein Instrument.

„Endlich!“ Millicent regte sich übermütig. „Es wird wieder getanzt.“ Schamlos flehte sie Debenham mit dem Blick ihrer glänzenden Augen an, sie um einen Tanz zu bitten.

Bevor Angelica etwas unternehmen konnte, rückte Debenham seinen Gehstock weiter nach vorn und stützte sich schwer darauf.

Millicent sah es und begriff offenbar, dass sie ihn schlecht nötigen konnte, vor aller Welt darzulegen, was für eine Blessur ihn am Tanzen hinderte. Ihr Enthusiasmus indes war ungebremst, und so blickte sie hoffnungsfroh auf Millingham.

Dieser verstand den Wink und ersuchte sie um den nächsten Tanz.

Auch die übrigen Gentlemen kamen ihrer Pflicht nach, indem sie die Damen neben sich zum Tanz baten. Als Claire, Julia und Serena einsahen, dass Debenham sie nicht über die Tanzfläche in der Mitte des Raums wirbeln würde, die just geräumt wurde, ließen sie sich bereitwillig von den anderen Herren entführen. Die Gruppe löste sich auf.

Zurück blieb Angelica, die zwischen Debenham und Theo stand. Ihr gegenüber war Giles Ribbenthorpe verweilt. Theo verabschiedete sich lächelnd von ihr, ehe er Debenham und Ribbenthorpe zunickte und in der Menge verschwand.

Ribbenthorpe wusste die Zeichen genauso zu deuten wie jeder Mann, sah Angelica aber dennoch mit fragend gehobenen Brauen an und erkundigte sich lächelnd: „Darf ich bitten, Miss Cynster?“

„Haben Sie vielen Dank für Ihr Angebot, Ribbenthorpe, aber ich fürchte, ich würde nur auffallen. Allerdings wäre Lady Cavendish sicherlich begeistert, Sie auf ihrer Tanzfläche zu sehen, und Jennifer Selkirk …“, sie nickte in Richtung einer jungen Brünetten, die neben ihrer Mutter, einem wahren Drachen, ausharrte, „… würde einen Retter gewiss begrüßen. Ich schlage vor, Sie erweisen sich als ihr heiliger Georg.“

Ribbenthorpe drehte sich um, schaute zu den Selkirks hinüber und lachte. Er verbeugte sich vor Angelica und machte sich lächelnd auf den Weg. Angelica war froh, als sie sah, dass er ihre Anregung aufgriff und Jennifer aufs Parkett bat.

Als sie endlich allein mit Debenham war, legte sie ihre höflichdistanzierte Zurückhaltung ab und blickte geradewegs auf seinen Gehstock.

Nach kurzem Zögern beantwortete er ihre stumme Frage. „Eine alte Verletzung aus der Zeit vor meinem ersten Aufenthalt in London. Ich kann laufen, aber zu tanzen darf ich nicht riskieren – das Knie ist nicht sonderlich belastbar.“

Sie hob den Blick und musterte sein Gesicht. „Dann haben Sie nie Walzer getanzt?“ Sie liebte den Walzer, aber wenn Debenham nun einmal ihr Held war …

„Doch, schon. Bevor es zu dem Unfall kam, war ich alt genug, um tanzen zu lernen und das Gelernte auf Bällen bei uns auf dem Land umzusetzen. Seither bin ich allerdings nicht mehr in den Genuss eines Walzers gekommen.“

„Ich verstehe.“ Sie schob ihre Enttäuschung beiseite und konzentrierte sich auf wichtigere Aspekte. „Wenn Sie also nicht bei Almack’s oder anderswo das Tanzbein geschwungen haben – welche Wege haben Sie dann eingeschlagen auf der Suche nach Ihrer Braut? Leicht zu übersehen sind Sie nicht – angesichts der Tatsache, dass ich, Millicent und die übrige Damenwelt bis heute Abend nichts von Ihrer Existenz wussten, würde es mich überraschen zu erfahren, dass Sie auch nur einem der großen Ereignisse in dieser Woche beigewohnt hätten.“

Wieder musterte er sie, als versuchte er abzuwägen, was er preisgeben durfte.

Sie reckte das Kinn. „Lassen Sie mich raten – Sie haben einige Spielhöllen unsicher gemacht oder sich mit Freunden in Gelagen ergangen.“

Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Leider nein. Wenn Sie es unbedingt wissen müssen: Ich habe mehrere Tage damit zugebracht, einige Zimmer in meinem Londoner Domizil umzugestalten. Danach haben mich meine ersten Streifzüge auf gesellschaftlichem Terrain selbstredend in die Klubs geführt. Bedenkt man, dass ich so lange durch Abwesenheit geglänzt habe, war es … überraschend, aber erfreulich, dass sich so viele noch an mich erinnert haben.“ Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Als mich Lady Cavendishs Einladung erreichte, dachte ich mir, es sei an der Zeit, die Lage zu sondieren.“

„Somit habe ich Sie gleich auf Ihrem ersten gesellschaftlichen Ereignis gestellt.“

„In der Tat.“ Er musste ihre Befriedigung gehört haben, denn er sah sie forschend an. „Weshalb stimmt Sie dies so froh?“

„Weil es bedeutet, dass ich alle anderen mehr oder weniger jungen Damen bei diesem Rennen ausgestochen habe, um im Jargon des ton zu sprechen.“

Er schaute sie an, als schüttelte er innerlich den Kopf über sie. „So erfrischend ich Ihre Offenherzigkeit finde – sind Sie immer derart geradeheraus?“

„Im Allgemeinen ja. Ich habe es immer schon als Zeitverschwendung betrachtet, die Dinge unnötig zu verkomplizieren, indem man sich allzu sehr an die gesellschaftlichen Gepflogenheiten klammert.“

„Tatsächlich? Dann verraten Sie mir doch – in aller Offenheit und ohne sich allzu sehr an die gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu klammern –, warum Sie Curtis dazu angestiftet haben, uns einander vorzustellen.“

Aus großen Augen starrte sie ihn an. „Weil Sie mir nachgestellt haben.“

Er hielt ihrem Blick stand. „Und?“

Sie hatte damit gerechnet, dass er es abstreiten würde. Der Ausdruck in seinen Augen, der sie an den eines unbeirrbaren, beharrlichen Raubtiers erinnerte, ließ ihr den Atem abermals stocken. Dennoch entgegnete sie gelassen: „Nun also jage ich Sie.“

„Ah, verstehe. Dabei muss es sich um eine neuartige Abwandlung des üblichen Tanzes auf dem Parkett der Eheanbahnung handeln.“ Flüchtig schaute er sich um, ehe er wieder sie ansah. „Wobei ich gestehen muss, dass mir keine der übrigen jungen Damen derart dreist wie Sie vorzugehen scheint.“

Sie lächelte freimütig. „Die sind ja auch nicht ich.“

„Offensichtlich.“ Er ließ sie nicht aus den Augen. „Erzählen Sie mir von Angelica Cynster.“

Er hatte die Stimme gesenkt; das und seine changierenden, hypnotisierenden Augen lockten sie zu gehorchen, so als hätte er sie geködert. Sie entschied, dass es nicht schaden würde, ihn glauben zu lassen, er habe Erfolg gehabt. „Jeder, der mich kennt, wird Ihnen bestätigen, dass ich einundzwanzig bin, aber eher wie fünfundzwanzig auftrete. Gemeinhin gelte ich als das selbstbewussteste, widerspenstigste und eigensinnigste der Cynster-Mädchen, aber Mauerblümchen sind wir alle nicht.“

„Das klingt, als wären Sie kein Kind von Traurigkeit.“

Herausfordernd hob sie eine Braue, ohne seine Vermutung zu bestreiten.

Die Musiker stimmten einen weiteren Walzer an. Kurz zögerte Debenham. „Wenn Sie gern tanzen würden“, meinte er, „fühlen Sie sich bitte nicht verpflichtet …“

„Mir ist nicht nach Tanzen.“ Sie sah sich um. Die Aufmerksamkeit derer, die sich nicht im Walzertakt wiegten, war auf die sich drehenden Paare auf der Tanzfläche gerichtet. „Im Grunde …“ Sie fächelte sich mit der Hand ein wenig Luft zu. „Ich finde es recht warm hier. Vielleicht könnten wir ein wenig an die frische Luft gehen und über die Terrasse flanieren.“

Er zauderte. Wieder hatte sie den Eindruck, als schüttelte er insgeheim den Kopf über sie, und das nicht etwa amüsiert. Gleichwie … „Selbstverständlich, wenn Sie dies wünschen.“ Galant bot er ihr seinen Arm.

Sie legte ihm eine Hand auf den Ärmel und fühlte stahlharte Muskeln darunter. Entzückt lächelte sie – sowohl in sich hinein als auch ihn an. Die Jagd auf ihren Helden hatte begonnen.

Den Gehstock in der freien Hand, eskortierte er sie auf mustergültig korrekte Weise zu den offenen Glastüren, hinter denen Terrasse und Garten lagen. Als Angelica über die Schwelle trat, atmete sie tief ein und genoss die noch laue Nachtluft. Eine sanfte Brise strich ihr über Nacken und Kehle.

Der zu Cavendish House gehörige Garten war alt, ebenso wie der Baumbestand. Die hohen Bäume mit den dichten Kronen überschatteten die Treppen, die an beiden Seiten der langen Terrasse hinunterführten. Dadurch wirkte die Schwärze der Nacht umso undurchdringlicher. Angelica schaute sich um und entdeckte mehrere weitere Paare, die im schwachen Licht des zu einem Viertel vollen Mondes dahinspazierten. Sie lenkte Debenham in die entgegengesetzte Richtung.

Das entging ihm nicht. Zwar sperrte er sich nicht, aber sie erkannte trotz der Finsternis einen unmutigen Zug um seine wie gemeißelt wirkenden Lippen.

„Was ist?“, fragte sie, die Augen groß.

„Sind Sie stets derart … frivol, in Ermangelung eines angemesseneren Wortes?“

Sie bemühte sich, gekränkt dreinzublicken, aber ihr Mund gehorchte ihr nicht. Ob Debenham ihr Gebaren nun guthieß oder nicht, er hatte sich darauf eingelassen. Langsam schlenderten sie die Terrasse entlang, welche sich über die gesamte Breite des Salons erstreckte. „Mir ist bewusst, dass Gentlemen es gewohnt sind, die Führung zu übernehmen. Aber ich bin von Natur aus ungeduldig und geradlinig. Ich möchte Sie besser kennenlernen, Sie möchten mich besser kennenlernen, und das erfordert nun einmal ein gewisses Maß an Privatsphäre. Deshalb …“, mit einer ausladenden Geste zeigte sie auf die menschenleere Terrasse vor ihnen, „… sind wir hier.“

„Wir sind einander soeben erst vorgestellt worden, und schon verwickeln Sie mich in ein Rendezvous.“ Sein Tonfall klang eher resigniert als rügend.

„Ich sehe keinen Anlass, Zeit zu vergeuden, und …“, demonstrativ deutete sie auf die breiten Salonfenster, „… vertrauen Sie mir, es ist nichts auch nur im Geringsten Anstößiges daran. Der gesamte Raum hat uns im Blick.“

„Der gesamte Raum kehrt uns den Rücken zu, weil alle auf die Tanzfläche starren.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie sind wirklich ein Heißsporn.“ Er ließ den Blick hinauf zu ihrem Haar wandern. „So wie die Farbe Ihrer Locken es vermuten lässt. Ihre Brüder haben mein Mitgefühl. Zwei haben Sie, nicht wahr?“

„Stimmt. Rupert und Alasdair – auch Gabriel und Lucifer genannt, je nachdem, ob sich unsere Mutter und unsere Tanten in Hörweite befinden oder nicht.“

„Es erstaunt mich, dass keine der Damen anwesend ist, im Schatten lauernd und darauf bedacht, Sie jederzeit an die Kandare zu nehmen.“

„Ich versichere Ihnen, das würden sie versuchen. Glücklicherweise haben sie dieser Tage Besseres zu tun – Gattinnen unter die Arme greifen, Kinder verhätscheln.“

„Und doch muten Sie wie eine temperamentvolle Frau an, auf die man permanent achtgeben sollte.“

„Es mag Ihnen seltsam erscheinen, aber nicht viele Menschen würden Ihnen beipflichten. Für gewöhnlich hält man mich für bemerkenswert bodenständig und ungemein praktisch veranlagt – nicht für die Sorte Frau, die man vor jedem Gentleman schützen müsste.“

„Ah – vielleicht hat deshalb niemand ein wachsames Auge auf Sie.“

„Ganz recht. Das ist dem Umstand zu verdanken, dass ich mehr wie fünfundzwanzig denn wie einundzwanzig auftrete.“

Er schaute die Terrasse entlang. Angelica tat es ihm gleich und sah, dass sich nach wie vor zwei andere Paare in der Nähe der Tür aufhielten.

Als sie zurück zu Debenham blickte, meinte er: „Sie sagten, Sie wollten reden. Worüber?“

Sie musterte sein Gesicht, seine scharf geschnittenen, markanten Züge, die ihn unmissverständlich als jemanden vom selben Stand wie sie zu erkennen gaben. „Es verwirrt mich, dass ich Sie nicht einordnen kann, dass ich mich nicht entsinne, Sie je gesehen zu haben. Wann waren Sie das letzte Mal in London? Theo sagte, vor vier Jahren.“

„Vor fünf. Das erste Mal hier war ich 1820, und meinen letzten Auftritt in den Londoner Ballsälen hatte ich im Juni 1824. In den Jahren dazwischen war ich des Öfteren geschäftlich hier, ohne allerdings Muße für gesellschaftlichen Umgang gehabt zu haben.“

„Nun, das erklärt es – ich hatte mein Debüt erst 1825. Aber womöglich erinnern Sie sich an meine Schwestern?“

Er nickte. „Ja, ich erinnere mich an sie, wenngleich ich in jenen Tagen nicht an Damen jüngeren Alters interessiert war. Ich habe sie eher gemieden als mit ihnen geplaudert, und ich glaube nicht, dass ich mich je mit Ihren Schwestern unterhalten hätte. Wir sind einander nie vorgestellt worden.“

„Hm … Mit Ihrer Rückkehr in die Ballsäle auf der Suche nach jungen Damen begeben Sie sich somit auf ungewohntes Terrain.“

„So könnte man es ausdrücken. Aber wie steht es mit Ihnen?“ Sie hatten das Ende der Terrasse erreicht und verharrten am oberen Absatz der Treppe, die hinab zu einem Kiesweg führte. Angelica starrte in den dunklen Garten. Der Lichtschein, der aus den Salonfenstern auf die Terrasse fiel, endete mehrere Schritte hinter ihnen; die Stelle, an der sie standen, lag im tiefen Schatten der nahen Bäume.

Angelica nahm die Hand von Debenhams Ärmel und stellte sich vor ihn, wodurch sie mit dem Rücken zum Garten stand. Auffordernd schaute sie ihn an. „Was möchten Sie wissen?“

„Es ist nicht zu übersehen, dass Sie in diesen Kreisen heimisch sind. Sind Sie das ganze Jahr über in London?“

Sie versuchte die Schatten zu durchdringen, die sein Gesicht verhüllten, und lächelte. „Als eine Cynster habe ich immer schon dem ton angehört. Daher überrascht es kaum, dass ich mich in diesen Kreisen wie zu Hause fühle. Allerdings verbringe ich nur die Monate der Saison in der Stadt sowie vielleicht einen Monat während der Kleinen Saison. Den Rest des Jahres über weile ich auf dem Land, entweder in Somerset, wo ich geboren wurde, oder zu Besuch bei Verwandten und Freunden.“

„Was bevorzugen Sie – die Provinz oder die Stadt?“

Schweigend überlegte sie.

Er schaute zurück, über die Terrasse.

Versonnen folgte sie seinem Blick und sah, dass das letzte der beiden flanierenden Paare sich gerade zurück in den Salon begab.

Als er den Blick wieder auf sie richtete, schaute sie ihm in die Augen. „Die Frage, ob ich die Stadt oder das Land bevorzuge, ist nicht leicht zu beantworten. Ich genieße das Stadtleben mit seinen Amüsements und Veranstaltungen. Aber hätte ich auf dem Land genügend Kurzweil, die mich ablenken würde und in die ich meine Energie stecken könnte, genügend befriedigende Herausforderungen, so würde ich es, denke ich, auch fernab von London aushalten.“

Lange sah er ihr in die Augen, ehe er den Blick senkte und seinen Gehstock an die Balustrade lehnte. „Ich muss zugeben …“, er hob den Kopf und schaute sie abermals an, „… dass mich das erleichtert.“

„Erleichtert? Warum?“, hakte sie neugierig nach.

Noch immer sahen sie einander in die Augen. Die Zeit schien sich sonderbarerweise schlagartig zu verlangsamen, zu dehnen. Langsam, ganz allmählich, ergriff Verwirrung Besitz von Angelica, was sie nicht verhehlen konnte.

„Bitte entschuldigen Sie.“ So sanft, leise und tief war seine Stimme, dass die Worte fast wie eine Liebkosung waren.

Angelica runzelte die Stirn. „Was soll ich entschuldigen?“

„Das.“

Mit einer Hand hielt er ihr den Mund zu, während er ihr den anderen Arm um den Leib schlang, sie hochhob und an sich presste und die Stufen hinab in den Garten eilte.

Vor Schreck wie gelähmt, ließ sie sich in die Schwärze schleppen, die unter den Bäumen herrschte.

Dort begann sie sich jäh zu wehren.

Sie schrie unter seiner Hand, wand sich und zappelte in seinen Armen. Aber sein Leib war so hart wie Fels, und der Arm, mit dem er sie an sich gedrückt hielt, war so unnachgiebig wie Eisen. Als sie erkannte, wie sinnlos ihre Bemühungen waren, erschlaffte sie abrupt und sackte in seiner Umklammerung zusammen.

Auf einer kleinen Lichtung am Weg blieb er stehen. Dichtes Buschwerk schirmte die Stelle vom Haus ab. Er ließ sie an sich hinabgleiten, bis ihre Füße den Kies berührten. Sie stellte sich nach wie vor besinnungslos, auf den richtigen Augenblick wartend.

Plötzlich ließ er sie los, nahm ruckartig die Hand von ihrem Gesicht und wirbelte sie zugleich herum, sodass sie ins Taumeln geriet. Sie ruderte wild mit den Armen und rang schwankend um Gleichgewicht. Sie versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen – wo war er? Kaum hatte sie sich gefangen, straffte sie die Schultern, holte tief Luft, um zu schreien …

Ein seidenes Taschentuch wurde ihr über den Kopf gestreift, über den Mund gelegt und straff gezogen. Es dämpfte ihren Schrei. Sie spürte, wie der Stoff an ihrem Hinterkopf verknotet wurde. Sie riss sich los, fuhr herum und hob dabei die Hände, um den Knebel zu entfernen.

Debenham hatte sich mit ihr bewegt. Von hinten packte er sie bei den Händen, spreizte ihr die Arme, zerrte diese nach hinten und umfasste ihre Handgelenke mit einer Hand, sodass ihre Arme durchgestreckt nach unten wiesen. Ganz nah rückte er an sie heran, doch als sie sich zu Boden fallen lassen wollte, schloss er die freie Hand um ihren Oberarm. „Tun Sie das nicht – Sie würden sich nur die Arme ausrenken.“

Sie atmete tief durch, wollte sich aufs Neue widersetzen.

„Beruhigen Sie sich. Allem Anschein zum Trotz will ich Ihnen nichts Böses.“

Daraufhin ließ sie eine Schimpftirade auf ihn niedergehen, die durch den Knebel erstickt wurde. Wütend wand sie sich, zerrte, versuchte sich zu befreien, aber vergebens. Sie wollte ihn treten, aber er war ihr zu nah, und ohnehin trug sie nur Ballschuhe. Sie konnte ihm nicht einmal den Hinterkopf ins Gesicht rammen, weil er zu groß war.

Während sie sich abmühte, stand er unverrückbar wie ein Fels da und hielt ihre Handgelenke unnachgiebig umklammert.

Als ihr Atem stoßweise ging, ihre Armmuskeln zu schmerzen begannen und ihr Haar sich löste und Gesicht und Hals umwogte, gab sie auf.

Er neigte den Kopf; seine Stimme drang von schräg oben durch die Dunkelheit an ihr Ohr. „Ich wiederhole – ich werde Ihnen nichts tun. Ich werde Ihnen alles erklären, aber nicht hier und jetzt. Seien Sie versichert, dass ich Sie für meine Zwecke gesund und munter brauche – ich bin der letzte Mensch auf Erden, der Ihnen etwas zuleide tun oder zulassen würde, dass jemand anderes Ihnen schadet.“

Er sollte doch ihr Held sein! Sie atmete tief durch und spürte, wie ihr Busen dramatisch wogte. Ein Teil von ihr – der zornige Teil, der sich verraten fühlte und diesen Kerl liebend gern getötet oder ihm zumindest die Augen ausgekratzt hätte – war nicht bereit, ihm auch nur ein Wort zu glauben. Ihre pragmatische, praktisch veranlagte Seite hingegen lauschte seinem Tonfall statt seinen Worten, und sie beschloss, ihn zumindest ausreden zu lassen.

Er klang glaubwürdig.

Als sie abwartend innehielt, fuhr er in demselben entschiedenen, eine Spur herrischen Ton fort: „Wir müssen uns ausführlicher unterhalten. Ich werde Sie aus dem Garten tragen und in meine Kutsche setzen. Nein, auch dort werde ich Sie nicht loslassen – wir werden zu meinem Haus fahren. Dort können wir reden.“

„We-en fie mih anah gehn affen?“

Er schwieg, bevor er nachhakte: „Ob ich Sie danach gehen lasse?“

Sie nickte.

Er zögerte. „Das hängt von Ihnen ab.“

Sie versuchte, über die Schulter hinauf zu seinem Gesicht zu spähen, und funkelte ihn wütend an. „Waf foh daff?“

„Sie werden früh genug alles erfahren.“ Er nickte nachdrücklich, und sie fühlte, wie ihr das Schultertuch aus den Ellbogenbeugen gezogen wurde.

Gleich darauf wurde ihr der weiche Stoff ihres Tuchs um die Handgelenke geschlungen. Der Halunke fesselte sie mit ihrem eigenen Schultertuch! Und sie konnte nicht verhindern, dass er es so fest wie möglich zurrte.

Einen Aufschrei unterdrückend, mühte sie sich erneut, sich ihm zu entwinden, bis ihr aufging, dass die Finger seiner einen Hand gefährlich nah an ihrem Busen waren und die seiner anderen ihr durch die Seide des Kleides hindurch den Oberschenkel zu versengen schienen. Besser, seine Hände verrutschten nicht. Also fügte sie sich und verfiel in empörtes Schweigen. Dabei versuchte sie, sich so weit zu sammeln, dass sie denken konnte.

Der Pfad führte über eine weitere kleine Lichtung. Im schwachen Licht sah sie, dass Debenham sie betrachtete.

Aus schmalen Augen fixierte sie ihn und hoffte, dass er ihre sengende Wut spürte.

Falls dem so war, ließ er sich nichts anmerken. „Meine Kutsche wartet in der Gasse.“ Den Blick nun nach vorn gerichtet, duckte er sich unter einem niedrigen Ast hindurch. So schwer sie es ihm auch machte, sie zu tragen, hätte sie ebenso gut ein kleines Kind sein können. „Nur damit wir uns recht verstehen: Ich hatte nicht die Absicht, Sie heute Abend zu entführen – ich habe Sie auf der Soiree lediglich beobachten wollen.“ Wieder schaute er auf sie herab. „Aber Sie haben mir so wunderbar den Weg geebnet – was hätte ich da tun sollen? Die Lage nicht ausnutzen, um Sie ziehen zu lassen und zu beten, dass sich irgendwann eine andere Gelegenheit ergibt?“

Jetzt war es also ihre Schuld, dass er sie entführt hatte?

Er trat unter den Bäumen hervor, und fahles Mondlicht erhellte sein Gesicht.

Wütend presste sie durch den Knebel hervor: „Afüh. We-en. Fie. Efahlen.“

Abermals sah er auf sie herunter, musterte ihre Miene, hob eine Braue und schaute wieder nach vorn. „Ja, ich denke, das werde ich.“

Der Pfad endete an einem Holztor, das in die hohe Steinmauer eingelassen war, die den Garten umgab. Debenham verlagerte Angelicas Gewicht so, dass er das Tor entriegeln und öffnen konnte, und trug sie auf die Gasse, die neben dem Haus verlief.

Dort wartete eine Kutsche. Auf dem Bock entdeckte Angelica einen Kutscher sowie einen Reitknecht, der heruntersprang und den ihnen zugewandten Schlag öffnete.

Sie war gefesselt und geknebelt und in Gesellschaft dreier großer, kräftiger Männer. Daher versuchte sie gar nicht erst, Widerstand zu leisten, als Debenham, der Unhold, sie in die Kutsche hievte. Er ließ sie hinunter, sprach kurz mit dem Reitknecht und stieg ebenfalls ein – wodurch Angelica schon allein aus Platzmangel nichts hätte unternehmen können.

Debenham legte ihr eine seiner Pranken auf die Schulter und drückte sie auf die Lederbank nieder. Sie schnüffelte. Die Kutsche roch muffig. Ob sie gemietet war? Flüchtig blickte sie zu Debenham hinüber, der ihr gegenübersaß. Seine Beine waren so lang, dass seine Knie die ihren umrahmten.

Er beugte sich vor, packte ihre Füße und zog sie hoch, wodurch sie mit dem Rücken gegen das Polster geschmettert wurde. Ihren erbosten Aufschrei ignorierend, fesselte er ihr die Fußgelenke mit … dem Halstuch seines Reitknechts?

„Mmhhm!“ Sie wollte nach ihm treten, aber erfolglos.

„Moment.“ Nachdem er ihr die Röcke glatt gestrichen hatte, stellte er ihre Füße sanft auf dem Boden ab. „Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen die Hände vor dem Bauch zusammenbinden. Sonst dürfte die Strecke bis zu meinem Haus recht unbehaglich für Sie werden.“

Aufgebracht starrte sie ihn an, doch wie zuvor hatte dies nicht die geringste Wirkung auf ihn. Noch immer mühte sie sich, der Sache Sinn abzuringen, so als hinkte ihr Verstand dem Geschehen hinterher. Ihr war schleierhaft, was Debenham vorhaben mochte; schließlich sollte er doch ihr Held sein.

Als er sich erhob, auf sie niederblickte und dabei ein knurrendes Brummen von sich gab, das ihr höllische Strafen in Aussicht stellte, drehte sie sich um und streckte ihm ihre gefesselten Hände entgegen.

Er beugte sich über sie. Angelica wartete auf eine Chance, zu entkommen, aber während er ihr die Handgelenke losband, räumte er ihr keine Gelegenheit ein, ihm eine Hand zu entwinden und den Knebel fortzureißen. Seine Arme waren so lang, dass er bequem um sie herumgreifen konnte. Er ergriff ihre Hände, zog diese nach vorn und band sie erneut und umso gewissenhafter zusammen, wobei er ihre Finger mit dem Schal umwickelte.

Puh! Wie, zum Teufel, sollte sie sich nur befreien?

Vorausgesetzt, sie wollte sich befreien.

Dieser verquere Gedanke schoss ihr mit solch beunruhigender Intensität durch den Kopf, dass sie kurz abgelenkt war.

Lange genug, um dem Schurken Zeit zu lassen, eine Kutscherdecke von der Ablage über ihr zu nehmen, auszuschütteln und ihr fürsorglich um die Schultern zu legen … um sie jäh bei den Knien zu schnappen, diese hochzuziehen und sie herumzuschwenken, sodass Angelica auf der Bank zu liegen kam.

Sie schrie und wehrte sich vergeblich dagegen, dass er sie unbarmherzig in die Decke einwickelte und auf die Seite drehte, sodass sie wie ein Bündel dalag, die Arme an den Körper gepresst, die Beine lang ausgestreckt. „Waf un fie ah?“ Es war eine entwürdigende, vollkommen hilflose Position. Sie sah zu ihm auf und erdolchte ihn förmlich mit ihren Blicken.

Er ragte über ihr auf, wobei er sich vornüberbeugen musste, weil er zu groß war, um in der Kutsche aufrecht stehen zu können. Einen Moment lang schaute er auf sie herab, ehe er mit ruhiger – tiefer, sündig sinnlicher – Stimme raunte: „Sofern Ihnen etwas an heilen Knochen liegt, bleiben Sie, wo Sie sind. Sobald die Kutsche sich in Bewegung setzt, was gleich der Fall sein wird, würden Sie nur von der Bank purzeln, sollten Sie versuchen, sich zu befreien. Ich schicke Sie zu den Stallungen hinter meinem Haus – es ist nicht weit. Ich werde dort zu Ihnen stoßen, sobald es mir möglich ist.“

Er wollte sie allein lassen? „Wo wohhen fie hin?“

„Zurück zur Soiree. Ich werde diese verlassen, sobald Ihre Abwesenheit bemerkt wurde und genügend Leute gesehen haben, dass ich noch dort bin.“ Ein letztes Mal bedachte er sie mit einem eindringlichen Blick, ehe er sich abwandte. „Vertrauen Sie mir“, meinte er. „Ihnen wird nichts geschehen.“

Er stieg aus der Kutsche und schloss den Schlag. Angestrengt lauschte Angelica, als er mit dem Kutscher redete. Welche Anweisungen er gab, verstand sie nicht – seine verflixte Stimme war zu tief und samtig –, aber sie hörte die Erwiderung des Kutschers.

Air, M’lor’.“

Sie erstarrte. Aye, Mylord. Nur dass die Worte ganz anders betont worden waren.

Der Kutscher war Schotte. Und er stammte nicht etwa aus einer zivilisierten Ecke wie Edinburgh, sondern aus den wilden Weiten der schottischen Provinz.

War das Zufall?

Primitive Furcht ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen.

Die Kutsche ruckte und rollte behäbig an. Angelicas Gedanken überschlugen sich. Vage nahm sie wahr, dass sie aus der schmalen Gasse auf eine breitere Straße bogen.

Schwarzes Haar, hochgewachsen, adelig. Ein Gesicht wie gemeißelter Granit und Augen wie Eis.

Doch das war unmöglich. Der Laird war tot. Er war von einer Felswand in den Tod gestürzt. Seine Leiche hatten sie bislang nicht aufspüren können, aber …

Und Debenham war im ton wohlbekannt. Er war kein Schotte … Allerdings kannte sie mehrere Schotten, die perfektes, akzentfreies Englisch sprachen.

Alle Welt wusste, dass Debenham ein versehrtes Knie hatte. Dass der Laird an einem Stock ging, hatte niemand bislang berichtet … Aber Debenham hatte seinen Gehstock auf der Terrasse zurückgelassen, und ihres Wissens hatte er keineswegs gehumpelt, als er sie gepackt und zur Kutsche geschleppt hatte.

Und seine Augen … Als kalt hätte Angelica sie nicht bezeichnet, aber sie konnte sich vorstellen, dass er durchaus eisig dreinblicken mochte, wenn ihm danach war …

Stockend holte sie Luft. Sie konnte das Ergebnis ihrer Schlussfolgerungen kaum glauben.

Sie war entführt worden, vermutlich vom Laird.

Ganz gewiss jedoch von ihrem Helden.

2. KAPITEL

Schaukelnd ratterte die Kutsche übers Kopfsteinpflaster. Angelica lag auf der Bank und versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war. Was soeben geschah.

Sie atmete tief ein, hielt die Luft an und begann, sich zu winden und wütend gegen die Decke anzukämpfen, die sie gefangen hielt.

Diese gab kein bisschen nach. Ihr teuflischer Häscher hatte die Enden sorgsam festgesteckt. Die Kutsche bog rumpelnd ab, und beinahe wäre Debenhams Vorhersage eingetroffen. Angelica warf sich gegen das Rückenpolster und verhinderte so knapp, dass sie von der Bank fiel.

Sie ließ jeden Gedanken an eine unmittelbare Flucht fahren, stieß den Atem aus, lag still und versuchte nachzudenken. Versuchte, die Situation zu klären, um zu entscheiden, wie sie vorgehen sollte.

Sie war von einem Mann entführt worden, der eine auffallende Ähnlichkeit mit dem vermeintlich toten Laird aufwies, jenem mysteriösen Adeligen, der hinter der Entführung ihrer beiden älteren Schwestern gesteckt hatte. Heather war als Erste verschleppt worden, und mehrere Wochen nach ihrer Flucht hatte es Eliza auf St. Ives House erwischt. Angelica versuchte sich auszumalen, was die beiden empfunden haben mochten, als sie erkannt hatten, dass sie gefangen worden waren. Schreck, Entsetzen, Angst – oder eine Mischung aus alledem?

Als sie in sich hineinfühlte, um herauszufinden, was sie angesichts dieser Erkenntnis empfand, stieß sie lediglich auf diverse Abstufungen von Wut, einige davon gegen sich selbst gerichtet. Auch einige Nuancen von Bestürzung und Fassungslosigkeit waren enthalten, und unter dieser Melange erspürte sie das aufkeimende Gefühl, hintergangen worden zu sein. Debenham war ihr Held, und dennoch hatte er sie geraubt und wie ein Paket verschnürt. Der bloße Gedanke ließ Zorn in ihr hochkochen. Falls er tatsächlich der von den Toten auferstandene Laird wäre, würde er, wie sie ihm versprochen hatte, dafür bezahlen.

Abermals bog die Kutsche in gemächlichem Tempo ab, woraufhin das Licht der Straßenlaternen versiegte. Dunkelheit umschloss Angelica. Sie warf den Kopf zurück, schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht und spähte aus dem Fenster der näheren der beiden Kutschentüren. Das Gefährt wurde langsamer und kam, in der Federung schaukelnd, zum Stehen. Als Angelicas Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, sah sie schemenhaft eine verwitterte Steinmauer.

Debenham hatte behauptet, sein Haus befinde sich in der Nähe; in Anbetracht der sehr kurzen Fahrt hatte er offenbar die Wahrheit gesagt. Sein Domizil liege in der Nähe von Cavendish House, hatte er gesagt, und von diesem war es nicht weit bis zur Dover Street. Sie war wenige Minuten von ihrem Zuhause entfernt.

Kutscher und Reitknecht blieben auf dem Kutschbock sitzen und unterhielten sich leise. Angelica horchte, verstand jedoch nicht, was sie sagten.

Laut Debenham sollte die Kutsche sie zu den Stallungen hinter seinem Haus bringen, wo er sie abholen würde, sobald ihre Abwesenheit auf der Soiree bemerkt worden war.

Sie war gemeinsam mit ihrer Mutter Celia, ihrer Tante Louise und ihrer Cousine Henrietta auf Cavendish House erschienen. Angesichts des Gedränges im Salon und des üblichen Ablaufs einer solchen Veranstaltung würden ihre Begleiterinnen sie erst vermissen, wenn sie aufbrächen; früher würden sie nicht nach ihr suchen.

Das bedeutete, dass ihr mindestens eine Stunde Zeit blieb, um zu entscheiden, welche Haltung sie Debenham gegenüber einnehmen sollte, wenn er zurückkehrte.

Sollte sie verängstigt tun?

Egal, wie tief sie grub, auf Furcht stieß sie nicht. Nicht einmal in jenen Minuten, als er und sie unter den Bäumen miteinander gerungen hatten, war sie verängstigt gewesen. Konsterniert und stinkwütend, ja; verschüchtert, nein. Kein einziges Mal hatte ihr Bauchgefühl, auf das bis heute Verlass in puncto aufdringliches Mannsvolk gewesen war, Debenham als Bedrohung wahrgenommen. Sie meinte zu spüren, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, aber eine Gefahr ging nicht von ihm aus.

Sie dachte an jenen Moment zurück, da sie ihn zum ersten Mal gesehen und er sie abschätzend gemustert hatte … Innerlich wand sie sich, peinlich berührt. Sie hatte sein Interesse an ihr als ein persönliches gedeutet; dabei hatte er sie lediglich wie eine Beute beobachtet.

Autsch. Das Blut schoss ihr bei dem Gedanken heiß in die Wangen, und sie schnitt trotz des Knebels eine Grimasse. Wie beschämend.

Nun verstand sie auch, weshalb ihm ihr dreistes Gebaren derart missfallen hatte. Er hatte in ihr ein kapriziöses, hohlköpfiges, verzogenes Fräulein gesehen, das ein unbegreiflich törichtes Risiko eingegangen war. Sie hatte sich ihm buchstäblich in die Arme geworfen und ihn eingeladen, mit ihr durchzubrennen.

Was nicht heißt, dass er dies unbedingt hätte tun müssen.

Aber das hatte er, und das bedeutete, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie hatte sich nur deshalb so tollkühn verhalten, weil sie felsenfest überzeugt davon gewesen war, dass es sich bei ihm um ihren Helden handelte. Aber er konnte nicht zugleich ihr Held und ihr Entführer sein. Das ist unmöglich. Ich weigere mich zu akzeptieren, dass ich mich in einen Entführer verlieben soll. Nein. Einer von ihnen war einem Irrtum erlegen – entweder er oder sie.

Überlege zunächst, ob du Angst empfinden solltest. Im Geiste ging sie durch, was er gesagt hatte, und verglich es mit dem, was sie über Heathers und Elizas Entführung erfahren hatte. In beiden Fällen hatte der Laird seine Handlanger angewiesen, die Gefangene mit Samthandschuhen anzufassen.

Debenham hatte ihr mehrmals versichert, dass er keineswegs beabsichtige, ihr Schaden zuzufügen. Sie schloss die Augen, erinnerte sich an den genauen Wortlaut und rief sich möglichst genau seinen Tonfall ins Gedächtnis. Er war vollkommen aufrichtig gewesen. Mehr noch – obwohl er sie skrupellos überwältigt, gefesselt, verschleppt und in seine Kutsche gepfercht hatte, bezweifelte sie, dass sie sich auch nur eine Schramme zugezogen hatte. Selbst jetzt hatte sie keine Schmerzen, ja hatte es nicht einmal übermäßig unbequem, wenngleich ihre Lage weit entfernt von behaglich war.

Zumindest körperlich litt sie nicht. Innerlich … war sie außer sich, was nicht oft vorkam, wenn überhaupt je.

Sie war wütend, verwirrt und neugierig. Während Ersteres und Letzteres als ihre Gewohnheitslaster galten, war Verwirrung etwas, das ihr gemeinhin fremd war. Verwirrung hatte keinen Platz in ihrer Welt, einer Welt, in der sie das Sagen hatte und die sie beherrschte. Verwirrung bedeutete einen Mangel an Wissen, und dabei war Wissen ihre Stärke – sie wusste, was sie wollte, was sie empfand und wie ihr Leben beschaffen zu sein hatte.

Ihre Verwirrung war allein Debenham anzulasten.

Er konnte nicht ihr Held sein. Sie versuchte, sich einzureden, dass ihr Bauchgefühl sich getäuscht haben musste, dass das Amulett der Lady versagt hatte. Dass die Zeichen verzerrt oder verfälscht worden waren. Er hatte sie in keiner Weise ermutigt, musste sie sich eingestehen – vorhin mochte sie das zwar geglaubt haben, aber er hatte ihr nur etwas vorgemacht …

Die Minuten verstrichen, während sie im Dunkeln lag und mit sich rang.

Als sie sich schließlich geschlagen gab, hatte sie jedes Zeitgefühl verloren.

Ihr Vertrauen in ihre Intuition, in die Lady und deren Talisman blieben ungebrochen. Es bestand keinerlei Zweifel an dem, was ihr klar gewesen war, als sie Debenham hatte vorgestellt werden wollen. Nichts von dem, was seither geschehen war, hatte an diesem Wissen oder an der daraus erwachsenen unerschütterlichen Überzeugung etwas geändert.

Er war ihr Held.

Das bedeutete, dass alles andere ein Irrtum sein musste.

Also schön. Trotz Knebel legte sich ein entschlossener Zug um ihren Mund, und sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Ich werde warten, bis ich weiß, was es mit alledem auf sich hat, und dann werde ich es richtigstellen. Die Situation verändern, ihn verändern. Ihn von Grund auf wandeln, wenn nötig. Was immer ich tun muss, er wird mein Held sein.

Stets hatte sie gehofft, dass die Suche nach ihrem Helden sich als Abenteuer erweisen würde. Wie es aussah, ging dieser Wunsch in Erfüllung.

Gut. Sie stieß den Atem aus. Ich werde keine Angst haben, nicht solange ich keinen Anlass habe. Ich werde in Erfahrung bringen, was hier vor sich geht, und entsprechend handeln. Da die Lady und ich uns nicht irren, muss es einen Weg geben. Ihn zu finden liegt eindeutig bei mir und ist zu meinem eigenen Besten.

Debenham hatte versprochen, alles zu erklären. Sobald das geschehen wäre, würde sie die Dinge in die Hand nehmen.

Sie bereitete sich aufs Warten vor. Und wartete.

Und wartete.

Wo, zum Teufel, steckt er?

Sie war so weit, dass sie wüste Verwünschungen vor sich hin murmelte, als Kutscher und Reitknecht abrupt verstummten. Die Kutsche schaukelte, als einer der beiden heruntersprang. Auch Angelica hielt den Mund und lauschte, doch dass Debenham aufgetaucht war, stellte sie erst fest, als er den Kutschenschlag öffnete. Für einen Mann seiner Größe bewegte er sich erstaunlich lautlos.

Sie bedachte seine dunkle Silhouette, welche fast die ganze Öffnung ausfüllte, mit einem vernichtenden Blick. „Gaf hag geauerg.“

Kurz sah er sie an, bevor er in die Kutsche stieg. „Die Sache hat länger als gehofft gedauert. Ihre Angehörigen sind erst gegen Ende der Soiree aufgebrochen, und als ich gerade gehen wollte, wurde ich durch einen Freund aufgehalten.“ Er schob ihr eine seiner großen Hände und dann den Arm unter den Körper und hob sie hoch.

Noch immer wie eine Mumie eingewickelt, ließ sie sich stumm und reglos aus der Kutsche tragen.

Draußen legte er sie sich über die Schulter.

„Mmpf!“ Sie sträubte sich erbittert, wobei sie entrüstet an seinem langen Rücken hinabstarrte.

Mit einem Arm presste er sich ihre Beine an die Brust. „Einen Augenblick noch. Ich werde Sie ins Haus bringen und dort losbinden.“

Diesen Ton kannte sie. Seine Stimme war noch tiefer als zuvor, aber er hätte ebenso gut einer ihrer Brüder sein können. Die klangen genauso schicksalsergeben, wenn sie mit einer Frau sprachen, die sie beschützen zu müssen glaubten.

Schicksalsergeben?

Wieder kochte Zorn in ihr hoch.

Eine Ecke der Decke war ihr über den Hinterkopf gerutscht, und sie konnte zu beiden Seiten daran vorbeilugen. Als Debenham sich in Bewegung setzte, erspähte sie Kutscher und Reitknecht, bloße Schatten in der Finsternis.

Debenham duckte sich und trug sie durch ein Tor in einer hohen Mauer. Dahinter lag etwas, das wie ein großflächiger Garten hinter einem Haus anmutete. Sie schaute sich um, in der Hoffnung, zumindest eine Ahnung davon zu erhalten, in welcher Gegend sich sein Haus befand. Was sie sah, lieferte ihr keine unmittelbare Antwort, aber sie entdeckte einen Gemüsegarten, einen kleinen Obstgarten, diverse Nebengebäude, einen gepflasterten Hof vor der Hintertür sowie zu beiden Seiten ansteigende Rasenflächen und Büsche. Daher musste es sich um eine jener alten Villen handeln, wie man sie in einigen der vornehmsten Straßen Londons fand.

Die flüchtigen Blicke, die sie auf das Haus erhaschen konnte, bestätigten dies. Die Fenster waren mit altem Steinschnitzwerk verziert, und das Gebäude selbst ragte mehr als drei Stockwerke hoch über dem Garten auf und hob sich mit seinen gewaltigen Ausmaßen gegen den Nachthimmel ab.

Angelica befand sich nach wie vor im Herzen des ton.

Sowohl Heather als auch Eliza waren direkt aus London fortgebracht worden, aber keine von ihnen war von dem rätselhaften Laird höchstselbst entführt worden. Angelica war sich immer sicherer, dass die breite Schulter, auf der sie lag, diesem phantomhaften Adeligen gehörte.

Sie konnte es kaum erwarten, den Knebel loszuwerden.

Er brachte sie durch die Hintertür ins Haus. Der große Raum dahinter war warm, behaglich und hell erleuchtet. Stuhlbeine schabten über den Boden. Kaum war Debenham ins Licht getreten, wurden Ausrufe aus mehreren Kehlen laut.

„Gütiger Himmel! Ist sie das?“ Eine Frau mit schottischem Akzent.

„Ich dachte, Sie wollten heute Abend nur einen Blick auf sie werfen?“ Ein älterer Mann, ebenfalls Schotte.

„Die Räumlichkeiten der Countess sind hergerichtet, Mylord.“ Ein sehr viel kultivierteres Individuum und keineswegs schottisch, glaubte Angelica. „Die Kandelaber sind angezündet – ich dachte mir, dass Sie die neue Einrichtung vielleicht zu begutachten wünschen.“

„Gut. Miss Cynster und ich werden uns oben unterhalten.“ Ihr Häscher überreichte irgendwem etwas – seinen Stock? – und schritt weiter.

Die drei, vermutlich Bedienstete, rückten kurz in Angelicas Blickfeld – ein adrett gekleidetes Zimmermädchen, ein älterer Mann im Aufzug eines Butlers sowie ein recht kurz geratener, rundlicher Mann, der wie ein Kammerdiener aussah und den Gehstock in der Hand hielt. Alle drei wirkten erfreut, ja regelrecht glücklich darüber, dass ihr Dienstherr von seiner abendlichen Vergnügung mit einer entführten, wie ein Paket verschnürten Dame über der Schulter zurückkehrte.

Debenham duckte sich durch eine weitere Tür und durchmaß den dahinter befindlichen Korridor. Als sie die Gesinderäume hinter sich ließen, runzelte Angelica die Stirn. Was, zum Teufel, ging hier vor? Er hatte sie entführt, und sein Personal fand dies ganz wunderbar?

Sollte sie einen Fluchtversuch unternehmen, brauchte sie eindeutig nicht auf die Unterstützung der Dienerschaft zu zählen.

Debenham stieß eine Schwingtür auf und betrat ein großes Vestibül. Mit teurer Wandvertäfelung war ebenso wenig gegeizt worden wie mit eindrucksvollen jakobinischen Türen, Bögen und Bleiglasfenstern. Doch alles war von Staub und Spinnweben überzogen, was darauf schließen ließ, dass das Haus jahrelang nicht bewohnt worden war. Am Fuße der ausladenden Treppe schwenkte Debenham herum und nahm die Stufen nach oben. Die zusätzliche Last, die Angelica darstellte und die er wie einen zusammengerollten Teppich geschultert hatte, schien er gar nicht wahrzunehmen.

Er erreichte einen breiten Treppenabsatz, wandte sich nach links und stieg eine weitere Treppe hinauf. Das Geländer bestand aus dunklem, mit Schnitzwerk reich geschmücktem Holz. Alles, was sie erblickte – der Tisch auf dem Treppenabsatz, der kunstvoll verzierte Leuchter daneben –, war von erlesener Qualität, aber altmodisch. Längst überholt.

Im ersten Stock folgte ihr Häscher einer Galerie bis zu einer Tür. Er öffnete sie und trat hindurch. Als er sich umdrehte, um sie zu schließen, konnte Angelica sich rasch im Raum umschauen. Sie fand bestätigt, was sie anhand ihrer bisherigen Beobachtungen vermutet hatte. Die Eleganz und kostspielige Opulenz des Zimmers vertrieben jeden Zweifel daran, dass Debenham nicht nur von Stand, sondern zudem vermögend war.

Das Licht zweier silberner Kandelaber gab preis, dass es sich bei dem großen Zimmer um einen Damensalon handelte. Vor einem geschmackvoll dekorierten Marmorkamin stand eine aparte Chaiselongue, die mit gold- und elfenbeinfarbener Seide bezogen war. Der enorme goldgerahmte Spiegel über dem Kaminsims reflektierte die elfenbeinweiße, mit kleinen goldenen Lilien bedruckte Seidentapete. Vor einem Fenster standen ein Mahagonischreibtisch und ein schön gearbeiteter Stuhl mit gerader Rückenlehne. Ein riesiger orientalischer Teppich in Gold, Brauntönen und Cremeweiß bedeckte den gewienerten Boden.

Neben dem Kamin stand eine Tür offen und gewährte Einblick in das Zimmer dahinter, in dem ein massiges Himmelbett stand. Angelica rief sich die Worte des Butlers ins Gedächtnis. Dies waren die Räumlichkeiten einer Countess. Das bedeutete vermutlich, dass es eine solche gab oder gegeben hatte und sich das Haus höchstwahrscheinlich im Besitz eines Earls befand.

Zwei wuchtige Sessel mit goldfarbenem Samtbezug flankierten den Kamin. Debenham schritt zu dem, der weiter von der Tür entfernt war, beugte sich vor, hob Angelica von der Schulter und setzte sie in den Sessel.

Sie schüttelte sich die Decke aus dem Gesicht und starrte ihn wütend an, ohne sich um ihre Haare zu scheren, die ihr offen ins Gesicht fielen.

Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Ja, ich weiß. Ich bitte Sie in aller Form um Verzeihung für die Methoden, derer ich mich bediene. Aber üben Sie Nachsicht mit mir.“

Sie habe keine Wahl, vermittelte sie ihm giftig mit dem Blick.

Er zögerte, ehe er bedächtig, behutsam die seidigen Strähnen zurückstrich, die ihr über Augen und Wangen gefallen waren. Sie spürte seine Fingerspitzen federleicht über Stirn und Wangen gleiten und rang einen wohligen Schauer nieder.

Die Lippen noch verbissener aufeinandergepresst, griff er um sie herum, löste die Decke und machte sich daran, Angelica auszuwickeln. Damit er das konnte, veränderte sie entsprechend die Position, und so gelang es ihnen gemeinsam, sie von der Decke zu befreien. Nachdem er diese fortgezogen hatte, warf er sie hinter den Sessel.

Kerzengerade, den Blick nach vorn gerichtet, die gefesselten Hände im Schoß, wartete Angelica darauf, dass er den Knebel entfernte, der sich über ihren Lippen spannte.

Debenham stand zwischen ihr und dem Kamin und betrachtete sie. Schließlich schaute sie zu ihm hoch und sandte ihm aus schmalen Augen einen Blick, in dem eine unmissverständliche Warnung lag.

Gelassen wie stets musterte er ihr Gesicht. „Dies ist ein frei stehendes, immens großes Haus. Wenn Sie schreien, hört Sie niemand außer mir und meinem Personal. Aber ich wiederhole: Ich habe nicht die Absicht, Ihnen etwas anzutun, in keiner Weise. Ich habe Sie hergebracht, weil ich mit Ihnen reden muss. Unter vier Augen und ausführlich. Ich muss Ihnen erklären, was es mit dem Ganzen auf sich hat.“ Er schaute ihr in die Augen. „Und warum ich Ihre Hilfe brauche.“

Der letzte Satz änderte alles. Er verlagerte die Macht von ihm zu ihr. Sechs Worte nur hatten den Entführer zum Bittsteller werden lassen. Forschend sah sie ihn an, um sich zu vergewissern, dass er die Worte bewusst ausgesprochen hatte, dass er keiner von den Männern war, die die Konsequenzen einer solchen Bemerkung nicht einzuschätzen wussten. Wieder wallte Neugier in ihr auf, neben Regungen, die weit intensiver waren. Er wartete auf ein Zeichen von ihr. Sie blickte ihm geradewegs in die Augen, deutete ein Nicken an und signalisierte damit ihre Bereitschaft, ihm zuzuhören.

Er griff nach dem Knoten am Seidentaschentuch, und einen Moment darauf war es fort. Sie wollte etwas sagen, nur um festzustellen, dass Lippen und Mund staubtrocken waren.

„Warten Sie.“ Er stopfte sich das Taschentuch in die Tasche und löste den Knoten des Schultertuchs, mit dem er ihr die Hände gefesselt hatte. Während sie sich davon befreite, ging er zu einem Schrank an der Wand, der wie eine feminine Ausgabe eines Barschranks anmutete, goss ihr ein Glas Wasser ein und brachte es ihr. „Hier.“

Sie legte das Schultertuch über die Sessellehne, umfasste das Glas mit beiden Händen, hob es … und hielt inne. Sie musterte die Flüssigkeit in dem Behältnis aus geschliffenem Kristall und sah zu Debenham.

Ungerührt nahm er ihr das Glas ab, leerte es in einem Schluck bis zur Hälfte und reichte es ihr erneut. „Zufrieden?“

Unwillkürlich zuckte es um ihre Lippen ob seines Tonfalls, aber sie wahrte eine unbewegte Miene. Mit einem hoheitsvollen Nicken ergriff sie das Glas, trank und hätte fast geseufzt.

„Meine Füße.“ Sie streckte ihm ihre gefesselten Fußgelenke entgegen.

Er hockte sich neben sie und machte sich am Knoten zu schaffen.

„Meine Füße“ war nicht das Erste, das sie hatte sagen wollen, doch dass er ihre Fesseln löste, verschaffte ihr eine weitere Minute Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. Wenn er ihre Hilfe benötigte … Ihr war schleierhaft, inwiefern sie ihm helfen konnte, aber sofern wirklich dieses Ansinnen hinter der Entführung steckte, entsprach Debenham womöglich doch ihrem Heldenideal.

Durch ihre Gegenwehr hatte sie den Knoten im Halstuch umso strammer gezogen. Während Debenham sich darauf konzentrierte, ihn zu lockern, studierte sie sein Gesicht, nun näher und besser beleuchtet als zuvor.

Was sie sah, war eine Maske, ein starrer, unbewegter Schutzschild, der nichts verriet, vielmehr alles verbarg. Wer immer Debenham war, er hielt seine Emotionen, sein Selbst, sorgsam verborgen, hielt es hinter dieser verstörend attraktiven Fassade versteckt.

Die Fußfessel fiel ab. Mit einer fließenden Bewegung kam Debenham auf die Beine.

„Haben Sie Dank.“ Sie beschloss, ihn weiterhin höflich, aber von oben herab zu behandeln, weil sie spürte, dass ihn das ärgerte. Wie er sie behandelt hatte, war noch lange nicht vergeben und vergessen.

Das Glas in einer Hand, machte sie es sich in der Behaglichkeit luxuriöser Polster bequem.

Einen Moment lang betrachtete er sie, ehe er zum anderen Sessel schritt, sich darauf niederließ und wie nebenbei eine ungemein mondäne, lässig männliche Pose einnahm.

Angelica trank einen weiteren Schluck und musterte ihn über den Rand des Glases hinweg. Sie war unter hochgewachsenen, eleganten, kräftigen Männern aufgewachsen, doch Debenham stellte sie allesamt in den Schatten. Er war unbestreitbar das prächtigste Mannsbild, das ihr je begegnet war. Das lag nicht nur an seinem Gesicht – das auf spröde Weise schön und von dieser schwarzen Mähne umgeben war, die von verhaltener Wildheit kündete. Auch waren es nicht allein seine kühlen, wie gemeißelt wirkenden Züge, seine faszinierenden Augen oder seine Lippen, die sie derart bannten. Es lag an allem, was ihn ausmachte – an all dem Beschriebenen wie auch an den perfekten Proportionen seines Körpers, seinen langen Beinen, den Beinen eines Reiters, seinen unglaublich breiten Schultern, die zu seiner massigen Brust und den muskulösen Oberarmen passten. Seine Hände waren riesig, seine Finger kräftig und stark, und doch wusste sie, wie zart diese Hände sein konnten. Sie spürte, dass er sich seiner Stärke sehr wohl bewusst war und sie besonnen einsetzte.

Hätte sie die Gestaltung ihres Helden ihrer Fantasie überlassen, so hätte sie ihn nicht eindrucksvoller konzipieren können. Da saß er im Sessel, den Blick auf sie gerichtet, seine Miene undurchdringlich – ein düsterer Adonis mit changierenden Augen, und er gehörte ihr.

Sie konnte ihm ebenso gut gleich klarmachen, wer hier die Hosen anhatte. Also fixierte sie ihn. „Wer genau sind Sie?“, verlangte sie zu wissen.

Unmut blitzte in seinen Augen auf, aber er antwortete ihr. „Dominic Lachlan Guisachan, der achte Earl of Glencrae.“ Als ihre Augen groß wurden, sah er sie forschend an. „Sagt Ihnen der Titel etwas?“

„Nein“, erwiderte sie stirnrunzelnd. „Sollte er das?“

Bedächtig schüttelte er den Kopf. „Ich habe mich nur gefragt, ob Sie ihn schon einmal gehört haben.“

„Und Debenham?“

„Einer meiner niederen Titel.“

Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. „Wieso geben Sie sich als Viscount und nicht als Earl aus?“

„Weil der Earl aus den schottischen Highlands stammt, der Viscount hingegen nicht.“ Er verstummte kurz, ehe er fortfuhr: „Ich hatte angenommen, dass ich mich im Hintergrund würde halten müssen, um Ihnen nachzustellen. Aber als ich vor einer Woche in London ankam, habe ich festgestellt, dass der ton mich nach wie vor für Debenham hält. Mein Vater, der inzwischen verstorben ist, hat sich vor vierzig Jahren aus London zurückgezogen. Die Gesellschaft hat ihn und seinen Titel vergessen; hier im Süden hat man seinen Tod kaum zur Kenntnis genommen. Während meiner Jahre in London war ich Debenham, ein englischer Titel, zu dem ein Anwesen bei Peterborough gehört. Ich habe keinen Anlass gesehen, meine schottische Herkunft oder den Umstand preiszugeben, dass ich eine Grafschaft geerbt habe – ich hatte so schon alle Hände voll damit zu tun, mir die Ehestifterinnen vom Hals zu halten. Vermutlich weil mein Vater in Vergessenheit geraten ist, hat niemand mitbekommen, dass ich den Titel eines Earls geerbt habe. Als Debenham kann ich mich in der Gesellschaft bewegen, und solange ich meine schottischen Standesgenossen meide – Perth, Dumfries, all jene, die mich als Glencrae kennen –, wird mich niemand mit der misslungenen Entführung Ihrer Schwestern in Verbindung bringen.“

Sie starrte ihn an. „Damit eins klar ist – Sie sind tatsächlich der Laird? Dieser schottische Aristokrat, der hinter den leidigen Entführungen steckt?“

„Ja, wie ich zu meiner Schande gestehen muss.“

Er wirkte nicht glücklich darüber. Indem er persönlich in aller Öffentlichkeit Kontakt zu ihr aufgenommen hatte, war er in ihren Augen ein übermäßiges Risiko eingegangen. „Sie meiden also alle schottischen Adeligen … Aber was, wenn einer Sie dennoch erkannt und es erwähnt hat und meiner Familie dies zu Ohren gekommen ist, weil das Leben eben so spielt? Ein schottischer Adeliger von Ihrer Statur, mit Ihrer Augen- und Haarfarbe und in Ihrem Alter – nach genau solch einem Mann sucht meine Familie.“

„Zu meinem Glück treibt sich der Gutteil des schottischen Adels lieber in der Edinburgher Gesellschaft herum. Und diejenigen, die hier weilen, bewegen sich für gewöhnlich nicht in denselben Kreisen wie die Cynsters. Zumal die meisten inzwischen auf ihr Anwesen zurückgekehrt sein dürften, da die Sommerjagden anstehen. Aus diesen Gründen war es relativ ungefährlich für mich, meinerseits hier auf Sie Jagd zu machen.“

„Was ist mit Breckenridge oder mit Eliza und Jeremy? Alle drei haben Sie gesehen, wenn auch aus der Ferne.“

„Als Frischverlobte frequentieren Ihre Schwester Heather und Breckenridge sowie Eliza und Jeremy Carling die Ballsäle derzeit nicht. Somit war es wahrscheinlich, dass ich ihnen nicht begegnen würde, während ich Ihnen nachstelle.“

„Aber jeder in meiner Familie hat gehört, wie Sie aussehen …“ Sie brach ab.

„Ganz recht. Die Attribute groß, kräftig und schwarzhaarig genügen nicht, um Verdacht zu erregen, solange ich ohne schottischen Akzent spreche und als englischer Viscount auftrete.“

„Und der Gehstock?“ Sie besah sich sein linkes Bein. „Ist Ihre Verletzung echt, oder haben Sie sie um Ihrer Tarnung willen erfunden?“

Er seufzte nicht, erweckte jedoch den Anschein, als täte er es innerlich. „Alles, was ich Ihnen heute Abend erzählt habe, ist die reine Wahrheit. Die Verletzung war schwerwiegend und langwierig – während meiner früheren Jahre in London war ich auf den Stock angewiesen. In den vergangenen vier Jahren hatte ich keine Verwendung mehr für ihn, aber kürzlich habe ich mir das Knie geprellt, weshalb ich ihn – zumindest in der Öffentlichkeit – wieder nutze. Es stimmt also, dass ich nicht tanze. Zufällig hat der Gehstock jedermann in der Annahme bestätigt, Debenham sei zurückgekehrt.“ Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Nicht einmal Sie waren misstrauisch. Wann sind Sie auf die Wahrheit gekommen?“

„Als ich den Akzent Ihres Kutschers gehört habe.“ Sie überlegte. „Was mich aufrichtig interessiert: Wieso sind Sie nicht tot?“

Er betrachtete sie abschätzend, ehe er die Stirn runzelte. „Warum sollte irgendwer mich für tot halten?“

„Vermutlich weil Sie von einem sehr hohen Felsen gestürzt sind, als Sie Eliza und Jeremy vor Scrope gerettet haben.“

Der Schatten schwand aus seinem Gesicht. „Ich bin nur etwa zwanzig Fuß tief gefallen, bis auf einen Felsvorsprung. Scrope hat ihn verfehlt. Er ist in den Tod gestürzt, ich nicht.“ Unwillkürlich strich er sich über den linken Oberschenkel. Als er es merkte, hielt er inne. „Der Sturz hat die alte Verletzung wieder aufflammen lassen.“ Er zuckte leicht mit der Schulter. „Aber da es am Fuß der Felsen nur eine Leiche gab …“

„Die Leichen … vielmehr die eine Leiche wurde von Viehtreibern mitgenommen, und diejenigen, die den Viehtreibern auf den Fersen sind, haben diese noch nicht eingeholt. Daher weiß niemand aus dem Umfeld meiner Familie, dass es nur einen und nicht zwei Tote gibt.“

„Ihre Familie hält mich also für tot.“ Wieder schaute er ihr ins Gesicht. „Deshalb hat niemand über Sie gewacht.“

„Tote stellen keine Gefahr dar. Wobei mein Verschwinden meine Familie natürlich erneut in Aufruhr versetzen wird.“ Sie nippte am Wasser und fügte an: „Irgendwann werden die Viehtreiber aufgespürt werden, und meinen Verwandten wird aufgehen, dass Sie quicklebendig sind.“

„Und dann werden sie meinen Kopf wollen.“

„Mindestens. Wenngleich sie noch immer nicht wissen, wer Sie sind.“ Sie ließ einen Moment verstreichen, ehe sie seinen Blick einfing und die Brauen hob. „Weshalb also bin ich hier?“ Sie unterstrich die Frage mit einer ausladenden Geste, die ihn einschloss. „Sie sagten, Sie wollten es mir erklären.“

Durchdringend sah er sie an. Er wirkte, als sammelte er sich. „Ich könnte Ihnen die ganze Geschichte erzählen“, meinte er schließlich, „aber das würde Stunden dauern, und für unsere Zwecke müssen Sie vorläufig lediglich akzeptieren …“

„Nein.“

Er blinzelte. „Wie bitte?“

„Nein.“ Sie reckte das Kinn und hielt seinem Blick stand.

„Nein, ich werde mich nicht mit einer halben Erklärung abspeisen lassen. Oder gar mit noch weniger!“ Sie ließ einen Zeigefinger vorschnellen. „Sie haben mich soeben von einer Soiree verschleppt, um sich ‚unter vier Augen und ausführlich‘ mit mir zu unterhalten. Ich empfehle Ihnen, endlich loszulegen, und lassen Sie ja nichts aus.“

Seine Miene wurde verschlossen. Angelica glaubte, ihn leicht erröten zu sehen, war sich jedoch nicht sicher.

Sie begegnete seinem Blick, um äußere Gelassenheit bemüht angesichts seiner wenig subtilen Aura von Macht – altehrwürdiger, aristokratischer Macht, die sie erneut daran erinnerte, dass er ein Mann von gleichem Stand wie sie war. Ebenso wie seine Vorfahren war er es gewohnt zu herrschen.

„Für eine einundzwanzigjährige Range sind Sie ganz schön aufsässig.“

Sie lächelte zuckersüß. „Darauf können Sie Gift nehmen. Und ich glaube, Sie erwähnten, dass Sie meine Hilfe brauchen.“

Darauf folgte Stille. Sie wusste, dass er sich erstaunlich flink bewegen konnte, wie er auf Lady Cavendishs Terrasse bewiesen hatte. Aber ebenso hatte er mit anderen großen, starken und überaus intelligenten männlichen Individuen ihres Bekanntenkreises gemein, dass er vollkommen reglos verharren konnte und dies oft tat.

Ein kalkulierter Schachzug, von dem sie sich indes nicht irreleiten ließ. Sie durchschaute ihn, würde ihn nicht unterschätzen, sich jedoch auch nicht einschüchtern lassen. Behaglich im Sessel thronend, blickte sie ihm geradewegs in die Augen und brach kühn das Schweigen. „Ich denke, verehrter Earl, dass diese Unterredung um einiges fruchtbarer verlaufen wird, wenn Sie die Geschichte von Anfang an wiedergeben.“

Nach einer Weile atmete er tief durch. „Von Anfang an? Wenn das so ist … Was wissen Sie über das Leben Ihrer Mutter in den Monaten vor ihrer Heirat?“

Sie blinzelte. „Dort beginnt Ihre Geschichte?“

Dominic Guisachan, der achte Earl of Glencrae, musste an sich halten, nickte aber. Er hatte diesem Gespräch nicht entgegengefiebert, und in Anbetracht der Tatsache, dass sich seine Geisel keineswegs – so wie erwartet – als verwöhnte, verzärtelte feine Prinzessin entpuppt hatte, befürchtete er mit jeder Minute stärker, dass das Folgende unschön werden würde. Verwöhnt und verzärtelt mochte Angelica Cynster sein, aber darüber hinaus war sie scharfzüngig, schlagfertig und weit aufgeweckter und gescheiter, als ihm lieb war. Zudem begann er zu argwöhnen, dass sie ein Rückgrat aus geschliffenem Stahl besaß. Sie hatte Nein zu ihm gesagt. Er erinnerte sich nicht daran, wann ihm das letzte Mal jemand dieses Wort entgegengeschleudert hatte … außer seiner Mutter.

Als sie ihn verständnislos ansah und nichts erwiderte, biss er die Zähne zusammen und formulierte die Frage anders. „Was wissen Sie über die Umstände, unter denen Ihre Eltern geheiratet haben?“

Eine Falte bildete sich zwischen ihren perfekt geschwungenen Brauen. „Sie sind durchgebrannt und haben in Gretna Green geheiratet.“ Sie blinzelte. „Haben Sie Heather deshalb dorthin bringen lassen?“

„Ja und nein.“ Er wischte den Punkt beiseite. „Dazu komme ich später. Ich dachte, Sie wollten erfahren, wie alles anfing?“

„Nun, ja.“ Mit einer hochmütigen Geste forderte sie ihn auf weiterzusprechen. „Fahren Sie fort, sonst sitzen wir noch die ganze Nacht hier.“

Das würden sie vermutlich ohnehin tun … „Ist Ihnen bekannt, weshalb Ihre Eltern durchgebrannt sind?“

„Ja. Die Eltern meiner Mutter hatten eine Ehe mit irgendeinem Adeligen arrangiert – irgendeinem alten Earl. Mama aber hatte sich in Papa verliebt. Ihre Eltern zogen einen Earl dem vierten Sohn eines Dukes vor und drängten Mama, Ersteren zu akzeptieren. Daher lief sie mit Papa davon, und sie vermählten sich am Amboss in Gretna Green.“

„Kennen Sie den Namen des Earls, den Ihre Mutter zurückgewiesen hat?“

Die Falte zwischen ihren Brauen tauchte erneut auf. Angelica musterte sein Gesicht. „Vermutlich werden Sie mir gleich erzählen, dass es der Earl of Glencrae war. Ihr Vater?“

Er nickte.

„Und …?“

Ihre Ungeduld fuchste ihn. „Ich glaube, ich erwähnte bereits, dass ich nicht vorhatte, Sie heute Nacht zu entführen. Daher kann ich nicht mit einer bündigen wissenschaftlichen Abhandlung dienen.“ Als sie darauf nichts sagte, sondern ihn nur unverwandt anstarrte, schluckte er seine Gereiztheit hinunter und fing an zu erzählen. „Mortimer Guisachan, der siebte Earl of Glencrae, war Anfang vierzig, als er Celia Hammond begegnete, einer blutjungen englischen Schönheit. Sie war kaum neunzehn und hatte ihn verhext, höchstwahrscheinlich unbeabsichtigt. Mortimer verliebte sich in Celia und wünschte sich nichts sehnlicher, als sie zur Frau zu nehmen. Also sprach er mit ihren Eltern, die sein Ansinnen wohlwollend aufnahmen. Alles sah danach aus, dass Celia und er vor den Altar treten würden – das zumindest dachte Mortimer. Als streng konservativer Mann hatte er nicht persönlich mit Celia geredet, sondern es ihren Eltern überlassen, ihr die frohe Botschaft zu überbringen, wie es zur damaligen Zeit üblich war. Eine Woche darauf erhielt Mortimer von den Hammonds die Nachricht, Celia sei mit Lord Martin Cynster, dem vierten Sohn von St. Ives, durchgebrannt und habe ihn in Gretna Green geheiratet.“

Angelicas Augen wurden groß. Er verstummte, doch sie beschied ihm mit einer Geste, seinen Bericht fortzusetzen.

„Sie müssen wissen, dass Mortimer kein leidenschaftlicher Mann war. Ich behaupte nicht, dass er Celia geliebt hat. Seine Zuneigung war onkelhafter, wenn nicht gar altväterlicher Natur. Als er von ihrer Liebe zu Martin Cynster erfuhr und die beiden nach ihrer Rückkehr in die Hauptstadt sah und erkannte, dass Celia aufrichtig glücklich war, zog er sich zurück – nicht nur aus ihrem Leben, sondern auch aus dem ton und aus London. Er löste seinen Haushalt auf und ließ sich auf seiner Burg in Schottland nieder.“

„In den Highlands?“

Er nickte. „Mortimers Vater stand der Grafschaft lange vor, und dank ihm florierte das Anwesen, und der Clan war sehr wohlhabend. Mortimer kehrte also nach Hause zurück und ließ Celia und Martin in Frieden. Seine Vernarrtheit in Celia schwand indes nicht. Er stellte fest, dass er nicht leben konnte, ohne zu wissen, wie es ihr ging und was sie tat. Da er sich selbst in die Abgeschiedenheit der schottischen Highlands verbannt hatte, verleitete er alte Freunde dazu, ihm über ihre Umtriebe zu schreiben. Binnen weniger Jahre verfügte er über bezahlte Beobachter innerhalb des ton, die ihm regelmäßig – mindestens einmal pro Woche – jedes kleinste Detail aus Celias Leben lieferten. Aus Celias Leben und dem ihrer Kinder, denn Mortimers Obsession weitete sich auf diese aus.“

Als er dieses Mal verstummte, wartete Angelica, den Blick auf sein Gesicht geheftet, einfach ab, bis er von selbst den Faden wieder aufnahm. „Aber Mortimer war das Oberhaupt des Clans und musste heiraten, um die Erbfolge zu sichern. Sein jüngerer Bruder hatte nie das Zeug zum Laird und Earl gehabt, und so nahm Mortimer die Pflichten auf sich, reiste für eine Saison nach Edinburgh und nahm sich eine Frau. Mirabelle Pevensey entstammte einer Familie aus den Lowlands. Sie war von tadelloser Herkunft, aber wenig vermögend und über die Maßen verwöhnt. Allenthalben wurde ihre blendende Schönheit gepriesen. Obwohl Mortimer sehr viel älter war als sie, war auch er noch ein attraktiver Mann. In Edinburgh war seine Obsession für die Frau, die er einst vergöttert hatte, weithin bekannt. Aber Mirabelle betrachtete dies lediglich als Herausforderung, der sie sich stellen wollte, um sich gesellschaftlich einen Namen zu machen. Sie war entschlossen, Mortimer zu erobern und ihn von seiner Fixierung auf jene ferne englische Dame zu befreien, um ihn zu ihrem ergebenen Sklaven zu machen. Also machte sie sich daran, seine Liebe und seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu gewinnen, und weil sie unbestreitbar schön war, war sie sich ihres Erfolgs sicher. Sie heiratete ihn und zog frohgemut zu ihm in die Highlands, in der Erwartung, ihn um den kleinen Finger wickeln zu können, wenn nicht binnen eines Monats, so doch binnen eines Jahres.

Stattdessen stellte sie fest, dass sie sich mit Celia und erst recht deren Kindern nicht messen konnte.“ Er blickte Angelica an. „Mortimer kannte das Leben Ihrer Brüder bis ins Kleinste – er kannte ihre Noten auf Eton, wusste, welche Sportarten ihnen besonders lagen und welchen Interessen sie als Heranwachsende frönten. Er wusste von jeder Krankheit, die sie sich zuzogen. Er vergaß Mirabelles Geburtstag, wenn sie ihn nicht an diesen erinnerte, aber niemals entfiel ihm Celias oder Ruperts oder Alasdairs. Mirabelle nahm an, Mortimer sei vor allem von den Kindern besessen – denn wie hätte er Celia angesichts der bezaubernden und zudem verfügbaren Mirabelle den Vorzug geben können? Daher entschied sie, ihrer Pflicht nachzukommen, und gebar Mortimer einen Sohn.“

Angelica sah ihn geradewegs an. „Sie.“

Wieder nickte er. „Mich. Unglücklicherweise änderte meine Geburt nichts an seiner Besessenheit von Celia und deren Sprösslingen, wenngleich er mir ein gütiger und liebevoller Vater war und mir seine Aufmerksamkeit schenkte, wann immer ich danach verlangte.“ Er schaute auf seine gespreizte Hand hinab, die auf seinem Oberschenkel ruhte. „Ich glaube, meine Geburt war eine schwere. Folglich meinte Mirabelle, ihre Schuldigkeit getan zu haben, nicht nur meinem Vater, sondern auch dem Clan gegenüber. Sie wartete auf den in ihren Augen wohlverdienten Preis, den sie jedoch nicht erhielt. Ich kann bloß mutmaßen, aber ich nehme an, sie glaubte, wenn sie nur lange genug ausharrte, würde Mortimers Zuneigung zu mir wachsen und sich letzten Endes auch auf sie erstrecken.

Also übte sie sich in Geduld und wartete. Mortimer hatte kein Interesse daran, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben – er erlebte das gesellschaftliche Treiben durch Celia und deren Familie. Gleich zu Anfang jedoch hatte er Mirabelle angeboten, das Haus in Edinburgh zu nutzen und das gesellige öffentliche Leben zu genießen. Das hat sie nie in Anspruch genommen, was jeden verwunderte. Erst viel später, als ich als junger Mann nach Edinburgh kam und mich in den dortigen Kreisen bewegte, fand ich heraus, dass sie kurz nach ihrer Hochzeit angefangen hatte, mit ihren Busenfreundinnen zu korrespondieren. Sie hatte ihnen weisgemacht, sie habe Mortimer von seiner Obsession für Celia kuriert und er vergöttere nun sie. In ihren Briefen hatte sie das Dasein geschildert, das sie sich wünschte, und nicht das, welches sie führte. Folglich stand es ihr zwar frei, Edinburgh zu besuchen, aber das konnte sie nicht – nicht solange Mortimer ihr nicht zu Füßen lag. Sie saß in den Highlands fest und wartete und wartete, wobei sie immer verbitterter wurde.

Schließlich ging ihr auf, dass ihre Strategie niemals Früchte tragen würde. Zu diesem Zeitpunkt waren Ihre Schwestern und Sie bereits auf der Welt, und Mortimer war außer sich vor Freude. Ständig redete er über Ihrer aller Eskapaden – war er schon in Celia vernarrt gewesen, so betete er deren Töchter regelrecht an.“

Als er aufschaute, stellte er fest, dass Angelica ihn stirnrunzelnd betrachtete.

„Sie müssen uns gehasst haben – uns alle.“

„Nein, keineswegs.“ Er brach ab, ehe er einsah, dass er sich auch dies von der Seele reden musste. „In Wahrheit war ich herzlich froh darüber, dass mein Vater durch die Cynsters abgelenkt war. So konnte ich nach Belieben umherstreifen, und da ich im Schoße des Clans aufwuchs, hat es mir nie an Gefährten oder Führung gemangelt. Ich hatte Cousins und Onkel, die mir Reiten, Jagen, Fischen und Schießen beigebracht haben – alles, was ein Junge sich nur wünschen kann. Ich hatte sowohl echte Tanten als auch von mir als solche adoptierte, die mich mit Suppe gefüttert und sich um meine Kratzer und Schrammen gekümmert haben. Celia und ihren Kindern habe ich es zu verdanken, dass ich eine sehr viel … buntere, glücklichere Kindheit hatte, als mir ansonsten vergönnt gewesen wäre. Dafür …“, er neigte den Kopf, „… danke ich Ihnen und den Ihrigen.“

„Aber Ihre Mutter …“ Angelica war aufrichtig entsetzt. „Das muss schmerzlich gewesen sein.“

Er hielt ihrem Blick stand. „Mirabelle war keine besonders mütterliche Frau“, erklärte er nach einem Augenblick. „Sie hat in mir nie etwas anderes gesehen als eine Schachfigur in ihrem Spiel, und Kinder spüren so etwas. Schon als kleiner Junge habe ich ihr misstraut, aber Sie müssen mich nicht bemitleiden – ich bin inmitten des Clans groß geworden und hätte nicht behüteter aufwachsen können.“ Er verstummte kurz. „Behütet auf die richtige Weise – ich bin keineswegs verzärtelt worden. Ich war eines von einem Dutzend Kindern, die im Sommer umherstreunten und stets von Dutzenden Erwachsenen im Auge behalten wurden. Darum geht es beim Clanleben, das macht einen Clan aus. Wir sind eine große Familie.“ Er atmete angestrengt aus. „Was mich zum nächsten Kapitel in Mirabelles Geschichte bringt.

Als sie alle Hoffnung aufgeben musste, je meines Vaters Zuneigung zu erlangen, versuchte sie, mich zurückzugewinnen – mich dem Clan mehr oder weniger zu entreißen. Damals war ich zwölf. Sie wollte mich zu ihrer Marionette machen, um nach Mortimers Tod – er war weit älter als sie – den Clan und dessen Finanzen zu kontrollieren. Daher bemühte sie sich, mich wieder unter ihre Fittiche zu holen, nur um zu erkennen, dass ihr das nicht gelingen würde. Mirabelle stammt aus den Lowlands und hat nie begriffen – oder auch nur zu begreifen versucht –, wie ein Clan in den Highlands funktioniert. Als sie mich plötzlich wieder mit Beschlag belegen wollte, schloss der Clan seine Reihen um mich und gab mich nicht preis. Niemand stellte sich offen gegen sie, aber wann immer ich nicht in der Schule, sondern zu Hause war, war ich unauffindbar – immer unterwegs, nie dort, wo sie mich hätte fassen und in ihren Salon schleifen können, damit ich still säße und mich von ihr gängeln ließe.

Nach einer Weile kapitulierte sie. Ich … wir alle gingen davon aus, dass sie sich endlich in ihr Los gefügt hätte. Sie hat sich nie auch nur ansatzweise bemüht, Teil des Clans zu werden – die Dame des Lairds im eigentlichen Sinne. Sie hat auf den Clan herabgeschaut und hatte keine Freunde, die ihr die ins Land ziehenden Jahre angenehmer gemacht hätten. Sie wurde noch verbitterter, noch übellauniger und verkroch sich umso mehr.“ Er atmete durch. „Als ich zwanzig war und von der Universität nach Hause kam, stürzte ich und verletzte mir das Knie schwer. Ich musste wochenlang liegen, war ein Gefangener, und Mirabelle witterte eine neuerliche Chance – dieses Mal versuchte sie, mich unmittelbar gegen meinen Vater auszuspielen.“

Er verstummte. Angelica fragte sich, ob ihm bewusst war, dass seine Augen nicht nur kalt waren, sondern einen Ton angenommen hatten, der die Beschreibung „Augen wie Eis“ vollkommen rechtfertigte.

„Ich weiß nicht, wie weit sie gegangen wäre, denn sobald ich merkte, worauf sie hinauswollte, nahm ich ihr den Wind aus den Segeln – indem ich ihre fehlgeleitete Annahme korrigierte, ich sei auch nur im Mindesten bestrebt, nach dem Titel zu greifen, bevor mein Vater einem absolut natürlichen Tode anheimfiele. Zunächst hat sie es nicht fassen können, dann wurde sie wütend, aber ausrichten konnte sie nichts. Ich warnte meinen Vater und alle in seinem Umfeld. Nach meiner Genesung brach ich, sobald ich konnte, nach London auf, wo ich den Großteil der folgenden fünf Jahre zubrachte. Wann immer ich nach Hause zurückkehrte, war ich mit meinem Vater oder dem Clan zusammen oder auf dem Anwesen unterwegs. Vieles von dem, was ich als Earl würde wissen müssen, wusste ich bereits, sodass ich keinen Anlass hatte, mich längere Zeit in den Highlands aufzuhalten.“

Wieder schwieg er. Er beugte sich vor, stützte die Unterarme auf die Beine und sah Angelica an. „Es ist unerlässlich, dass Sie diese Hintergründe kennen, doch das, was mich in diese missliche Lage gebracht hat – sodass ich auf Ihre Hilfe angewiesen bin –, folgt noch. Während der Phase, die ich großenteils in London verbrachte, waren die Sommer schlecht, die Ernte fiel dürftig aus, und der Clan machte harte Zeiten durch. Im Jahr 1823 kam mein Vater erstmals seit über dreißig Jahren nach London, um meinen Segen zu erbitten für ein Geschäft, das er zur Rettung des Clans ersonnen hatte. Ich ließ mir das Vorhaben darlegen und stimmte zu.“

Er blickte auf seine Hände hinab, die zwischen seinen Knien hingen. „Bei dem Plan ging es um einen Kelch, der sich seit Jahrhunderten im Familienbesitz befindet. Die Geschichte des Kelchs selbst hat mit der gegenwärtigen Situation nichts zu tun. Sie wiederzugeben würde Ihre zweifellos brennende Neugier befriedigen, aber abgesehen davon, dass Sie wüssten, warum der Kelch für einen Klüngel Londoner Bankiers von großem Interesse ist, wären Sie hinterher nicht klüger.“ Er verschränkte die Finger und warf einen Blick auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. „Sofern Sie unhinterfragt hinnehmen, dass der Kelch ungeheuer wertvoll ist, können wir uns diesen Exkurs sparen.“

Sie sah ihn prüfend an und nickte schließlich. „Die Geschichte über den Kelch können Sie mir ein andermal erzählen.“

Er lehnte sich im Sessel zurück, ehe er sie wieder ansah. „Nun denn – wir schreiben das Jahr 1823, das sich dem Ende nähert. Wir haben den Kelch, und mein Vater bemüht sich verzweifelt, den Clan schuldenfrei zu halten. Obgleich er der Earl ist, dem Clan vorsteht und als Eigentümer das Land verwaltet und die Geschäfte führt, ist es traditionell so, dass alle Clanangehörigen von besagten Geschäften profitieren. Wenn daher die Geschäfte nicht gut laufen, leidet der gesamte Clan. Auf dem Spiel stand also nicht nur die Zukunft meiner Familie.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Das Abkommen, für das er mein Einverständnis haben wollte, hatte er mit einer Gruppe Londoner Bankiers ausgehandelt. Sie hatten sich einverstanden erklärt, als Gegenleistung für den Kelch eine beträchtliche Summe bereitzustellen – mehr als genug Geld, um dem Clan wieder auf die Beine zu helfen. Allerdings war mein Vater, wie bereits erwähnt, ein äußerst konservativer Mensch. Weil der Kelch sich so lange im Familienbesitz befunden hatte, brachte mein Vater es nicht über sich, ihn auszuhändigen – ich hingegen hatte keine solchen Skrupel. Das Abkommen wurde besiegelt und unterzeichnet, und das Geld wurde übermittelt. Meine Rolle in dem Ganzen besteht darin, den Kelch am fünften Todestag meines Vaters den Bankiers zu überreichen.“

Er musterte Angelica, bevor er sich abrupt erhob, zum Barschrank schritt und sich einen Drink einschenkte. Angelica nutzte den Moment, um einen Schluck Wasser zu trinken. Seine Erzählung hatte sie gefesselt; wenn sie durstig war, musste auch er es sein.

„Mein Vater war weder ein guter noch ein schlechter Laird.“ Er sprach, ohne sich umzudrehen. „Er war ein recht sanftmütiger Mensch. Kein Heiliger, aber er hat stets sein Möglichstes für den Clan getan. Im Rahmen seiner Zeit als Laird hat er wenig angerichtet, über das die Leute sich hätten beschweren können. Umgekehrt jedoch hat er kaum etwas unternommen, um den Besitz des Clans zu mehren und dessen Finanzkraft zu stärken. Hätte er dieses Abkommen nicht getroffen, wäre der Clan mittellos gewesen. Derart verwundbar soll er nie wieder werden – ich habe die letzten fünf Jahre damit zugebracht, dafür Sorge zu tragen. Worauf ich aufgebaut habe, ist allerdings hauptsächlich das Verdienst meines Großvaters.“

Er leerte das Glas, das er sich eingegossen hatte, schenkte sich nach, wandte sich um und kam zurück.

Sie sah ihn an. „Wann müssen Sie den Kelch aushändigen?“

Er setzte sich wieder. „Am fünften Todestag meines Vaters – am ersten Juli dieses Jahres.“

„Und …?“

Autor

Stephanie Laurens
Stephanie Laurens wurde in Ceylon (dem heutigen Sri Lanka) geboren. Sie begann mit dem Schreiben, um ihrem wissenschaftlichen Alltag zu entfliehen. Bis heute hat sie mehr als 50 Romane verfasst und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesgeschichten. Die preisgekrönte New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Melbourne.
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