Sinnliche Flucht in deine Arme

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Der zweite Band der rasanten Serie um die Cynster-Schwestern!

Als Eliza Cynster auf dem Verlobungsball ihrer Schwester entführt wird, ahnt sie nicht, welch völlig unpassenden Retter das Schicksal für sie auserkoren hat. Denn der Mann, der sie aus den Armen der Gefahr reißen soll, ist kein Geringerer als Jeremy Carling - Londons notorischster Bücherwurm, der nur die Feder zu schwingen weiß, nicht aber das Schwert. Oder schlägt etwa doch das Herz eines wahren Kämpfers in seiner Brust?

"Die Cynsters regieren, die Leser triumphieren.”

Library Journal

"Verpassen Sie auf keinen Fall dieses fesselnde Buch.”

RomanceJunkies.com


  • Erscheinungstag 11.04.2016
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495410
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Stephanie Laurens

Sinnliche Flucht in deine Arme

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Nina Hawranke

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

In Pursuit Of Eliza Cynster

Copyright © 2011 by Savdek Management Proprietary Ltd.
erschienen bei: Avon Books, an imprint of
HarperCollins Publishers LLC, New York, U.S.A.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: Büropecher, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: Hot Damn Stock / Thinkstock / Getty Images, München / Alan Fowler

ISBN eBook 978-3-95649-541-0

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

PROLOG

April 1829

The Green Man Tavern Old Town, Edinburgh

Wie gesagt, Mr. Scrope, ist mein Anliegen ein simples: Ich möchte, dass Sie Miss Eliza Cynster aus London entführen und zu mir nach Edinburgh bringen.“ McKinsey – er nannte sich nach wie vor so, es war ein guter Deckname – hatte es sich in einer Nische im hinteren Bereich der schummrigen Kaschemme bequem gemacht und fixierte den Mann ihm gegenüber. „Sie haben zwei Wochen Zeit gehabt, die Lage auszukundschaften und zu einer Entscheidung zu gelangen. Die einzige noch offene Frage lautet, ob Sie mir Eliza Cynster heil und unversehrt beschaffen können oder nicht.“

Scrope hatte dunkles Haar und dunkle Augen. Sein Gesicht war schmal, seine Miene hochmütig. Er hielt McKinseys Blick stand. „Nach reiflicher Überlegung denke ich, dass wir ins Geschäft kommen, Sir.“

„Wirklich?“ McKinsey ließ den Blick zu seinen Fingern gleiten, in denen er einen Bierhumpen hielt. Was tat er da bloß? Er traute Scrope kein bisschen über den Weg, und doch saß er hier und verhandelte mit dem Kerl.

Seine Skrupel waren aufrichtiger Natur, wenngleich Scrope vermutlich eine Finte darin witterte – gewiss glaubte er, McKinsey würde Bedenken vortäuschen, um den Preis zu drücken. In Wahrheit zweifelte McKinsey nicht an Scropes Fähigkeiten. Allein deshalb war er hier und heuerte diesen Gentleman an – ja, Scrope war tatsächlich ein solcher.

Unter den Reichen und vor allem in Adelskreisen galt er als der Mann, der – gegen eine entsprechende Vergütung – unbequeme Angehörige verschwinden lassen konnte.

Ungeschönt ausgedrückt, war Scrope ein Fachmann für Entführungen und Entledigungen. In den Clubs raunte man sich zu, dass er niemals versagte. Nicht zuletzt das erklärte die von ihm verlangte exorbitante Bezahlung; eine Bezahlung, die McKinsey – notfalls in doppelter Höhe – zu leisten bereit wäre, wenn er im Gegenzug Eliza Cynster erhielte.

McKinsey hob seinen Humpen und nahm einen Schluck, ehe er Scrope ansah. „Wie wollen Sie vorgehen, um Miss Cynster zu entführen?“

Scrope beugte sich vor und stützte sich mit den Unterarmen auf den Tisch, die Hände gefaltet. „Wie Sie vorausgesagt haben“, entgegnete er leise, obgleich niemand in Hörweite war, „wird Eliza Cynster nach Miss Heather Cynsters gescheiterter Entführung permanent streng bewacht. Leider besteht ihre Wache vor allem aus ihren Brüdern und Cousins – über eine Woche lang hat sie sich kein einziges Mal in der Öffentlichkeit, ja nicht einmal auf geschlossenen Gesellschaften gezeigt, ohne von besagten Gentlemen umschwärmt zu werden. Die Familie Cynster baut nicht auf gemeine Lakaien, um für die Sicherheit ihrer jungen Dame zu sorgen.“ Scrope verstummte, sichtlich bemüht, mit seinem dunklen Blick in McKinseys helleren Augen zu lesen. „Um ehrlich zu sein, dürfte ein Hinterhalt der einzige Weg sein, Eliza Cynster in die Finger zu bekommen. Dabei bestünde natürlich das Risiko, dass nicht nur ihre Wachen verletzt würden. Sollte Gewalt unsere einzige Möglichkeit darstellen, kann ich nicht für Miss Cynsters Sicherheit garantieren – nicht, bis sie sich in meiner Obhut befindet.“

„Nein.“ McKinseys nüchterner Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. „Keine wie immer geartete Gewalt. Weder gegenüber der jungen Dame noch gegenüber ihren Bewachern.“

Scrope machte ein langes Gesicht und breitete die Arme aus. „Wenn Sie den Einsatz von gewaltsamen Maßnahmen untersagen, weiß ich nicht, wie die Sache bewerkstelligt werden soll.“

McKinsey hob eine Braue und musterte Scropes leidlich vornehme Züge, wobei er mit einem Fingernagel einen langsamen Rhythmus auf den Holztisch klopfte. Nichts regte sich in Scropes Miene; er beherrschte die Kunst der Unnahbarkeit ebenso perfekt wie McKinsey.

Aber seine Augen …

Der Mann war eiskalt; es gab kein anderes Wort dafür. Gefühllos, skrupellos, die Sorte Mensch, die so leichthin mordet, wie sie einen Hut fallen lässt.

Unglücklicherweise ließ das Schicksal McKinsey keine Wahl. Irgendwer musste den Auftrag erledigen. Er konnte keinen Rückzieher machen – nicht mehr, ihm waren die Hände gebunden. Doch wenn er diesen Mann auf Eliza Cynster losließe … Bedächtig straffte er die Schultern und stemmte die Ellbogen auf den Tisch, damit er auf gleicher Augenhöhe mit Scrope war. „Dieser Auftrag – Eliza Cynster unter den wachsamen Blicken ihrer mächtigen Sippschaft zu ergreifen – dürfte Sie bei erfolgreicher Ausführung in Ihren Kreisen zu so etwas wie einem Gott erheben. Denn wenn nicht einmal die Cynsters vor Ihnen sicher sind, wer dann?“

Während Scrope in London ergründet hatte, wie hoch die Chancen standen, Eliza Cynster entführen zu können, hatte auch McKinsey Erkundigungen eingeholt. Scrope galt als der Beste seines Metiers und hatte frühere Auftraggeber als Referenz genannt. Als McKinsey sie unter seinem richtigen Namen kontaktiert hatte, war er von mehreren dieser Leute darauf hingewiesen worden, dass Scrope geradezu besessen davon sei, sich hervorzutun. Dass er selbst solche Aufträge zielstrebig ausführe, die bedachtsamere Vertreter seines Gewerbes ablehnten. Offenbar war Scrope süchtig nach dem Prestige, vermeintlich Unmögliches möglich zu machen. Seine vormaligen Auftraggeber hatten dies als rühmliche Eigenschaft gewertet. Obwohl McKinsey ihnen hierin beipflichtete, wenn es um die Umsetzung eines heiklen Auftrags ging, war ihm klar, dass besagte Eigenschaft auch Scropes eigenen Interessen entgegenkam.

Scrope hatte auf McKinseys Kommentar hin nichts entgegnet, doch dass er angestrengt um eine gleichmütige Miene bemüht war, sprach für sich.

McKinsey lächelte wissend. „Ganz recht. Wenn Sie diesen Auftrag erfolgreich erledigen, können Sie ein noch höheres – ein astronomisch hohes – Honorar verlangen.“

„Was mein Honorar angeht …“

McKinsey hob eine Hand. „Ich werde nicht um das Honorar feilschen, auf das wir uns bereits geeinigt haben. Wie dem auch sei …“ Den Blick unverwandt auf Scrope gerichtet, setzte er eine steinerne Miene auf und legte Härte in seine Stimme. „Ich werde Ihnen die eine Möglichkeit verraten, wie man Eliza Cynster trotz der rigiden Schutzmaßnahmen ihrer Familie entführen kann. Dafür verlange ich aber etwas.“

Scrope zögerte. Eine volle Minute verstrich, ehe er leise fragte: „Was?“

McKinsey war klug genug, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. „Dass wir das Ganze gemeinsam durchführen, und zwar von dem Augenblick an, da Sie sich aufmachen, Eliza Cynster in Ihre Hände zu bekommen, bis zu ihrer Übergabe an mich.“

Abermals dachte Scrope lange nach. Die Erwiderung, die er schließlich gab, überraschte McKinsey nicht. „Auf den Punkt gebracht: Sie wollen mir vorschreiben, wie ich den Auftrag auszuführen habe.“

„Nein. Ich will lediglich sicherstellen, dass Sie den Auftrag auf eine Weise ausführen, die meinen Anforderungen Genüge tut. Ich schlage vor, ich verrate Ihnen, wie die Entführung vonstattengehen kann, und Sie erklären mir im Vorfeld, wie Sie zu verfahren gedenken. Bin ich einverstanden, können Sie nach Gutdünken handeln. Bin ich es nicht, suchen wir nach Alternativen und einigen uns auf ein Vorgehen, das uns beiden behagt.“ Er rechnete damit, dass Scrope der Aussicht darauf, der Mann zu sein, der eine Cynster entführt hatte, nicht würde widerstehen können.

Scrope wandte den Blick ab, verlagerte sein Gewicht und schaute McKinsey wieder an. „Also gut, einverstanden.“ Er verstummte kurz, und wäre er nicht Scrope gewesen, hätte McKinsey die Abmachung per Handschlag besiegelt. „Wo und wie soll ich Eliza Cynster ergreifen?“, fragte Scrope ruhig.

McKinsey verriet es ihm. Er zog eine gefaltete Ausgabe der Londoner Gazette aus der Rocktasche und zeigte Scrope das betreffende Schlupfloch. Scrope hatte von dem Ereignis nichts gewusst und hätte die damit einhergehende Chance vermutlich nicht erkannt. Den detaillierten Ablauf der Entführung selbst und der anschließenden Fahrt zurück nach Edinburgh zu klären war ein Leichtes.

Beide stimmten darin überein, dass die Rückkehr nach Edinburgh möglichst zügig erfolgen sollte.

„Da ich mich der Frau nicht entledigen, sondern sie Ihnen übergeben soll, wäre es mir lieb, dies so rasch als möglich zu tun.“

„Ganz Ihrer Meinung.“ McKinsey nickte. „Warum länger als nötig mit dem Feuer spielen?“

Scrope kniff die Lippen zusammen, schwieg jedoch.

„Ich werde in Edinburgh bleiben“, fuhr McKinsey fort, „um Ihnen Miss Cynster abzunehmen, sobald Sie zurückkehren.“

Scrope nickte. „Ich werde Sie über die Kontaktperson benachrichtigen lassen, die auch dieses Treffen arrangiert hat.“

McKinsey blickte ihm geradewegs in die Augen. „Eines kann ich nicht oft genug betonen – unter keinen Umständen darf Eliza Cynster auch nur ein Haar gekrümmt werden, solange sie sich in Ihren Händen befindet. Ich sehe ein, dass es notwendig sein könnte, sie zu betäuben, um sie unbemerkt aus dem Haus zu schaffen. Für die Dauer der Fahrt aber sollten Sie und Ihre Kollegen in der Lage sein, sie ruhigzustellen, ohne auf sedierende oder andere unnötige Mittel zurückgreifen zu müssen. Die Geschichte, sie solle auf Anweisung ihres Vormunds zurück nach Hause geholt werden, hat Heather Cynster in Schach gehalten. Bei ihrer Schwester dürfte es sich nicht anders verhalten.“

„Also schön – wir werden das beherzigen.“ Scrope rekapitulierte den Plan lang und breit, ehe er McKinsey anschaute. „Ich denke, Sir, wir haben eine Vereinbarung. Meinen Berechnungen zufolge werden wir am fünften Morgen nach Ergreifung Miss Cynsters zurück in Edinburgh sein und sie Ihnen aushändigen.“

„Ja, allerdings. Sofern Sie wie vereinbart vorgehen, sollte alles reibungslos verlaufen.“

Zum ersten Mal sah er Scrope lächeln. „Ganz recht.“

McKinsey erhob sich.

Scrope tat es ihm gleich. Er war kein kleiner Mann, doch McKinsey überragte ihn. Scropes Miene hellte sich auf. „Keine Sorge“, verkündete er zuversichtlich. „Sie können sich auf mich und meine Gefährten verlassen – mir ist ebenso sehr wie Ihnen daran gelegen, dass die Sache ein Erfolg wird.“ Er lächelte erneut, als er sich mit McKinsey dem Ausgang der Schenke zuwandte. „Wie Sie ganz richtig angemerkt haben, werde ich mir damit einen Namen machen.“

„Wie Sie ganz richtig angemerkt haben, werde ich mir damit einen Namen machen.“

Der derbe Mantel flatterte ihm offen um die Schultern, als sich der Mann, der sich als McKinsey ausgab, den Wind ins Gesicht wehen ließ. Er stand, die Hände in den Hosentaschen, auf einem Felsvorsprung unweit des Holyrood Palace und blickte gen Norden, wo sein Zuhause lag. Noch einmal rief er sich Scropes Abschiedsworte ins Gedächtnis. Nicht die Worte selbst beunruhigten ihn – immerhin hatte Scrope nur resümiert, was er selbst festgestellt hatte. Aber in Scropes Stimme hatte etwas fast fanatisch Leidenschaftliches, etwas verstörend Genießerisches mitgeschwungen.

Für McKinseys Geschmack war der Bursche zu sehr darauf erpicht, auf prahlerische Weise seine Reputation zu polieren.

Er hätte es vorgezogen, sich nicht mit einem Mann von Scropes Schlag abgeben zu müssen, aber verzweifelte Situationen erforderten drastische Maßnahmen. Wenn er keines der Cynster-Mädchen entführte, in den Norden holte und „ruinierte“, würde seine Mutter den Prunkkelch nicht herausrücken, den sie entwendet und so gut versteckt hatte, dass er unauffindbar war. Und wenn er besagten Kelch am 1. Juli nicht vorweisen konnte, würde er Burg und Ländereien einbüßen. Er würde hilflos mit ansehen müssen, wie sein Volk – sein Clan – enteignet und von dem Boden vertrieben würde, in dem es seit Jahrhunderten verwurzelt war.

Er würde, ebenso wie diese Menschen, sein Erbe verlieren.

Er würde alles verlieren – außer den beiden Jungen, die er versprochen hatte, wie seine eigenen Söhne aufzuziehen.

Es war sein Schicksal, die Forderungen seiner Mutter zu erfüllen, so verrückt sie auch sein mochten.

Leider war sein erster Versuch fehlgeschlagen. Er hatte sich aus der Entführung von Heather Cynster heraushalten und nicht mehr Gewalt als nötig einsetzen wollen. Daher hatte er zwei Schurken namens Fletcher und Cobbins gedungen, die gemeinhin gute Arbeit leisteten. Die beiden hatten Heather Cynster entführt und nach Norden gebracht, doch sie war entkommen. Geholfen hatte ihr ein englischer Aristokrat, ein gewisser Timothy Danvers, Viscount Breckenridge, mit dem sie inzwischen verlobt war.

Dank dieses Misserfolgs hatte sich McKinsey gezwungen gesehen, Scrope zu beauftragen, Eliza Cynster zu entführen.

Doch ganz gleich, welch rationale Argumente er sich vor Augen hielt, um dies zu rechtfertigen, es gefiel ihm nicht. Er blieb rastlos, unruhig – die Vereinbarung mit Scrope gefiel ihm ganz und gar nicht. Eine ungute Ahnung peinigte ihn wie ein unablässiges Jucken, so als trüge er ein härenes Hemd.

Als er Fletcher und Cobbins angeheuert hatte, waren ihm derlei Bedenken nicht gekommen. Zwar waren die zwei auch nicht eben zimperlich, aber sie gehörten nicht zu der Sorte, die leichtfertig meuchelte. Für Scrope hingegen war Mord sein täglich Brot. Mochte es bei diesem Auftrag auch nicht um Mord gehen, war es nicht gerade beruhigend, dass der Mann erwiesenermaßen Freude daran hatte.

Aber McKinsey brauchte Eliza Cynster möglichst bald. Fletcher und Cobbins hatte er freie Wahl dabei gelassen, welche der Cynster-Schwestern – Heather, Eliza und Angelica – sie sich schnappten. Allerdings war er überaus erleichtert gewesen, dass es Heather getroffen hatte; mit ihren fünfundzwanzig Jahren gehörte sie, in Bezug auf ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt, zum alten Eisen und wäre damit genau die Richtige für den Vorschlag gewesen, den er ihr hatte unterbreiten wollen.

Doch dazu war es nicht gekommen. Das Schicksal hatte eingegriffen, und Heather war mit Breckenridge geflohen. Das hatte McKinsey nicht allzu sehr bekümmert, da er mit Eliza einen Ersatz in der Hinterhand hatte. Mit ihren vierundzwanzig Jahren eignete sie sich für seine Absichten fast ebenso gut wie Heather. Sollte er Eliza allerdings nicht zu fassen bekommen …

Angelica war die dritte und jüngste der Schwestern, die dem Zweig des Cynster-Stammbaums angehörten, um den es ging. Theoretisch käme auch sie für seine Zwecke infrage, aber sie war erst einundzwanzig, und er war nicht gerade geneigt, sich mit einem solch jungen Ding abzugeben.

Er konnte geduldig sein, wenn die Situation es verlangte, war jedoch kein Mensch, dem die Geduld im Blut lag. Eine törichte einundzwanzigjährige Prinzessin des haut ton dazu zu verleiten, auf seinen Vorschlag einzugehen, würde mehr Taktgefühl erfordern, als er besaß.

Die Alternative bestünde darin, ihr seinen Willen aufzuzwingen, und das wiederum würde ein Maß an kaltherzigem Druck nötig machen, das er vermutlich nicht aufbrächte. Nicht, wenn er anschließend ohne Gewissensbisse weiterleben wollte.

Also … musste es Eliza Cynster sein, und daher war er auf Scropes Fertigkeiten und Ehrgeiz angewiesen.

Er hatte getan, was er konnte, um zu gewährleisten, dass Eliza nichts geschehen würde, dass es ihr an nichts mangeln würde, dass nichts misslingen würde. Dennoch …

Er hielt den Blick auf den Horizont gerichtet, wo sich, viele Meilen entfernt, die in violetten Dunst gehüllten Berge erhoben, hinter denen seine Heimat lag – Tal, loch und Burg. Dabei versuchte er sich einzureden, dass er alles ihm Mögliche getan hatte, und nun, wie geplant, nach Hause zurückkehren könnte – zu den Seinen, seiner Burg, seinen Jungen. In ein paar Tagen würde er wiederkommen, um hier zu sein, wenn Scrope mit Eliza Cynster einträfe.

Ehre über alles.

So lautete der Leitspruch seiner Familie, der, in Stein gemeißelt, oberhalb des Eingangsportals und aller großen Kamine seiner Burg prangte.

Die Ehre gebot, dass er nicht einfach davonritt.

Die Ehre war wie eine Klette unter der Haut.

Nun, da sein Plan angelaufen war und er Scrope auf die Cynsters losgelassen und ihm eröffnet hatte, wie sich Eliza trotz der strengen Bewachung durch ihre Familie entführen ließe, zwang ihn die Ehre, Scrope nachzureiten und ihn im Auge zu behalten.

Sie zwang ihn, Scrope zu verfolgen und still und heimlich zu überwachen, damit nichts schiefging.

Damit Scrope nicht übers Ziel hinausschoss.

Er stand da, ließ den Blick über die flachen Lowlands schweifen bis zu den fernen Highlands und sehnte sich nach dem Frieden, der tiefen Stille, sehnte sich nach dem Duft von Kiefern und Tannen, derweil die Sonne langsam unterging und Finsternis sich über das Land senkte.

Es wurde stetig dunkler. Schließlich regte er sich, streckte sich und wandte sich, die Hände nach wie vor in den Taschen vergraben, zum Gehen. Er stieg hinab zur Straße und machte sich auf den Weg zu seinem Stadthaus. Den Blick auf das Straßenpflaster gerichtet, formulierte er im Geiste ein Schreiben an seinen Verwalter, in dem er mitteilte, dass er aufgehalten worden sei und erst in einigen Wochen zurückkehren werde. Dann … Er hoffte und betete, dass er Eliza Cynster bei sich hätte, wenn es so weit war.

1. KAPITEL

St. Ives House

Grosvenor Square, London

Das ist einfach ungerecht“, murmelte Elizabeth Marguerite Cynster, von aller Welt Eliza genannt. Sie stand allein an der Wand des Ballsaals ihrer ältesten Cousine, im Schatten einer riesigen Kübelpalme. Der prunkvolle herzogliche Ballsaal glitzerte und gleißte. Die Crème de la Crème des ton war heute Abend hier versammelt, gewandet in Samt und Seide vom Feinsten, mit Geschmeide überhäuft, glücksstrahlend und mitgerissen von der ausgelassenen Stimmung.

Kaum jemand im ton sagte ab, wenn er zum Walzer bei Honoria, der Duchess of St. Ives, und ihrem einflussreichen Gatten Devil Cynster geladen wurde. Folglich platzte der Saal aus allen Nähten.

Das Licht der prächtigen Lüster ließ kunstvoll frisierte Locken schimmern und zahllose Diamanten funkeln. Die satten Farben der Damenkleider vermengten sich im Tanz zu einem wogenden Farbenmeer, von dem sich das Schwarz-Weiß der Herren abhob. Ein wildes Gemisch aus unterschiedlichsten Parfüms erfüllte die Luft, und im Hintergrund gab ein kleines Orchester eines der derzeit beliebtesten Walzerstücke zum Besten.

Eliza schaute zu, wie ihre ältere Schwester Heather über die Tanzfläche wirbelte, in den Armen ihres gut aussehenden Verlobten Timothy Danvers, Viscount Breckenridge, dem ehemals größten Frauenhelden des ton. Selbst wenn der Ball nicht ausdrücklich dazu gedient hätte, die Verlobung zu feiern und ton wie feine Gesellschaft von dieser in Kenntnis zu setzen, hätte Breckenridges vernarrter Blick genügt, um kundzutun, wie es um ihn stand. Der einstige Liebling aller Damenherzen war nunmehr Heathers erklärter Beschützer und Sklave.

Und Heather war die Seine. Die Seligkeit, die ihre Augen leuchten ließ, verkündete es aller Welt.

Obwohl Eliza nicht gerade glücklich war, was nicht zuletzt den Ereignissen zu verdanken war, die zu Heathers Verlobung geführt hatten, freute sie sich aufrichtig für ihre Schwester.

Sie beide hatten Jahre – buchstäblich Jahre – damit zugebracht, innerhalb des ton nach ihrem jeweiligen Helden zu suchen. Sie waren durch Salons und Ballsäle gestreift, wo junge Damen wie sie sich darauf zu beschränken hatten, nach einer geeigneten Partie Ausschau zu halten. Weder Heather noch Eliza oder ihrer jüngeren Schwester Angelica war es gelungen, einen Gentleman aufzuspüren, der das Zeug zum Helden gehabt hätte. Daraus hatten sie logisch konsequent geschlussfolgert, dass sich besagte Helden – die Gentlemen, die ihnen vom Schicksal bestimmt waren – nicht innerhalb der gesellschaftlich gesetzten Grenzen bewegten. Ebenso logisch war es ihnen erschienen, die Suche auf jenes Terrain auszudehnen, auf dem sich die schlüpfrigeren, aber immer noch geeigneten männlichen Angehörigen des ton herumtrieben.

Diese Strategie hatte sich für ihre älteste Cousine Amanda bezahlt gemacht und in leicht abgewandelter Form auch für deren Zwillingsschwester Amelia.

Und auch bei Heather hatte sich diese Methode bewährt, wenn auch auf unerwartete Weise.

Für die Frauen unter den Cynsters galt zweifelsfrei, dass sie ihren gewohnten Kreisen kühn den Rücken kehren mussten, um ihren wahren Helden zu finden.

Genau das zu tun war Eliza entschlossen. Vereitelt wurde dies leider dadurch, dass jemand es auf „die Cynster-Schwestern“ abgesehen hatte. Dieser Umstand war durch das Abenteuer aufgedeckt worden, in das Heather geraten war, kaum dass sie sich in jene verruchtere Welt vorgewagt hatte.

Ob nur Heather, sie selbst und Angelica in Gefahr waren oder auch ihre jüngeren Cousinen Henrietta und Mary, das vermochte niemand zu sagen.

Ebenfalls wusste keiner, welches Motiv der Bedrohung zugrunde lag oder was geschah, wenn eine von ihnen entführt und womöglich nach Schottland gebracht würde. Auch wer hinter dem Ganzen steckte, war vollkommen unklar, doch das Ende vom Lied war, dass Eliza und die übrigen drei noch nicht verlobten „Cynster-Schwestern“ unter permanenter Aufsicht standen. Sie konnte keinen Fuß vor die Tür des elterlichen Hauses setzen, ohne dass einer ihrer Brüder oder – nicht minder schlimm – Cousins an ihrer Seite auftauchte.

Um sich an ihre Fersen zu heften.

Somit war es ihr unmöglich geworden, auch nur einen halben Schritt weit aus dem beengenden Zirkel herauszutreten, den die höheren Sphären des ton bildeten. Versuchte sie es, schloss sich die kräftige männliche Hand eines Bruders oder Cousins um ihren Ellbogen und zerrte sie unweigerlich zurück.

Dieses Gebaren, musste sie einräumen, war verständlich, aber … „Wie lange noch?“ Die schützenden Linien waren seit drei Wochen in Stellung, und nichts deutete darauf hin, dass sich die Lage entspannte. „Ich bin vierundzwanzig. Wenn ich meinem Helden nicht dieses Jahr noch begegne, ist es zu spät, denn im nächsten werde ich als alte Jungfer gelten.“

Für gewöhnlich führte sie keine Selbstgespräche. Aber der Abend näherte sich dem Ende, und – wie üblich auf derlei Veranstaltungen des ton – hatte sich nichts für sie ergeben. Deshalb drückte sie sich im schützenden Schatten der großen Palme an die Wand; sie hatte es satt, zu lächeln und Interesse an den überkorrekten jungen Herren zu heucheln, die den ganzen Abend über um ihre Aufmerksamkeit gebuhlt hatten.

Als kultivierte, wohlerzogene junge Dame aus dem Hause Cynster, die über eine erkleckliche Mitgift verfügte, hatte es ihr nie an Möchtegern-Romeos gemangelt. Leider hatte sie nie die geringste Neigung verspürt, für einen von ihnen die Julia zu geben. Wie Angelica war auch sie überzeugt davon, dass sie ihren Helden nach wenigen Stunden in dessen Gesellschaft erkennen würde, wenn nicht gar – so Angelicas Theorie – auf den ersten Blick.

Heather hingegen war stets unsicher gewesen, ob sie ihren Helden erkennen würde – und tatsächlich hatte sie nicht gewusst, dass Breckenridge der ihre war, obwohl sie ihn jahrelang, wenn auch nicht gut, gekannt hatte. Ihre angeheiratete Cousine Catriona galt als irdische Repräsentantin der Gottheit, die in einigen Teilen Schottlands als „die Lady“ bezeichnet wurde. Catriona neigte dazu, Dinge zu „wissen“, und hatte Heather deren Schilderungen zufolge beschieden, sie müsse ihren Helden zunächst „sehen“, müsse sein Wesen begreifen, und dies hatte sich als wahr erwiesen.

Catriona hatte Heather eine Kette mit einem Anhänger gegeben, die einer jungen Dame half, ihre wahre Liebe zu finden – ihren Helden. Catriona hatte angeordnet, die Kette solle von Heather an Eliza und anschließend der Reihe nach an Angelica, Henrietta und Mary weitergereicht werden, um danach wieder nach Schottland zu gelangen und an Catrionas Tochter Lucilla zu fallen.

Eliza hob eine Hand und berührte die filigrane Kette mit den kleinen Amethyst-Perlen an ihrem Hals. Der Rosenquarz-Anhänger war zwischen ihren Brüsten verborgen, so wie die Kette selbst unter der zarten Spitze des modischen Fichus, das den weiten Ausschnitt ihres Kleides aus goldfarbener Seide bedeckte.

Die Kette gehörte nun ihr – wo also war der Held, zu dem sie Eliza führen sollte?

Hier jedenfalls nicht. Kein Gentleman mit heroischem Potenzial tauchte wie durch ein Wunder auf. Nicht dass Eliza dies erwartet hätte; nicht hier, inmitten der höchsten Kreise der feinen Gesellschaft. Dennoch machten sich allmählich Enttäuschung und Niedergeschlagenheit in ihr breit.

Heather hatte dadurch, dass sie auf ihren Helden gestoßen war, Eliza matt gesetzt – unbeabsichtigt, aber nichtsdestoweniger erfolgreich. Elizas Held fand sich nicht in den Kreisen des ton, und diese Kreise zu verlassen, um nach ihm zu suchen, war ihr nunmehr verwehrt.

„Was zum Teufel soll ich nur tun?“

Ein Lakai, der sich am Rande des Ballsaals positioniert hatte und auf einer Hand ein Silbertablett balancierte, hörte sie, drehte sich um und spähte in den Schatten. Eliza beachtete ihn kaum, aber als er sie sah, entspannten sich seine Züge, und er trat näher.

„Miss Eliza.“ Hörbar erleichtert, verneigte er sich und hielt ihr das Tablett hin. „Ein Gentleman bat mich, Ihnen dies zu überbringen, Miss. Das muss inzwischen eine gute halbe Stunde her sein. Wir haben Sie in der Menge nicht aufspüren können.“

Sie nahm das gefaltete Papier vom Tablett. Welcher Langweiler schrieb ihr nun schon wieder? „Vielen Dank, Cameron.“

Der Lakai gehörte zum Haushalt ihrer Eltern und war abberufen worden, während des großen Balls auf St. Ives House auszuhelfen. „Wer war es, wissen Sie das?“

„Nein, Miss. Das Schreiben wurde jemand anderem übergeben und an mich weitergereicht.“

„Danke.“ Eliza entließ ihn mit einem Nicken.

Mit einer knappen Verbeugung zog sich Cameron zurück.

Ohne große Erwartungen faltete sie das Papier auseinander. Es war mit schwarzer Tinte beschrieben, und die Schrift wirkte schwungvoll, kühn und ungestüm.

Überaus maskulin.

Eliza neigte das Blatt so, dass Licht darauffiel, und las:

Unwillkürlich lächelte Eliza. Wie … dreist. Wie verwegen. Ihr im Domizil ihrer Cousine eine solche Nachricht zukommen zu lassen, vor den Augen der versammelten Gäste und ihrer gesamten Familie.

Doch wer immer dieser Mann war, er war offenkundig hier, in diesem Haus, und wenn er wusste, wo sich der hintere Salon befand …

Abermals las sie die Botschaft, unschlüssig. Aber warum sollte sie sich nicht in den hinteren Salon stehlen, um herauszufinden, wer es gewagt hatte, ihr eine solche Nachricht zu schreiben?

Sie verließ ihr Versteck und huschte so flink und unauffällig wie möglich am Rand des noch immer überfüllten Ballsaals entlang. Sie war gewiss, dass der Verfasser der Botschaft recht hatte – sie kannte ihn nicht, war ihm nie begegnet. Sie kannte keinen Gentleman, dem sie es zutraute, sie auf solch impertinente Weise zu einem geheimen Stelldichein auf St. Ives House aufzufordern.

Aufregung und Vorfreude erfassten sie. Vielleicht war dies der Moment – der Moment, in dem ihr Held sich ihr offenbaren würde.

Durch eine Nebentür schlich sie hinaus auf einen Korridor, dem sie raschen Schritts folgte. Sie bog in einen weiteren Gang ein und gelangte in einen dritten. Die Beleuchtung wurde spärlicher, je näher sie der Rückseite des imposanten herrschaftlichen Hauses kam. Der hintere Salon befand sich in den Tiefen des privaten Bereichs, weitab der Empfangszimmer und des dort herrschenden Trubels. Er ging auf den Garten hinter dem Haus hinaus. Honoria saß nachmittags oft hier und schaute ihren Kindern beim Spielen auf dem Rasen unterhalb der Terrasse zu.

Endlich erreichte Eliza das Ende des letzten Korridors und die Salontür. Sie zögerte nicht, sondern drehte den Knauf, öffnete die Tür und trat ein.

Es brannten keine Lampen, doch durch die Fenster und Glastüren hinaus zur Terrasse fiel Mondlicht. Eliza sah sich um. Als sie niemanden erblickte, schloss sie die Tür und begab sich tiefer in den Raum. Womöglich wartete er in einem der Lehnsessel vor den Fenstern.

Sie ging zu den Sesseln und stellte fest, dass sie leer waren. Sie blieb stehen. Runzelte die Stirn. Hatte er aufgegeben und war verschwunden? „Hallo?“ Sie wollte sich abwenden. „Ist irgendwer hier …?“

Hinter ihr raschelte es leise.

Sie fuhr herum – zu spät.

Jemand legte ihr einen Arm um die Taille, hielt sie eisern umfangen, riss sie an sich, an einen harten männlichen Körper.

Sie öffnete den Mund …

Eine riesige Pranke senkte sich herab, und ihr wurde ein weißes Tuch gegen Mund und Nase gepresst. Und dort gehalten.

Eliza wehrte sich, atmete ein – ein eklig süßlicher Geruch drang ihr in die Nase …

Sie spürte ihre Muskeln nachgeben.

Noch während sie in sich zusammensackte, bemühte sie sich, den Kopf fortzudrehen, aber die schwere Hand ließ nicht von ihr ab, drückte ihr das widerwärtige Tuch unnachgiebig gegen Mund und Nase …

Schließlich entglitt ihr die Welt, und Schwärze schwappte über ihr zusammen.

Ein Übelkeit erregendes Schaukeln brachte Eliza wieder zu sich.

Sie wurde durchgerüttelt und -geschüttelt, ohne etwas dagegen tun zu können. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder so weit bei Verstand war, dass sie das Rattern von Kutschenrädern auf Kopfsteinpflaster erkannte.

Eine Kutsche. Sie befand sich in einer Kutsche, wurde fortgebracht …

Mein Gott – ich bin entführt worden!

Bestürzung übermannte sie, gefolgt von nackter Angst. Das half ihr, einen klaren Kopf zu bekommen. Die Augen hatte sie bislang nicht geöffnet; ihre Lider fühlten sich schwer an, so wie ihre Arme und Beine. Auch nur einen Finger zu bewegen kostete Anstrengung. Sie glaubte nicht, dass sie an Händen oder Füßen gefesselt war, aber da sie kaum genügend Kraft zum Denken aufbrachte, war dies vorerst nebensächlich.

Außerdem war da jemand … nein, zwei Menschen waren mit ihr in der Kutsche.

Sie verharrte so, wie sie erwacht war, in einer Ecke zusammengesunken, den Kopf schlaff herabhängend. Sie strengte ihre Sinne an, erspürte jedoch nur, dass eine Person auf der Bank neben ihr und eine weitere auf der Bank ihr gegenübersaß. Beim nächsten kräftigeren Ruckeln der Kutsche ließ sie den Kopf zur Seite rollen und zwang sich, die Lider so weit zu heben, dass sie unter den Wimpern hervor einen Blick auf ihre Entführer werfen konnte.

Ihr gegenüber saß ein Mann, ein Gentleman, nach seinen Kleidern zu urteilen. Seine Züge wirkten streng, sein Gesicht war lang und schmal, sein Kinn kantig. Er hatte dunkelbraunes, gewelltes, in feschem Stil geschnittenes Haar. Seine Gestalt war hochgewachsen und gut gebaut, eher schlank als kräftig. Vermutlich war er es gewesen, der sie im hinteren Salon an sich gepresst und mit dem übel riechenden Lappen auf der Nase schachmatt gesetzt hatte …

Ihr Kopf pochte schmerzhaft; die Erinnerung an die Dämpfe aus dem Tuch ließen ihren Magen rebellieren. Sie atmete tief durch die Nase ein und schob die unangenehmen Empfindungen beiseite. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die andere Person, die neben ihr saß.

Eine Frau. Sie hätte den Kopf drehen müssen, um das Gesicht zu erkennen, aber das Kleid, das die Beine der Frau bedeckte, ließ darauf schließen, dass es sich um eine weibliche Bedienstete handelte. Um die Bedienstete einer vornehmen Dame, vielleicht um eine Kammerzofe. Der schwarze Stoff des Kleides war von besserer Qualität, als es bei einem bloßen Hausmädchen der Fall gewesen wäre.

Genau wie bei Heather. Auch ihrer Schwester war eine Zofe an die Seite gestellt worden, als sie entführt worden war. Das hatte ihre Familie als Beweis dafür gewertet, dass ein Adeliger hinter der Entführung steckte. Wer sonst hätte an eine Zofe gedacht? Dies galt offenbar auch jetzt. Ob der Mann ihr gegenüber dieser aristokratische Schuft war?

Wohl nicht, mutmaßte sie, nachdem sie ihn ein weiteres Mal gemustert hatte. Heather war von Leuten entführt worden, die eigens dafür angestellt worden waren. Und obgleich diese zwei hier vornehmer wirkten, als Heather ihre Entführer geschildert hatte, kamen sie Eliza wie Leute vor, die sich anwerben ließen.

Ihr Kopf wurde zusehends klarer; das Denken fiel ihr immer leichter.

Falls diese Entführung der von Heather glich, würde man sie nach Norden bringen, nach Schottland. Durchs Kutschenfenster spähte sie hinaus auf die Straße und betrachtete verstohlen die Szenerie, wobei sie sich nach wie vor bewusstlos gab. Es dauerte eine Weile, aber schlussendlich war sie sicher, dass die Kutsche sich nicht auf der Great North Road befand. Vielmehr rollte sie auf der Straße dahin, die Eliza mit ihrer Familie nahm, wenn sie Lady Jersey in Osterley Park besuchten.

Sie fuhren gen Westen. Lag das Ziel womöglich nicht weit von London entfernt?

Würden ihre Angehörigen wissen, in welcher Richtung sie nach ihr suchen mussten, wenn die Entführer sie gar nicht nach Norden brachten? Sie würden annehmen, dass man sie nach Schottland verschleppte … Doch erst einmal mussten sie überhaupt bemerken, dass sie entführt worden war.

Wer immer diese Leute waren, sie gingen unerschrocken und gewieft vor. Eliza war von Brüdern und Cousins bewacht worden; vor allem auf sie hatten sie ein Auge gehabt. St. Ives House allerdings hatten sie als den einen Ort betrachtet, an dem Eliza sicher wäre, und daher waren sie dort weniger vorsichtig gewesen.

Ihrem Gejammer von vorhin zum Trotz hätte sie alles darum gegeben, jetzt Rupert oder Alasdair oder gar einen ihrer hochnäsigen Cousins auf einem Pferd heransprengen zu sehen.

Welch Plagegeister sie allesamt gewesen waren. Und wo waren ihre Beschützer nun, da sie gebraucht wurden?

Unmutig runzelte sie die Stirn.

„Sie ist wach.“

Der Mann hatte gesprochen. Eliza tat weiterhin so, als wäre sie nicht bei Besinnung. Langsam entspannte sie ihre Miene, so als hätte sie in ihrer Ohnmacht das Gesicht verzogen. Sie schloss die Augen wieder gänzlich und regte sich nicht, gab durch nichts zu verstehen, dass sie die Worte gehört hatte.

Die Frau rückte näher; Eliza spürte förmlich ihren Blick auf dem Gesicht.

„Sind Sie sicher?“

Es handelte sich eindeutig um eine Zofe. Sie sprach artikuliert, und ihr Tonfall entsprach dem unter höhergestellten Bediensteten üblichen.

Das untermauerte Elizas Verdacht, dass es sich bei dem Mann ebenfalls um einen Gedungenen und nicht um den mysteriösen Laird handelte, den ihre Familie als Drahtzieher hinter Heathers Entführung vermutete.

„Sie gibt nur vor, bewusstlos zu sein“, meinte der Mann nach einem Augenblick. „Geben Sie ihr Laudanum.“

Laudanum?

„Sie sagten doch, er habe Ihnen aufgetragen, sie weder zu betäuben noch ihr etwas anzutun.“

„Das stimmt, aber wir müssen schnell vorankommen, und dafür muss sie schlafen – er wird es ja nicht erfahren.“

Wer – er?

„Also gut.“ Die Frau kramte in einer Tasche. „Sie werden mir helfen müssen.“

„Nein!“ Eliza erwachte zum Leben in der Absicht, die beiden davon abzuhalten, sie erneut zu betäuben. Doch sie hatte sich verschätzt mit ihrer Annahme, sie habe sich erholt. Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Kraftlos versuchte sie, die schwarzhaarige, dunkeläugige Frau zurückzustoßen, die sich zu ihr herabbeugte, ein kleines Medizinglas mit einer hellen Flüssigkeit in der Hand.

Jäh war der Mann über ihr. Mit einer Hand umklammerte er ihre Handgelenke, mit der anderen umfasste er ihr Kinn und drückte ihr den Kopf in den Nacken.

„Jetzt! Flößen Sie es ihr ein.“

Krampfhaft bemühte sich Eliza, die Lippen aufeinanderzupressen, aber der Mann schob ihr einen Daumen in den Mundwinkel, und die Frau goss ihr die Dosis flink in den Rachen.

Eliza versuchte, nicht zu schlucken, doch die Flüssigkeit rann ihr die Kehle hinunter …

Der Mann hielt sie fest, bis sie erschlaffte und vom Laudanum hinab in die Tiefe gezogen wurde.

Als Eliza das nächste Mal so weit zur Besinnung kam, dass sie eines klaren Gedankens fähig war, waren Tage vergangen. Wie viele, vermochte sie nicht zu sagen. Ihre beiden Entführer hatten sie in ihrer Ecke sitzen lassen und immer wieder sediert. So fuhren sie dahin, und Eliza konnte sich nicht entsinnen, dass sie je gehalten hätten.

Ihr ganzer Körper war geradezu lächerlich schwach. Die Augen geschlossen, ging sie im Geiste die bruchstückhaften Informationen und spärlichen Beobachtungen durch, die sie in den flüchtigen Momenten zwischen den langen Phasen erhascht hatte, in denen das Laudanum sie in einen Dämmerzustand versetzt hatte.

Sie hatten London auf westlicher Route verlassen, daran erinnerte sie sich. Danach … Oxford bei Tagesanbruch; kurz hatte sie die vertrauten Türme erspäht, die sich gegen den heller werdenden Himmel abgehoben hatten.

Nach jener ersten Dosis waren ihre Entführer sparsamer mit dem Laudanum umgegangen. Sie hatten ihr nur so viel verabreicht, dass sie benommen und schläfrig war, unfähig, irgendetwas zu unternehmen, geschweige denn zu fliehen. Daher entsann sie sich vage, durch weitere Städte gefahren zu sein, vorbei an Kirchtürmen und Marktplätzen. Konkret erinnerte sie sich allerdings nur an York. Sie waren nahe an der Kathedrale vorbeigekommen … War es vorhin gewesen, früher an diesem Morgen? Das Glockengeläut war so ohrenbetäubend gewesen, dass es sie aus der Betäubung gerissen hatte. Doch als die Kutsche abgebogen war und das Stadttor passiert hatte, war sie erneut eingeschlummert.

Das war das letzte Mal gewesen, dass sie wach geworden war. Und nun … Sie ließ den Kopf schlaff nach vorn hängen. Sie fühlte sich zu matt, um die Augen zu öffnen. Daher versuchte sie, ihre Umgebung mit den übrigen Sinnen zu erfassen.

Sie roch das Meer. Der typische salzige Duft lag in der Luft, und die Brise, die durch die Ritzen des Kutschenschlags drang, war rau und frisch. Sie hörte Möwen; ihre heiseren Schreie waren unverkennbar. Also … hatten sie York hinter sich gelassen und folgten der Küste.

Was bedeutete das für sie?

Fern von London und abseits der Great North Road kannte sie sich kaum aus. Aber wenn sie zunächst durch Oxford und danach durch York gefahren waren … erschien es ihr wahrscheinlich, dass ihre Häscher tatsächlich unterwegs nach Schottland waren. Dabei mieden sie die Great North Road, zweifellos deshalb, weil ihre Familie diese Straße von einem Ende zum anderen unter die Lupe nehmen würde.

Wenn ihre Entführer die Hauptverbindungsstraße nach Norden gemieden hatten, würde sich wenigstens dort keine Spur von ihnen finden. Das bedeutete vermutlich, dass niemand ihr zu Hilfe eilen würde … oder dass sie sich zumindest, was ihre Rettung betraf, nicht auf ihre Familie verlassen sollte.

Sie würde sich selbst retten müssen.

Der Gedanke ängstigte sie. Abenteuer zu bewältigen zählte nicht zu ihren Stärken. Derlei Dinge überließ sie Heather oder lieber noch Angelica. Sie selbst hingegen war die Stille unter ihnen dreien. Die mittlere Schwester, die Pianoforte und Harfe wie ein Engel spielte und gar ein Faible fürs Sticken hatte.

Aber wenn sie entkommen wollte – und das wollte sie natürlich –, würde sie selbst tätig werden und sich selbst helfen müssen.

Sie atmete tief durch, zwang sich, die Augen zu öffnen, und lugte verstohlen zu ihren Begleitern hinüber.

Es war das erste Mal, dass sie Gelegenheit hatte, ihre Entführer im Hellen zu mustern. Gemeinhin bemerkten sie, wenn sie zu sich kam, und gaben ihr rasch Laudanum. Die Frau, die Eliza zunächst für eine Zofe gehalten hatte, mochte eher eine Gesellschafterin sein, wie wohlhabende Familien des ton sie für die Unterhaltung und Pflege ältlicher Angehöriger engagierten. Sie wirkte adrett und tüchtig, wusste sich auszudrücken und war eine gepflegte Erscheinung. Sie hatte sich das volle dunkle Haar im Nacken zu einem strengen Knoten aufgesteckt. Ihr blasser Teint sowie ihre Züge legten nahe, dass sie einem verarmten niederen Adelsgeschlecht entstammte.

In ihrer Miene und vor allem in ihren Augen war eine gewisse Härte zu erahnen.

Die Pflegerin ähnelte Eliza in Größe und Statur – sie beide waren ein bisschen größer als die durchschnittliche Frau und von mittelschlankem Wuchs. Sie mochte ein paar Jahre älter als Eliza sein und als Pflegerin zudem um einiges kräftiger.

Eliza linste zu dem Mann, der während der gesamten Reise auf dem Platz ihr gegenüber ausgeharrt hatte. Mehrmals hatte sie ihn aus der Nähe gesehen, wenn er sie festgehalten hatte, während die Pflegerin ihr Laudanum eingeflößt hatte. Der ominöse Laird war er nicht. Sie hatte sich ins Gedächtnis gerufen, wie Breckenridge den geheimnisvollen Aristokraten beschrieben hatte: „Ein Gesicht wie gemeißelter Granit und Augen wie Eis.“

Zwar wies der Mann ihr gegenüber klare Gesichtszüge auf, aber diese waren weder besonders markant noch wirkten sie wie gemeißelt. Seine Augen passten erst recht nicht ins Bild: Sie waren dunkelbraun.

„Sie ist wieder wach.“ Es war die Pflegerin, der es aufgefallen war.

Der Mann hatte aus dem Fenster gestarrt. Er richtete den Blick auf Eliza.

„Sollen wir sie noch einmal ruhigstellen?“, fragte die Pflegerin.

Er schaute Eliza unverwandt in die Augen.

Schweigend hielt sie dem Blick stand.

Der Mann legte den Kopf schräg, als dächte er nach. „Nein“, erwiderte er nach einer Weile.

Erleichtert stieß Eliza den Atem aus. Sie hatte die Nase voll davon, ruhiggestellt zu werden.

Der Mann verlagerte sein Gewicht und sah die Pflegerin an. „Wenn wir Edinburgh erreichen, sollte sie in der guten Verfassung sein, in der sie sonst auch ist. Daher geben wir ihr ab jetzt besser kein Laudanum mehr.“

Edinburgh?

Eliza hob den Kopf, straffte die schlaffen Schultern und lehnte sich gegen das Sitzpolster, ehe sie den Mann unverhohlen und hochmütig musterte. „Und Sie sind …?“

Ihre Stimme klang rau und noch immer schwächlich.

Der Mann begegnete ihrem Blick, verzog die Lippen zu einem Lächeln und neigte den Kopf. „Scrope. Victor Scrope.“ Er schaute zu der Pflegerin hinüber. „Und das ist Genevieve.“ Den Blick erneut auf Eliza gerichtet, fuhr er fort: „Genevieve und meine Wenigkeit sowie der Kutscher, der zugleich als Aufpasser fungiert, sind von Ihrem Vormund beauftragt worden, Sie dem Sündenpfuhl London zu entreißen, wohin Sie entfleucht sind, und zurück zu seinem abgeschiedenen Anwesen zu bringen.“

Eliza lauschte seiner Geschichte, die mehr oder weniger der entsprach, mit der Heather durch ihre Entführer gefügig gemacht worden war.

„Wie man mir beschied“, fügte Scrope hinzu, „sind Sie, wie Ihre Schwester, klug genug einzusehen, dass Sie nur Ihren Ruf ruinieren würden, wenn Sie unterwegs irgendwen um Hilfe bäten.“

Als er abwartend eine Braue hochzog, nickte Eliza knapp. „Ja, ich verstehe.“

Ihre brüchige, leise Stimme wurde allmählich kräftiger.

„Hervorragend“, entgegnete Scrope. „Erwähnen sollte ich außerdem, dass wir bald die schottische Grenze überqueren werden, wo es umso fruchtloser sein wird, irgendwen um Hilfe zu ersuchen. Und falls Sie nicht in der Verfassung gewesen sein sollten, es zu bemerken: Wir haben die Great North Road gemieden. Selbst wenn Ihre namhafte Familie diese von Nord bis Süd absucht, wird sie keinerlei Hinweis auf Sie entdecken.“ Scrope sah ihr in die Augen. „Dass von dieser Seite Rettung naht, ist demnach ebenfalls unwahrscheinlich. Die kommenden Tage werden für uns alle einfacher sein, wenn Sie sich damit abfinden, dass Sie meine Gefangene sind und ich Sie nicht gehen lassen werde, bis ich Sie meinem Auftraggeber ausliefere.“

Seine gelassene, kühle Zuversicht ließ Eliza an einen eisernen Käfig denken.

Wieder nickte sie, wobei sie sich überrascht dabei ertappte, dass sie bereits fieberhaft nachdachte, ihre Lage einschätzte, auf eine Fluchtmöglichkeit sann. Mit der Anspielung auf Heather hatte Scrope bestätigt, dass es sich bei seinem Auftraggeber um jenen rätselhaften Laird handelte, der auch Heather hatte entführen lassen. Diesem Mann wollte sie nicht in die Finger fallen, so viel stand fest. Mit der Flucht zu warten, bis sie sich in der Gewalt des Lairds befand, würde bedeuten, erst zu reagieren, wenn sie vom Regen in die Traufe geraten wäre. Wie aber sollte sie entkommen, wenn sie in puncto Rettung nicht auf ihre Familie zählen konnte?

Sie wandte den Kopf und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. In der Ferne schimmerte hinter Felsenklippen das Meer im Licht einer verhangenen Sonne. Wenn sie an diesem Vormittag durch York gekommen waren … Sie war sich nicht sicher, mutmaßte jedoch, dass sie vor der Grenze mindestens eine größere Stadt passieren würden, egal, welche Kutschenroute sie nahmen.

Was immer sie tun würde, um sich zu befreien, sie wollte damit nicht bis Schottland warten. Wie Scrope im Rahmen seiner Drohung ganz richtig angemerkt hatte, würde sich die Wahrscheinlichkeit, dass ihr ein potenzieller Retter zu Hilfe käme, auf schottischem Boden verringern.

Und auf Rettung war sie angewiesen. Angesichts der Geschichte, die sich ihre Entführer zurechtgelegt hatten, würde ein Entkommen auf eigene Faust sie direkt in die gesellschaftliche Katastrophe führen.

Wie Heather benötigte auch sie einen Helden, der sie der Gefahr entriss.

Für Heather war Breckenridge zur Stelle gewesen. Wer würde kommen, um sie zu befreien?

Niemand, weil niemand wusste, wo sie steckte.

Breckenridge war Zeuge von Heathers Entführung geworden; er war ihr von Anfang an gefolgt. Keiner, davon war Eliza überzeugt, ahnte auch nur, wohin sie entschwunden war.

Wenn sie wollte, dass irgendwer sie rettete, würde sie selbst den Weg dafür bereiten müssen.

Sie wünschte, Angelica wäre bei ihr. Ihre jüngere Schwester wäre vor Ideen schier übergesprudelt und hätte es kaum erwarten können, sie in die Tat umzusetzen. Eliza hingegen wollte kein raffinierter Plan einfallen. Lediglich das Offensichtliche kam ihr in den Sinn: die einzige Schwachstelle in der Vormund-Fabel ihrer Entführer auszunutzen.

Wenn sie jemanden fände, der sie kannte – jemanden aus dem ton –, würde die Geschichte in sich zusammenfallen. So wohlhabend und einflussreich, wie ihre Familie war, ließe sich der skandalöse Umstand, dass sie sich tage- und nächtelang in den Händen von Entführern befunden hatte, sicherlich unter den Teppich kehren.

Aber eine solche Rettung würde diesseits der Grenze erfolgen müssen. Wären sie erst einmal in Schottland, bestünde kaum eine Chance darauf, auf jemanden zu treffen, der sie kannte und durch seine Aussage aus den Fängen ihrer Häscher befreien konnte.

Sie machte es sich in ihrer Ecke der Sitzbank bequem und richtete den Blick nach vorn, um die Wagen in Augenschein zu nehmen, die ihnen von Zeit zu Zeit entgegenkamen. Falls sie irgendwen ausmachte, der eventuell …

In diesem entlegenen Winkel Englands kannte sie nur zwei Familien näher – die Variseys auf Wolverstone und die Percys auf Alnwick. Falls ihre Entführer sich jedoch weiterhin von der Great North Road fernhielten, dürfte sie kaum jemanden aus diesen Haushalten sichten.

Sie sah Scrope an. „Wie lange noch, bis wir die Grenze erreicht haben?“ Sie schaffte es, die Frage gleichgültig klingen zu lassen.

Scrope schaute hinaus, zog eine Taschenuhr hervor und warf einen Blick darauf. „Es ist kurz nach Mittag, also sollten wir Schottland am Spätnachmittag erreichen.“ Er steckte die Uhr zurück in die Tasche und schaute zu Genevieve hinüber. „Wir werden in Jedburgh übernachten, wie geplant, und morgen früh weiterfahren nach Edinburgh.“

Eliza blickte hinaus auf die Straße. Sie war zweimal in Edinburgh gewesen. Wenn sie Jedburgh morgen früh hinter sich ließen, wären sie gegen Mittag in der schottischen Hauptstadt. Nach dem, was Scrope hatte fallen lassen, sollte sie dort dem Laird übergeben werden.

Doch sie würden die Grenze erst am Spätnachmittag überqueren, und es war erst Mittag. Sie war recht zuversichtlich, dass die Küstenstraße, auf der sie sich befanden, sie durch Newcastle upon Tyne führen würde, was sowohl von Wolverstone als auch von Alnwick aus die nächstgrößere Stadt war. Sofern sie nicht alles täuschte, würden sie durch die Stadt fahren müssen, um auf die Straße nach Jedburgh zu gelangen.

Ob nun Markttag war oder nicht – in langsamem Tempo durch Newcastle upon Tyne zu rollen wäre ihre Gelegenheit, jemanden auf sich aufmerksam zu machen, den sie kannte und der mit der örtlichen Obrigkeit auf vertrautem Fuße stand.

Abenteuer zu meistern mochte nicht zu ihren Stärken gehören, aber sie war der Herausforderung gewachsen. Sie würde sich befreien können.

Entspannt lehnte sie sich gegen die Polster, starrte hinaus auf die Straße und hielt nach den Dächern von Newcastle Ausschau.

Die Sonne lugte zwischen den Wolken hervor und strahlte herab; die Wärme machte Eliza schläfrig, aber sie versagte sich ein Nickerchen. Stattdessen rekelte und streckte sie sich, ehe sie sich wieder bequem hinsetzte. Die Sonne ließ die regennasse Straße voraus gleißen, und das grelle Licht schmerzte ihr in den Augen.

Eliza schloss sie; es musste sein, nur kurz. Nur bis das Brennen nachließ.

Eliza schreckte aus dem Schlaf hoch. Eine Sekunde lang erinnerte sie sich an nichts … bis ihr die Situation wieder bewusst wurde. Siedend heiß fiel ihr ein, worauf sie gewartet hatte. Als sie aus dem Fenster schaute, erkannte sie, dass über eine Stunde vergangen sein musste.

Sie überquerten eine breite Brücke. Auf den hölzernen Planken klang das Schnarren der Räder anders als auf der Straße, und das hatte sie geweckt.

Mit pochendem Herzen richtete sie sich auf und sah aufmerksamer hinaus. Häuser säumten die Straße, wie sie erleichtert feststellte. Das mussten die Ausläufer von Newcastle upon Tyne sein. Sie hatte die Stadt nicht verpasst.

Sie rückte sich auf ihrem Platz zurecht, bewegte den Oberkörper, um sich zu lockern, und lehnte sich, die Schultern gestrafft, wieder zurück, um erneut aus dem Fenster zu blicken.

Durch schiere Willenskraft versuchte sie, jemanden heraufzubeschwören, den sie kannte. Vielleicht schlenderte ja Minerva, die Duchess of Wolverstone, über die Gehsteige der Stadt, um einzukaufen.

Vorzugsweise in Begleitung ihres Gatten.

Eliza fiel niemand ein, der ihre Freisetzung meisterhafter erwirken könnte als Royce, der Duke of Wolverstone.

Sie spürte Scropes argwöhnischen Blick auf sich ruhen, scherte sich aber nicht darum. Sie musste wachsam bleiben. Sobald sie einen etwaigen Retter entdeckte, würde sie handeln, und dann wäre es zu spät für Scrope, sie aufzuhalten.

Nur … Je weiter sie fuhren, desto dünner wurde die Besiedelung, ehe sie sich gänzlich verlief.

Eliza war hinter der Stadt aufgewacht und nicht etwa kurz davor, wie sie angenommen hatte.

Sie hatte ihre Chance verpasst.

Ihre beste und vermutlich einzige Chance darauf, sich von jemandem aus ihrer misslichen Lage retten zu lassen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie, wie ihr das Herz sank.

Bis in die Magengrube.

Sie schluckte und ließ die Schultern hängen.

Innerlich aufgewühlt, würdigte sie Scrope keines Blickes, spürte jedoch, dass er sie nicht länger musterte, sondern sich entspannte.

Auch ihm durfte klar sein, dass sie seine Pläne nun kaum noch würde vereiteln können.

„Das“, setzte Scrope an, vorgeblich an Genevieve gewandt, „war die letzte größere Stadt vor der Grenze. Zwischen hier und Jedburgh liegt vorwiegend offenes Gelände – wir sollten lange vor Sonnenuntergang in der Stadt sein.“

Genevieve gab einen Laut der Zustimmung von sich.

Eliza fragte sich, ob Scrope ihre Gedanken lesen konnte. Falls er sie hatte einschüchtern und entmutigen wollen, war ihm dies gelungen.

Sie starrte weiterhin aus dem Fenster, obwohl sie die Hoffnung aufgegeben hatte. Dies war eindeutig nicht die Great North Road. Den Abschnitt zwischen Newcastle und Alnwick kannte sie von mehreren Reisen, und diese Strecke hier war sie nie zuvor gefahren. Jenseits des Straßengrabens erstreckten sich Felder. Die einzigen Dächer, die sie erspähte, gehörten zu Bauernkaten und Gehöften.

Die Kutsche rollte in stetem Tempo dahin und brachte sie dem Norden immer näher, derweil die Räder einen unablässigen, erbarmungslosen Rhythmus ratterten. Ab und zu begegnete ihnen ein anderes Gefährt, zumeist landwirtschaftliche Gespanne.

Die Straße wurde schmaler. Wann immer ihnen nun ein Fahrzeug entgegenkam, mussten beide Wagen die Geschwindigkeit drosseln und sich vorsichtig aneinander vorbeibewegen.

Eliza blinzelte, dabei achtete sie darauf, weiterhin zusammengesunken dazusitzen – scheinbar niedergeschlagen. Nichts sollte Scropes Argwohn wecken.

Sollte zufällig ein potenzieller Retter in einer Kutsche, einem Gig oder einem Karren Richtung Newcastle unterwegs sein … so saß sie auf der richtigen Seite der Kutsche, um den Betreffenden zu alarmieren.

Sie steckte in der Klemme. Wenn auch nur ein Landjunker – irgendwer aus dem niederen Adel – auftauchte, musste sie bereit sein, die Gelegenheit zu nutzen, und um Hilfe rufen. So wie die Dinge standen, wussten ihre Angehörigen nicht, wohin sie gebracht wurde. Es würde genügen, jemanden zu veranlassen, nach London zu schreiben. Erreichte die Kunde erst einmal London, würde schon irgendwer ihre Eltern benachrichtigen.

An diese Hoffnung musste sie sich klammern.

Sie musste jemanden auf sich aufmerksam machen, und die Strecke bis zur Grenze stellte ihre allerletzte Chance dar.

Wenn sich ihr eine Gelegenheit böte – egal, welche –, würde sie diese ergreifen müssen.

Scheinbar selbstvergessen heftete sie den Blick auf die Straße und bereitete sich innerlich darauf vor zu handeln. Sie mochte nicht Heathers beharrliche Entschlossenheit besitzen oder so tollkühn und wagemutig wie Angelica sein. Aber sie wollte verflucht sein, wenn sie sich irgendeinem dahergelaufenen schottischen Laird aushändigen ließe, ohne auch nur zu versuchen, sich zu befreien.

Sie mochte die Stille sein; das hieß jedoch nicht, dass sie sich alles gefallen ließ.

Jeremy Carling lenkte sein Karriol um eine scharfe Kurve und fuhr in gleichmäßiger Geschwindigkeit südwärts; es war die erste Etappe seiner langen Rückreise nach London.

Mittags war er von Wolverstone Castle aufgebrochen. Anders als sonst war er nicht Richtung Osten über Rothbury und Pauperhaugh gefahren, um auf die Straße nach Morpeth und Newcastle upon Tyne zu gelangen. Stattdessen hatte er sich entschieden, die westliche Route am nördlichen Saum des Harwood Forest entlang zu nehmen, um gleich südlich von Otterburn in eine Nebenstraße einzubiegen und dieser bis nach Newcastle zu folgen.

Er wollte die grünen Fluren genießen, und obgleich er auf der weniger befahrenen Strecke über die Hügel vergleichsweise langsam vorangekommen war, hatte der Ausblick ihn mehr als entschädigt.

Nun, da er die besser ausgebaute Straße unter den Rädern seines Karriols hatte, ließ er seine neueste Errungenschaft – einen prachtvollen Rappen, den er Jasper getauft hatte – ein strammes Tempo vorlegen. Der Nachmittag neigte sich dem Ende entgegen, aber er würde Newcastle und das Inn, in dem er immer Quartier bezog, vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Da er sich gerade nicht mit lebenspraktischen Dingen auseinandersetzen musste, glitten seine Gedanken, wie stets, zu alten Hieroglyphen. Sein ganzes Dasein drehte sich gleichsam um das Studium von Hieroglyphen.

Seine Faszination für die geheimnisvollen Wortbilder war geweckt worden, nachdem seine Eltern gestorben waren und er und seine Schwester Leonora von ihrem verwitweten Onkel Sir Humphrey Carling aufgenommen worden waren. Damals war Jeremy zwölf gewesen und schier unersättlich wissbegierig – ein Wesenszug, der ihm erhalten geblieben war. Schon damals hatte Humphrey als Koryphäe für alte Sprachen gegolten, vor allem für mesopotamische und sumerische Schriften. Sein Haus war bis unters Dach vollgestopft mit Pergamenten und muffigen Folianten, mit Bündeln von Papyrusrollen und Zylindersiegeln mit eingravierten Motiven.

Während er Jasper vor einer Kurve zügelte, dachte er lächelnd zurück an längst vergangene Tage.

Die alten Schriften und Sprachen und die Hieroglyphen hatten ihn vom ersten Augenblick an gebannt. Sie zu übersetzen und ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken war ihm bald zur Passion geworden. Während die Söhne anderer Gentlemen Eton oder Harrow besucht hatten, war er – von früher Kindheit an als begabter und wissbegieriger Schüler bekannt – von Privatlehrern und Humphrey selbst unterrichtet worden. Andere Gentlemen seiner Generation hatten alte Schulfreunde, er hingegen hatte alte Kollegen.

Dieses Leben war genau nach seinem Geschmack gewesen; er hatte sich darin so wohlgefühlt wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser.

Sowohl Humphrey als auch er waren vermögend; er durch die ansehnliche Erbschaft, die ihm seine Eltern hinterlassen hatten. Und so hatten sie sich frohgemut Seite an Seite in ihren alten Wälzern vertieft, sich in der feinen Gesellschaft möglichst rargemacht und ihre sozialen Kontakte auf gleichgesinnte Wissenschaftler beschränkt.

Hätten die Umstände es zugelassen, so hätten sie vermutlich den Rest ihrer Tage in behaglicher Abgeschiedenheit verbracht. Doch vor einigen Jahren hatte Jeremy beschlossen, die Arbeit seines Onkels fortzuführen, und dieser Entschluss war in einer Zeit gefallen, da sich die Öffentlichkeit plötzlich für alles interessierte, was antik war. Als Folge daraus waren private Institutionen wie auch reiche Familien mit der Bitte an sie herangetreten, Authentizität und Wert manch alten Werks in ihren Sammlungen zu bestimmen. Obwohl Humphrey nach wie vor die eine oder andere Begutachtung vornahm, war er im Laufe der Jahre gebrechlich geworden. Daher fiel es meistens Jeremy zu, die immer geschäftsmäßiger werdende Unternehmung zu führen und antike Stücke für die Allgemeinheit zu schätzen.

Inzwischen hatte er sich einen solch guten Ruf erworben, dass ihm die Besitzer alter Manuskripte nicht selten horrende Summen für seine Expertisen boten. In gewissen Kreisen war es populär geworden, sich damit zu brüsten, man besitze eine alte mesopotamische Schriftrolle, die von niemand Geringerem als dem hoch angesehenen Jeremy Carling geprüft worden sei.

Bei diesem Gedanken zuckte es unwillkürlich um seine Lippen und ebenso bei dem nachfolgenden: Die Gattinnen der Männer, die ihn konsultierten, waren nicht minder darauf aus, ihn zu einem Besuch zu nötigen, damit sie herumerzählen konnten, sie hätten den so berühmten wie öffentlichkeitsscheuen Gelehrten bewirtet.

In gesellschaftlicher Hinsicht hatte sein Hang zur Abgeschiedenheit bewirkt, dass eben diese gefährdet war. Er stammte aus renommiertem Hause, verfügte über exzellente Verbindungen und war überaus geachtet, erfreulich betucht sowie schrecklich schwer zu fassen. Gepaart mit seinem einsamen Dasein, ließ ihn das in den Augen so mancher Gastgeberin zu einer begehrten Beute werden. Welch Ränke einige von ihnen geschmiedet hatten, um ihm Fesseln anzulegen und zu ihrem Gefangenen auf Lebenszeit zu machen, erstaunte selbst ihn.

Keine der Damen war erfolgreich gewesen, und keine würde es sein; er liebte sein beschauliches Dasein.

Gutachten für die breite Masse anzufertigen war lukrativ und nicht selten befriedigend. Den Großteil seiner Zeit verbrachte er allerdings aus freien Stücken in seiner Bibliothek und widmete sich dem Übertragen, Studieren und Veröffentlichen von Werken. Einige davon entdeckte er selbst; andere wurden ihm, dem namhaften Gelehrten und Sammler, durch die bedeutenden öffentlichen Einrichtungen zugespielt, die sich der ernsthaften Erforschung alter Kulturen verschrieben hatten.

Seine akademischen Studien und Beiträge würden den Hauptanteil, die Essenz seines wissenschaftlichen Vermächtnisses, darstellen; dieser Sphäre würde stets sein vorrangiges Interesse gelten.

In diesem Punkt waren Humphrey und er wesensgleich. Sie beide waren zufrieden damit, in ihrem Londoner Domizil am Montrose Place in der riesigen Doppelbibliothek zu sitzen – jeder von ihnen besaß eine eigene – und alte Bücher zu wälzen. Nur ein Köder vermochte sie aus ihrer akademischen Einsiedelei zu locken: die Aussicht darauf, einen unbekannten Schatz zu entdecken.

Für solche Augenblicke lebten Wissenschaftler wie er. Nichts berauschte sie mehr als die Erregung, die damit einherging, auf ein altes, verschollenes Dokument zu stoßen – diesem Rausch waren sie alle, sie als Spezies, unrettbar verfallen.

Ein eben solcher Köder hatte ihn in den entlegensten Winkel von Northumberland nach Wolverstone Castle geführt, wo Royce Varisey, der Duke of Wolverstone, und dessen Frau Minerva lebten. Royce und Minerva waren enge Freunde von Leonora und deren Gatten Tristan Wemyss, Viscount Trentham, und mit den Jahren hatte auch Jeremy ein freundschaftliches Band zu den beiden geknüpft. Folglich hatte Royce sich an ihn gewandt, als er bei der Katalogisierung der imposanten Bibliothek seines verstorbenen Vaters auf ein antikes Hieroglyphenwerk gestoßen war und es begutachten lassen wollte.

In sich hineingrinsend, ließ Jeremy die Leinen schnalzen, um den Rappen Jasper anzutreiben. Er hatte Glück gehabt; Royces Buch hatte sich als grandioser Fund entpuppt, als eine verschollen geglaubte sumerische Schrift. Er konnte es kaum erwarten, Humphrey davon zu berichten und auf Grundlage seiner umfangreichen Notizen einen entsprechenden Vortrag für die Royal Society anzufertigen. Seine Erkenntnisse würden für Furore sorgen.

Vorfreude strömte ihm durch die Adern. In Gedanken bereits in der Zukunft, beschwor er das Bild seiner Bibliothek zu Hause herauf.

Den Frieden, die Behaglichkeit und Stille dort.

Die Leere.

Der Gedanke ernüchterte ihn. Er war versucht, ihn beiseitezuschieben, wie er es stets tat, aber … Er befand sich mitten im Nirgendwo und hatte nichts, womit er sich ablenken konnte. Vielleicht war es an der Zeit, sich dem Problem zu stellen.

Wann genau die unterschwellige Unzufriedenheit eingesetzt hatte, die ihn rastlos stimmte, vermochte er nicht zu sagen. Mit seiner Arbeit hatte sie nichts zu tun – was die anging, schaute er einer rosigen Zukunft entgegen. Nach wie vor begeisterte ihn seine Berufung, fesselte ihn sein langjähriges Faible, das Metier, das er sich selbst ausgewählt hatte.

Die Ruhelosigkeit hatte nichts mit Hieroglyphen zu tun.

Vielmehr keimte lästiges Unbehagen in seinem Innern und erfüllte ihn mit dem verstörenden Gefühl, etwas Wesentliches versäumt und auf irgendeine Weise versagt zu haben.

Nicht im Hinblick auf seine Arbeit, sondern auf sein Leben.

In den zwei Wochen, die er auf Wolverstone verbracht hatte, war dieses Gefühl übermächtig geworden; ja auf gewisse Weise hatte sich die Sache zugespitzt.

Minerva, Wolverstones reizende Gattin, hatte ihn unverhofft darauf gestoßen. Ihre Abschiedsworte hatten ihn gezwungen, der lange verdrängten Wahrheit ins Auge zu sehen.

Familie. Kinder. Seine Zukunft.

Sein Aufenthalt auf Wolverstone hatte ihm vor Augen geführt, wie ein solches Leben sein konnte.

Er war ohne Eltern aufgewachsen und hatte seine prägenden Jahre nur in Gesellschaft von Humphrey – damals schon ein zurückgezogen lebender Witwer – und Leonora verbracht. Somit hatte er nicht gewusst, wie es war, von der ausgelassenen Schar einer großen Familie umgeben zu sein, von der Wärme und dem Zauber, von der besonderen Form von Geborgenheit. Er hatte nicht geahnt, welch enormer Unterschied zwischen einem Haus und einem Heim bestand.

Das Haus, das er sich mit Humphrey teilte, war schlicht das: ein Haus.

Ihm fehlten die wesentlichen Attribute, die es zu einem Heim machten.

Jeremy hätte nicht gedacht, dass dies von Belang sei, nicht für ihn oder Humphrey.

Darin hatte er sich getäuscht, zumindest was ihn selbst betraf. Dieser Trugschluss und dessen Verdrängung sowie die Weigerung zu handeln lagen seinem Unwohlsein zugrunde, gaben ihr Nahrung und machten sie zusehends quälender.

„Du wirst bald eine Entscheidung treffen müssen, mein lieber Jeremy“, hatte Minerva ihm beim Abschied gesagt. „Ansonsten wachst du eines Tages als alter, einsamer Mann auf.“

Sie hatte ihn warmherzig und verständnisvoll angesehen.

Doch ihre Worte hatten ihm Kälte bis ins Mark gesandt.

Sie hatte ihren zierlichen Finger auf genau die Wunde gelegt, die – so war ihm jäh klar geworden – seine größte Angst darstellte.

Leonora hatte Tristan gefunden und Tristan sie. Sie hatten, wie Royce und Minerva, eine Familie gegründet, hatten nunmehr ihre eigene liebevolle, lärmende Schar.

Er hatte seine Bücher, aber wie Minerva angemahnt hatte, würden diese ihn in den vor ihm liegenden Jahren nicht wärmen – vor allem nicht, wenn Humphrey, jetzt schon altersschwach, von ihm gegangen wäre. Ob er es dann bereuen würde, sich keine Frau gesucht zu haben, die mit ihm durchs Leben ging und ihm Kinder schenkte? Ob er es bereuen würde, nichts unternommen zu haben, um Kinderstimmen und -gelächter durch die Korridore schallen zu hören, um selbst Kinder zu haben, die er aufwachsen sehen konnte?

Würde er es bereuen, keinen Sohn zu haben, an den er sein angehäuftes Wissen weiterreichen konnte, wie Royce es mit seinem ältesten Jungen getan hatte? Wie es wohl wäre, einen Sohn oder auch eine Tochter zu haben und seine Faszination für alte Schriften teilen zu können, so wie Humphrey diese mit ihm geteilt hatte?

Lange hatte er geglaubt, dass ihm derlei Dinge nicht wichtig seien, aber nun …

Er war bereits siebenunddreißig – eine Tatsache, die Minerva bekannt war und die sie zweifellos zu ihrer Bemerkung veranlasst hatte. Zwar wirkte er jünger, bedingt durch seine schlanke Gestalt, die erst in den letzten Jahren kräftiger geworden war. Aber dass Minerva mit ihrer Beobachtung richtiglag, war nicht zu leugnen. Wenn er eine Familie wollte, wie sie und Royce, Leonora und Tristan sie hatten, musste er etwas dafür tun.

Bald.

Soeben war er durch den Weiler Raylees gesaust. Ein Schild tat kund, dass voraus Raechester lag. Noch eine Stunde Fahrt stand ihm bevor, und er hatte nichts, womit er sich in Gedanken hätte beschäftigen können. Er konnte die Zeit ebenso gut nutzen.

Um zu entscheiden, was er wollte.

Das dauerte zwei Sekunden – er wollte eine Familie wie die, die sein Schwager hatte. Wie Royce sie hatte. Selbst die Einzelheiten sah er im Geiste lebhaft vor sich.

Blieb die Frage, wie er dies bewerkstelligen sollte.

Es lag auf der Hand, dass er eine Frau benötigte.

Wie sollte er an eine gelangen?

An diesem Punkt fiel seinem viel gepriesenen Verstand nichts mehr ein.

Also tat er, was jeder Wissenschaftler getan hätte, und formulierte die Frage um. Welche Art von Frau wünschte er sich beziehungsweise bräuchte er für ein optimales Resultat?

Das war einfacher zu definieren. Die Frau, die er wollte und brauchte, musste still, zurückhaltend und wenn schon nicht selbstgenügsam, so doch wenigstens einverstanden damit sein, dass er seine Tage mit der Nase in einem Buch verbrachte. Sie musste sich damit zufriedengeben, einen Haushalt zu leiten und sich um die Kinder zu kümmern, mit denen sie gegebenenfalls gesegnet sein würden. Er sah es regelrecht vor sich, dieses scheue, in sich gekehrte Wesen – eine unterwürfige, bescheidene, gefällige Dame, die seine wissenschaftlichen Bestrebungen keineswegs zu behindern, geschweige denn zu unterbinden trachtete.

Er zügelte Jasper und ließ ihn durch das kleine Dorf Raechester traben. Dabei schnitt er eine Grimasse. Seine bisherigen Begegnungen mit dem schwachen Geschlecht hatten ihm überdeutlich bewusst gemacht, dass ein solcher Ausbund an löblichen Tugenden nicht leicht zu finden sein würde. Frauen – zumindest die, mit denen er verkehrt hatte – liebten Aufmerksamkeit. Dieser Tatbestand führte stets dazu, dass sich seine und ihre Wege trennten.

Abgesehen davon hatte er nichts gegen Frauen per se; einige, wie die Cynster-Zwillinge Amanda und Amelia, fand er recht unterhaltsam. In jüngeren Jahren hatte er sich mit so mancher gelangweilten Matrone des ton eingelassen, gefolgt von drei längeren Liaisons. Schlussendlich jedoch war er den wachsenden Ansprüchen der jeweiligen Dame überdrüssig geworden und hatte sich so behutsam wie möglich aus der Affäre gezogen.

In den letzten Jahren hatte er sich hinter seinem Eremitendasein verschanzt und Abstand zu allen weiblichen Geschöpfen gewahrt. In seinen Augen bedeuteten Techtelmechtel mehr Mühe, als sie wert waren. Leonora hatte ihm zugesetzt und behauptet, seine vergangenen Erfahrungen bedeuteten schlicht, dass er der Frau noch nicht begegnet sei, die jede Mühe wert war und für die es sich zu kämpfen lohnte.

Von der logischen Warte aus musste er ihr beipflichten, aber das änderte nichts an seinen Zweifeln daran, dass eine solche Frau überhaupt existierte, geschweige denn ihm über den Weg liefe.

Von der intellektuellen Warte aus war er zum einen auf der Hut vor Frauen, und zum anderen nahm er sie nicht ganz für voll. Auf der Hut deswegen, weil er sich gelegentlich fragte, ob sie sich nicht auf einer anderen Ebene der Rationalität bewegten und ihm daher, zumindest in gesellschaftlicher Hinsicht, überlegen waren. Nicht ganz für voll nahm er sie, weil er noch keiner begegnet war, die ihn in puncto Verstand und Logik beeindruckt hätte.

Was zugegebenermaßen auch auf die meisten Männer zutraf.

Gleichwie. Nun, da er sich entschlossen hatte … Hatte er das? Ja, vermutlich. Nun, da er sich also entschlossen hatte, eine Frau zu finden, würde er … Wie würden Tristan und dessen Spießgesellen vom Bastion Club es ausdrücken? Er würde eine Kampagne zum Erreichen seines Ziels erarbeiten müssen.

Sein Ziel, das darin bestand, eine Frau aufzutreiben, die er umwerben und heiraten konnte und die zudem über einen untadeligen Charakter und all die von ihm aufgelisteten Eigenschaften verfügte.

Auch würde es nicht schaden, wenn sie einigermaßen ansehnlich und von gleichem Stand wie er wäre. Er wäre keine große Hilfe, sollte das arme Ding in komplizierten Sachverhalten erst unterwiesen werden müssen, in Dingen wie der Frage beispielsweise, wem man beim Betreten eines Raums den Vortritt zu lassen hatte.

Das Ziel seiner Kampagne war somit klar abgesteckt. Wie sollte er vorgehen, um es zu erreichen? Sein erster Schritt musste darin bestehen, eine geeignete Kandidatin ausfindig zu machen.

Leonora hätte ihm sofort geholfen, hätte er sie gefragt.

Doch wenn er dies täte … würden sich die alten Klatschtanten – der weibliche, betagtere Teil von Tristans Verwandtschaft – ebenfalls ins Getümmel stürzen. Weder er noch Leonora oder Tristan würden sie – und die absehbare Katastrophe – aufhalten können. Die alten Damen meinten es gut, hegten jedoch rigide Ansichten und kommandierten alle Welt herum.

Ergo galt: Wenn er Leonora nicht um Hilfe bitten konnte, würde er auch keine andere Frau darum ersuchen können. So viel stand fest. Damit blieben ihm die Männer – Tristan, seine einstigen Kollegen, die inzwischen gute Freunde waren, und nicht zuletzt Royce.

Er versuchte, sich auszumalen, inwiefern sie ihm dienlich sein könnten. Doch abgesehen von taktischen Ratschlägen – mit denen sie ihn im Laufe der Jahre hinreichend bedacht hatten –, wusste er nicht, wie sie ihm helfen sollten, jene besondere junge Dame aufzuspüren und kennenzulernen. Sie waren samt und sonders verheiratet und mieden gesellschaftliche Ereignisse ebenso wie er. In dieser Hinsicht waren sie kaum von Nutzen.

Er sondierte seinen Bekanntenkreis. Über seine Verbindung zu den Cynsters kannte er mehrere Junggesellen. Doch wann immer sie einander begegnet waren, hatte er den Eindruck gewonnen, dass auch sie auf Abstand zur Gesellschaft blieben – zumindest zu den Sphären, in denen sich unvermählte junge Damen bewegten.

Hm. Wenn er es recht bedachte, hielten sich sämtliche Gentlemen, mit denen er Umgang pflegte, im Großen und Ganzen von jungen Damen fern … so lange, bis sie heiraten mussten.

Stirnrunzelnd zügelte er Jasper, und in gemächlichem Schritt gelangten sie durch Knowesgate. Kaum hatten sie die kleine Ansammlung von Häusern hinter sich gelassen, ließ er Jasper wieder laufen.

Es musste doch irgendjemanden geben, den er um Hilfe dabei bitten konnte, die Frau dingfest zu machen, die zum Erreichen seines Ziels unerlässlich war. Die Vorstellung, diese Frau auf eigene Faust auftun zu müssen … Er wüsste nicht, wo er anfangen sollte.

Der Gedanke an Almack’s war so abschreckend, dass er drauf und dran war, das ganze Projekt fallen zu lassen … Es musste also einen anderen Weg geben.

Eine Meile später war ihm noch immer nichts Sinnvolles eingefallen. Er passierte die Einmündung der Straße, die zum Weiler Kirkwhelpington führte, und bog in flottem Trab um eine lang gezogene Kurve.

Vor ihm tauchte eine Kutsche auf, die erste, der er heute begegnete. Rumpelnd folgte sie dem Kurvenverlauf und hielt auf ihn zu.

„Verdammt.“ Dies war keine breite Landstraße, sondern viel zu schmal, um in diesem Tempo aneinander vorbeizuziehen.

Erneut zügelte er Jasper. Auch die entgegenkommende Kutsche verlangsamte ihre Geschwindigkeit. Vorsichtig lavierte er das äußere Rad seines Karriols aufs Bankett und hob eine Hand zum Gruß an den anderen Kutscher, der sein Gespann so weit an den anderen Straßenrand lenkte, wie er es wagen durfte.

Jeremy war ganz aufs Lenken konzentriert, um zu verhindern, dass sich die Räder der Kutsche und seines Karriols im Vorbeirollen berührten, als ein Klopfen am Fenster der Kutsche ihn aufschauen ließ …

Er blickte in ein blasses Gesicht, das Gesicht einer Frau.

Die Miene verzweifelt, die Augen weit aufgerissen, hämmerte sie mit den Handflächen gegen die Scheibe.

Er sah sie die Lippen bewegen – hörte gedämpft ihren Schrei.

Sie wurde von Männerpranken bei den Schultern gepackt und zurückgerissen.

Dann war die Kutsche vorüber, und die Straße voraus lag leer da.

Jasper ruckte ungeduldig an den Leinen.

Jeremy, der wie betäubt war und das gerade Beobachtete verarbeitete, ließ gedankenverloren die Hände sinken und den Rappen antraben.

Plötzlich blinzelte er, wandte den Kopf und schaute der Kutsche nach.

Sie hatte wieder beschleunigt, brauste jedoch keineswegs davon, sondern rollte in demselben steten Tempo dahin wie zuvor.

Eine halbe Minute darauf war sie hinter der Kurve verschwunden und für ihn nicht mehr zu sehen.

Den Blick wieder nach vorn gerichtet, ließ er seinen Rappen weitertraben.

Derweil analysierte er das Gesehene.

Er war Experte für alte Hieroglyphen und besaß ein vortreffliches Gedächtnis für derlei Dinge. Gesichter waren im Grunde kaum anders als Hieroglyphen, und er wusste, er war dem Gesicht von gerade schon einmal begegnet.

Nur wo? Er kannte niemanden in dieser Gegend, mit Ausnahme der Bewohner von Wolverstone …

London. In einem Ballsaal. Vor mehreren Jahren.

Jäh hatte er die Szene vor Augen.

„Eliza Cynster.“

Noch während er den Namen aussprach, schoss ihm eine weitere Erinnerung durch den Kopf – am Tag seiner Ankunft auf Wolverstone hatte Royce einen Brief von Devil Cynster vorgelesen, in dem es um die vereitelte Entführung Heather Cynsters und die Mutmaßung gegangen war, dass auch ihre Schwestern in Gefahr schwebten …

„Verflucht!“ Jeremy zog die Leinen an und ließ Jasper halten.

Entsetzt starrte er die Straße entlang.

Heather Cynster war von ihren Entführern nach Schottland gebracht worden. Die Kutsche hinter ihm hielt auf die schottische Grenze zu.

Und er konnte sich denken, was Eliza geschrien hatte.

Hilfe!

Sie war ebenfalls entführt worden.

Eliza ließ sich zurück in die Ecke der Kutsche sinken, in die Scrope sie gezerrt hatte. Er hatte sie wütend angefahren, sich jedoch rasch beherrscht. Wie beunruhigt er durch ihren Ausbruch auch sein mochte, er verbarg es hinter seiner üblichen unbewegten, steinernen Miene.

Auch Genevieve hatte sie erbost angezischt, ihre klauenartigen Finger um ihr Handgelenk gekrallt und sie festgehalten, als hätte Eliza vor, sich aus der Kutsche zu stürzen.

Das stand kaum zu befürchten.

Scrope ragte dräuend über ihr auf. Mit einer Hand stützte er sich am Kutschendach ab, um das Gleichgewicht zu halten, und musterte sie kühl, ehe er die Dachluke öffnete und dem Kutscher zurief: „Das Karriol, das gerade an uns vorbeigezogen ist – hat der Fahrer angehalten?“

„Nein“, antwortete der Kutscher nach einem Augenblick. „Hat uns verwirrt hinterhergeschaut, ist dann aber weitergefahren. Warum?“

Scrope fixierte Eliza. „Weil unsere kostbare Fracht versucht hat, den Mann auf sich aufmerksam zu machen. Sicher, dass er uns nicht folgt?“

Ein weiterer Moment verstrich. „Da ist niemand hinter uns.“

„Gut.“ Scrope schloss die Luke und starrte auf Eliza hinab, wobei er vom Schaukeln der Kutsche leicht hin und her geworfen wurde.

Eliza erwiderte seinen Blick und stellte überrascht fest, dass sie keine Angst im eigentlichen Sinn empfand. Sie hatte getan, was sie hatte tun müssen – und nun kaum mehr Kraft für irgendetwas, nicht einmal dafür, sich anständig zu fürchten.

Schließlich regte sich Scrope und setzte sich wieder ihr gegenüber. „Wie Sie soeben selbst bewiesen haben, nützt es Ihnen nichts, eine Szene zu machen – es führt zu nichts. Also.“ Er maß sie mit kaltem Blick. „Müssen wir Sie fesseln und bei unserem nächsten Halt unsere Geschichte zum Besten geben, oder werden Sie sich benehmen?“

Sie rief sich ins Gedächtnis, welcher List sich Heather bei ihren Entführern bedient hatte. Heather hatte so getan, als wäre sie hilflos und ausgeliefert. Daher ließ Eliza demonstrativ die Schultern hängen, wobei sie ihre Niedergeschlagenheit nicht gänzlich heucheln musste. „Es ist eindeutig hoffnungslos, also kann ich mich ebenso gut fügen.“

Solange es ihr passte.

Sie hatte sich bewusst schwach gegeben und ließ die Schwäche aus ihrer Haltung und ihrer Stimme sprechen. Somit überraschte es sie nicht, dass Scrope nickte, nachdem er sie eingehend gemustert hatte. Er sah Genevieve an. „Lassen Sie sie los. Aber wenn sie Anstalten macht, uns erneut Schwierigkeiten zu bereiten, werden wir sie fesseln und knebeln.“

Finster dreinblickend, ließ Genevieve von Elizas Handgelenk ab und lehnte sich leise schnaubend zurück.

Sie saßen wieder da wie vor dem Drama – bevor Eliza im Vorbeifahren Jeremy Carling entdeckt hatte.

Sie wusste, sie hätte jämmerlich enttäuscht sein sollen, doch nicht einmal dazu fühlte sie sich in der Lage. Als sie wieder klar hatte denken können, hatte sie angenommen, dass die Wirkung des Laudanums abgeklungen sei. Sie hatte geglaubt, wieder zu ihrer alten Stärke zurückgefunden zu haben, so weit zumindest, dass sie einem Vorbeifahrenden ihre Lage unmissverständlich vermitteln könnte, sobald beziehungsweise falls sich die Gelegenheit ergäbe.

Allerdings hatte sie wenig Hoffnung gehabt, jemandem zu begegnen, der ihr helfen konnte. Doch dann war, oh Wunder, ein ihr vertrautes Gesicht aufgetaucht.

Ohne nachzudenken, hatte sie sich gegen das Kutschenfenster geworfen, gegen die Scheibe getrommelt und um Hilfe geschrien …

Kaum hatte sie sich bewegt, war sie von Schwindel befallen worden. Aber in ihrer Verzweiflung hatte sie all ihre Energie und Entschlossenheit aufgewandt, um die Gelegenheit zu nutzen.

Nun war sie erschöpft, regelrecht ausgelaugt.

Und wie es aussah, war alles umsonst gewesen.

Jeremy Carling. Wieso hatte das Schicksal ihr von allen Gentlemen ausgerechnet diesen schicken müssen?

Er war ein Gelehrter, ein Visionär, ein gefeiertes Genie, aber zugleich war er reserviert und zeigte keinerlei Interesse am gesellschaftlichen Leben. Er war so zerstreut, dass er sich vermutlich nicht einmal ihren Namen gemerkt hatte.

Womöglich hatte er sie gar nicht wahrgenommen, gar nicht erkannt, dass sie einander schon mehr als einmal über den Weg gelaufen waren.

Damit musste sie rechnen. Obwohl sie ihm vor Jahren auf einem Ball offiziell vorgestellt worden war und ihn mehrmals in den Salons ihrer Verwandtschaft gesichtet hatte, hatte sie kaum mehr als zwei Worte mit ihm gewechselt – und dies auch nur bei ihrer allerersten Begegnung. Damals hatte er so abwesend gewirkt, dass sie sich rasch einen höflichen Vorwand ausgedacht hatte, um der Gruppe zu entkommen, in deren Gesellschaft er sich befunden hatte.

Allerdings war ihr vorhin nichts anderes übrig geblieben; Tatsache war, dass sie die Chance hatte ergreifen müssen, als sie sich ihr dargeboten hatte.

Sie seufzte schwer, ohne etwas darauf zu geben, dass die anderen beiden es hörten. Es würde sie umso glaubwürdiger in ihrer Rolle als geschlagene, wehrlose Frau machen … Eine solche Frau war sie nicht, aber momentan fühlte sie sich wie eine.

Die Augen geschlossen, versuchte sie, sich zu entspannen und Kraft und Willensstärke zu sammeln.

Vage Hoffnung keimte in ihr auf.

Immerhin hatte sie Jeremy Carling erkannt, und somit mochte er – wenn auch nur vielleicht – seinerseits sie erkannt haben.

Es war eine schwache Hoffnung, jedoch die einzige, die ihr blieb. Mutlos und mitgenommen, wie sie derzeit war, musste sie sich an jeden Strohhalm klammern.

Was würde er tun, sollte er sie erkannt haben? Er war ein Wissenschaftler, kein Held – kein Ritter oder Krieger, der ihr auf seinem Streitross zur Rettung käme. Doch gewiss wäre er besorgt und würde ihre Familie entweder benachrichtigen oder persönlich aufsuchen, sobald er zurück in London wäre …

Falls er nach London zurückkehrte. Sie hatte keine Ahnung, was er so hoch im Norden trieb. Ob er Freunde besuchte?

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schmiegte sich tiefer in ihre Ecke. Was Jeremy unternehmen würde, vermochte sie nicht zu sagen. Aber er war ein ehrenhafter Mann – irgendetwas würde er gewiss tun, um ihr zu helfen.

Es dauerte eine volle Minute, bis Jeremy seinen Verstand davon überzeugt hatte, dass dies tatsächlich geschehen war, dass er keineswegs träumte, dass die Situation real war.

Er dachte nach. Fieberhaft.

Jasper, am Weitertraben gehindert, zog an den Leinen, bis er so viel Spielraum hatte, dass er den Kopf senken und am Wegesrand grasen konnte.

Jeremy saß im stehenden Karriol, die Leinen locker in den Händen, und starrte die Straße entlang, ohne etwas wahrzunehmen.

Er schätzte die Lage ein und überlegte, was zu tun war, was getan werden konnte, welche Optionen er hatte.

Er musste die Cynsters benachrichtigen oder zumindest Wolverstone. Kurz erwog er, andere Personen einzuweihen, verwarf den Gedanken jedoch sogleich. Er mochte ein Einsiedler sein, aber dass unter den gegebenen Umständen der Ruf der betreffenden Dame unbedingt geschützt werden musste, war selbst ihm klar.

Die nächste Stadt, von der aus er einen Eilboten nach London hätte schicken können, war Newcastle ein Stück südlich. Alternativ konnte er nach Wolverstone zurückfahren und Royce unterrichten. Doch alles, was er irgendwem hätte mitteilen können, war, dass Eliza in einer Kutsche Richtung Schottland unterwegs war.

Sicherlich wären ihre Eltern froh, auch nur diese spärliche Information zu erhalten. Doch ebenso sicher war er, dass sie es vorzögen, wenn er ihrer Tochter nacheilte und versuchte, sie zu retten.

Wenn er eine Nachricht nach Süden schickte, würde er Eliza aus den Augen verlieren und jede Hoffnung darauf einbüßen, ihr unmittelbar helfen zu können.

Und Hilfe dürfte sie bitter nötig haben. Dass sie sich derart aufgeführt hatte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, musste bedeuten, dass sie mit ihrer Weisheit am Ende war.

Sie hatte um Hilfe geschrien. Diesen Hilfeschrei nicht ernst zu nehmen wäre womöglich ein fataler Fehler. Er musste angemessen darauf reagieren.

Er ging davon aus, dass sie ihn nicht erkannt hatte, was nahelegte, dass sie vermutlich jeden vorbeiziehenden Gentleman um Hilfe angefleht hätte. Umso dringlicher war sein Handeln gefragt.

Ein solches Gebaren vonseiten einer jungen Dame ihres Stands roch nach tiefster Verzweiflung.

Im Geiste ging er die Einzelheiten der Entführung durch, von der Royce ihm vorgelesen hatte. Es wurde angenommen, dass irgendein Laird, wahrscheinlich ein Angehöriger des Highland-Adels, aus unbekannten Gründen darauf aus war, eines der Cynster-Mädchen in seine Gewalt zu bekommen. Ein eigentümlicher und in Jeremys Augen beruhigender Aspekt war, dass der Laird – wer immer er war – darauf bestanden hatte, dass Heather nach ihrer Ergreifung wie ein rohes Ei behandelt wurde. Ihr war gar während der langen Reise gen Norden eine Zofe an die Seite gestellt worden.

Breckenridge – den Jeremy flüchtig kannte – hatte zufällig beobachtet, wie Heather in London auf offener Straße gepackt worden war. Er war ihr nachgejagt, hatte sie letztendlich gerettet und dafür gesorgt, dass der Laird mit leeren Händen dastand.

Nun war es dem Laird offensichtlich gelungen, Eliza Cynsters habhaft zu werden. Es stellte sich die Frage, wie er das vollbracht hatte. Da Jeremy die Cynsters und somit Elizas Brüder und Cousins kannte, konnte er sich nicht vorstellen, was sie dazu verleitet haben könnte, in ihrer Wachsamkeit nachzulassen … Er schob das faszinierende Rätsel beiseite und widmete sich der wichtigeren Frage, mit der er sich konfrontiert sah: Was sollte er tun? Jetzt. In dieser Minute, spätestens in der nächsten.

Die Fakten lagen auf der Hand: Eliza Cynster war entführt worden und saß in einer Kutsche, die sie in Kürze über die Grenze bringen würde. War Eliza erst einmal in Schottland, würde sich ihre Spur verlieren, vor allem, wenn ihre Entführer sie in die Wildnis der Highlands verschleppten. Sie dort aufzuspüren wäre nahezu unmöglich.

Wenn er sie über die Grenze gelangen ließe, ohne ihr zu folgen, mochte sie verloren oder dem mysteriösen Laird zumindest auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein.

Falls er ihr folgte … würde er sie retten oder wenigstens sein Bestes geben müssen, um ihr zur Flucht zu verhelfen.

Autor

Stephanie Laurens
Stephanie Laurens wurde in Ceylon (dem heutigen Sri Lanka) geboren. Sie begann mit dem Schreiben, um ihrem wissenschaftlichen Alltag zu entfliehen. Bis heute hat sie mehr als 50 Romane verfasst und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesgeschichten. Die preisgekrönte New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Melbourne.
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