Heimliche Liebe

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Obwohl sie sich acht Jahre nicht gesehen haben, kommt es Sally und Jake so vor, als seien sie keinen Tag getrennt gewesen. Erneut brennen ihre Herzen lichterloh - am liebsten würden sie aller Welt von ihrer Liebe erzählen, aber genau das dürfen sie in keinem Fall tun. Wie damals wird es kein Happy End für ihr großes Glück geben, befürchtet Sally verzweifelt: Denn ihr Wiedersehen steht unter keinem guten Stern! Bei der Beerdigung von Sallys bester Freundin Penelope haben sie wieder zueinander gefunden, aber sie durften niemandem zeigen, wie es um sie steht. Penelopes Eltern sind überzeugt davon, dass Sally für den Tod ihrer Tochter verantwortlich ist - und Jake war schließlich Penelopes Mann!


  • Erscheinungstag 25.07.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717971
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Nicht nur die Sturmböen, die vom Atlantik her über den Friedhof fegten, ließen Sally bis ins Innerste frösteln. Als sie sich den Trauergästen am Grab anschloss, schlug ihr eisiges Schweigen entgegen. Die ehrenwerten Bürgerinnen und Bürger von Eastridge Bay in Kanada waren zu wohl erzogen, um am offenen Grab einer der angesehensten Töchter der Stadt Feindseligkeiten zu zeigen.

Nein, erst bei Tee, Gebäck und Sherry in der alten Villa der Burtons würden sie den Stab über sie brechen. Aber sich das anhören zu müssen, würde ihr erspart bleiben. Dass sie nicht zu den geladenen Gästen gehörte, war ein offener Affront, zumal die Ermittlungsbehörden eindeutig festgestellt hatten, dass sie, Sally Winslow, keinerlei Schuld an dem Unfall traf.

„Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub …“ Der Pfarrer, dem der Wind an der Soutane zerrte, sprach die letzten Worte der Zeremonie.

Colette Burton schluchzte laut und berührte ein letztes Mal den über und über mit Blumen geschmückten Sarg ihrer Tochter Penelope. Colette wurde von Fletcher, ihrem Ehemann, gestützt, der ihr tröstend den Arm drückte. Jake, der trauernde Witwer, stand neben seinen Schwiegereltern. Er stützte sich schwer auf seine Krücke, den Kopf hatte er gesenkt. Sally registrierte, dass sich in seinem Haar zwar die ersten grauen Strähnen zeigten, es ansonsten jedoch noch ebenso voll und glänzend war wie damals vor bald zehn Jahren, als sie es zärtlich gestreichelt hatte.

Als hätte er ihren Blick gespürt, sah er plötzlich auf und schaute sie an. Es war nicht meine Schuld, Jake! übermittelte sie ihm stumm ihre Botschaft, war jedoch überzeugt davon, dass er ihr nicht glauben würde, selbst wenn er sie verstanden hätte.

Ganz Eastridge Bay hielt sie, Sally Winslow, für die wahre Schuldige, und auch Jake würde allein sie dafür verantwortlich machen, dass er mit achtundzwanzig schon Witwer war. Seine blauen Augen blickten kalt, und seine Lippen, die sie einst so leidenschaftlich geküsst hatten, waren fest zusammengepresst.

Eine besonders heftige Sturmbö ließ die Schleife am Kranz auf Penelopes Sarg hoch in die Luft wehen. Sally kam es vor, als wolle Penelope den Deckel öffnen, um ihren Freunde und Bekannten spöttisch ins Gesicht zu lachen und sie wegen ihrer zur Schau getragenen Trauer und des steifen Pomps zu verhöhnen.

Das Leben ist ein buntes, lustiges Karussell, hatte sie stets behauptet, ich möchte mich bis zum Schluss darauf amüsieren und auch noch als Leiche eine Schönheit sein.

Tränen stiegen Sally in die Augen, als sie an diese Worte und das sorglose Lachen Penelopes denken musste. Es war das erste Mal seit den schrecklichen Geschehnissen, dass sie aus ihrer Apathie erwachte und so etwas wie Trauer spürte.

Sie wischte sich über die Augen und trat einige Schritte zurück, als sich die Trauergemeinde auflöste und die Gäste in die schwarzen Limousinen stiegen, die am Eingang des Friedhofs warteten. Sally war aus Respekt vor ihrer früheren Freundin gekommen und weil sie wusste, dass ihr Erscheinen weniger Gerede verursachen würde, als wenn sie fern geblieben wäre.

Sie wusste, dass die Burtons ganz Eastridge Bay gegen sie aufgebracht hatten. Sally Winslow, hatten sie verbreitet, hätte nichts dazugelernt und wäre immer noch die Unruhestifterin, als die man sie schon von Kindheit an kannte. Mitleid mit ihr zu haben oder sie höflich zu behandeln wäre daher nicht angebracht.

Deshalb war Sally völlig überrascht, als Jake sie ansprach. „Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen, Sally. Wie geht es dir?“

„Den Umständen entsprechend. Und dir?“

Er zuckte mit den Schultern. „Das trifft auch für mich zu. Sehen wir uns gleich beim Empfang?“

„Nein, ich bin nicht eingeladen.“

Er betrachtete sie aufmerksam. „Jetzt bist du es. Als Penelopes Ehemann lade ich dich ein. Ihr beide kennt euch von klein an, und Penelope hätte bestimmt gewollt, dass du zu ihrer letzten Feier kommst.“

Sally brachte es nicht über sich, Jake ins Gesicht zu sehen. „Da bin ich mir nicht so sicher, denn unsere Wege hatten sich längst getrennt.“ Deinetwegen, weil du sie mir vorgezogen hast, ergänzte sie im Stillen und wandte sich zum Gehen.

Völlig ungerührt davon, zu welch pikierten Kommentaren sein Benehmen Anlass geben würde, hielt er sie am Arm fest. „Bitte komm, Sally. Es bedeutet mir sehr viel.“

„Warum, Jake? Seit Jahren schon haben wir nichts mehr voneinander gehört, und ich wüsste nicht, was wir uns noch zu sagen hätten.“

„Du warst die Letzte, die Penelope lebend gesehen und die mit ihr gesprochen hat. Darüber würde ich gern mit dir reden.“

„Warum?“ , fragte sie noch einmal, und Panik stieg in ihr auf. „Im Polizeiprotokoll steht alles, was es zu berichten gibt.“

„Das habe ich bereits gelesen. Mich interessiert jedoch nicht der Unfall als solcher, sondern ich möchte etwas über die Hintergründe erfahren.“

„Alles, was ich weiß, habe ich bestimmt schon mehr als ein Dutzend Mal wiederholt!“

„Bitte, Sally, tu mir den Gefallen.“ Er wies auf die Krücke in seiner Linken. „Es ist noch keine vierundzwanzig Stunden her, da lag ich noch in einer Spezialklinik. Ich bin gerade rechtzeitig entlassen worden, um an der Beerdigung teilnehmen zu können, und habe weder mit Verwandten noch Freunden in Ruhe sprechen können. Außerdem möchte ich den genauen Hergang gern von dir erfahren, weil du als Einzige dabei warst, als Penelope starb.“

„Und was versprichst du dir davon?“

„Vielleicht gibt es etwas, das dir zu unbedeutend erschien, um es zu Protokoll zu geben, für mich aber der entscheidende Hinweis ist, um Licht in das Dunkel des Geschehens zu bringen. Es will mir einfach nicht gelingen, einen Zusammenhang zwischen all den vielen Details zu erkennen.“

Jake hegte also ganz offensichtlich den Verdacht, dass der offizielle Bericht die wahren Hintergründe verschleierte. Das hatte sie befürchtet, und sie hatte Angst vor seinen Fragen, hatte Angst davor, dass er die Lügen entlarven würde, die sie erfunden hatte, um die Gefühle von Penelopes Angehörigen zu schonen.

„Sally?“ Margret trat zu ihnen und runzelte die Stirn. Es war ihr anzusehen, was sie davon hielt, dass Sally vor allen Leuten mit Jake redete, obwohl das Grab seiner verstorbenen Frau noch nicht einmal zugeschaufelt war. „Wir müssen jetzt fahren. Sofort.“

„Ja.“ Ausnahmsweise war Sally ihrer älteren Schwester für deren ständige Einmischung einmal dankbar. „Ich habe Jake gerade erklärt, dass ich unmöglich zu der Totenfeier kommen kann.“

„Da hast du völlig recht!“ Margret schien erleichtert, und sie wandte sich an Jake. „Ich weiß, was für einen schrecklichen Verlust du erlitten hast, Jake. Und das, nachdem deine Verletzung deine Karriere zerstört hat! Aber Sally und ich müssen jetzt wirklich los, die Kinder warten bestimmt schon ungeduldig auf mich.“

„Seid ihr zusammen gekommen?“, erkundigte er sich.

„Ja. Seit dem tragischen Unfall setzt sich Sally nicht mehr allzu gern hinters Steuer. Die unselige Geschichte hat sie mehr mitgenommen, als die meisten Leute zu glauben scheinen.“

„So?“ Jake sah Sally an. „Eigentlich siehst du doch ganz gesund und munter aus.“

„Ich hatte Glück.“

„Jedenfalls mehr als Penelope.“

Sally fröstelte, als die Erinnerung sie wieder einholte. Sie hörte das Quietschen der Bremsen und hatte wieder den Geruch von versengtem Gummi in der Nase. Und sie sah Penelope mit grotesk verrenkten Gliedern im Graben liegen, ein gespenstisches Lächeln auf den Lippen. Wie dumm von mir, Sally, ich bin vom Karussell gefallen, obwohl die Runde noch nicht zu Ende war.

Durch energisches Kopfschütteln versuchte Sally, die dunklen Bilder zu verscheuchen. „Ja, Jake, das Schicksal war mir gnädig. Es gibt jedoch auch Wunden, die man nicht sehen kann. Hilflos zusehen zu müssen, wie eine Freundin stirbt, ist kein Erlebnis, das man einfach so wegsteckt.“

„Besonders wenn man kein ganz reines Gewissen hat.“

Sally geriet in Panik. „Willst du mir vorwerfen, nicht die Wahrheit gesagt zu haben, Jake?“ , fragte sie angstvoll.

„Bist du wirklich in allen Punkten ehrlich gewesen, Sally?“

„Was für eine Frage, Jake! Bei allem Verständnis für deinen Kummer und Schmerz, aber das geht nun doch zu weit!“ Margret selbst kritisierte Sally ständig, wenn jedoch ein Außenstehender an ihrer kleinen Schwester etwas auszusetzen fand, verteidigte sie diese wie eine Löwin ihr Junges. „Sally leidet unter Penelopes Tod mehr, als es sich ein Außenstehender vorstellen kann.“

Jake seufzte resigniert, denn er musste einsehen, dass er mit dieser Methode bei Sally auch nicht weiterkam. „Bitte verzeih mir meine Entgleisung, Sally“, entschuldigte er sich. „Und bitte komm mit. Ich werde dafür sorgen, dass du nach der Feier nach Hause gefahren wirst.“

Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Nein, vielen Dank, Jake. Es ist schon schlimm genug, wenn ich Margret Umstände bereite. Dir an einem Tag wie diesem zur Last zu fallen, würde mir nicht im Traum einfallen.“

„Du würdest mir nicht zur Last fallen, sondern mir einen Gefallen tun. Und falls du Angst haben solltest, dass …“

„Warum sollte Sally Angst haben?“, fiel Margret ihm ins Wort. „Penelopes Tod war ein Unfall, das hat die Polizei eindeutig festgestellt.“

„Ja, aber nicht jeder glaubt der offiziellen Version.“

Margret runzelte nachdenklich die Stirn. „Da ist etwas dran. Vielleicht ist es doch keine so schlechte Idee, wenn Sally an der Feier teilnimmt.“ Sie gab ihrer Schwester einen leichten Klaps. „Geh mit, Sally, und zeig den Leuten, dass du nichts zu verbergen hast.“

Sally war von der plötzlichen Meinungsänderung ihrer Schwester wie vor den Kopf gestoßen und fühlte sich verraten. „Nein, nein!“, protestierte sie hilflos. „Ich brauche niemandem etwas zu beweisen!“

Margret jedoch war schon in Richtung Parkplatz verschwunden, und Jake legte Sally die freie Hand auf den Arm, um sie daran zu hindern, ihrer Schwester zu folgen. „Dann zeig, dass du niemandem etwas zu beweisen brauchst, Sally. Und jetzt sollten wir uns beeilen, sonst vergisst uns der Fahrer hier noch. Ich bin nämlich momentan wirklich nicht in der Lage, zu Fuß nach Haus zu kommen. Außerdem wird es gleich schneien.“

Jake lehnte sich erschöpft in dem weichen Ledersitz zurück und schloss einen Moment die Augen.

Die faszinierende Sally Winslow spielte ihm etwas vor. Er kannte sie gut genug, um das zu spüren. Die Frage war nur: Was beabsichtigte sie damit? Laut Polizeibericht traf sie nicht die leiseste Schuld. Warum wich sie seinem Blick dann aus? Warum sah sie aus dem Fenster, dass er nur ihr dunkles, glänzendes Haar sehen konnte? Warum rückte sie so weit von ihm ab, als hätte er eine ansteckende Krankheit?

Kaum hatte das Auto vor der alten herrschaftlichen Villa der Burtons angehalten, da öffnete der Butler auch schon die messingbeschlagene Tür. Als er Sally auf den Stufen erblickte, stellte er sich vor den Eingang und räusperte sich.

„Miss Winslow ist mein Gast, Morton“, verteidigte Jake Sally und ärgerte sich sofort über seinen Beschützerinstinkt. Was immer man auch an Sally Winslow kritisieren mochte, Hilflosigkeit und mangelndes Durchsetzungsvermögen konnte man ihr nicht vorwerfen. Auf das ritterliche Verhalten eines Mannes war eine Frau wie sie nicht angewiesen.

Ohne seine Missbilligung auch nur im Geringsten zu verbergen, nahm Morton Sally den Mantel ab. „Mr. und Mrs. Burton sind im Salon, Mr. Harrington“, wandte er sich an Jake. „Soll ich Sie ankündigen?“

„Nein, danke, ich kenne den Weg.“ Er gab dem Butler seinen Hut und überlegte, ob er Sally den Arm anbieten sollte, entschied sich jedoch dagegen. Seine Schwiegereltern hatten schon genug durchmachen müssen, ohne dass er noch Salz in ihre Wunden streute.

Der Salon war ein Meisterstück der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts mit Stuckdecken und Wandvertäfelungen. Überall auf den antiken Mahagonimöbeln standen zwischen kunstvollen Blumengestecken Bilder von Penelope.

Vor den hohen, sprossenverglasten Fenstern, die den Blick auf den Park freigaben, war ein kaltes Büfett mit Kuchen, Gebäck und herzhaften Delikatessen aufgebaut. Ein Hausmädchen schenkte Tee und Kaffee aus, und Fletcher Burton stand an einem Tisch, den er zur Bar umfunktioniert hatte. Colette, einen leeren Kognakschwenker auf dem Tisch neben sich, saß auf einem Polsterstuhl und nahm Beileidsbezeugungen entgegen.

Fletcher erblickte Sally zuerst. Er stellte die Kristallkaraffe mit dem Sherry, die er gerade in der Hand hielt, unsanft auf den Tisch zurück und bahnte sich einen Weg durch die dicht gedrängt stehenden Gäste. „Es ist mir ein Rätsel, wie diese Frau an Morton vorbeigekommen ist!“

Ich habe Sally Winslow eingeladen, Fletcher. Penelope und sie kannten sich von Kindheit an und waren Freundinnen. Außerdem war sie die Letzte, die Penelope lebend gesehen hat. Ich meine, all das gibt ihr ein Recht, auf dieser Feier anwesend zu sein.“

„Jake, wie konntest du nur! Du weißt genau, wie Colette darüber denkt. Wir wollen die Vergangenheit vergessen.“

„Eher verdrängen, wie mir scheint.“

„Unter den gegebenen Umständen halte ich es dennoch nicht für angebracht …“

„Ich habe euch die Organisation der Beerdigung überlassen, weil es sich zeitlich nicht anders machen ließ“, unterbrach Jake seinen Schwiegervater. „Ich möchte dich jedoch daran erinnern, dass Penelope meine Ehefrau war. Es steht mir daher zu, jeden einzuladen, von dem ich überzeugt bin, dass er ihr ein ehrendes Andenken bewahrt.“

„Nein, nicht wenn du dadurch den Schmerz der Eltern verstärkst!“ Sally, die sich eigentlich unbeobachtet hatte zurückziehen wollen, trat einen Schritt vor. „Ich wollte Ihnen mein Beileid aussprechen, Mr. Burton. Und jetzt, da ich es getan habe, werde ich wieder gehen.“

„Danke.“ Fletcher Burton, von dem jeder wusste, dass er unter dem Pantoffel seiner Frau stand, atmete erleichtert auf und blickte ängstlich in Colettes Richtung. „Ich möchte nicht unhöflich sein, Sally, aber Sie sind uns nicht länger willkommen. Wenn meine Frau Sie hier sehen würde …“

Weiter kam er nicht, denn Colette hatte Sally entdeckt und stürzte wie eine Furie auf sie zu. „Wie können Sie es wagen, sich hier zu zeigen, Sally Winslow? Haben Sie denn überhaupt kein Gefühl für Sitte und Anstand?“

Ich habe sie mitgebracht!“ , wiederholte Jake. Er bereute inzwischen aufrichtig, dass er Fletcher und Colette nachgegeben hatte. Er hätte seinen Standpunkt behaupten und die Beerdigung noch einige Tage aufschieben sollen, bis er in der Lage gewesen wäre, die Trauerfeierlichkeiten in seinem eigenen Haus zu organisieren. Diese peinliche Szene wäre ihm dann erspart geblieben.

„Wie konntest du mir das nur antun, Jake?“, beklagte sich Colette. „Wie konntest du Penelopes Andenken nur so beschmutzen? Ich habe schon genug gelitten, musstest du mir nun auch noch in den Rücken fallen? Was für ein Schwiegersohn bist du nur?“

„Einer, der versucht, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen.“

„Und dabei soll dir ausgerechnet die Mörderin deiner Frau helfen?“

In der Stille, die dieser Anschuldigung folgte, hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Umso deutlicher war Sallys unterdrücktes Schluchzen zu hören. Wieder fühlte Jake sich verpflichtet, sie zu beschützen.

„Wenn du diese Behauptung nicht augenblicklich zurücknimmst, Colette, wird es dir mehr Ärger einbringen, als du dir vorstellen kannst.“

„Nein, nein, mach ihr bitte keine Vorwürfe“, bat Sally ihn mit tränenerstickter Stimme. Sie drehte sich zu Colette um und berührte tröstend ihre Hand. „Bitte verzeihen Sie mir, Mrs. Burton, ich hätte wirklich nicht kommen sollen. Ich wollte Ihnen nur noch einmal sagen, wie Leid es mir tut, dass Penelope so früh und unter so dramatischen Umständen sterben musste. Sie haben mein aufrichtiges Mitgefühl.“

Colette zog die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. „Was verstehen Sie denn von Mitgefühl, Sally Winslow? Wissen Sie denn, wie es sich anfühlt, wenn man Nacht für Nacht schlaflos durchs ganze Haus geht und jeder Herzschlag schmerzt, als wäre es der letzte?“

„Nein, aber …“

„Natürlich können Sie das nicht nachempfinden! Sie sind doch nur froh, dass Penelope endlich tot ist, weil sie so viel intelligenter und hübscher war als Sie! Jetzt brauchen Sie nicht länger in ihrem Schatten zu stehen!“

„Colette, das reicht!“ Fletcher legte ihr den Arm um die Schultern und versuchte, sie zu beruhigen. Doch vergeblich.

„Lass mich zufrieden! Ich bin noch nicht fertig!“ Wie von Sinnen, schüttelte sie seinen Arm ab und attackierte Sally erneut.

„Wissen Sie, was es für eine Mutter bedeutet, ihr Kind tot im Sarg liegen zu sehen? Wissen Sie, wie es ist, kaum noch Schlaf zu finden, und wenn man schließlich einschläft, nur noch zu hoffen, man würde nie wieder aufwachen? Können Sie sich das wirklich vorstellen?“

Sally wurde schwarz vor Augen, und sie biss sich auf die Lippe, weil sie spürte, wie ihre Mundwinkel unkontrolliert zuckten.

„Und daran sind allein Sie schuld, Sally Winslow! Bis zu meinem letzten Tag werde ich keinen Frieden mehr finden, und Ihnen wünsche ich das Gleiche.“

„Bitte, Colette, beruhige dich“, versuchte Fletcher noch einmal, seine Frau zu besänftigen. „Du bist völlig erschöpft, du musst dich schonen.“

Sie ist nicht erschöpft, sie ist so betrunken, dass sie nicht mehr weiß, was sie tut, dachte Jake, das kann man nicht nur sehen, sondern auch riechen. Er wollte einen Schritt vortreten, um Fletcher zu helfen, Colette zurück zu ihrem Stuhl zu führen, als Sally plötzlich gegen ihn sackte und noch bevor er sie auffangen konnte, vor seinen Füßen zusammenbrach.

„Ich hoffe, Sie ist tot!“ Colettes hysterisches Kreischen übertönte das allgemeine Stimmengemurmel. „Denn genau das hat sie verdient.“

„Da muss ich dich leider enttäuschen.“ Jake fühlte Sallys Puls, der stark und regelmäßig schlug. „Sie ist nur ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich, weil es hier so überheizt und stickig ist. Wo können wir sie hinbringen, wo es etwas kühler ist?“

„In die Bibliothek, dort kann sie sich erholen.“ Fletcher drückte Colette einer Verwandten in die Arme.

„Ich werde sie tragen, Jake.“ Sein Vater war unbemerkt neben ihn getreten. „Mit deinem verletzten Bein schaffst du das nicht.“

„Doch.“ Jake war es peinlich, dass seine Eltern Zeugen der Szene waren. Sie hatten sich mit den Burtons noch nie gut verstanden und waren bestimmt erbittert, wie Colette ihn vor allen Gästen beschimpft hatte. „Ich habe Sally dazu überredet, mitzukommen, und bin daher für sie verantwortlich. Wenn du mir einen Gefallen tun möchtest, dann bring bitte Mom nach Hause. Sie sieht aus, als hätte sie für heute genug gesehen und gehört.“

Er biss die Zähne zusammen und ignorierte den stechenden Schmerz in seinem verletzten Bein, als er Sally hochhob. Wie auf Befehl traten die Gäste zur Seite, um ihn durchzulassen. Falls es einen unter ihnen gab, der Mitleid mit Sally empfand, so wagte er nicht, es zu zeigen. Colettes Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.

Die Bibliothek war auf den ersten Blick als Herrenzimmer zu erkennen, in dunklen Farben gehalten und mit bequemen Polstermöbeln und einem großen Kamin ausgestattet. Auf dem Boden lagen dicke Perserteppiche, und die Bücherregale waren bis unter die Decke dicht gefüllt. Dieser Raum war schon immer Fletchers Fluchtburg gewesen, und hierher hatte er sich zurückgezogen, wenn ihm Frau und Tochter zu anstrengend geworden waren. Jake musste unwillkürlich daran denken, wie oft er mit Fletcher nach dem Essen hier gesessen und Kognak getrunken hatte.

Er legte Sally auf das breite Ledersofa und deckte sie mit einem Mohairplaid zu, das über der Lehne hing. Sally wirkte unbeschreiblich jung und verletzlich. Fast wie damals, als sie kurz vor dem Abitur stand und er sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte.

Langsam kam sie wieder zu sich und schlug die Augen auf. Ihrem Blick war anzusehen, dass sie sich noch nicht wieder richtig orientieren konnte. „Jake? Was machst du hier?“ , fragte sie.

„Ich sehe dich an“, erklärte er und stützte sich auf einem Sessel ab. Wie würde sie wohl reagieren, wenn er ihr seine Gedanken offenbarte? Wenn er ihr sagte, dass sie die längsten Wimpern hatte, die er je bei einer Frau gesehen hatte, und ihr Mund so verführerisch war, dass er sie am liebsten geküsst hätte?

Nimm dich zusammen, Jake Harrington! Du bist erst seit knapp einer Woche Witwer, und keine Frau sollte diese Wünsche in dir wecken, auch dann nicht, wenn sie deine erste große Liebe war.

„Was ist passiert? Wie komme ich in dieses Zimmer?“

„Du bist ohnmächtig geworden, und ich habe dich hierher gebracht.“

„Ich bin ohnmächtig geworden? Vor all den Gästen?“ Sie stöhnte und legte sich die Hand auf die Stirn.

„Das war das Geschickteste, was du tun konntest, denn damit hast du Colette die Schau gestohlen – ohne dich konnte sie sich nicht mehr in Szene setzen.“ Er humpelte zum Barschrank, schenkte Kognak in zwei Gläser und reichte Sally eins davon. „Das müsste dich wieder auf die Beine bringen.“

„Ich weiß nicht.“ Zweifelnd blickte sie in den Schwenker. „Ich habe heute nämlich noch nichts gegessen.“

„Aha, das ist also der Grund, warum du ohnmächtig geworden bist.“

„Seit dem … Unfall habe ich keinen richtigen Appetit mehr“, rechtfertigte sie sich.

„Möchtest du mit mir über jene Unglücksnacht sprechen?“

Abrupt setzte sich Sally auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Ich kann dir nicht Neues sagen. Du weißt alles, was es zu wissen gibt.“

Vorsichtig ließ er sich in dem Sessel nieder und kippte dann seinen Kognak in einem Zug hinunter, um den unerträglichen Schmerz in seinem Bein zu betäuben. „Warum erzählst du mir nicht einfach, was wirklich passiert ist, Sally. Du vergisst, dass wir uns einmal sehr nahe standen. Ich spüre genau, wenn du mir etwas verheimlichst.“

„Das ist lange her, Jake, und ich habe mich verändert.“ Gedankenverloren ließ sie den Kognak im Glas kreisen, ohne jedoch davon zu trinken.

„Du hast dich nicht verändert, Sally. Und ich bitte dich um unserer alten Freundschaft willen, mir das zu erzählen, was du den anderen verheimlicht hast.“

Sie sah ihn an, und er hoffte schon, dass sie ihm die Wahrheit sagen würde, als sich die Tür öffnete und Fletcher den Raum betrat. „Ich wollte dir dies bringen.“ Er reichte Jake die Krücke. „Und ich wollte wissen, ob Sally so weit wieder hergestellt ist, dass der Chauffeur sie nach Hause bringen kann, bevor er die anderen Gäste fährt.“

Noch bevor Jake widersprechen konnte, hatte Sally die Decke beiseitegeschoben und sich aufgerichtet. „Vielen Dank, Mr. Burton. Ich nehme Ihr Angebot gerne an.“

Machtlos musste Jake zusehen, wie sie mit Fletcher zur Tür ging. Diesmal war sie ihm entkommen. Das nächste Mal würde er dafür sorgen, dass ihr keine Möglichkeit zur Flucht blieb. Er würde sie erst gehen lassen, wenn er bis in die letzte Einzelheit wusste, was ihn aus der Hölle befreit hatte, zu der seine Ehe geworden war.

2. KAPITEL

Ich spüre genau, wenn du mir etwas verheimlichst, hatte Jake gesagt. Sally lächelte traurig, denn mehr hätte er sich nicht täuschen können. Sie hatte ihm in der Vergangenheit schon ganz andere Dinge verschwiegen als die näheren Umstände des tödlichen Autounfalls seiner Ehefrau. Sie, Sally, besaß die Kraft, selbst mit einem tragischen Ereignis, an dem beinahe ihr Leben zerbrochen wäre, allein fertig zu werden.

Dennoch musste sie sich vor Jake hüten. Obwohl er jahrelang im Ausland gewesen war und sie ihn nicht gesehen hatte, übte er noch immer dieselbe Faszination auf sie aus. Ihre Gefühle für Jake waren trotz der langen Trennung noch ebenso intensiv wie vor zehn Jahren.

Natürlich wirkte er älter – aber auch attraktiver. Aus dem unbekümmerten Teenager war ein erwachsener Mann geworden, der eine natürliche Autorität ausstrahlte. Ein Blick in sein Gesicht zeigte, dass er zu einer gefestigten Persönlichkeit gereift war.

Jake ist nicht der Mann, der vor unangenehmen Tatsachen die Augen verschließt, dachte sie, als sie am Montag nach der Beerdigung durch die überfüllte Pausenhalle des Gymnasiums ging. Hier hatten sie sich vor all den Jahren lieben gelernt, und schon damals hatte sie an ihm bewundert, was sie auch heute noch an ihm beeindruckte: Er war ein Mensch, der aufrecht und mutig seinen Weg ging.

Dennoch durfte sie ihm nicht die Wahrheit sagen. Männlicher Stolz war ein empfindliches Pflänzchen. Als Testpilot um des technischen Fortschritts wegen täglich sein Leben aufs Spiel zu setzen, war eine Sache – der Tatsache ins Auge zu sehen, dass ihn während seiner Abwesenheit die Ehefrau auf billigste Weise betrogen hatte, eine andere.

Auf dem Weg ins Lehrerzimmer schaute Sally wie immer schnell im Büro vorbei.

„Guten Morgen, Miss Winslow“, begrüßte die Sekretärin sie. „Ein Mann mit einer Stimme wie Humphrey Bogart hat angerufen und wollte sie sprechen. Er hat seinen Namen nicht genannt, aber Sie werden ja wohl wissen, wer es war. Hält sein Aussehen, was seine Stimme verspricht?“ , fragte sie neugierig.

Sally lächelte amüsiert. „Ich habe leider keine Ahnung, um wen es sich handelt“, antwortete sie, obwohl es nur Jake sein konnte. „Wahrscheinlich wieder ein aufgebrachter Vater, der sich bei mir beschweren will, weil ich zu viele Hausarbeiten aufgebe. Wenn er sich wieder meldet, lassen Sie sich bitte seine Telefonnummer geben. Ich rufe dann abends zurück, denn tagsüber werde ich dazu heute keine Zeit finden.“

„Und noch etwas.“ Die Sekretärin wies mit dem Kopf auf die Tür zu ihrer Linken. „Mr. Bailey möchte Sie sprechen, noch vor dem Unterricht.“

Autor

Catherine Spencer
<p>Zum Schreiben kam Catherine Spencer durch einen glücklichen Zufall. Der Wunsch nach Veränderungen weckte in ihr das Verlangen, einen Roman zu verfassen. Als sie zufällig erfuhr, dass Mills &amp; Boon Autorinnen sucht, kam sie zu dem Schluss, diese Möglichkeit sei zu verlockend, um sie verstreichen zu lassen. Sie wagte den...
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