Herzenseinsatz in Cornwall

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Sekundenlang starrt Notarzt James Benson seine Kollegin Sarah an. Sie will selbst den Jungen aus derMine retten? Ohne Kenntnisse der Höhlen Cornwalls? Nein, das übernimmt er! Aus reiner Verantwortung als ihr Boss. Mehr empfindet er ja nichtfür sie, oder?


  • Erscheinungstag 22.04.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733716516
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Also, ihr zwei, habt ihr alles, was ihr braucht?“ Sarah musterte prüfend ihre jüngeren Halbgeschwister, wobei sie überlegte, ob sie vielleicht doch irgendetwas vergessen hatte.

Es war ein kühler Frühlingsmorgen, und ein kräftiger Wind wehte von der See her. Aber die Kinder waren gut in warme Jacken eingepackt.

„Hast du das Geld fürs Mittagessen noch, Sam?“ Sie steckte sich eine verirrte Strähne ihrer rotbraunen Haare hinters Ohr. Sam war ein solcher Wirbelwind. Es hätte sie nicht überrascht, wenn er das Geld zwischen zu Hause und dem Schultor verloren hätte.

Der Zehnjährige fühlte sich in seiner neuen Schuluniform sichtlich unwohl, kramte jedoch tief in seiner Hosentasche. „Ja, ist da.“

„Gut. Ich werde in der Schule eine Art Konto für euch einrichten, sobald ich kann. Aber jetzt achtet darauf, dass ihr von dem, was ihr habt, was Vernünftiges zu essen kauft.“ Sarah warf Sam einen mahnenden Blick zu. „Ich möchte nicht, dass ihr das Geld für Chips und Junkfood ausgebt.“

Als er nickte, wandte sie sich seiner Schwester zu. Das kleine Mädchen sagte nicht viel. Tatsächlich wirkten heute Morgen beide ungewohnt still. Da ihnen der erste Tag in ihrer neuen Schule bevorstand, war dies kein Wunder. Die Kinder hatten in letzter Zeit so viele Dinge zu verkraften gehabt, dass es ihnen verständlicherweise schwerfiel, die notwendigen Veränderungen zu akzeptieren.

„Was ist mit dir, Rosie? Geht’s dir gut?“

Die grauen Augen gesenkt, nickte die Kleine ernst. „Alles okay.“ Sie war zwei Jahre jünger als ihr Bruder, schien aber manchmal schon etwas reifer zu sein.

„Es wird bestimmt schön hier“, meinte Sarah aufmunternd. „Ich weiß, es ist nicht leicht, mitten im Schuljahr die Schule zu wechseln. Aber eure Lehrer werden euch sicher euren Klassenkameraden vorstellen, und dann findet ihr auch bald neue Freunde.“ Sie legte ihnen die Arme um die Schultern und ging mit ihnen in das Schulgebäude hinein. „Denkt dran, falls ich noch arbeiten muss, wenn die Schule aus ist, holt Murray von nebenan euch ab.“

Wenig später gab sie den beiden einen Abschiedskuss und ließ sie im Flur vor den Klassenzimmern allein. Zum Glück begrüßten die anderen Kinder die Neuankömmlinge neugierig und fingen gleich an, mit ihnen zu reden.

Auf dem Weg zum Auto atmete Sarah tief durch, um sich zu beruhigen. Immerhin hatte auch sie heute ihren ersten Tag an einer neuen Arbeitsstelle. Sie sollte zusammen mit dem für diese Gegend zuständigen Notarzt im Rettungshubschrauber mitfliegen. Doch das machte ihr keine großen Sorgen. Als Ärztin fühlte sie sich für medizinische Notfälle gut vorbereitet.

Von dem kleinen Fischerdorf in Cornwall fuhr sie auf der Küstenstraße entlang zu dem Luftrettungszentrum, wo sie James Benson treffen würde.

Unwillkürlich packte sie das Lenkrad fester. Genau hier lag das Problem. Allein der Name verursachte ihr schon ein seltsames Gefühl im Bauch. Wie lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen? Damals war sie noch ein Teenager gewesen. Naiv und unschuldig, hatte sie sich nach seiner Aufmerksamkeit gesehnt. Ihr wurde glühend heiß bei der Erinnerung, und Sarah schüttelte energisch den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Alles wäre ihr lieber gewesen, als James wieder zu begegnen. Doch es war unvermeidlich. Falls sie von Anfang an gewusst hätte, dass er der Oberarzt in der Notfallabteilung war, in der sie arbeiten wollte, hätte sie sich vielleicht gar nicht erst um die Stelle dort beworben.

Aber woher hätte sie wissen sollen, dass er ebenfalls bei der Luftrettung arbeitete? Sarah, die sich dafür extra hatte ausbilden lassen, wollte diesen Job unbedingt. Nachdem sie zu ihrer großen Freude genommen worden war, hätte sie niemals einen Rückzieher gemacht.

Bald ließ sie die Küste mit ihren spektakulären Klippen und zerklüfteten kleinen Buchten hinter sich. Dann fuhr sie durch bewaldete Täler, wo hier und da kleine, weiß getünchte Bauernhäuschen an den Hängen klebten. Blaue Teppiche aus blühenden Hasenglöckchen schimmerten durch das Gebüsch. Weißer Sauerklee und gelbe Wicken schmückten die grünen Hecken, aber Sarah hatte keinen Sinn für die Schönheit ihrer Umgebung. Ihr tat das Herz weh, dass sie die Kinder allein lassen musste. Außerdem fühlte sie sich äußerst nervös wegen des bevorstehenden Treffens mit James Benson.

Sobald sie neben der Hubschrauber-Basis geparkt hatte, ging sie in das Gebäude. Vor dem Personalraum wappnete sie sich innerlich, ehe sie klopfte und die Tür öffnete. Der Raum war leer. Komisch. Einen Notruf konnte sie nicht verpasst haben, denn der Hubschrauber stand draußen auf dem Landeplatz.

Sarah blickte sich um. Es gab einiges an medizinischer Ausrüstung, ein Monitor zeigte die letzten Einsätze an, und auf einem Schreibtisch aus glänzendem Holz stand ein rotes Telefon. Auf einer Arbeitsplatte befand sich ein Wasserkocher, der leise zischte.

„Ah, da bist du ja.“

Sarah drehte sich um, als sie plötzlich die tiefe Stimme von James Benson hinter sich hörte. Ihr Herz begann heftig zu pochen.

„Tut mir leid, dass ich nicht hier war, um dich zu begrüßen“, setzte er hinzu. „Wir haben uns gerade alle umgezogen.“

Sie nickte stumm. Er sah genauso umwerfend aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Mit seiner Ausstrahlung schien er den gesamten Raum zu beherrschen. Groß, durchtrainiert und dunkelhaarig, war er noch immer so attraktiv wie damals, was ihr – wofür sie sich heute noch schämte – zum Verhängnis geworden war. Die markanten Züge, das glänzend schwarze Haar und diese durchdringenden grauen Augen, denen nicht das Geringste entging …

Nachdenklich musterte er sie. Sein Blick glitt über ihr langes rotbraunes Haar, ehe er an ihrem schmalen Gesicht mit dem hellen Teint hängen blieb.

„Ich war nicht sicher, ob du es wirklich bist“, meinte James. „Als ich deinen Namen auf der Stellenzusage las, habe ich kurz überlegt, ob es sich vielleicht um eine andere Sarah Franklyn handelt. Aber zwei Ärztinnen in dieser Gegend mit demselben Namen, das wäre ziemlich unwahrscheinlich gewesen. Ich wusste ja, dass du Medizin studiert und in Devon gearbeitet hast.“

Sie zwang sich dazu, seinem Blick standzuhalten, und straffte die Schultern. „Da du mich noch von früher kennst, erscheint dir meine Berufswahl vermutlich merkwürdig.“ Ihre Stimme klang heiser, daher räusperte sie sich und fuhr in einem selbstbewussteren Ton fort: „Bei dem Einstellungsgespräch warst du nicht dabei. Darum bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, dass wir zusammenarbeiten würden.“

James nickte flüchtig. „Ich musste zu einem Kongress. Es war wichtig, und kein anderer konnte übernehmen. Deshalb hat der Chefarzt der Notaufnahme die endgültige Entscheidung getroffen.“ Er verzog leicht die Mundwinkel.

Offenbar war er darüber nicht sonderlich erfreut, und Sarah spürte, wie sich ihr unwillkürlich die Kehle zuschnürte. Er wollte sie hier also nicht. Damit hatte sie nicht gerechnet.

Er betrachtete ihre angespannten Gesichtszüge, woraufhin sie entschlossen das Kinn hob.

Seine grauen Augen verdunkelten sich, doch seine Stimme blieb neutral. „Wenn du willst, kannst du dir jetzt deinen Fliegeranzug anziehen. Danach mache ich eine kleine Führung mit dir und stelle dich dem Rest der Mannschaft vor. Bis dahin müsste auch der Kaffee fertig sein.“

„Ja, klingt gut.“

Wenigstens akzeptierte er ihre Anwesenheit, das war ja schon mal etwas. Außerdem spielte er mit keinem Wort auf den Vorfall von vor vielen Jahren an. Allein bei dem Gedanken, dass er es noch tun könnte, krampfte sich Sarah der Magen zusammen. Aber momentan schien sie sicher zu sein. Immerhin war sie damals eine verletzliche Siebzehnjährige gewesen. Jetzt, neun Jahre später, war sie eine erwachsene Frau, die sich selbst im Griff haben sollte. Warum fühlte sie sich dann trotzdem so unbehaglich und unsicher?

Weil irgendwann die Vergangenheit doch zur Sprache kommen würde, daran bestand kein Zweifel.

James zeigte ihr den Raum mit den leuchtend orangefarbenen Fliegeranzügen, wo Sarah sich umziehen konnte. Sie nutzte die paar Minuten des Alleinseins, um ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen. Sie würde ihr Verhältnis zu James Benson auf das rein Berufliche beschränken, mehr nicht. Auf diese Weise konnte sie ihre Gefühle im Zaum halten und ihm beweisen, dass sie heute ein ganz anderer Mensch war. Ruhig, kompetent, nicht so wie als Teenager.

Sarah schauderte, als sie an einige Dinge zurückdachte, die sie als junges Mädchen getan hatte. An einem Spätsommerabend war sie zum Beispiel mit Ben Huxleys Traktor durchs Dorf gefahren. Er hatte es unendlich bereut, den Schlüssel nicht abgezogen zu haben. Sein Schrecken, dass er seinen geliebten Traktor eine Stunde später in einem tiefen Graben wiedergefunden hatte, war nichts im Vergleich zu dem Schock, den er bei dem Anblick der Dreizehnjährigen empfand, die bewusstlos über dem Lenkrad hing.

Und wie hatte James reagiert, als sie eines Abends in die Stallungen auf dem Gut seines Vaters eingebrochen war und eines der Pferde gesattelt hatte? Es war an Sarahs vierzehntem Geburtstag, und es war ihr völlig egal gewesen, was hätte passieren können oder dass sie etwas Unrechtes tat. Sie liebte die Pferde, und an jenem Tag hatte sie einfach das unbändige Verlangen gehabt, über die Wiesen zu galoppieren und ihre Probleme weit hinter sich zu lassen. Sie war ungestüm, tollkühn und komplett außer Kontrolle gewesen. James hatte das erkannt.

„Nichts von all dem wird dir deine Mutter zurückbringen“, hatte er zu ihr gesagt.

Mit ihren großen grünen Augen hatte Sarah ihn herausfordernd angeschaut. „Was weißt du schon davon?“, gab sie in wegwerfendem Ton zurück.

Sie hatte Glück. Niemand zeigte sie an. Sie kam mit allem durch. Doch je weniger sie für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen wurde, desto mehr schlug sie über die Stränge. „Das geballte Chaos in einer solch kleinen Verpackung“, so hatte James es ausgedrückt. Verständlich, dass er sie jetzt nicht hier haben wollte.

Als Sarah in das Büro zurückkam, schenkte er ihr einen Becher Kaffee ein. „Immer noch mit Milch und einem Stück Zucker?“, fragte er.

Überrascht sah sie ihn an. Das wusste er noch? „Ja, bitte.“

Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, sich an den Tisch zu setzen, und nickte dem Mann neben ihr zu. „Tom ist unser Pilot.“

Sarah schätzte Tom auf Mitte vierzig, da sein dunkles Haar an den Schläfen schon leicht grau wurde.

„Freut mich, Sarah.“ Lächelnd schob er ihr einen Teller mit überbackenen Broten zu, die wohl gerade aus dem Mini-Grillofen neben der Kaffeemaschine kamen. „Bedien dich. In unserm Job weiß man nie, wann man wieder was zu essen kriegt. Also sollte man die Chance nutzen.“

„Danke.“ Sie nahm sich ein Schinken-Käse-Baguette. Zu Hause hatte sie nur eine Scheibe Toast gegessen, während die Kinder sich ihre Frühstücksflocken schmecken ließen. Das schien lange her zu sein.

„Und dies ist Alex, der Kopilot“, stellte James den Mann auf der anderen Tischseite vor. Er war etwa Mitte dreißig, hatte welliges braunes Haar und freundliche grünbraune Augen.

„Bist du schon mal in einem Hubschrauber mitgeflogen?“, fragte er.

„Ja, in Devon habe ich kurz bei der Luftrettung gearbeitet“, antwortete Sarah. „Mich hat diese Arbeit schon länger interessiert. Und als der Job angeboten wurde, habe ich mich sofort dafür beworben.“

Alex nickte. „James hat uns erzählt, dass du Teilzeit arbeitest. Willst du das so? Uns passt das gut, weil unser Sanitäter auch Teilzeit arbeitet.“

„Ja, ich bin bloß einen Tag in der Woche hier. Ansonsten werde ich in der Notaufnahme im Krankenhaus arbeiten.“

„Dann kriegst du das Beste von beidem. Aber in der Notaufnahme ist so etwas bestimmt ungewöhnlich, oder?“

„Heutzutage nicht mehr. Und für mich ist es genau die richtige Kombination.“ Sie biss in ihr Baguette. Der Geschmack nach geschmolzenem Käse war köstlich.

„Sarah stockt ihr Einkommen durch Internetarbeit auf“, warf James ein. „Sie schreibt eine Ratgeberkolumne für eine Website und für eine Zeitung.“

Woher wusste er das denn? Erstaunt schaute sie auf.

„Ich bin zufällig beim Surfen auf deine Kolumne gestoßen, und da wurde auch deine Arbeit für die Zeitung erwähnt.“ Skeptisch zog er die Brauen zusammen. „Ich weiß nicht, ob es wirklich sinnvoll ist, Diagnosen zu stellen, ohne den Patienten gesehen zu haben.“

„Das tue ich auch nicht, wie du sicher weißt, wenn du meine Kolumnen gelesen hast“, entgegnete sie. Vielleicht wollte er sie auf die Probe stellen, um zu erfahren, was für eine Art Ärztin sie war. Aber dass er andeutete, sie wäre ihrem Beruf vielleicht nicht gewachsen, das würde sie nicht auf sich sitzen lassen. Sarah musste Teilzeit arbeiten, um so viel wie möglich für Sam und Rosie da zu sein. Dafür war das Schreiben die ideale Lösung, weil sie das von zu Hause aus machen konnte.

„Ich arbeite mit einem Ärzteteam zusammen“, erklärte sie. „Wir suchen Briefe von Leuten mit Erkrankungen aus, die für viele andere Menschen auch interessant sind. Wir geben ihnen den bestmöglichen Rat und weisen auch auf andere mögliche Diagnosen und Heilmethoden hin.“

„Hm. Meinst du nicht, der beste Rat wäre, zum Hausarzt oder zu einem Spezialisten zu gehen?“

„Die meisten Leute haben das längst getan und sind immer noch verwirrt. Mittlerweile sind Patienten wesentlich besser informiert als früher. Wenn sie ihren Arzt aufsuchen, möchten sie wenigstens eine gewisse Ahnung davon haben, was er sagen könnte oder welche Behandlungsmethoden ihnen offenstehen“, erwiderte sie ruhig.

„Wahrscheinlich hast du recht.“ In diesem Augenblick klingelte das rote Telefon, und James hob sofort ab. Er hörte eine Weile zu, ehe er fragte: „Wo ist der Unfallort? Und sein Zustand? Okay, wir sind gleich da.“

Essen und Kaffee wurden stehen gelassen, und alle eilten hinaus zum Helikopter.

„Ein junger Mann ist bei einer Massenkarambolage schwer verletzt worden“, berichtete James. „Er hat ein gebrochenes Bein, aber die Sanitäter vor Ort haben das Gefühl, dass sie einen Arzt brauchen. Die Unfallstelle ist etwa fünfzig Kilometer von hier entfernt, und der Patient muss so schnell wie möglich ins Krankenhaus.“

Innerhalb von zwei Minuten waren sie bereits in der Luft, und Sarah blickte hinunter auf üppige grüne Felder, die von einigen schmalen Straßen durchzogen wurden.

„Dort ist das Krankenhaus.“ James, der neben ihr saß, zeigte ihr den Hubschrauber-Landeplatz auf dem Dach. „Dort landen wir, sobald wir den Patienten an Bord haben.“

Kurz danach flogen sie über ein weitläufiges Anwesen mit einem großen Gutshaus aus grauem kornischem Stein. Ein eindrucksvolles, rechteckiges Gebäude mit zahlreichen hohen, viktorianischen Fenstern.

„Euer Familiensitz“, meinte Sarah. „Lebst du noch dort?“ Es war so groß, dass James den gesamten Nordflügel allein bewohnen konnte. So war es früher jedenfalls, obwohl er nur selten da gewesen war. Entweder zum Medizinstudium oder weil er im Krankenhaus in Penzance gearbeitet hatte. Sein jüngerer Bruder hatte den Ostflügel übernommen, und der Rest des Hauses gehörte ihren Eltern.

„Nein, ich habe jetzt mein eigenes Haus“, antwortete James. „Es schien mir das Beste, als ich beschloss, langfristig in Truro zu arbeiten. Ich wohne jetzt näher am Krankenhaus. Jonathan lebt noch auf dem Gut, er hat jetzt eine Familie mit einem Sohn und einer Tochter.“

„Ich hatte mir schon überlegt, ob er wohl noch da ist. Er hat immer gerne auf der Farm gelebt und gearbeitet, oder?“

„Ja“, bestätigte James. „Und du hast dich jetzt also entschieden, zu deinen Wurzeln zurückzukehren. Wieso bist du aus Devon weggezogen? Von Freunden, die dort gearbeitet haben, habe ich gehört, dass du dich dort eigentlich recht gut eingelebt hattest und gerne in der Trauma-Abteilung bleiben wolltest.“

„Ja, zu Anfang war es auch so. Ich hatte auf eine unbefristete Stelle gehofft, wurde dann aber übergangen. Ein junger Arzt hat mir den Posten vor der Nase weggeschnappt, und danach habe ich mich anderweitig umgesehen.“

„Das muss ziemlich verletzend gewesen sein.“ Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. „So wie ich dich kenne, hast du dir damit wahrscheinlich nicht lange Zeit gelassen.“

„Das stimmt.“ Sarah wollte ihm nichts von ihrer Lebenssituation erzählen. Obwohl es nicht erwähnt worden war, vermutete sie, dass sie den Posten in Devon wegen ihrer familiären Verpflichtungen nicht bekommen hatte. Sie brauchte dringend einen langfristig sicheren Job. Die Stelle hier entsprach genau ihren Vorstellungen, aber zuerst musste sie eine dreimonatige Probezeit überstehen. Daher wollte sie James keinen Vorwand liefern, um sie loszuwerden, bevor sie den Vertrag unterschreiben konnte.

Mittlerweile hatten sie den Unfallort erreicht. Während der Pilot zur Landung ansetzte, sah man die Fahrzeugtrümmer unter ihnen. Offenbar waren zwei Motorradfahrer, eine Limousine und ein Geländewagen zusammengeprallt, und es gab mehrere Verletzte. Die Feuerwehr war ebenfalls da. Die geschwärzte Limousine ließ auf eine Explosion schließen. Hoffentlich war es den Insassen gelungen, rechtzeitig zu entkommen.

„Du begleitest mich.“ James löste seinen Sicherheitsgurt, sobald der Helikopter zum Stillstand gekommen war. „Mach dir also keine Gedanken um die anderen Patienten. Wir nehmen sie strikt nach der Reihenfolge der Ersteinschätzung dran.“

Sarah presste den Mund zusammen. Sie hatte nichts dagegen, James zu folgen, um sich in diesen Job einzuarbeiten. Aber es wäre doch bestimmt sinnvoller, wenn sie die Einsatzkräfte dabei unterstützte, die übrigen Unfallopfer medizinisch zu versorgen.

„Okay, wenn du meinst. Allerdings könnte ich mir auch vorstellen, bei den anderen Verletzten mitzuhelfen.“

Den Notfallrucksack auf dem Rücken, war er schon an der Tür. „Wir schauen erst mal, wie es läuft, einverstanden? Den Sanitätern zufolge geht es unserem Hauptpatienten ziemlich schlecht. Um ihn müssen wir uns zuerst kümmern.“

Sie eilte mit ihm auf die Straßenseite, wo ein Sanitäter einen verletzten jungen Mann versorgte. Polizeiwagen standen in der Nähe. Einer der Beamten leitete den Verkehr um, während der andere eine Straßensperre aufbaute.

Sarah kniete sich neben den Patienten, der kaum älter als achtzehn Jahre alt zu sein schien. Er lag auf dem Grünstreifen, in sicherer Entfernung von der Straße, und sein Gesicht war kalkweiß durch Schock und Blutverlust. Der Sanitäter hatte ihm eine Sauerstoffmaske angelegt.

„Zwei Leute haben ein Schleudertrauma“, berichtete er. „Und ein Mann hat Verletzungen im Brustbereich, vermutlich gebrochene Rippen und ein gebrochenes Schlüsselbein. Mein Kollege kümmert sich um sie. Dieser junge Mann heißt Daniel Henderson, ein Motorradfahrer. Er und sein Freund waren auf dem Weg zur Küste. Die beiden Pkws sind an einer Kreuzung zusammengestoßen, und die beiden Jungen hatten keine Chance, ihnen auszuweichen.“

James beurteilte das Ausmaß der Verletzungen. „Der eine Unterschenkel ist stark deformiert“, meinte er gedämpft. „Wahrscheinlich eine Waden- und Schienbeinfraktur. Die schwere Verdrehung behindert mit Sicherheit die Blutzufuhr.“

Der Sanitäter nickte. „Er hat starke Schmerzen, ihm ist kalt, und sein Blutkreislauf bricht gerade zusammen. Wir können ihm kein Schmerzmittel geben, weil wir keine Vene finden.“

Falls Daniels Fuß nicht ausreichend durchblutet wurde, bestand die Gefahr, dass er das Bein verlor.

„Danke, Colin. Ich werde ihm eine Knochenmarksinjektion verabreichen.“ James holte eine Injektionspistole aus der Notfalltasche und wandte sich dann an den jungen Mann. „Daniel, ich gebe dir jetzt etwas gegen die Schmerzen. Es ist ein starkes Betäubungsmittel, sodass du dich in ein bis zwei Minuten viel besser fühlst. Erst spürst du ein scharfes Stechen, und danach wirst du ein bisschen schläfrig. Ist das in Ordnung für dich?“

Daniel nickte und schloss die Augen.

„Soll ich die Injektionsstelle säubern und alles vorbereiten?“, fragte Sarah.

„Ja, danke“, erwiderte James.

Nachdem sie Daniels Oberarm gesäubert und abgeklebt hatte, schoss James einen Trokar, eine Art Stahlstift, durch den Knochen bis ins Knochenmark hinein, das von zahlreichen Blutgefäßen durchzogen war. Danach entfernte er den Stift und befestigte die darin enthaltene Kanüle. Sarah verband einen Schlauch mit der Kanüle, woraufhin James dem Patienten die notwendige Medikation verabreichte.

„Wie fühlst du dich, Daniel?“, erkundigte er sich nach einer Weile. „Alles in Ordnung?“

„Alles okay.“ Daniels Stimme klang etwas undeutlich, da das Medikament zu wirken begann.

„Spürst du das hier?“ James drückte ihm einen Holzstab ans Bein.

Daniel schüttelte den Kopf.

„Gut. Das heißt, die Betäubung funktioniert.“ James sah Sarah an. „Ich denke, wir können jetzt versuchen, die Knochen so weit zu richten, dass die Blutzufuhr wiederhergestellt wird. Wenn Colin ihn am Brustbereich festhält und du am Oberschenkel, dann drehe ich seinen Knöchel und fange an zu ziehen. Wir müssen sehr vorsichtig sein, weil wir nicht wissen, inwieweit die Blutgefäße schon geschädigt sind.“

Er sprach leise, um den Patienten nicht zu beunruhigen. Doch Daniel, der inzwischen stark unter Narkose stand, bekam nicht mehr viel mit. Er war wohl einfach nur froh, keine Schmerzen mehr zu haben.

So gut es ging richtete James behutsam das gebrochene Bein und schiente es dann, um es zu stabilisieren.

„Das müsste reichen“, sagte er schließlich.

Sarah behielt Daniel die ganze Zeit über genau im Auge. Sie machte sich Sorgen um ihn, denn er sagte nichts, sondern schien immer wieder kurzzeitig das Bewusstsein zu verlieren.

„Wir sollten ihm Flüssigkeit zuführen“, meinte sie gedämpft. „Er hat viel Blut verloren.“

„Ja“, bestätigte James. „Willst du das übernehmen? Danach legen wir ihn auf ein Wirbelsäulenbrett.“

Sarah verlor keine Zeit, und sobald sie Daniel den intravenösen Zugang gelegt hatte, befestigten sie ihn gemeinsam mit Gurten auf dem Brett und hüllten ihn in eine Rettungsdecke. Schließlich wurde er in den Hubschrauber getragen.

Dann ließ James sie kurz allein, um nach den übrigen Patienten zu sehen. Doch bald kam er zurück und nahm seinen Platz neben Sarah im Helikopter ein.

„Die anderen können mit dem Krankenwagen transportiert werden“, sagte er. „Es wird ungefähr eine Stunde dauern, bis sie im Krankenhaus sind, aber keiner von ihnen schwebt in akuter Lebensgefahr.“ Er schaute auf Daniel. „Ich habe Tom gebeten, die Notaufnahme per Funk zu informieren, dass ein Chirurg bereitstehen soll. Wie geht es dem Jungen?“

„Niedriger Blutdruck, schneller Herzschlag und schwacher Puls“, antwortete sie.

Die Anzeichen eines Schockzustands, aber sie hatten alles Menschenmögliche getan. Nun konnten sie nur noch abwarten.

Die Rotorblätter begannen sich zu drehen, Tom ließ den Hubschrauber steigen, und innerhalb weniger Minuten flogen sie bereits über die Halbinsel von Cornwall zurück zum Krankenhaus.

James hob die Rettungsdecke, um sich die Füße des Patienten anzusehen. „Die Zehen werden schon leicht rosa“, stellte er fest.

„Gott sei Dank.“ Sarah lächelte erleichtert. Damit war der drohende Beinverlust erst einmal abgewendet. „Da bin ich aber froh.“

Autor

Joanna Neil
Joanna Neil startete ihre Karriere als Autorin von Liebesromanen auf ganz unkonventionellem Wege. Alles begann damit, dass Joanna Neil einen Werbespot für Liebesromane sah und von diesem Zeitpunkt an wie verzaubert war.
Sie fing an, die Romane zu verschlingen, und war überwältigt. Je mehr sie las, umso mehr hatte sie...
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