Herzklopfen im Rosengarten

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Mein Sommerengel!? Lord Templeton kann den Blick nicht von Georgina abwenden. Wie tanzen die Sonnenstrahlen auf ihren Locken, wie leuchten ihre blauen Augen! Doch selbst als er sie zart küsst, verschweigt er, wer er wirklich ist: Um die Ehrlichkeit ihrer Gefühle zu prüfen, lässt er sie im Glauben, er sei ein armer Maler …


  • Erscheinungstag 01.04.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764678
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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Der Ehrenwerte Peregrine Nicholls leerte sein Glas auf einen Zug, ehe er seinem Cousin ein mitfühlendes Lächeln schenkte. „Dein Problem, lieber Ned, ist, dass du viel zu romantisch bist“, stellte er fest und fuhr, ohne die jetzt gerunzelte Stirn seines Vetters zu beachten, gut gelaunt fort: „Ich selbst war, wie du weißt, einer kleinen Romanze niemals abgeneigt. Doch wenn es ums Heiraten geht, muss man andere Maßstäbe anlegen. Da heißt es: Kompromisse schließen. Du hast dich jetzt zum dritten Mal in dieser Saison von einer jungen Dame zurückgezogen, der du zunächst deutlich dein Interesse gezeigt hattest. Kein Wunder, dass die Klatschbasen hinter ihren Fächern über dich reden.“

Ned Latimer, der bis vor kurzem noch bei den Dragonern gedient hatte, streckte die langen Beine aus. „Du glaubst doch nicht, ich würde mir, nur um den alten Matronen zu gefallen, eine Gattin nach ihrem Geschmack suchen!“ Ein eigensinniger Zug lag um seinen Mund. Dennoch sah er erstaunlich gut aus. „Es muss doch irgendwo da draußen eine junge Dame geben, für die ich mehr bin als der Mann, der die Rechnungen ihrer Schneiderin bezahlt.“

„Glaubst du etwa immer noch an Märchen, alter Knabe?“ Nicholls beugte sich nach vorn, um die Gläser noch einmal mit Cognac zu füllen. „Du kennst doch die Regeln. Wenn die Zeit gekommen ist, eine Familie zu gründen, dann entscheidet ein Gentleman sich für ein Mädchen aus gutem Hause, das – wenn er ein bisschen Glück hat – zudem hübsch ist. Vor allem aber sollte die junge Braut über ein sanftes Wesen verfügen, sonst wird er nämlich für den Rest seines Lebens unter dem Pantoffel stehen.“

„Unsinn“, widersprach Latimer. „Hast du jemals darüber nachgedacht, Perry, welche Folgen es für die geistigen Fähigkeiten deiner Kinder haben könnte, wenn du dich für eine einfältige Frau entscheidest, ganz gleich wie hübsch sie auch sein mag?“ Er nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. „Ich jedenfalls habe eine ganze Reihe von Erwartungen an meine zukünftige Gemahlin. Ich möchte mich mit ihr unterhalten können, und zwar nicht nur über die neueste Mode. Sie sollte in der Lage sein, sich ihre eigene Meinung zu vielen verschiedenen Themen zu bilden. Meine Mutter war, wie du dich vielleicht erinnerst, eine solche Frau. Sie las Zeitung, wusste, was in der Welt vorging, und war stets bereit, ihre Überzeugungen zu verteidigen. Manchmal ging es laut her bei uns. Aber gerade deshalb hat Vater sie angebetet.“

„Hm …“, brummelte Nicholls, der bemerkt hatte, welch weichen und gleichzeitig betrübten Ausdruck die Augen seines Cousins angenommen hatten. Zweifellos trauerte Ned noch immer um seine vor fünf Jahren verstorbene Mutter. „Ich weiß, was du meinst. Wenn sie ein Mann gewesen wäre, hätte Tante Felicity sich als Redner im Oberhaus einen Namen machen können.“

Es wurde still im Raum.

„Was hat dich denn diesmal zum Rückzug bewegt?“, fragte Nicholls nach einer Weile. „Die kleine Cornwell ist ein nettes Mädchen. Sie schien dich zu mögen. Und manch einer hätte sich gewünscht, an deiner Stelle zu sein. Du aber hast ihr nach kurzer Zeit den Laufpass gegeben. Dabei wurden bereits Wetten darauf abgeschlossen, wann du um sie anhalten würdest. Irgendetwas ist geschehen, nicht wahr?“

Latimer zuckte die Schultern. „Ich habe zufällig etwas gehört.“

„Ach?“

„Die bezaubernde Miss Eleonora Cornwell hatte ihr Herz, lange ehe die Saison begann, einem anderen geschenkt. Sie wollte nur diesen Gentleman und sonst niemanden heiraten. Doch da ihre Eltern praktisch ihre gesamten Ersparnisse aufgewendet hatten, um ihr ein Debüt zu ermöglichen, drängten sie die junge Dame, mich zu erobern. Selbstverständlich konnte ich ihr unter diesen Umständen nicht länger den Hof machen. Also gab ich sie frei.“

„Selbstverständlich“, wiederholte Nicholls in ernstem Ton, doch seine Augen blitzten spöttisch – was seinem Cousin nicht entging.

„Sei nicht albern, Perry“, meinte er. „Du wirst doch nicht erwarten, dass ich den Rest meines Lebens an der Seite einer unwilligen und unglücklichen Gattin verbringe. Nein danke, da bleibe ich lieber Junggeselle.“

„Dazu dürfte dein Vater auch das eine oder andere Wort zu sagen haben. Du hast mir erzählt, er habe dich zur Ehe gedrängt, seit du aus dem Krieg zurückgekehrt bist. Und meiner Meinung nach hat er recht. Schließlich bist du der einzige Sohn und inzwischen bereits dreißig. Natürlich möchte er, dass du den Fortbestand der Familie sicherst. Was mich angeht“, zufrieden kreuzte Nicholls die Hände über seinem rundlichen Bäuchlein, „so bin ich sehr froh, dass mein alter Herr klug genug war, insgesamt drei Söhne zu zeugen. Das erspart mir die Mühe, eine passende Gemahlin zu finden.“

„Wie wahr …“ Ned Latimer seufzte. „Vermutlich stört dich die Tatsache, dass die Saison in London seit langem nichts weiter als ein Heiratsmarkt ist, deshalb nicht so sehr wie mich. Mir jedenfalls behagt die Art gar nicht, wie hier Ehen arrangiert werden. Stets geht es nur um weltlichen Besitz und gesellschaftliches Ansehen. Ich wünschte, ich fände eine Möglichkeit, herauszufinden, ob eine junge Dame mich oder nur mein Geld mag.“

„Gewiss begegnet man hin und wieder einem Mädchen, für das es Wichtigeres gibt, als sich einen wohlhabenden, einflussreichen Ehemann zu angeln. Nur“, Nicholls runzelte die Stirn, „woran merkt ein Gentleman, ob er es mit einer jungen Dame zu tun hat, der etwas an seinem Charakter liegt und die auf ihr Herz hört? Es soll ja reiche Adlige gegeben haben, die die Rolle des armen Bürgers spielten, um die wahre Liebe zu finden. Aber eine solche Maskerade ist für dich unmöglich. Man kennt dich in London viel zu gut.“

„Ich könnte es anderswo versuchen“, überlegte Latimer, dessen Laune sich mit einem Mal spürbar gebessert hatte. „Ich könnte meine Sachen packen, aufs Land fahren und eine Zeit lang so tun, als sei ich nicht der Sohn des Earl of Ruscombe.“

Sein Cousin sah entsetzt drein. „Das meinst du gewiss nicht ernst, Ned! Du willst dich doch nicht wirklich in einem Landgasthof einmieten, ohne auch nur deinen Kammerdiener mitzunehmen!“

Ned erhob sich, löste das kunstvoll geschlungene Krawattentuch und begann umständlich, es neu zu binden. „Ich denke, ein paar Tage lang könnte ich durchaus ohne meinen Kammerdiener auskommen. Wie du weißt, hat er mich auch nicht begleitet, als ich in den Krieg zog. Acht Jahre beim Militär erziehen einen Mann zur Selbständigkeit. Im Übrigen dürfte der bürgerliche Mr. Latimer kaum in der Lage sein, sich einen Diener zu leisten. Auch würde er wohl eher eine kleine Wohnung mieten als ein Zimmer im Gasthof. Ja, ich denke, ein Cottage wäre genau das Richtige. Bei Jupiter, so werde ich es machen!“ Von plötzlicher Begeisterung erfüllt, trat er zum Tisch, griff nach der Zeitung und schlug die Seite mit den Anzeigen auf.

Nicholls beobachtete ihn fasziniert.

„Sehr gut“, Ned machte einen zufriedenen Eindruck, „es gibt Dutzende von Angeboten. In Hampshire, in Buckinghamshire … Ich habe die freie Wahl. Mal sehen, was mir am besten zusagt.“ Er ließ den Blick über die Spalte gleiten, las hier und da eine Annonce ganz, überlegte und schüttelte dann den Kopf. Bis er plötzlich einen Triumphschrei ausstieß. „Das ist es! Blanchard’s Cottage in Compton Lacey! Dort wird es mir bestimmt gefallen. Ich glaube sogar, ich habe schon von diesem Ort gehört. Er liegt in der Nähe des Marktfleckens Dunchurch in Warwickshire. Kennst du irgendwen in der Gegend, Perry?“

Der kratzte sich am Kopf. „Hm … Ich glaube, wir hatten mal eine Tante in Stratford. Aber die weilt seit langem nicht mehr unter den Lebenden. Und sonst will mir niemand einfallen. Ned, du beabsichtigst doch nicht wirklich, dorthin zu fahren?“

„Warum eigentlich nicht? Ein kleines Abenteuer würde mich durchaus reizen. Ah, hier steht, dass es nicht weit zur nächsten Poststation ist. Wie praktisch!“

„Du willst mit der Postkutsche reisen?“, fragte Nicholls. Sein Ton verriet, wie entsetzt er war.

„Natürlich will ich das. Es passt zu der Rolle, die ich zu spielen gedenke. Niemand wird misstrauisch werden, wenn der einfache Mr. Latimer ein paar Wochen Urlaub macht und sich die Zeit mit … nun, sagen wir … mit Malen vertreibt. Aber nein, dafür würde ich eine richtige Ausrüstung brauchen. Also … Ja, ich könnte zeichnen. Das ist besser. Ich besitze noch all meine alten Skizzenbücher, und dank der Geduld des guten Bentley bin ich imstande, recht passable Zeichnungen anzufertigen. Er war einer meiner Lieblingslehrer. Erinnerst du dich an ihn, Perry?“

„Hm, er hat dich den anderen Schülern immer als Vorbild hingestellt.“

„Tatsächlich?“ Latimer lachte. „Jedenfalls habe ich meinen Entschluss gefasst. Ich gehe für ein paar Wochen als Künstler nach Compton Lacey. Das wird ein wundervoller Sommer! Die Mädchen dort …“

Der Blick, mit dem sein Cousin ihn bedachte, drückte echtes Mitleid aus. „Um Himmels willen, Ned, wenn wir nicht verwandt wären, würde ich sagen, du gehörst ins Irrenhaus. Schlimm genug, dass du dich verkleiden willst! Aber wie kommst du nur auf die Idee, du könntest ausgerechnet in einem verschlafenen Nest in Warwickshire die Frau deiner Träume treffen?“

„Die Debütantinnen bei Almack’s kommen alle aus irgendwelchen verschlafenen Nestern. Täglich treffen mehrere von ihnen in London ein, begleitet von ihren ehrgeizigen Müttern, die sie möglichst rasch und möglichst gut verheiraten wollen. Wenn sie erst einmal hier sind, werden sie schnell vom Stadtleben verdorben. Auf dem Lande hingegen könnte ich meinem Engel begegnen. Gesellschaften wird es auch dort geben, meinst du nicht? Ich jedenfalls finde, dass ich es zumindest versuchen sollte.“

Nicholls stöhnte laut auf. „Wie du meinst. Es hat ja sowieso keinen Zweck, dich umstimmen zu wollen. Du warst schon immer dickköpfig. Also werde ich dir nur viel Glück wünschen und dich bitten, keine Dummheiten zu machen.“

„Dummheiten? Wann hätte ich jemals Dummheiten gemacht?“ Mit einem breiten Grinsen eilte Latimer zur Tür.

Die Zeit verging wie im Flug. Und eines Samstags – die Sonne lachte vom Himmel, Vögel sangen, und Schmetterlinge tanzten von Blume zu Blume – kletterte Ned Latimer in Dunchurch aus der Postkutsche. Leider hatte er keinen Blick für die sommerliche Idylle. Jeder einzelne seiner Knochen schien zu schmerzen. Die Begeisterung für seinen Plan war durch die unbequeme Reise deutlich gedämpft worden. Stundenlang hatte er eingeklemmt zwischen einer dicken Frau und einem überaus knochigen Mann in der Kutsche ausharren müssen. Jetzt war er mit seiner Geduld am Ende und wünschte nur, endlich ans Ziel zu gelangen. Verärgert stellte er fest, dass seine Gepäckstücke wohl als letzte abgeladen werden würden.

Während er wartete, sah er zu, wie die Pferde ausgespannt und durch neue ersetzt wurden und wie die Reisenden, die von hier aus eine andere Postkutsche nehmen wollten, sich um den Mann scharten, der ihre Taschen, Koffer und Kisten verladen sollte. Es gab auch viele Neugierige, die sich die Zeit damit vertrieben, die Geschehnisse vor der Poststation zu beobachten.

Latimer hörte, wie jemand sagte, er glaube kaum, dass die Kutsche in weniger als 75 Sekunden abfahrbereit sei, dieser Rekord sei schwer zu brechen. Dann zog ein Junge seine Aufmerksamkeit auf sich. Der vielleicht Zwölfjährige war anscheinend von dem modernen Bremssystem des Wagens fasziniert und näherte sich der Kutsche zögernd Schritt für Schritt.

„Rupert, wo bist du?“

Als der Knabe seinen Namen hörte, zuckte er zusammen und wandte sich unwillig um – gerade als ein schwerer Koffer auf dem Dach der Kutsche ins Rutschen kam. Der Postknecht rief eine Warnung. Gleichzeitig machte Latimer einen Satz nach vorn und stieß den Jungen zur Seite.

Dieser schrie vor Schmerz auf, als er der Länge nach auf das Kopfsteinpflaster schlug. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als der Koffer direkt neben ihm auf die Erde krachte.

Latimer bückte sich, um dem Knaben aufzuhelfen. Doch er wurde von einer jungen Frau mit angstbleichem und gleichzeitig zornigem Gesicht heftig zur Seite gestoßen. „Fassen Sie ihn nicht an!“, rief sie mit bebender Stimme. „Wie können Sie es wagen, ein Kind so zu behandeln!“

Verwirrt trat Latimer einen Schritt zurück. Nie zuvor hatte eine Dame so zu ihm gesprochen. „Langsam, Madam“, versuchte er sie zu beruhigen und wies auf den vor ihm liegenden beschädigten Koffer, „ich habe lediglich versucht, den Jungen vor Schlimmerem zu bewahren.“

Der Ausdruck der jungen Frau veränderte sich zusehends, während sie das Gepäckstück musterte. „Oh …“, murmelte sie.

Der Knabe hatte sich unterdessen aufgerappelt. „Was er sagt, stimmt“, erklärte er und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. „Als du mich gerufen hast, habe ich mich umgedreht und deshalb nicht bemerkt, wie der Koffer herunterfiel.“ Jetzt wandte er sich seinem Retter zu. „Sie waren verflixt schnell, Sir. Danke!“

Latimer lächelte. „Schon gut, Junge. Ich hoffe, du hast dich nicht verletzt?“ Dann bemerkte er, wie sich die Wangen der jungen Dame röteten – was sehr hübsch aussah.

„Ich muss Sie um Vergebung bitten, Sir“, stieß sie beschämt hervor. „Wahrhaftig, ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet, weil sie meinem Bruder geholfen haben.“

„Es freut mich, dass ich gerade im rechten Moment zur Stelle war.“ Amüsiert beobachtete er, wie der Knabe auf Befehl seiner Schwester die Hände ausstreckte, damit sie die Schrammen begutachten konnte. Den Kopf hielt sie dabei gesenkt, und ein paar kastanienfarbene Locken fielen ihr ins Gesicht, denn ihr Strohhütchen war wohl infolge der Aufregung ein wenig verrutscht. Ein bezaubernder Anblick, fand Latimer.

Da sie vergeblich versuchte, den Schmutz von den Handflächen des Jungen mit einem feinen Spitzentüchlein abzuwischen, griff Ned schließlich in die Tasche und hielt ihr sein eigenes makellos sauberes Schnupftuch hin. „Damit haben Sie vielleicht mehr Erfolg“, sagte er. Er war jetzt deutlich besserer Laune und gestand sich ein, dass er die Bekanntschaft mit der jungen Dame gern vertieft hätte.

Sie hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Ein seltsames Gefühl der Erregung ergriff Besitz von Latimer.

„Danke, Sir. Sie müssen mich für sehr unhöflich …“

Der Satz wurde nie beendet. Denn der Postillion, verärgert darüber, dass sich die Abfahrt der Kutsche verzögerte, stieß plötzlich einen lauten Fluch aus und schüttelte drohend die Faust. Einer der Reisenden klopfte ungeduldig gegen die Scheibe der Kutsche. „Aus dem Weg!“, brüllte jemand.

Die kleine Gruppe Neugieriger, die sich um die junge Dame sowie ihren Bruder und dessen Retter versammelt hatte, fuhr auseinander. Es entstand ein Durcheinander, in dem Latimer zur Seite gedrängt wurde. Ein älterer Mann redete auf ihn ein, doch er hörte gar nicht zu. Vergeblich versuchte er, die ungleichen Geschwister im Auge zu behalten. Als sich das Gedränge um ihn her endlich auflöste, war von den beiden nichts mehr zu sehen. Dabei hätte er so gern den Familiennamen und die Adresse der zwei erfahren! So jedoch blieb ihm nichts anderes übrig, als sich um sein Gepäck zu kümmern und sich sodann im Gasthof zu erkundigen, wie er am besten nach Compton Lacey gelangen könne.

Der hilfsbereite Wirt erklärte, da Markttag sei, werde sich gewiss eine Mitfahrgelegenheit finden. Ja, er selbst wolle diejenigen seiner Gäste, die aus dem Dorf kämen, gern fragen, ob sie einen Fahrgast mitnehmen könnten. Ob der Gentleman in der Zwischenzeit eine kleine Erfrischung wünsche? Ein Ale vielleicht?

Dankend nahm Latimer beide Angebote an. Und während er in der von Leben erfüllten Gaststube saß, hin und wieder einen Schluck aus seinem Glas trank und wartete, rief er sich noch einmal jede Einzelheit seiner Begegnung mit der leider so plötzlich verschwundenen jungen Dame in Erinnerung. Wie bezaubernd ihr kastanienfarbenes Haar geglänzt hatte! Und erst die Augen! Ein so wunderbares dunkles Blau hatte er noch nie gesehen.

Ein beinahe wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht, als ihm die Worte seines Cousins einfielen. Perry hatte sehr deutlich gemacht, dass er nicht an den Engel glaubte, dem Ned außerhalb Londons zu begegnen hoffte. Ach, dachte Latimer, da habe ich die Frau meiner Träume womöglich bereits getroffen, nur um sie gleich wieder zu verlieren. Ob es eine Möglichkeit gab, doch noch herauszufinden, wer sie war?

Es mochte hilfreich sein, dass er sich so genau an ihr Aussehen erinnerte. Sie war recht groß, dabei biegsam und schlank, allerdings mit sehr weiblichen Rundungen. Die hatten ihr Musselinkleid, das sich nur als unauffällig beschreiben ließ, nicht verbergen können. Auch das Strohhütchen mit dem schwarzen Band war nichts Besonderes. Abgesehen von eben diesem Band! Wahrhaftig, auch der Knabe hatte etwas Schwarzes getragen, eine Armbinde wohl. Offenbar trauerten die Geschwister um einen verstorbenen Angehörigen. Das würde die Suche nach ihnen ein wenig erleichtern.

Außerdem – Latimer runzelte die Stirn – hatte er kurz den Vornamen des Jungen gehört. Wenn er sich doch nur erinnern könnte! Cuthbert? Robert? Nein … Rupert! Ja, die junge Dame hatte ihn Rupert genannt!

In diesem Moment trat der Wirt an seinen Tisch und erklärte fröhlich: „Ich habe eine Mitfahrgelegenheit für Sie gefunden, Sir. Mr. Radley macht sich gleich auf den Rückweg nach Compton Lacey. Und er ist gern bereit, Sie mitzunehmen bis zu Blanchard’s Cottage.“

Wie sich herausstellte, war Andrew Radley ein wohlhabender junger Landwirt, der einen beachtlichen Grundbesitz am Rande des Dorfes sein Eigen nannte. Glücklicherweise war der kräftige, gut aussehende junge Mann zum Markt nicht mit einem bäuerlichen Leiterwagen, sondern mit seinem Gig gekommen, das von einem lebhaften jungen Hengst gezogen wurde. So konnte Latimer den letzten Abschnitt seiner Reise recht bequem zurücklegen. Wie angenehm war es, die Sonne zu genießen und den Blick über die sommerliche Landschaft schweifen zu lassen! Die Farben von Gras, Laub und Blumen schienen hier intensiver zu sein als in London. Die Vögel schienen lauter und fröhlicher zu singen. Und zweifellos war die Luft besser. Latimer lächelte zufrieden.

Es dauerte nicht lange, bis er in eine angeregte Unterhaltung mit Radley vertief war. Er wolle sich auf dem Lande ein wenig erholen und ein paar Zeichnungen anfertigen, erklärte er. Woraufhin der Landwirt den vermeintlichen Maler auf ein paar landschaftliche Besonderheiten hinwies. Auch gab er ihm viele Informationen über das Dorf und seine Bewohner.

Blanchard’s Cottage gehörte anscheinend einem schottischen Ehepaar, das die Sommer in der Heimat, die Winter jedoch des milderen Klimas wegen in Warwickshire verbrachte. Um das Häuschen während der warmen Monate nicht leer stehen zu lassen und sicher auch um sich etwas hinzuzuverdienen, war Mr. Blanchard auf die Idee gekommen, es wochenweise zu vermieten. Dann hatte er Mrs. Jacklin, eine Frau aus dem Dorf, beauftragt, das Cottage regelmäßig zu putzen und andere kleinere Arbeiten zu erledigen.

Gegen einen bescheidenen Lohn übernähme die Frau auch das Wäschewaschen für die jeweiligen Mieter, erklärte Radley. „Nehmen Sie das Angebot ruhig an, Sir. Mrs. Jacklin ist zuverlässig und fleißig. Allerdings kann sie auch sehr neugierig sein.“

„Dann ist sie vielleicht genau dir richtige Person, um mir bei der Lösung eines Problems zu helfen.“

„Sie haben ein Problem?“

„Richtiger wäre es zu sagen, dass ich die Antwort auf eine Frage suche. Waren Sie Zeuge des Vorfalls im Hof der Poststation? Nein? Ein Knabe wäre beinahe von einem herabfallenden Koffer getroffen worden. Ich glaube, sein Name ist Rupert. Und ich …“

„Rupert!“, rief Radley aus. „Es ist ihm doch hoffentlich nichts geschehen?“

„Sie kennen den Jungen?“ Latimer wollte sich die Freude darüber nicht allzu deutlich anmerken lassen. „Er ist zum Glück wohlauf. Sind Sie mit seiner Familie befreundet?“

„Allerdings. Ich bin mit Miss Katherine Cunningham, der Schwester des Knaben, verlobt.“

Schon wich die Freude einem Gefühl tiefster Enttäuschung. Sein Engel war bereits vergeben.

Radley fuhr unterdessen munter fort: „Der Bursche ist eine rechte Prüfung für seine arme Mutter. Ständig gerät er in irgendwelche Schwierigkeiten.“

„Darf ich Ihnen zur Verlobung alles Gute wünschen“, brachte Latimer hervor. „Sie müssen ein glücklicher Mann sein. Allerdings ist mir aufgefallen, dass die Geschwister schwarze Bänder trugen. Sie sind wohl in Trauer?“

„Ja, ihr Vater, Reverend Cunningham, ist vor kurzem gestorben. Eigentlich hatten Kate und ich geplant, heute in einer Woche zu heiraten. Aber die Hochzeit musste natürlich verschoben werden. Nun werden wir erst im September vor den Altar treten können.“

Einen Moment schwiegen beide Männer. Nur der Ruf eines großen Raubvogels, der über dem Feld seine Kreise drehte, und das Klappern der Pferdehufe waren zu hören. Tief atmete Latimer die nach Sommer duftende Luft ein. Dann räusperte er sich und sagte: „Die Familie lebt also im Pfarrhaus?“

„Nein, die Cunninghams besitzen seit Generationen ein eigenes Haus. Westcotes heißt es, und es liegt an derselben Straße wie Blanchard’s Cottage. Im Pfarrhaus wohnt schon seit längerem unser Hilfspfarrer. Ich denke, dass er bald offiziell zum Gemeindepfarrer ernannt wird.“ Radley warf seinem Fahrgast einen kurzen Blick zu. „Wir können an Westcotes vorbeifahren. Es ist ein hübsches altes Gebäude. Meine Kate wäre bestimmt glücklich, wenn Sie es einmal zeichnen würden. Ich würde Sie gern dafür bezahlen. Wir könnten das Bild dann in unserem Salon aufhängen.“

„Das ist eine gute Idee“, stimmte Latimer zu. „Aber wollen Sie, ehe Sie mir einen Auftrag erteilen, nicht erst ein paar meiner Werke sehen?“

„Ach was!“, widersprach Mr. Radley lachend. „Wenn Sie nicht malen könnten, hätten Sie gewiss nicht das Geld, ein Cottage zu mieten. Da vorn ist Westcotes auch schon. Das Haus hinter der Weißdornhecke.“

Latimer reckte den Hals, um einen Blick auf das Gebäude – und wenn möglich auf seine Bewohner – zu erhaschen. Es handelte sich um ein Fachwerkhaus im typischen Tudorstil, das tatsächlich einen sehr charmanten Eindruck dieser längst vergangenen Epoche vermittelte.

In diesem Moment bemerkte er eine weibliche Gestalt, die das Haus gerade betreten wollte, sich jedoch umwandte, als sie das vorbeifahrende Gig hörte. Der Engel! Latimers Herz machte einen Sprung. Gleichzeitig hob Radley grüßend die Peitsche, woraufhin die junge Dame ihm freundlich zuwinkte.

„Wollen Sie nicht anhalten, um ‚Guten Tag‘ zu sagen?“

„Nein, ich möchte möglichst schnell nach Hause. Denn dort wartet Kate auf mich. Sie hat meine Mutter gebeten, ihr das Buttermachen beizubringen. Bestimmt brennt sie nun darauf, mir den Erfolg ihrer Bemühungen zu zeigen.“

„Dann war die junge Dame beim Haus der Cunninghams gar nicht Ihre Verlobte?“, fragte der vermeintliche Maler verwirrt.

„Nein, das war Kates Schwester Georgina.“ Radley runzelte die Stirn. Latimers auffälliges Interesse an der jungen Dame war ihm nicht verborgen geblieben. „Sie haben doch nicht etwa vor, Georgina Cunningham den Hof zu machen? Sie ist ein nettes Mädchen, sicher, aber leider ohne jede Mitgift. Ich denke, sie wird einen Mann heiraten müssen, der eine besser gefüllte Börse besitzt als Sie, Mr. Latimer.“

2. KAPITEL
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Georgina Cunningham schloss die Haustür hinter sich und folgte ihrem Bruder in den Salon. Dass er so mitgenommen aussah und – schlimmer noch – dass seine Hose zerrissen war, bedrückte sie sehr. Allerdings sagte sie sich auch zum hundertsten Mal, wie glücklich sie sich schätzen konnte, weil ihm nicht mehr passiert war. Wenn sie an seinen entsetzten Gesichtsausdruck direkt nach dem Sturz dachte, klopfte ihr Herz jetzt noch vor Angst schneller. Sie hatte geglaubt, der gut aussehende Fremde habe dem Jungen absichtlich ein Leid angetan.

Oh, sie war so froh, sich darin geirrt zu haben!

Auf dem Heimweg hatte sie immer wieder an den Gentleman denken müssen. Dass sie ihn jemals wieder treffen würde, hatte sie nicht geglaubt. Doch gerade eben war er mit Andrew Radley an Westcotes vorbeigefahren. Merkwürdig! Ob die beiden sich schon länger kannten? Vielleicht würde Kate etwas darüber wissen.

Sie beschloss, ihre Schwester danach zu fragen, und bemerkte reichlich spät, dass ihre Mutter sie vorwurfsvoll anschaute.

„Nun, Gina, was hat Rupert diesmal wieder angestellt?“

„Nichts!“, rief der Junge. „Ich habe nur …“

„Du bist ja stets davon überzeugt, unschuldig zu sein an den Missgeschicken, die dir widerfahren“, fiel Mrs. Cunningham ihm ins Wort. „Also, Gina?“

Diese biss sich auf die Lippe. „Er sagt die Wahrheit, Mama. Leider habe ich ihn bei der Poststation einen Moment lang aus den Augen gelassen.“ So undramatisch wie möglich berichtete sie, was dann geschehen war.

„Du hättest ihn niemals allein dorthin gehen lassen dürfen! Du weißt, wie gefährlich es ist.“

„Aber Mama, es ist doch nicht gefährlich zuzuschauen, wenn die Postkutsche ankommt“, widersprach Rupert entrüstet. „Keiner konnte ahnen, dass ein Koffer herunterfallen würde. Außerdem hat dieser Gentleman ja dafür gesorgt, dass mir nichts passiert ist.“

„Du könntest schwer verletzt sein“, stellte seine Mutter fest. „Und auf jeden Fall ist deine gute Hose ruiniert.“

„Das tut mir leid.“ Er ließ den Kopf hängen. Doch schon hellte seine Miene sich wieder auf. „Becky kann Flicken auf die Knie nähen. Darin ist sie sehr gut, nicht wahr?“

„Allerdings.“ Mrs. Cunningham gelang es nur mit Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken und ihre strenge Miene beizubehalten. „Geh dich waschen“, befahl sie, „zieh dir etwas Sauberes an und komm erst herunter, wenn ich dich rufen lasse.“

Erleichtert lief er davon, während Georgina sich auf eine Strafpredigt gefasst machte. Doch ihre Mutter schwieg. Erst nach einer Weile sagte sie leise: „Setz dich und erkläre mir, warum du schon wieder so lange auf dem Markt warst. Daniel hat die Einkäufe stets schneller erledigt.“

„Ich lasse mir Zeit, damit ich wirklich gute Preise bekomme. An manchen Ständen herrscht bis nachmittags um vier noch reger Betrieb. Erst wenn die Händler mit dem Einpacken beginnen, wird die Ware günstiger. Daniel konnte natürlich nicht so lange warten. Deshalb habe ich mich ja erboten, das Einkaufen zu übernehmen.“

„Ich erinnere mich“, murmelte ihre Mutter und presste die Handflächen gegen die schmerzenden Schläfen. „Verzeih mir, Liebes. Ich weiß ja, dass du tust, was in deiner Macht steht. Es ist nur … Ich mache mir solche Sorgen. Mr. Pickens war hier. Und wie es aussieht, besitzen wir noch weniger, als wir zunächst annahmen.“

Marcus Pickens war ein Freund und auch der Anwalt der Familie. Nach Reverend Cunninghams Tod hatte er viele Stunden damit verbracht, den Nachlass des Verstorbenen zu ordnen. Nun hatte er der trauernden Witwe schweren Herzens eine schlechte Nachricht überbringen müssen.

„Meine liebe Mrs. Cunningham“, hatte er gesagt, „ich bedaure zutiefst, was ich Ihnen jetzt mitteilen muss. Leider hat Ihr Gemahl einige wichtige Angelegenheiten über längere Zeit vernachlässigt. Es gibt Rechnungen, die schon vor Monaten hätten beglichen werden müssen. Wenn erst alle Schulden bezahlt sind, wird für Sie und die Kinder nicht mehr viel übrig bleiben.“

Amelia Cunningham hatte ihn fassungslos angeschaut. „Aber er hat nie erwähnt, dass wir in Schwierigkeiten stecken!“, rief sie dann. „Trotzdem habe ich stets vorsichtig gewirtschaftet. Ich verstehe das nicht!“

Freundlich erklärte der Anwalt ihr, der Reverend habe zu seinen Lebzeiten eine Rente aus dem Familienvermögen erhalten. Mit seinem Tod waren die Zahlungen jedoch eingestellt worden. Auch sein Gehalt wurde jetzt natürlich nicht mehr gezahlt.

„Es muss doch Ersparnisse geben!“, rief Mrs. Cunningham. „Geld, das für Ruperts Ausbildung zurückgelegt wurde und für die Mitgift der Mädchen.“

Bedauernd schüttelte Mr. Pickens den Kopf. „Tatsächlich hat es bis vor einiger Zeit eine größere Summe gegeben, die wohl für diese Dinge gedacht war. Doch Mr. Cunningham hat davon nicht nur Harrys Offizierspatent bezahlt, sondern offenbar auch andere Dinge. Zudem mussten in letzter Zeit zwei Begräbnisse finanziert werden. Der Rest reicht gerade für Miss Katherines Mitgift.“

Alles Blut wich aus Amelia Cunninghams Gesicht. „Aber da sind doch auch noch Georgina und Sophie! Und natürlich Rupert. O Gott, was soll ich nur tun?“ Verstohlen wischte sie eine Träne fort. „Wo kann das Geld denn geblieben sein? Wir haben doch so bescheiden gelebt, insbesondere nachdem Harry gefallen war. Henry wollte das Haus ja gar nicht mehr verlassen. Er hat nur noch für seine Bücher gelebt.“

„Eben“, sagte der Anwalt leise und wies mit einer weit ausholenden Geste auf die vollen Bücherregale, die jede Wand des Studierzimmers bedeckten, in dem sie saßen. „Auf meinen wiederholten Rat, die Sammlung nicht weiter auszubauen, hat Mr. Cunningham leider nie gehört.“

„Bestimmt können wir die Bücher verkaufen. Sie müssen doch einen großen Wert darstellen.“ Hoffnung flackerte in Mrs. Cunninghams Augen auf. „Ich gebe zu, dass mir nicht klar war, wie viele er angeschafft hat. Er wollte ja bei seinen Studien nicht gestört werden. Nur Sophie durfte oft stundenlang bei ihm sitzen. Sie ist ein so stilles kleines Ding. Ich glaube, sie hat von ihrem Vater die Liebe zu Büchern geerbt.“

„Viele Menschen interessieren sich für die Themen, die Ihren Gatten so begeistert haben“, stellte Mr. Pickens fest. „Leider muss ich Ihnen jedoch sagen, dass Mr. Cunningham es mit seiner Sammelleidenschaft übertrieben hat. Für einige der Werke hat er eindeutig zu viel bezahlt. Es wird uns nicht gelingen, beim Verkauf auch nur einen annähend so guten Preis zu erzielen. Ein paar der Bücher halte ich sogar für unverkäuflich.“

Das waren in der Tat schlechte Nachrichten.

Und als Mrs. Cunningham nun ihrer ältesten Tochter von dem Gespräch mit Marcus Pickens berichtete, stiegen ihr erneut Tränen in die Augen. „Als wäre es nicht schwer genug für uns, dass wir deinen Vater und deinen Bruder innerhalb so kurzer Zeit verloren haben“, klagte sie. „Nun auch noch diese finanziellen Probleme! Keine Mitgift für dich und Sophie …“

„Mach dir meinetwegen keine Sorgen, Mama. Ich habe bisher nie den Wunsch zu heiraten verspürt. Ich bleibe gern bei dir. Es sei denn“, sie lachte leise auf, „ein außerordentlich attraktiver, edler und reicher Ritter würde hier auftauchen und mich auf seinem weißen Hengst entführen.“

Das entlockte sogar ihrer Mutter ein Lächeln. „Geld war nie wichtig für dich, mein Liebes. Das weiß ich. Sonst hättest du gewiss einen deiner wohlhabenden Verehrer so weit ermutigt, dass er um dich angehalten hätte.“

„Das stimmt. Irgendwie hatte ich stets das Gefühl, diesen Gentlemen fehle etwas. Aber Geld war es gewiss nicht.“

Mrs. Cunningham nickte nachdenklich, ehe sie das Thema wechselte. „Wir müssen einen Weg finden, das Schulgeld für Rupert aufzubringen. Eine gute Bildung ist für den Jungen das Allerwichtigste.“

Diese Überzeugung teilte Georgina. Zu Lebzeiten ihres Vaters hatte stets der ältere Harry im Mittelpunkt gestanden. Alle hatten gehofft, er würde eine glänzende Karriere beim Militär machen. Stattdessen war er, kaum 23 Jahre alt, bei Waterloo gefallen. Reverend Cunningham hatte den Tod seines Sohnes nie verkraftet. Seine beruflichen Aufgaben hatte er fast vollständig dem Hilfspfarrer überlassen. Und um die Familienangelegenheiten hatte er sich – wie sich nun herausgestellt hatte – offenbar auch nicht mehr gekümmert.

„Bestimmt können wir unsere Ausgaben irgendwie noch weiter einschränken“, sagte Georgina. „Ich werde mit Becky noch einmal die Haushaltsbücher durchgehen und …“ Sie unterbrach sich und schaute ihre Mutter erschrocken an. „Wir müssen die Harpers doch nicht entlassen?“

„Um Gottes willen! Becky und Daniel gehören praktisch zur Familie. Was sollten wir ohne sie tun?“ Ein entschlossener Ausdruck trat auf Mrs. Cunninghams Gesicht. „Ich werde noch heute an meinen Bruder James schreiben. Er hat uns seine Hilfe angeboten. Zwar fürchte ich, dass er, da er selbst gerade erst eine Familie gegründet hat, nicht allzu viel für uns tun kann. Doch leider ist er unsere einzige Hoffnung.“

„Was ist mit Onkel Arthur?“

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber dein Vater war so fest entschlossen, den Kontakt nicht wieder aufzunehmen. Ich möchte mich nicht über seinen Wunsch hinwegsetzen.“

„Ja …“, murmelte Georgina. Dann wandte sie sich zur Tür. „Ich sollte mich jetzt wohl um Rupert kümmern.“

Zunächst allerdings begab sie sich in das Zimmer, das sie mit ihrer Schwester Katherine teilte, nahm das Hütchen ab, setzte sich an den Tisch und stützte das Kinn in die Hände. Ihr Gesicht spiegelte nacheinander eine ganze Reihe von Gefühlen wider. Denn sie focht einen harten Kampf mit sich selbst aus.

Seit drei Wochen bemühte sie sich nun, die vollständige Adresse ihres Onkels Sir Arthur Cunningham herauszufinden. Da er, wie sie wusste, irgendwo in Dunchurch lebte, hatte sie versucht, dort etwas über ihn zu erfahren. Möglichst unauffällig hatte sie sich an verschiedenen Stellen nach ihm erkundigt. Das war der Grund dafür, dass sie an den Markttagen stets so spät nach Hause zurückkehrte. Es war auch der Grund dafür, dass sie Rupert nicht so sorgfältig wie nötig beaufsichtigt hatte. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn das herabfallende Gepäckstück ihn getroffen hätte!

Immerhin war ihr an diesem Nachmittag der Zufall zu Hilfe gekommen. Bis dahin hatte sie über ihren Onkel nichts erfahren, was ihr wirklich weitergeholfen hätte. Doch gerade, als Rupert zur Poststation gelaufen war, hatte sie gehört, wie der Metzger seinem Laufburschen den Auftrag erteilte, das von Lady Cunningham bestellte Fleisch auszuliefern. Dann hatte er laut und deutlich Sir Arthurs Adresse genannt.

Nun konnte sie also den zweiten Teil ihres Plans in die Tat umsetzen. Allein war das jedoch unmöglich. Sie würde Kate um Hilfe bitten müssen. Hoffentlich gelang es ihr, ihre Schwester davon zu überzeugen, dass sie das Richtige vorhatte.

Die Gelegenheit dazu ergab sich erst spät am Abend. Denn als Kate mit vor Aufregung geröteten Wangen nach Hause kam, hatte sie viel zu erzählen. „Andrew war so stolz auf mich, weil es mir gleich beim ersten Versuch gelungen ist, wirklich gute Butter zu machen“, berichtete sie. „Seht nur, er hat mir ein Halstuch geschenkt. Ist es nicht wunderschön?“

Später – die Sonne war inzwischen untergegangen, und die Schwestern wollten sich zu Bett begeben – musste Georgina sich die Geschichte in aller Ausführlichkeit noch einmal anhören und das Halstuch erneut bewundern. Nachdem sie mehrmals betont hatte, wie hübsch es sei, ließ Kates Redeschwall nach. Jetzt konnte sie sich endlich nach dem Fremden erkundigen, den Radley in seinem Gig mitgenommen hatte.

Kate runzelte die Stirn. „Ach ja, Andrew erwähnte, dass er jemanden bei Blanchard’s Cottage abgesetzt hat. Einen Künstler, glaube ich, der das Cottage für ein paar Wochen gemietet hat.“ Sie schlüpfte aus ihrer Unterwäsche und zog das Nachthemd über den Kopf, wodurch ihre blonden Locken in arge Unordnung gerieten. Dann ließ sie sich neben ihrer Schwester ins Bett plumpsen und seufzte tief auf. „Ist dir eigentlich klar, dass ich am kommenden Samstag hätte heiraten sollen?“

„Ja, Liebes … Es gibt da etwas, über das ich unbedingt mit dir reden muss.“

„Etwas, das mit der Hochzeit zu tun hat?“

„Nicht direkt. Eher damit, dass sie verschoben werden musste.“ Jetzt stieß auch Georgina einen Seufzer aus. Dann berichtete sie ihrer Schwester, was sie über die finanzielle Situation der Familie erfahren hatte.

Kate riss erschrocken die Augen auf und fragte mit dünner Stimme: „Was sollen wir jetzt tun?“

„Mama will Onkel James um Hilfe bitten. Doch der hat selbst nicht viel. Im Gegensatz zu Onkel Arthur. Den aber will Mama nicht ansprechen.“

„Sie will sich nicht über Papas Wunsch hinwegsetzen, nicht wahr? Ich weiß nicht recht … Vielleicht ist das richtig. Andererseits hat Onkel Arthur an Papas Beerdigung teilgenommen. Und er schien wirklich zu trauern.“

„Ja, den Eindruck hatte ich auch. Seit dem Streit zwischen ihm und Papa sind vierzehn Jahre vergangen. Ich finde, es ist an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen.“

Kate dachte eine Weile darüber nach. „Ich kann mich nur schwach an alles erinnern. Der Streit hatte etwas mit der Geburtstagsfeier unserer Cousine Clarissa zu tun, nicht wahr? Clarissa hat ein fürchterliches Theater veranstaltet, und Tante Edwina hat gekreischt und geschimpft.“

„Ja, es ging um eine Porzellanpuppe, die Clarissa bekommen hatte. Unsere Cousine war ein verzogenes und selbstsüchtiges Mädchen. Sie wollte nicht, dass wir ihr Spielzeug – und sie hatte mehr als genug – anfassten. Aus lauter Wut hat sie irgendwann mit dieser Puppe nach dir geworfen. Natürlich gab es Scherben. Woraufhin Clarissa hysterisch wurde und dich beschuldigte, die Puppe absichtlich kaputt gemacht zu haben. Ein schreckliches Durcheinander folgte, bei dem Tante Edwina und Clarissa um die Wette kreischten. Nach einer Weile hat Papa dich auf den Arm genommen und ist mit dir aus dem Haus marschiert. Wir anderen sind ihm natürlich gefolgt. Er hat geschworen, nie wieder einen Fuß in Onkel Arthurs Heim zu setzen.“

„Und seitdem haben die Brüder nie mehr miteinander gesprochen?“, vergewisserte Kate sich.

„Onkel Arthur hat sich wohl einige Male um eine Aussöhnung bemüht. Doch da Papa jeden Kontakt zu Tante Edwina ablehnte, konnte der Streit nie beigelegt werden. Er flammte sogar neu auf, als Onkel Arthur und Tante Edwina zu Harrys Beerdigung erschienen. Papa bat John Mansell, die beiden fortzuschicken.“

Katherine biss sich auf die Unterlippe. „Warum sollte Onkel Arthur uns nach all dem jetzt helfen? Wahrscheinlich empfindet er eine tiefe Abneigung gegen uns.“

„Das glaube ich kaum. Tante Edwina hasst uns vermutlich. Aber Onkel Arthur hat unter Harrys und noch mehr unter Papas Tod gelitten, da bin ich mir ganz sicher. Hast du sein Gesicht auf Papas Beerdigung gesehen? Bestimmt wird er uns helfen. Wir müssen ihn nur darum bitten.“

„Wir? Du und ich? Ohne Mama etwas davon zu sagen? Unmöglich!“

Autor

Dorothy Elbury
Dorothy Elbury war schon als Kind eine Leseratte, und auch später hatte sie ihre Nase so oft in ein Buch gesteckt, dass sie selbst gar nicht zum Schreiben kam. Erst als sie ausnahmsweise mal keine Lektüre hatte, fing sie an, einen Roman zu verfassen. Lange lag das Manuskript in der...
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