High Society Girl

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Verwirrt, ohne zu wissen, wer sie ist, aber gleichzeitig bezaubernd schön, mit großen grün-blauen Augen und blondem Haar - so steht die Fremde eines Abends vor Nicks Hütte. In ihm brennt der Wunsch, sie zu beschützen, sie zu trösten. Zumindest so lange, bis sie wieder weiß, wer sie ist …


  • Erscheinungstag 19.05.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733757076
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Wo war sie bloß? Sie strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht und versuchte, durch den Regen hindurch etwas zu erkennen. Von dem langen Marsch durch den Wald hatte sie bereits Seitenstechen. Eigentlich musste sie sich unbedingt ausruhen, hatte davor jedoch Angst. Sobald sie nämlich stehen blieb, musste sie nachdenken.

Auf dem schlüpfrigen Erdboden rutschte sie zweimal aus. Sie konnte sich nicht erinnern, wo sie zu laufen begonnen hatte – nur wann das gewesen war.

Ein Blitz hatte den Wald in unheimliches Licht getaucht. Der Donnerschlag war ohrenbetäubend gewesen. Doch sie hatte sich nicht vor dem Gewitter, sondern vor der Leere in ihren Gedanken gefürchtet.

Nachdem sie sich wieder aufgerafft hatte, biss sie die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten, und bog Zweige zur Seite, um eine Lichtung zu erreichen. Mühsam schleppte sie sich durch den Schlamm und sah plötzlich vor sich eine Hütte. Aus dem Kamin stieg Rauch auf.

Vielleicht hatte sie diese Hütte verlassen und … Ja, was dann? War sie gestürzt und hatte sich den Kopf gestoßen?

Erschöpft erreichte sie die Stufen der Hütte. Wenn sie womöglich vor jemandem ins Freie geflohen war … Benommen lehnte sie sich gegen die Tür und wusste nicht, ob sie hineingehen sollte. Aber vielleicht war ja alles ganz harmlos, und sie sehnte sich nach einem trockenen, warmen Ort, an dem sie endlich die Augen schließen konnte.

In der Hütte schürte Nick Vincetti das Feuer, das er vor wenigen Minuten entzündet hatte. Draußen zog ein schweres Gewitter auf, und der November-Regen trommelte auf das Dach.

Der Kaffee aus der Thermosflasche war nur noch lauwarm. Obwohl er von der Fahrt müde war, hatte er es mit dem Schlafengehen nicht eilig. Zeitpläne hatte er in Chicago zurückgelassen. Ein Gesetzesbrecher saß im Gefängnis und wartete auf die Verhandlung. Eine andere Untersuchung wurde von einem Anwalt aufgehalten, der behauptet hatte, sein Klient wäre von der Polizei unter Druck gesetzt worden. Doch das alles hatte er für zwei Wochen hinter sich.

Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass er seit Mittag nichts gegessen hatte. Gähnend griff er nach der Jacke, zog sie an und ging zur Tür, um die beiden letzten Kartons hereinzuholen. In dem einen befanden sich ein Laib Brot und ein Glas Erdnussbutter.

Sobald er von der Veranda stieg, versank er bis zu den Knöcheln im Schlamm. Fluchend machte er zwei Schritte und blieb stehen, als er von der Rückseite der Hütte ein Geräusch hörte. Bereits vollständig durchnässt, ging er um die Hütte herum.

Obwohl es dunkel war, bemerkte er bei den Stufen eine Bewegung. Eine Gestalt stand an der Tür, eine Frau, die sich am Türgriff festhielt. Wasser floss aus ihrem Haar, und sie war mit Schlamm bedeckt. Ein Blitz zuckte über den Himmel und beleuchtete ihr blasses Gesicht.

„Lady, was machen Sie hier?“, rief er ihr zu.

Sie drehte sich hastig um, als der Strahl einer Taschenlampe auf sie gerichtet wurde, und lehnte sich gegen die Tür. Der Mann senkte den Lichtstrahl, um sie nicht zu blenden. Sie wischte sich übers Gesicht, um ihn klarer sehen zu können.

Der Mann hatte breite Schultern, ein kräftig geschnittenes Gesicht und langes Haar. Und er sah sie an, als wäre sie verrückt. Ob sie so wirkte? Mühsam holte sie tief Atem. Ihr Kopf schmerzte, und sie war müde und verstört. Wenn sie sich nur eine Weile erholte, konnte sie bestimmt wieder klar denken. „Bitte, mir ist kalt.“ Der Wind übertönte beinahe ihre Worte. „Schrecklich kalt.“

Nick sah keinen Sinn darin, dass sie beide froren, während ihm die Fremde seine Fragen beantwortete. „Gehen Sie hinein.“

Das hätte sie gern getan, doch sie zögerte noch. Hätte sie doch sein Gesicht klarer gesehen, oder hätte er wenigstens gelächelt. Aber schließlich betrat sie die Hütte und bemerkte in der kleinen Diele eine Tür, die wahrscheinlich in ein Schlafzimmer führte.

Ein Bett – was für ein verlockender Gedanke! Sie ging jedoch weiter zum Kamin. Hier drinnen war es trocken, aber auch nicht warm. Im Freien hatte sie nur daran gedacht, der Kälte zu entkommen. Jetzt fragte sie sich allerdings, ob sie bei diesem Mann auch sicher war.

Hätte sie bloß gewusst, wo sie war – oder wer sie war!

Nick sah die Angst im Gesicht der Frau und wartete daher, bis sie die Hütte betreten hatte. Obwohl der Regen auf ihn niederprasselte, ließ er den Blick durch den dunklen Wald rings um die Hütte wandern. Immerhin war es möglich, dass jemand hinter der Frau her war, ein wütender Ehemann oder ein brutaler Freund.

Er fürchtete zwar niemanden, weil er in den letzten zwölf Jahren bei der Polizei gelernt hatte, die gefährlichsten Situationen zu meistern. Allerdings hatte er die Großstadt in der Hoffnung verlassen, ein bisschen Ruhe zu finden.

An der Tür zog er die Stiefel aus und betrat den großen Raum mit dem Kamin. Die Fremde stand zitternd vor dem Feuer. Sie trug keine Jacke. Der nasse weiße Pulli und die enge Jeans klebten ihr am Körper.

Mager, hochgewachsen, ungefähr einssiebzig, schmutzig. Betonte Wangenknochen, eine schmale Nase und ein schön geformter Mund verliehen ihrem Gesicht eine aristokratische Note.

Als er näher kam, zog sie sich zur Tür zurück. „Keine Angst.“ Aus einem Karton holte er zwei Handtücher, warf eines auf einen Stuhl neben ihr und wischte sich mit dem anderen übers Gesicht. Ohne die Fremde anzusehen, holte er eine Decke aus einem anderen Karton und hängte sie über einen Stuhl. Ganz langsam fasste sie sich an die Stirn. Nick betrachtete die kleine Beule an der Schläfe. „Sie haben sich verletzt. Waren Sie ohnmächtig?“, fragte er, während er in der Reisetasche das Aspirin suchte.

„Nein“, erwiderte sie kaum hörbar.

„Ist Ihnen übel?“, erkundigte er sich. Vielleicht hatte sie eine Gehirnerschütterung. Falls sie zusammenbrach, musste er sie auf den aufgeweichten Schotterstraßen zum nächsten Arzt bringen.

„Mir ist nur kalt“, erwiderte sie lauter und legte sich die Decke um die Schultern.

Ein Problem weniger. „Setzen Sie sich ans Feuer“, schlug Nick vor.

Sie behielt ihn vorsichtig im Auge, während sie gehorchte. Er hatte Frauen immer gut behandelt, und Beziehungen hatte er stets freundschaftlich beendet. Im Moment konnte er jedoch nicht viel mehr machen, als auf Abstand zu achten, damit die Fremde keine Angst vor ihm bekam.

„Hatten Sie einen Unfall?“

„Ist sonst noch jemand hier?“

Nick hörte deutlich, wie nervös sie war. „Nein.“

„Sie sind nicht verheiratet?“ Sie beobachtete ihn aufmerksam. Im Moment sehnte sie sich nach der Gesellschaft einer Frau, die dieses Gefühl äußerster Hilflosigkeit verstand.

„Nicht mehr“, erwiderte Nick. Ein Blitz zuckte. Der Regen trommelte noch lauter aufs Dach. Nick zog den nassen Parka aus und hängte ihn über eine Stuhllehne.

„Wo sind wir?“

„Ich der Nähe von Rhinelander.“ Er war müde. Darum wollte er von der Fremden einige Auskünfte haben und ihr dann das Schlafzimmer zeigen. Morgen früh konnte er sie an ihr Ziel bringen, wo immer das sein mochte. Mit dem Aspirin in der Hand ging er einen Schritt näher. „Möchten Sie …?“

Sie sprang vom Sofa auf und presste sich gegen die Wand. Dabei starrte sie auf sein Schulterhalfter mit dem Dienstrevolver.

„Ich tue Ihnen nichts“, versicherte er. „Ich bin Polizist. Nick Vincetti, Detective bei der Polizei von Chicago.“

„Können Sie das … beweisen?“, fragte sie stockend.

Beinahe hätte er laut gelacht. In diesem Unwetter musste sie hier bleiben, wollte aber, dass er sich auswies. Dabei war sie schon viel zu viele Risiken eingegangen. Offenbar war sie im Unwetter allein mit dem Wagen unterwegs gewesen und dabei von der Hauptstraße abgekommen. Er holte die Brieftasche hervor, öffnete sie und legte sie offen auf den Tisch.

Die Fremde kam langsam näher und verglich das Bild mit seinem Gesicht. „Ist das Ihre Hütte?“

„Sie gehört meinem Freund und Partner, Riley Garrison“, erwiderte er, während sie sich wieder auf das Sofa setzte, trat an den Kamin und warf ein Holzscheit ins Feuer. „Trinken Sie den Kaffee schwarz?“

Sie nickte, weil sie nicht eingestehen wollte, dass sie es nicht wusste.

„Verraten Sie mir, was Sie hier machen. Haben Sie die Orientierung verloren?“

Verloren? Ja, sie fühlte sich unglaublich verloren. Sie ließ den Blick über einzelne Gegenstände wandern. Auf der anderen Seite des Kamins standen zwei alte Sessel. Sessel, Kaffeekanne, Spüle, Herd … Es kommt wieder in Ordnung, nur keine Panik! Sie hatte nicht alles vergessen. Ihr Blick wanderte zu einem weißen Schrank und einer kleinen Arbeitsfläche. Daneben standen ein Holztisch mit Stühlen.

Sie griff nach der Tasse, die Nick Vincetti vor sie hingestellt hatte. Vielleicht war sie verrückt, verlor den Bezug zur Wirklichkeit und irrte ziellos herum. Stirnrunzelnd betrachtete sie ihre sorgfältig gepflegte Hand. „Ich glaube, ich hatte einen Ring.“

Nick warf einen Blick auf ihren Finger. Es war tatsächlich eine schwache Einkerbung wie von einem Ring zu erkennen. „Hören Sie, ist mit Ihnen wirklich alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

„Ich bin sehr müde“, gestand sie.

„Sie können das Bett im Schlafzimmer nehmen.“ Er stellte ein Glas Wasser mit den Tabletten neben sie. „Hier gibt es kein Telefon. Sie können also niemanden anrufen. Wie heißen Sie eigentlich?“ Wenn er schon auf sein Bett verzichtete, wollte er wenigstens wissen, für wen er das tat.

Sie fasste sich an den Kopf. Hätten die Schmerzen aufgehört, hätte sie es ihm sagen können. Was sollte sie machen? Ihn belügen? Einen falschen Namen nennen? Nein, sie musste ihm vertrauen. „Ich weiß es nicht.“

„Was heißt, Sie wissen es nicht?“

„Ich weiß meinen Namen nicht.“

Nick hatte schon mit vielen Problemen zu tun gehabt. Auf dieses war er bisher noch nie persönlich gestoßen. Vielleicht log die Frau aber auch und täuschte nur einen Gedächtnisverlust vor, weil sie nichts erklären wollte. „Soll das heißen, Sie leiden unter Amnesie?“

Wie konnte er darüber sprechen, als handelte es sich um eine Erkältung? So einfach war das nicht. Begriff er das nicht? Sie konnte ihm nichts über sich sagen. Sie hielt die Tränen zurück. Wäre sie allein gewesen, hätte sie jetzt sicher geweint, doch sie nahm sich zusammen und schluckte zwei Tabletten mit Wasser.

Verlegen strich sie über die schmutzigen Hände und den schlammbedeckten Pullover. „Kann ich hier irgendwo … Ich bin so schmutzig.“

Erst jetzt merkte Nick, wie mitgenommen sie war. „Ich habe hier frische Sachen.“ Er zeigte auf die Reisetasche. „Nehmen Sie, was Sie brauchen. Sie können sich im Schlafzimmer umziehen.“

Bestimmt fühlte sie sich besser, wenn sie wieder sauber war. Als sie jedoch aufstand, drehte sich alles um sie herum.

Mit drei Schritten war Nick bei ihr und fing sie auf, bevor sie zusammenbrechen konnte. „Vorsicht!“

Sie war so schwach, dass sie sich nicht wehrte, als er sie stützte. Bei jedem Schritt gaben ihre Beine noch mehr nach. Außerdem fühlte es sich gut an, seinen kräftigen Arm und die Wärme seines Körpers zu fühlen.

Nick führte sie ins Schlafzimmer und blieb neben dem Bett stehen. Die Fremde wirkte viel zarter, als sie sich anfühlte. Zwar war sie schlank, doch ihr Körper war gut durchtrainiert. „Sie klappen hoffentlich nicht zusammen, wenn ich Sie loslasse?“

Hoffentlich nicht. „Nein, es geht schon wieder.“

Nick glaubte ihr nicht so recht, weil sie am ganzen Körper zitterte. „Na gut.“ Zögernd zog er die Hand zurück und stellte die Reisetasche auf den Boden. Die Frau hielt sich am Bettpfosten fest. „Rufen Sie, wenn Sie etwas brauchen. Falls Sie hungrig sind, mache ich Ihnen etwas, sobald Sie wieder aus dem Schlafzimmer kommen.“

Sie nickte bloß und wehrte sich gegen die Benommenheit, bis er die Tür schloss. Dann ließ sie sich auf das Bett sinken.

Sie kannte ihren Namen nicht! Hier gab es einen Spiegel. Einen Moment wollte sie sich ausruhen. Dann musste sie sich selbst betrachten.

Hätte sie wenigstens diesen Mann gekannt! Sein Name sagte ihr nichts. Sie hatte die Adresse auf seinem Ausweis gelesen. Was wusste sie noch von ihm? Einsdreiundachtzig, hundertneunzig Pfund, dreiunddreißig Jahre. Wie alt war sie? Sein Geburtsdatum … September … zwanzigster September. Ihr eigenes kannte sie nicht.

Wieso weiß ich nichts über mich? Mit halb geschlossenen Augen griff sie nach der Bettdecke und hüllte sich darin ein, weil sie fror.

Sie fühlte sich allein und leer. Es war unerträglich. Wieso erinnerte sie sich nicht einmal an ihre Augenfarbe? Wie ging es mit ihr weiter? Was machte die Polizei mit Menschen, die das Gedächtnis verloren hatten? Kamen sie in ein Heim? Zitternd versuchte sie, nicht weiter nachzudenken, und schlief ein.

Nick sah zweimal nach der Fremden. Beim ersten Mal stellte er fest, dass sie eingeschlafen war, ohne sich vorher zu waschen. Schlamm war in ihrem Haar und auf dem zarten Gesicht getrocknet. Behutsam betastete er ihre Stirn, die sich jedoch nicht heiß anfühlte. Nachdem er ihr die Schuhe ausgezogen hatte, verließ er das Zimmer wieder.

Was sollte er mit ihr machen? In der Stadt hätte er sie ins Krankenhaus gebracht und sich nicht weiter um sie gekümmert. Hier in der Hütte musste er sie versorgen.

Als er erwachte, was es noch dunkel, und das Unwetter tobte unvermindert. Er sah ein zweites Mal nach der Fremden. Obwohl er leise war, öffnete sie die Augen, sobald er sich über sie beugte.

„Was machen Sie hier?“, fragte sie schläfrig.

„Ich sehe nach Ihnen.“

„Ist es schon Morgen?“

„Nein. Schlafen Sie weiter.“

Sie schloss die Augen wieder, fragte jedoch schleppend: „Wo liegt Rhinelander?“

„In Wisconsin.“

„Wisconsin?“, murmelte sie und nannte noch andere Staaten. „Illinois, Indiana, Michigan. Welcher Tag ist heute?“

„Der fünfte November.“

„Danach kommt Dezember. Weihnachten.“

„Heute ist Sonntag“, fügte Nick sanft hinzu.

„Sonntag, Montag, Dienstag.“ Eine Träne lief über ihre Wange.

Nick hüllte sie fester in die Decke und fragte sich noch einmal, was er mit dieser Frau machen sollte.

2. KAPITEL

Das erste graue Licht des Morgens fiel in den Raum, als Nick nach einer Nacht auf dem alten Sofa mehr als bereitwillig aufstand und die Jeans anzog. Gähnend schaltete er die Kaffeemaschine ein, die er schon am Vorabend aufgestellt hatte.

Deutlich erinnerte er sich daran, wie verloren, verwirrt und verängstigt er mit neun Jahren in einem Spiegelkabinett auf einem Jahrmarkt gewesen war. Die Frau im Schlafzimmer musste sich noch schlimmer fühlen.

An der Küchenspüle schöpfte er sich Wasser ins Gesicht und überlegte, ob er sich rasieren und duschen sollte, verzichtete jedoch darauf, um die Fremde nicht zu wecken.

Er legte schon einmal Schinkenspeckstreifen in eine Pfanne. In seiner Familie glaubte man daran, dass Essen alle Probleme erleichterte. Allerdings bezweifelte er, dass das auch für die Fremde galt.

Als sie vom Trommeln des Regens auf dem Dach geweckt wurde, rief ihr der dumpfe Druck im Kopf sofort wieder ins Bewusstsein, dass sie sich an so gut wie nichts erinnern konnte – an eine regnerische Nacht, einen Marsch durch den Wald, einen freundlichen Fremden.

Vorsichtig stand sie vom Bett auf und blickte an sich herunter. So schmutzig hatte sie geschlafen? Nick Vincetti hatte ihr die Schuhe ausgezogen, ohne dass sie es merkte. Er hätte noch viel mehr mit ihr anstellen können, hatte jedoch nichts versucht. Also war sie bei ihm in Sicherheit.

„Ein Schritt nach dem anderen“, murmelte sie und sah in der Reisetasche nach. Sie sollte sich nehmen, was sie wollte, und entschied sich für ein dunkelblaues Sweatshirt und eine alte Jeans. Danach ging sie ins Bad.

Aus Angst blickte sie nicht in den Spiegel, sondern beugte sich über das Waschbecken und wusch sich das Gesicht. Hätte es doch wenigstens zu regnen aufgehört. Dann hätte sie in die nächste Stadt gehen können und … Was dann?

Sie trocknete sich ab und richtete sich auf. Eine Fremde blickte ihr entgegen. Blondes Haar hing glatt bis knapp zu den Schultern herunter. War das ihre normale Frisur? War das Haar von Natur aus so hell? Sie benutzte Make-up. Das wusste sie, weil sie Spuren im Handtuch gefunden hatte, als sie den Schlamm wegwischte.

Vorsichtig berührte sie die Beule am Kopf, bevor sie die schmutzigen Sachen auszog. Ich bin viel zu mager, dachte sie, während sie in die Dusche trat. Wieso? Wollte sie die Figur eines Models haben, trainierte sie so verbissen, oder hatte es mit Stress zu tun? Fragen über Fragen.

Während das warme Wasser über ihren Körper floss, suchte sie nach Narben, fand jedoch nur Kratzer an den Händen und Abschürfungen an den Knien. Auch eine zwei Zentimeter lange Narbe an einem Knie half wohl kaum bei der Identifizierung.

Sie trocknete sich ab und zog die Sachen an, die ihr zu groß waren. Die Ärmel des Shirts und die Hosenbeine rollte sie hoch und hielt die Jeans am Bund fest, als sie das Schlafzimmer verließ.

Es duftete nach gebratenem Schinkenspeck. Nick Vincetti stand am Herd, wandte ihr den Rücken zu und sang leise mit einer vollen Tenorstimme eine Opernarie. Als er sie bemerkte, verstummte er.

„Was macht Ihr Kopf? Können Sie sich an etwas erinnern?“

„Nein.“

Nick goss verquirlte Eier in die Pfanne. Entweder redete die Frau nie viel, oder sie hatte noch immer Angst. Ihm machte das nichts aus. Er konnte die Unterhaltung allein bestreiten. Schließlich stammte er aus einer Familie, in der pausenloses Reden zu jeder Zusammenkunft gehörte. „Wir haben Glück. Der Strom ist wieder da.“

Sie setzte sich an den Küchentisch. Von Glück hätte sie im Moment nicht gesprochen. Ihr kam es so vor, als bewegte sie sich auf der dünnen Grenze zwischen Normalität und Irrsinn.

„Sie bekommen gleich etwas zu essen, und dann reden wir.“

Reden? Worüber denn? Sie sah zu, wie er Kaffee in zwei blaue Henkeltassen füllte. Durch Essen kehrte ihr Gedächtnis bestimmt nicht zurück.

„Glauben Sie, dass Sie unterwegs die Handtasche und die Jacke verloren haben?“

Sie wollte den Kopf schütteln, aber die Bewegung verstärkte den Schmerz. Darum zuckte die nur mit den Schultern. In der Handtasche fand man das gesamte Leben einer Frau, Fotos der Menschen, die ihr am nächsten standen, Make-up, Kreditkarten – ihren Namen. Wieso hatte sie keine Jacke getragen? Draußen war es kalt.

„Wenn Sie mir sagen, wo Ihr Wagen steht, versuche ich, ihn zum Laufen zu bringen.“

Ein Wagen? Konnte sie überhaupt fahren? Sie wusste es nicht. Alles wird wieder gut, sagte sie sich. „Ich weiß nicht, ob ich einen Wagen hatte.“

„Wie sind Sie dann hergekommen?“

„Ich weiß …“ Eigentlich wollte sie seine Fragen nicht beantworten, doch sie erinnerte sich sehr deutlich an die Wanderung durch den Wald. „Ich lag auf der Erde. Es regnete. Ich stand auf und lief durch den Wald und …“ So hatte der Albtraum begonnen.

„Und weiter? Sind Sie von der Straße weg durch den Wald gelaufen?“

„Ich weiß es nicht“, murmelte sie.

Nick verzichtete auf weitere Fragen nach ihrer Vergangenheit. Es gab ein anderes Problem. Bei diesem heftigen Regen blieben sie vielleicht länger zusammen. „Sie müssen sich einen Namen aussuchen.“

„Einen Namen?“

Er sah ihr an, dass sie den Tränen nahe war. Bei seinen zwei Schwestern, mit denen er aufgewachsen war, hatte Nick jede Menge Weinkrämpfe erlebt. Doch diese Frau überraschte ihn. Keine einzige Träne floss. „Lassen Sie sich Zeit“, riet er und stellte den Kaffee und den Teller auf den Tisch. „Frühstücken Sie, und dann …“ Er verstummte, als sie den Kopf schüttelte.

Beim Anblick der Eier mit Speck wurde ihr flau im Magen. „Nein, danke. Es sieht gut aus, aber …“

„Aber Sie frühstücken nie“, ergänzte er, weil er diesen Satz von anderen Frauen kannte.

„Doch, nur heute habe ich keinen Hunger.“

Nick fand die Antwort ermutigend. Also war doch nicht alles blockiert.

„Warum sind Sie hier?“, erkundigte sie sich.

„Urlaub.“ Er hatte sich auf zwei Wochen Einsamkeit gefreut. Daraus wurde jetzt nichts. Sobald sich das Wetter besserte, wollte er die Fremde in die Stadt bringen und ihr helfen, ihre Identität festzustellen. Bei der Gelegenheit wollte er auch die Steckbriefe durchsehen, aber sie wirkte eigentlich nicht wie eine Verbrecherin.

Verdammt, das war doch Unsinn. Als er das letzte Mal einer Frau vertraute, hatte er sich gewaltig die Finger verbrannt. Selbst schuld. Eigentlich sollte er die menschliche Natur besser kennen. Manche sanft und unschuldig wirkende Frau war kalt und berechnend.

Fünf Jahre waren seit der Scheidung vergangen, aber er war noch immer verbittert. Dabei ging er oft unter Menschen und mochte grundsätzlich auch Frauen, doch von diesem Schlag hatte er sich noch nicht erholt.

„Sie sind gern allein, nicht wahr?“

„Manchmal.“ Er setzte sich zu ihr an den Tisch und fand wieder Sorge in ihrem Blick.

„Jetzt wären Sie es lieber?“

Er wollte ihr nicht auch noch Schuldgefühle wegen seines verdorbenen Urlaubs einimpfen. „Ich habe nichts gegen Gesellschaft einzuwenden.“

Offenbar versuchte er, es ihr leichter zu machen. Prompt fühlte sie sich noch schlechter. „Ich hatte gehofft, es würde zu regnen aufhören. Werden die Straßen unpassierbar sein?“

„Vermutlich tagelang, wenn es weiter regnet.“

Tagelang? Bestimmt drehte sie durch, wenn sie nicht bald herausfand, wer sie war und was geschehen war.

„Haben Sie Ihre Sachen im Bad gelassen?“

„Ja, sie sind …“ Bevor sie den Satz vollendete, stand er rasch auf. Glaubte er vielleicht, einen Hinweis zu finden? Sie hatte schon nachgesehen und nichts entdeckt, aber sie war auch nicht bei der Polizei. Voll Hoffnung folgte sie ihm ins Bad, wo er schon den dicken weißen Pullover und die Jeans untersuchte. „Sagt Ihnen das etwas?“

Nick schätzte, dass die Sachen mehr gekostet hatten, als er in einem Monat verdiente. Beide stammten von Designern, und die Stiefeletten waren aus feinstem Leder. „Falls Sie das Zeug nicht gestohlen haben, sind Sie reich oder hoch verschuldet.“

„Also nur Vermutungen.“

„Sicher, Vermutungen“, entgegnete er und folgte ihr in die Küche. „Aber jetzt haben wir einen Hinweis auf ihre Herkunft“, fuhr er fort, während er sich zu ihr an den Tisch setzte. „Wahrscheinlich sind Sie mit wichtigen Leuten verwandt oder kennen welche. Vermutlich werden Sie bereits gesucht. Das ist natürlich nicht absolut sicher.“ Das Rührei war kalt geworden. „Aber wenn ich mich nicht irre, sind Sie nicht obdachlos, sondern haben Familie oder kennen Leute, die sich um Sie kümmern. Das ist gut. Stellen wir erst einmal fest, was Sie wissen.“

„Ich sagte Ihnen doch schon …“

Ihr gereizter Ton störte ihn nicht im geringsten. Sie hatte Grund, zornig zu reagieren. Und in seiner Familie schrie man sich gegenseitig an und lachte im nächsten Moment wieder. „Ja, Sie wissen nichts.“ Er brachte seinen Teller zur Spüle. „Aber vielleicht fällt Ihnen alles wieder ein, bevor wir die Hütte verlassen.“

Und wenn nicht? Die Angst ließ sie nicht los. Er konnte leicht reden. Er machte das alles ja nicht durch und hatte nicht den Kontakt zu seinem Leben verloren.

Nick spülte den Teller. „Wenn Sie sich nicht bemühen, erreichen wir gar nichts.“

Sie fror schrecklich, trank den heißen Kaffee, konnte den Toast jedoch nicht anrühren. Eigentlich sollte sie sich nicht so unvernünftig verhalten. Nick Vincetti bot ihr ein Dach über dem Kopf, Bekleidung und Essen. Und er wollte ihr helfen.

„Hier, das brauchen Sie.“

Ihre Hand zitterte, als sie nach der Schnur griff und sie durch die Gürtelschlaufen der Jeans zog.

„Ich sehe keinen Sinn darin, dass Sie so tief im Wald waren. Warum sollten Sie die asphaltierte Landstraße verlassen, es sei denn, Sie wollten zu einer der Hütten gehen. Glauben Sie, dass Sie jemanden besuchen wollten?“

Jemanden? Meinte er vielleicht einen Mann? „Ich weiß es nicht.“

„Wenn Sie mir wenigstens die Richtung angeben, aus der Sie gekommen sind, könnte ich nach einer Handtasche oder einem Wagen suchen.“

Sie zuckte stumm mit den Schultern.

Er verzichtete auf weitere Fragen, griff nach den Sachen der Fremden und wusch am Waschbecken den Schlamm von der Jeans. Jetzt spielst du schon Hausmädchen, Vincetti, dachte er. Das würde den Kollegen gefallen.

Er drückte Jeans und Pulli aus und hängte sie über die Stange der Dusche. Waschen störte ihn weniger als die Tatsache, dass er der Frau nicht helfen konnte. Er hasste Fehlschläge.

Der größte Fehlschlag seines Lebens war seine Ehe gewesen. Anfangs hatte es gut ausgesehen. Er war gern mit einer Frau zusammen und genoss es, sie morgens im Arm zu halten und nachts zärtliche Worte mit ihr zu tauschen, nachdem sie sich geliebt hatten. Und er mochte es, dass er einen anderen Menschen verstand. Das hatte er zumindest gedacht.

Anfangs hatte ihm geschmeichelt, wie sehr Julia sich um ihn bemühte. Hinterher hatte er begriffen, dass sie nur einer Laune nachgegeben hatte. In Wirklichkeit hatte er sie überhaupt nicht verstanden.

Autor

Jennifer Mikels
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