Im Zauberbann der Herzen

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Für Jenny ist die Begegnung mit dem smarten Robert Knight Himmel und Hölle zugleich. Noch nie hat Jenny solch übermächtige Gefühle gespürt. Aber Roberts Bruder Tony ist lange mit Jenny befreundet und glaubt, sie gehört zu ihm...


  • Erscheinungstag 10.02.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755416
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Am späten Nachmittag erreichten sie die Vororte von Sydney. Tony gab Gas, überholte unbekümmert Auto um Auto, schwenkte geschickt, aber gewagt um Reisebusse herum und redete beruhigend auf Jenny ein, die vor Angst die Luft anhielt.

„Keine Sorge, ich bin in dieser Gegend geboren und aufgewachsen. Bis jetzt habe ich noch nie auch nur eine Stoßstange eingebeult.“

„Wenn du weiter so wie ein Wilder durch die Gegend rast, wird das wahrscheinlich dein letztes Weihnachtsfest gewesen sein.“

Tony lachte und drückte ihr die Hand.

„Bleib ganz ruhig, Jenny-Spatz. Gleich haben wir es geschafft. Wir sind auf dem direkten Weg nach Hause.“

Er fürchtet sich anscheinend vor nichts, dachte sie und warf ihm einen liebevoll-ironischen Blick zu. Tony Knight, ihr Untermieter, war dabei, mit seinem sonnigen Gemüt und der ansteckenden Fröhlichkeit ihr Leben zu verändern. Die Eintönigkeit ihres Daseins hatte er ebenso hinweggefegt wie ihre Argumente, dass er absolut nicht ein Untermieter war, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Über eine Zeitungsannonce hatte sie einen Mitmieter für das geerbte Landhaus gesucht, das sie finanziell allein nicht halten konnte. Auf diese Weise war sie an den gut aussehenden ledigen Künstler geraten, und das war die beste Entscheidung gewesen, die sie je getroffen hatte.

Genaugenommen hatte Tony die Entscheidung getroffen. Sie selbst war gar nicht zum Nachdenken gekommen. Irgendwie gelang es ihm immer, sie dazu zu bringen, das zu tun, was er wollte. So war es ihr auch mit dieser Einladung ergangen, Weihnachten bei seiner Familie zu verbringen. Sie hatte nicht annehmen wollen, hatte nie an so etwas gedacht. Und was war geschehen? Sie befand sich mit Tony auf dem Weg zu seinen Eltern. Nun, es war gut so, besser jedenfalls, als trauernd allein zu Haus zu sitzen in der Erinnerung an ihren verstorbenen Vater.

Tony musste ihre Gedanken gespürt haben. „Wir werden ein wunderbares Weihnachten feiern, Jenny“, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln. „Es ist immer schön zu Hause, aber dich dabeizuhaben setzt allem die Krone auf. Man wird dich sofort in den Familienkreis aufnehmen. Ich kann es kaum erwarten, dich allen vorzustellen.“

„Das habe ich bemerkt“, erwiderte sie und lächelte zurück.

Würde sie sich wirklich bei dieser ungewöhnlichen Familie wohl fühlen können? Jenny war ein Einzelkind und hatte immer in der kleinen Küstenstadt Nangoa gelebt. Bemerkenswerte Leute gehörten nicht zu ihrem Bekanntenkreis.

Zuerst hatte sie geglaubt, Tony übertriebe, wenn er von seiner Familie berichtete, mit der Zeit aber kam sie dahinter, dass er die Wahrheit sagte.

Sein Vater war ein bekannter Buch- und Zeitungsverleger, seine Mutter eine erfolgreiche Malerin, die sich auf die Illustration von Kinderbüchern spezialisiert hatte. Einige ihrer Bücher hatte Jenny in der Leihbücherei von Nangoa gesehen. Sein älterer Bruder Robert produzierte Musikshows für das Fernsehen, bei denen er auch Regie führte. Miranda, seine Schwester, war auf dem Wege, als Schauspielerin berühmt zu werden. Und wenn man den Schulzeugnissen glauben konnte, war Peter, der jüngste Sohn, ein Mathematik-Genie.

In dieser Gesellschaft, da war Jenny ganz sicher, würde sie sich hoffnungslos verloren fühlen. Ihre einzige Hoffnung war Tony, dessen Natürlichkeit und Liebenswürdigkeit sie umgeben und ihr helfen würden, sich anzupassen.

Mit einem kräftigen Schwung nach rechts steuerte Tony den Kombi in eine Abzweigung vom Highway und riss Jenny damit aus ihren Gedanken.

Hunters Hill war eine kleine, sehr alte Gemeinde an der Nordspitze des Hafens. Interessiert sah Jenny aus dem Seitenfenster. Sie fuhren durch schmale, von knorrigen Bäumen gesäumte Straßen. Die schönen alten Häuser hinter kunstvollen Zäunen und blühenden Büschen verliehen der Gegend einen eigenartigen Charme.

„Da sind wir“, verkündete Tony und bog in eine mit Kies bestreute Auffahrt ein.

Beim Anblick der imposanten Fassade des zweistöckigen Gebäudes, das plötzlich hinter einem Waldstück auftauchte, musste Jenny einen Aufschrei des Entzückens zurückhalten. Es sah aus, als hätte man ein Stück altes England aus einem Bild geschnitten und an diesen versteckt gelegenen Ort gesetzt. In dieser australischsten aller australischen Städte wirkte es seltsam fremdartig.

Tony hatte von einem großen Haus mit viel Platz für Gäste gesprochen, aber nicht erwähnt, dass sein Elternhaus ein Herrenhaus großen Stils war. Darauf war Jenny nicht vorbereitet. Die Familie Knight war vermögend, das war ihr klar geworden, doch so plötzlich mit ihrem großen Wohlstand konfrontiert zu sein wirkte wie ein Schock. Alle ihre Befürchtungen, mit denen sie die Reise angetreten hatte, kamen zurück.

Tony bremste den Wagen vor der breiten Eingangstreppe, sprang heraus, lief um den Wagen herum und öffnete für Jenny die Tür. „Komm, Jenny-Spatz, beeil dich“, rief er aufgeregt.

Doch Jenny-Spatz wäre am liebsten nach Nangoa zurückgeflogen, als Tony sie die Treppen hinaufzog und Sturm klingelte. Dazu war es aber zu spät.

Die Tür wurde geöffnet, und eine hoch gewachsene grauhaarige Frau trat auf die Schwelle. In ihren Zügen erkannte man noch den Glanz ihrer einstigen strahlenden Schönheit. Tony nahm sie in die Arme, hob sie hoch und schwang sie mit sich herum.

Jenny seufzte leise und schritt die letzten Stufen hinauf. Diese Knights sind schließlich auch nur Menschen, dachte sie, genau wie ich. Also, was soll’s. Tony ist hier, und ich bin eingeladen. Kein Grund zur Panik.

„Tony! Lass mich sofort herunter. Wirst du denn niemals erwachsen?“, rief die Dame protestierend.

„Ich bin erwachsen, Mom, hast du es noch immer nicht gemerkt?“, antwortete er lachend, stellte seine Mutter wieder auf die Füße und richtete sich zu voller Größe auf, damit sie ihn betrachten konnte. Doch anstatt ihn bewundernd anzusehen, wie er wohl erwartet hatte, wandte sie sich lächelnd an Jenny.

„Es ist sinnlos, von Tony Vernunft zu erwarten“, sagte sie und streckte eine Hand aus. „Herzlich willkommen in unserem Haus, Jenny.“

Sie ist wie Tony, ging es Jenny durch den Kopf. Sie war erleichtert. Jugendlichkeit und Frohsinn leuchteten aus ihren blauen Augen, der große, lächelnde Mund ließ auf Großzügigkeit schließen. Jenny wurde ganz warm bei diesem offensichtlich ehrlich gemeinten Willkommensgruß.

„Vielen Dank, Mrs. Knight. Es war sehr freundlich von Ihnen, mich einzuladen.“

Mrs. Knight legte die Hände auf Jennys Schultern und küsste sie leicht auf beide Wangen. Jenny lachte glücklich über diese impulsive Geste.

„Meine Liebe, es ist mir immer ein Vergnügen, die Freunde meiner Kinder kennen zu lernen. Da Tony kaum jemals Besuch mitbrachte, ist es eine wirkliche Freude. Sie müssen eine ganz besondere junge Dame sein.“

„Das ist sie, Mom.“

Tony legte besitzergreifend einen Arm um Jennys Schultern. „Sie ist meine bezaubernde Wirtin.“

„Tony.“ Jenny trat ihm energisch auf den Fuß.

„Au. Da siehst du, wie sie mich auf Distanz hält“, jammerte er und tat so, als wäre er schwer verletzt.

Jennys Wangen hatten sich vor Verlegenheit gerötet. Sie konnte Tonys Mutter nicht ansehen.

„Mrs. Knight, Tony teilt mit mir das Haus, aber nicht …“ Hastig legte sie sich eine Hand auf den Mund. Wenn sie doch nur nicht so vorlaut gewesen wäre.

Annabel Knight lachte herzlich. „Kommen Sie herein. Nach der langen Fahrt möchten Sie sicher etwas trinken. Es ist heiß heute. Auspacken können Sie später.“

„Mom, während du dich mit Jenny in deinem Salon unterhältst, könnte ich schnell mal einen Blick ins Atelier werfen.“

Tonys Mutter seufzte und sah Jenny gespielt schmerzlich an. „Ob er eines Tages noch mal lernt, höflich zu sein?“

Jenny schmunzelte. „Das vergisst er immer, wenn er malt oder Bilder betrachten kann.“

„Sie kennen ihn schon ziemlich gut“, erwiderte Mrs. Knight. „Ich habe gehört, Sie sind Musiklehrerin?“

„Ja. Klavier, Orgel und Gitarre.“

„Und sie singt“, fügte Tony hinzu. „Ich möchte, dass Robert sie hört.“

„Nein, das wird er nicht“, antwortete Jenny bestimmt. Sie warf Tony einen ärgerlichen Blick zu. Darüber hatten sie sich schon gestritten, als Tony ihre Gitarre mit in den Wagen legte.

„Warum nicht, Jenny? Robert ist immer an neuen Talenten interessiert“, mischte sich Annabel ein.

„Das ist es ja gerade, Mrs. Knight. Ich habe kein großes Talent und bin keine Sängerin. Es würde Tonys Bruder und mich nur in Verlegenheit bringen. Gemessen an den Leuten, mit denen Robert täglich zu tun hat, bin ich ein Amateur. Glauben Sie mir, ich kenne meine Grenzen.“

„Grenzen“, höhnte Tony. „Sie ist besser als alles, was ich je in Roberts Musikshows gesehen oder gehört habe. Ich wette, du wirst mir zustimmen, Mom.“

Weiche Sessel, kleine Sofas voller Seidenkissen und niedrige Tische machten den Salon anheimelnd, den Jenny, Tony und Annabel gerade betraten. An den Wänden hingen faszinierende Bilder, wie Jenny fand. Wie verzaubert stand sie davor.

„Sie sind schön“, sagte sie leise. „Ich habe ihre Arbeiten schon in Büchern gesehen, aber diese hier …“ Sie wandte sich zu Annabel Knight um, aber sie war nicht fähig auszudrücken, was sie empfand. Überrascht sah sie, wie Mutter und Sohn Blicke austauschten.

„Hast du sie schon gemalt?“

„Ich habe es versucht“, erwiderte Tony mit einem kleinen Seufzer. „Es ist mir nicht ganz gelungen. Noch nicht.“

„Schwer zu erfassen“, nickte seine Mutter. Dann bemerkte sie Jennys Verwirrung. „Verzeihen Sie, meine Liebe. Es ist Ihr Gesicht. Ein Maler würde viel dafür geben, es in Öl malen zu können.“

„Mein Gesicht?“ Jenny war fassungslos. „Was ist daran so besonders?“

„Wir selbst sehen uns nie so, wie andere uns sehen“, erklärte Annabel. „Entschuldigen Sie die Fachsimpelei. Bitte, setzen Sie sich. Tony, im Eisschrank da drüben ist Weihnachtspunsch. Sei nett und spiel den Gastgeber, bevor du in meinem Atelier verschwindest.“

In einer Ecke des Zimmers stand eine Bar, in der sich der Eisschrank und auch ein elektrischer Kocher befanden. Offensichtlich bereitete sich Annabel Knight hier auch den Tee selbst, wenn sie arbeitete. Ein Gang führte von diesem Salon zu ihrem Atelier, einem riesigen Raum, der bis in das erste Stockwerk hinaufreichte und auf zwei Seiten verglast war.

Tonys Mutter hatte Jennys Blicke bemerkt.

„Ich arbeite nur hier. Im Gegensatz zu Tony brauche ich nicht in der Gegend herumzufahren, um mich anregen zu lassen. Alles entsteht aus meiner eigenen Vorstellungskraft. Wie kommen Sie denn mit seinem künstlerischen Durcheinander aus?“

„Er hat seine Malutensilien nicht im Haus, sondern im Geräteschuppen.“

„Diesen Schuppen habe ich in ein Studio umgewandelt“, erklärte Tony. „So sind wir überhaupt zusammengekommen. Ich habe mich in diesen Schuppen verguckt und Jenny sofort eine Liebeserklärung gemacht. Sie können mich haben, sagte ich zu ihr, wenn ich Ihren Schuppen bekomme. Du wirst es nicht glauben, Mom“, fügte er augenzwinkernd hinzu, „sie hat trotzdem Miete von mir verlangt.“

„Ich brauche einen zahlenden Mieter, darum gab ich ja auch eine Annonce auf“, verteidigte sich Jenny. Zornig funkelte sie Tony an. „Wenn du weiter so anzügliche Dinge sagst, Tony, glaubt deine Mutter noch, wir beide hätten ein Verhältnis.“

Tony lachte. „Jenny-Spatz, meine Mutter braucht dir nur in deine schönen Augen zu sehen und erkennt sofort die Wahrheit.“

Jenny trank einen Schluck Punsch. Röte hatte ihre Wangen überzogen. Nun, sie fand ihre Augen keineswegs besonders schön. Sie sind braun, unauffällig, dachte sie.

Annabel Knight ergriff ihre Hand, streichelte sie und sagte: „Er hat Sie sehr gern.“

„Ich mag ihn ja auch“, gab sie erleichtert zu. „Tony war in den vergangenen sechs Monaten eine große Hilfe für mich, ein liebenswerter Gesellschafter. Immer freundlich und verständnisvoll.“

„Sie haben keine Familie, nicht wahr, Jenny?“

„Kurz bevor Tony zu mir zog, starb mein Vater. Er war lange krank, verbrachte die letzten Jahre seines Lebens im Rollstuhl. Daddy wollte natürlich, dass ich mein Musikstudium beende, aber er brauchte ständig jemanden um sich. So habe ich aufgehört zu studieren und zu Hause Musikunterricht gegeben. Da konnte ich immer in seiner Nähe sein. Natürlich weiß ich, dass der Tod für ihn eine Erlösung war, aber ich vermisse ihn ganz schrecklich.“

„Ich verstehe Sie gut. Und Ihre Mutter?“

„Meine Mutter habe ich gar nicht richtig gekannt. Sie starb, als ich drei Jahre alt war. Daddy hat mich aufgezogen. Er war ein wunderbarer Vater.“

„Dann sind Sie jetzt ganz allein?“

„Ja.“

Das Gespräch über ihre Familie ließ wieder Zweifel in ihr aufkommen, ob es richtig war, Tonys Einladung anzunehmen.

„Mrs. Knight, Weihnachten ist ein Familienfest. Ich hoffe, ich störe Sie alle nicht zu sehr.“

Annabel zog Jenny an sich. „Ach, Kleines, Sie wissen gar nicht, was für ein wunderbares Weihnachtsgeschenk es für uns ist, dass Tony Sie mitgebracht hat.“

Ganz wohl fühlte sich Jenny bei Mrs. Knights Worten nicht. Der Gedanke, dass sie sie möglicherweise als künftige Schwiegertochter betrachten könnte, war schockierend. Ein solches Missverständnis musste schnell korrigiert werden. Ehe sie aber die richtigen Worte fand, hörten sie einen lauten Ruf im Flur.

„He, Tony, wo steckst du, alter Junge?“

„Hallo, Robert, hier bei Mom natürlich, altes Haus.“

Mit einem Freudenschrei stürzte Tony aus dem Atelier. Auf der Türschwelle stießen die beiden Brüder fast zusammen. Sie umarmten sich, klopften sich gegenseitig auf die Schultern, boxten sich spielerisch und schrien sich an. Selten hatte Jenny eine solche Freude bei einem Wiedersehen von zwei Menschen beobachtet.

Faszinierend betrachtete sie die Gegensätzlichkeit der Brüder. Sie hatten kaum Ähnlichkeit miteinander. Robert war ein dunkler Typ mit brauner Haut und glänzend schwarzen Haaren. So strahlend wie Tony wirkte er nicht. Sein Gesicht hatte hohe Wangenknochen, er war nicht schön, wirkte aber sehr männlich. Jenny war beeindruckt.

Plötzlich entdeckte Robert Jenny. Er betrachtete sie aufmerksam. Ihr Herz schlug auf einmal schneller. Sie konnte seinem Blick nicht standhalten und sah an ihm vorbei.

„Wen haben wir denn da, Tony?“

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die dunkle Stimme vernahm. Verrückt, unglaublich, dachte sie erschrocken, wie kann ich nur so auf einen Mann reagieren? Er ist doch nur Tonys Bruder. Fast Hilfe suchend sah sie Tony an. Er kam ihr bereitwillig entgegen.

„Das ist meine Hauswirtin. Eine Lady, mein Alter, benimm dich also entsprechend. Davon hängt mein Verhalten dir gegenüber ab.“

„Tatsächlich?“ Robert zog die Augenbrauen hoch. „Darf ich vielleicht auch ihren Namen erfahren?“

„Jenny Ross. Mein Bruder Robert E. Lee. Seine Untergebenen nennen ihn den ‚General‘. Charmant und höflich wie ein Gentleman, aber unter der äußeren Schale gerissen und unbarmherzig. Nimm dich vor ihm in Acht.“

„Hör auf mit dem Theater, Angeber.“ Robert lächelte liebenswürdig, nahm Jennys Hand und deutete einen Handkuss an. „Es ist mir ein Vergnügen, eine Lady kennen zu lernen, aber wie können Sie mit Tony befreundet sein?“

„Ich warne dich, Bruder.“

„Bezeichnest du dich etwa als Gentleman?“, neckte Robert ihn.

„Ich habe die Seele eines Gentleman“, betonte Tony theatralisch, „du nur die äußere Schale.“

Beide lachten herzlich. Roberts Finger umschlossen immer noch Jennys Hand.

Sie waren lang und schmal. Obwohl er kleiner als Tony war, wirkte er doch kraftvoll. Es ging Stärke von ihm aus, verhaltene Energie.

„Hauswirtin, he?“, fragte er spottend. Mit seinem Daumen streichelte er wie unabsichtlich die Innenfläche ihrer Hand, was eine seltsame Intimität zwischen ihnen erzeugte. Jenny war wie gelähmt, sie musste sich zu einer Antwort zwingen.

„Ja, die Hauswirtin, nur die Hauswirtin.“ Sie errötete. Weshalb verteidigte sie sich eigentlich? Was, ging nur in ihr vor? „Ich bin Musiklehrerin“, fügte sie steif hinzu und wurde immer verwirrter, weil es ihr nicht gelang, sich ihm gegenüber natürlich zu geben.

„Warte, bis du sie singen hörst, Robert. Jenny ist meine eigene, private Nachtigall. Sie stellt alle deine Sängerinnen weit in den Schatten“, tönte Tony mit Besitzerstolz.

Ein Schatten ging über Roberts Gesicht, sein Lächeln wurde leicht zynisch. Er ließ ihre Hand los.

„Ach so, eine Sängerin sind Sie.“

Jennys Verwirrung wurde noch größer. Hätte Tony doch nur nicht so viel geplaudert. Die Meinung dieses Mannes über sie war ihr seltsamerweise unendlich wichtig. Sie wollte seine Kritik nicht herausfordern.

„Nein, nein, ich singe nur zu meinem eigenen Vergnügen, keineswegs professionell, wie Sie es gewohnt sind.“

„Sie ist um Klassen besser als alles, was du je gehört hast“, mischte Tony sich wieder ein.

„Bitte, Tony, lass das“, bat Jenny.

Tony seufzte. „Du hast gesprochen, Lady, ich gehorche.“ Dann lachte er spitzbübisch in sich hinein. „Ich sage dir eins, Jenny-Spatz, noch ehe dieses Weihnachtsfest vorbei ist, wirst du auch Robert überzeugt haben.“

Nachdenklich studierte Robert Jennys Gesicht. Bis tief in ihr Inneres drang sein Blick, so forschend sah er sie an. Das hatte sie noch nie erlebt. Es war beunruhigend, erregend, unfassbar.

„Jenny müsste eine interessante Abwechslung für dich sein, Robert“, bemerkte Annabel Knight leise. „Ich freue mich darauf, sie singen zu sehen.“

„Sehen?“ Robert sah seine Mutter fragend an. „Du meinst doch sicher hören.“

„Du kannst zuhören. Ich werde sie ansehen.“

„Ach ja, natürlich.“

Robert wandte sich wieder an Jenny. Sehr kühl, sehr höflich. „Also, Jenny Ross, vielleicht gelingt es Ihnen, mich zu überraschen. Heute Abend?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er sich zu seiner Mutter. Plötzlich war es Jenny, als wäre sie ausgeschlossen. Die weitere Unterhaltung ging an ihr vorbei.

„Miranda bat mich, dir auszurichten, dass sie pünktlich zum Abendessen da sein wird. Bei mir wird es wohl elf werden, ehe ich im Studio fertig bin.“

„Was sendest du heute, Robert?“, fragte Tony etwas enttäuscht.

„Das übliche Heiligabend-Programm. Chöre und Weihnachtslieder. Ich wollte nur mal schnell Hallo sagen, denn ich habe dich sehr lange nicht gesehen, kleiner Bruder.“

„Stimmt, es ist viel Zeit vergangen. Es ist schön, mal wieder mit dir zu reden.“

„Ab heute Abend bin ich frei und ledig. Wir haben also Zeit genug, uns wieder zu beschnuppern. Das ganze lange Wochenende.“

„Nanu? Hat dich zurzeit keine Frau am Angelhaken?“

„Nur an der ganz langen Leine.“ Robert lachte verschmitzt. „Im Gegensatz zu dir, mein Alter.“

Er warf Jenny einen spöttischen Blick zu. Sie flehte Tony mit Blicken an, seinen Bruder zu korrigieren.

Tony machte ein unschuldiges Gesicht. „Nimm bitte zur Kenntnis, dass Jenny und mich eine ganz reine Freundschaft verbindet. Sozusagen antiseptisch“, sagte er gestelzt.

Robert warf den Kopf zurück und lachte, dann schlug er seinem Bruder auf die Schulter. Amüsiert zwinkerte er Jenny zu. „Wenn Sie diesen Burschen jemals ändern können, sind Sie die einzige Frau unter Millionen. Es ist mir nicht nur eine Freude, Sie kennen zu lernen, es ist mir eine Ehre. Jetzt muss ich leider gehen. Wir sehen uns später.“

„Ich bringe dich zum Wagen“, sagte Tony.

Ihre Stimmen und ihr Lachen waren zu hören, bis sie das Haus verlassen hatten. Jenny atmete tief durch, so als hätte sie lange Zeit den Atem angehalten.

„Die beiden lieben sich sehr.“ Annabel lächelte.

„Ich weiß. Tony hat sehr oft von Robert gesprochen.“

Seltsam, Jenny hatte sich nie eine rechte Vorstellung von Robert machen können, obwohl Tony eigentlich ständig von ihm sprach. Immer waren es nur kleine Begebenheiten gewesen, Fragmente, die kein komplettes Bild ergaben.

Nun hatte sie erlebt, welch dynamischer Mann Robert Knight war, wie selbstsicher und kraftvoll er auftrat. Er war dazu geboren, Menschen zu führen.

2. KAPITEL

Das große, antik eingerichtete Gästezimmer, das man Jenny gegeben hatte, war zum Verlieben schön. Sie schlief in einem breiten Bett mit vier gedrechselten Holzpfosten. Die Bettwäsche war schneeweiß und mit Spitzen und Stickereien verziert. Alle Möbel glänzten wie Seide, so gut waren sie poliert. Jenny hatte der Hausdame begeistert Komplimente gemacht.

„Wissen Sie, Miss Ross, dies ist eines der wenigen Zimmer, in denen ich tun und lassen kann, was ich will. Das Atelier von Mrs. Knight darf ich nicht säubern, wenn sie malt. Sie gibt es immer nur für kurze Zeit frei. In Mr. Knights Zimmer darf kaum Staub gewischt werden, weil er Angst hat, seine Papiere fliegen durcheinander. In Mr. Roberts Zimmer darf ich nur Staub saugen und die Bettwäsche wechseln. Miss Miranda zieht es vor, ihr Zimmer selbst sauber zu halten.“

Das war natürlich keine ernsthafte Beschwerde. Tony hatte Mrs. Cherry als eine „Perle“ geschildert, die seine Eltern schon solange er denken konnte betreute. Sie war Witwe, inzwischen über sechzig Jahre alt, aber immer noch rüstig und stolz auf ihre Position im Haus.

„Die Knights sind eine interessante Familie“, erwiderte Jenny.

„Exzentrisch, jeder Einzelne“, seufzte die Hausdame, als hätte sie ein schweres Kreuz zu tragen. „Peter ist am schlimmsten. In den Ferien belegt er immer den Billardraum, baut seine Zinnsoldaten auf und schlägt Schlachten. Sein Vater ermuntert ihn noch. Und das mit sechzig Jahren! Zweite Kindheit, wenn Sie mich fragen. Lieb und gutherzig sind sie aber alle. Die Knights sind wunderbare Menschen“, setzte sie voller Sympathie hinzu.

Da musste Jenny ihr zustimmen. Während sie sich das lange Haar bürstete, dachte sie über den Nachmittag nach. Sie war froh, mitgefahren zu sein. Die Familie hatte sie herzlich aufgenommen, hatte ihr das Gefühl vermittelt, bei ihr zu Hause zu sein. Sogar der versponnene Jüngste, Peter, mit seiner etwas linkischen Bubenhaftigkeit, hatte ihr Herz gewonnen. Ihm fehlte zwar noch der Charme der Erwachsenen, doch er hatte sich Mühe gegeben, so galant wie möglich zu sein, um seine Unsicherheit zu überspielen. Seine strahlenden schwarzen Augen wirkten ebenso lebendig und intensiv wie die seines ältesten Bruders.

Robert Knight! Allein der Gedanke an ihn verursachte ein seltsames Flattern in ihrem Magen. Merkwürdig, dass er es fertig gebracht hatte, bereits in den wenigen Minuten des Kennenlernens einen so starken Eindruck auf sie zu machen. Jenny wünschte, Tony hätte nicht ausgeplaudert, dass sie singen und komponieren konnte. Robert musste sich sicherlich oft mit angeblich hoffnungsvollen Talenten herumschlagen. Deshalb war er auch plötzlich so sarkastisch geworden. Sie konnte nur hoffen, dass er ihre Antwort richtig verstanden hatte. Es wäre entsetzlich, wenn er annahm, sie wollte die Einladung dazu benutzen, sich ihm als Künstlerin vorzustellen. Natürlich wollte sie, dass er sie beachtete, aber nicht in professioneller Hinsicht.

Sie bürstete ihr Haar glatt nach hinten und hielt es mit zwei Zierkämmen hinter den Ohren fest. Nur ein kleiner Pony fiel ihr in die Stirn. Sie meinte, die etwas strengere Frisur würde ihr mehr Würde geben. Aber leider ließen sich die Sommersprossen nicht verdecken. Nach sorgfältiger Überlegung entschied sie sich für ein apfelgrünes Seidenkleid. Schnitt und Farbe standen ihr gut und brachten ihre Figur vorteilhaft zur Geltung.

„Bist du fertig, Jenny?“, fragte Miranda von draußen.

„Ja, komm doch herein.“

Sie hatte Miranda, Tonys Schwester, kurz vorher kennen gelernt. Beide hatten ganz selbstverständlich Du zueinander gesagt. Jenny hatte die Blicke nicht von Miranda abwenden können. Sie war eine außergewöhnlich schöne Frau und gab sich ganz natürlich. Jetzt trug sie einen glänzenden blauen Seidenanzug, der vorzüglich zu ihrer Augenfarbe passte. Miranda war wesentlich größer als Jenny und sah sehr attraktiv aus. Sie seufzte leise, als Miranda sich mit vollkommener Grazie auf einen Sessel setzte.

„Ich bin sehr aufgeregt und neugierig. Ich musste dich unbedingt allein sprechen. Von diesem Sessel stehe ich nicht eher wieder auf, bis ich alles über dich und Tony erfahren habe“, verkündete sie erwartungsvoll.

„Was soll denn mit uns sein?“, fragte Jenny erstaunt, während sie in die hochhackigen grünen Lackpumps schlüpfte.

„Weißt du denn nicht, dass du das erste Mädchen bist, das er in den ganzen sechsundzwanzig Jahren mit nach Hause gebracht hat?“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich. Und deshalb bist du, solltest du es nicht schon wissen, etwas Besonderes.“

„Miranda, das siehst du falsch. Wir sind nur gute Freunde. Tony hatte Mitleid mit mir, weil Weihnachten ist und ich keine Familie habe.“

„Natürlich“, stimmte Miranda ungläubig zu.

„Glaube es oder glaube es nicht, zu seinem Liebesleben gehöre ich nicht. Wir teilen uns das Haus, sonst nichts.“

„Rein platonisch?“

„Rein platonisch.“

„Jenny, das ist es ja gerade. Du bist für ihn nicht wie andere Frauen.“

„Wie kommst du darauf?“

„Tony ist ein Aufreißer, ein Frauenliebling. Schon mit achtzehn hatte er seine Mädchen. Wenn er sich dir nicht nähert, muss er großen Respekt vor dir haben.“

Jenny sah im Spiegel Mirandas schönes Gesicht, ihre lockigen silberblonden Haare und daneben sich selbst. Völlig unscheinbar.

„Ich bin nicht gerade eine Sexsirene“, bemerkte sie trocken.

Autor

Emma Darcy
Emma Darcy ist das Pseudonym des Autoren-Ehepaars Frank und Wendy Brennan. Gemeinsam haben die beiden über 100 Romane geschrieben, die insgesamt mehr als 60 Millionen Mal verkauft wurden. Frank und Wendy lernten sich in ihrer Heimat Australien kennen. Wendy studierte dort Englisch und Französisch, kurzzeitig interessierte sie sich sogar für...
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