Ist es wirklich Liebe?

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Sierra versteht die Welt nicht mehr: Nach Jahren einer rein platonischen Freundschaft beginnt sie plötzlich, sich von Alex Calloway unwiderstehlich angezogen zu fühlen. Seit der attraktive Strafverteidiger sich mit ihr so rührend um das Findelbaby Bowie kümmert, scheint es zwischen ihnen vor Erotik zu knistern. Starke leidenschaftliche Gefühle erwachen in Sierra, die sie aber noch nicht zu zeigen wagt. Empfindet nur sie so, oder sehnt auch Alex sich nach mehr?


  • Erscheinungstag 06.05.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777548
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Hallo, Sierra! Hallo! Wo bist du mit deinen Gedanken?“

Sierra Mendoza zuckte leicht zusammen und sah sich irritiert an dem Tisch um. Alle Blicke ihrer Freunde waren auf sie gerichtet. In der Tat, sie hatte sich für einen Moment aus dem Gespräch ausgeklinkt und war gedanklich völlig abwesend gewesen.

Verlegen wandte sie sich an Gayle, eine Blondine, die fünf Jahre älter als sie selbst war. „Tut mir leid, ich habe an etwas anderes gedacht. Was hast du gerade gesagt?“

Gayle richtete die blauen Augen schicksalsergeben zum Himmel, lächelte aber dabei. „Ich habe gefragt, ob du dir mit mir die Mousse au Chocolat zum Nachtisch teilst.“

„Ach nein, heute lieber nichts Süßes“, wehrte Sierra ab. „Dafür bin ich nicht in Stimmung.“

Genau genommen war sie für gar nichts in Stimmung und nahm an diesem Mittagessen nur teil, weil sie nicht wirklich einen Grund gefunden hatte, es abzusagen. Sie wollte ihre Freunde, die sie noch von der Universität her kannte, nicht vor den Kopf stoßen. Die beiden Frauen und die drei Männer trafen sich wöchentlich einmal im Longhorn Bar and Grill der texanischen Kleinstadt Red Rock.

Früher hatte das Gebäude als Lagerhalle für Getreide und Futtermittel gedient, und auch jetzt hatte es noch große Ähnlichkeit mit einer Scheune. Zwischen massiven Holzbalken sah man bis zum Dach hinauf, der Fußboden bestand aus unbehandelten Dielen, und auf den Holztischen lagen blauweiß karierte Tischtücher. Die ehemalige Laderampe diente mittlerweile als eine Art Terrasse, auf der die Gäste mit Blick auf die Main Street im Freien sitzen konnten. Normalerweise füllte Sierra sich im Longhorn wohl. Sie liebte die fröhliche Atmosphäre dort ebenso wie das köstliche Essen.

„Was ist los mit dir?“, fragte Mario, der im nahen San Antonio in der Notaufnahme eines großen Krankenhauses arbeitete. „Bist du auf Diät? Das hast du bestimmt nicht nötig. Für meinen Geschmack bist du sogar zu mager.“

Sierra stand nicht gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und starrte auf ihren noch halb vollen Teller. „Aber nein, Mario, ich esse genug. Mir ist nur heute nicht nach Nachtisch. Nächste Woche habe ich vielleicht mehr Appetit“, sagte sie tröstend zu Gayle. „Lass dich aber durch mich nicht aufhalten.“

„Kommt nicht in Frage“, wehrte Gayle lachend ab. „Ich nehme doch nicht die Kalorien eines ganzen Tages in einem kleinen Schüsselchen zu mir.“

„Mario hat Recht“, bemerkte Trey. „Sierra, du bist wirklich mager und blass. Das ist uns allen aufgefallen. Was ist denn los? Trauerst du denn noch immer Chad Newbern hinterher?“

„Ich möchte nicht über ihn sprechen“, antwortete sie dem hoch gewachsenen Ingenieur, der die muskulösesten Unterarme besaß, die sie je gesehen hatte.

Sie wollte ja nicht einmal an Chad denken. Zwei Jahre war sie mit dem Mann zusammen gewesen, und vor zwei Monaten hatte er ihr schlicht und einfach die Beziehung aufgekündigt. Angeblich wünschte er sich ein aufregenderes Leben. Ihr blieb nur die Erkenntnis, dass sie ihm zu langweilig gewesen war, und das hatte ihr Selbstbewusstsein restlos zerstört.

„Warum möchtest du nicht über Chad sprechen?“, fragte Alex Calloway. „Man merkt doch, dass du ständig an diesen Verlierer denkst.“

Alex Calloway war Anwalt, saß ihr direkt gegenüber und gab sich so herablassend, dass sie ihn am liebsten undamenhaft unter dem Tisch getreten hätte. Mit seinem Zynismus ärgerte Alex sie oft, und manchmal wurde er geradezu verletzend. Andererseits konnte er auch wieder ganz reizend sein, wenn er nur wollte.

Sierra hatte Alex stets als guten Freund betrachtet. Wahrscheinlich lag es an seinem wankelmütigen Wesen, dass sie trotz seines guten Aussehens nicht für ihn schwärmte. Zum Glück, dachte sie. Alex war nämlich ein Herzensbrecher schlimmster Sorte.

„Was weißt du schon, woran ich denke“, erwiderte sie schroff.

„Also“, warf Trey ein, „ich war jedenfalls überzeugt, dass Chad dich heiraten würde. Ich habe ständig damit gerechnet, dass du hier auftauchst und Hochzeitseinladungen verteilst. Und jetzt hat dich dieser Mistkerl sitzen lassen.“

„Nach allem, was du für den Schuft getan hast“, fügte Gayle hinzu. „Es gibt nichts Mieseres als einen miesen Mann.“ Gayle musste es wissen, denn ihre Erfahrung mit Männern war, um es freundlich zu formulieren, groß.

„Wenigstens hast du ihn vom Alkohol abgebracht, und er hat wieder einen festen Job. Darauf kannst du stolz sein“, wandte sich nun Mario mitfühlend an Sierra.

„Ja, richtig“, bestätigte Trey aufmunternd. „Du hast Chad Newbern neu aufgebaut. Das hast du toll gemacht.“

Tatsächlich war Sierra auf die Fortschritte stolz, die Chad seit ihrer Begegnung vor zwei Jahren gemacht hatte. Damals war er von der Navy aus gesundheitlichen Gründen entlassen worden, und der Verlust der heiß ersehnten militärischen Laufbahn hatte ihn am Boden zerstört. Zur Ablenkung hatte er zu trinken begonnen und war dem Alkohol schließlich verfallen.

Sierra hatte sich seiner erbarmt und ihm geholfen, von der Flasche wegzukommen. Gleichzeitig hatte sie sich in ihn verliebt. Leider hatte sie angenommen, das wäre umgekehrt auch der Fall. So kann man sich irren, dachte sie sarkastisch.

Alex griff nach seinem Bierglas. „Ja, Ja, Sierra ist nicht nur Sozialarbeiterin, sondern auch Wundertäterin. Sie heilt alles, mag es noch so aussichtslos erscheinen.“

„Alex!“, sagte Gayle tadelnd. „Merkst du eigentlich nicht, dass Sierra leidet? Sie braucht unsere Hilfe. Also spar dir deinen Spott.“

Alex lächelte. „Sie braucht nicht unsere Hilfe, sondern mehr Rückgrat, damit nicht gleich wieder der Nächste über sie hinwegtrampelt.“

Sierra griff ihr Bierglas mit beiden Händen, blickte starr hinein und hielt eisern die Tränen zurück. Vielleicht hatte Alex ja Recht? Bisher hatte es jeder ihrer Freunde nur so lange bei ihr ausgehalten, bis sie ihm auf die Beine geholfen hatte. Und danach – vom Winde verweht … Wieso konnte sie keinen Mann auf Dauer halten?

„Über mich hinwegtrampelt?“ Sie richtete die sanften braunen Augen auf Alex. „Wie du das mit deinen Gegnern vor Gericht machst?“

„Jeder will gewinnen, Sierra“, entgegnete er lächelnd. „Keiner möchte verlieren.“

Sekundenlang herrschte Schweigen am Tisch. Dann sagte Trey: „Du bist eine schöne junge Frau, Sierra, und irgendwann findest auch du den Richtigen. Kopf hoch!“

Sierra war Trey für die netten Worte dankbar, auch wenn sie ihm nicht recht glaubte. Sie fand sich alles andere als schön. Schön – das waren ihre älteren Schwestern Gloria und Christina. Die beiden waren schlank, hoch gewachsen und elegant. Sie selbst war dagegen nur knapp einssechzig. Sicher, ein paar Rundungen besaß sie schon, aber insgesamt machte sie eher einen zierlichen Eindruck. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass nur die dichten langen Locken verhinderten, dass sie allzu knabenhaft daherkam. Viele ihrer ehemaligen Freunde von der High School nannten sie jedenfalls auch heute noch „Kleine“.

„Danke, Trey“, entgegnete sie, „aber ich werde mich von Männern vorerst fern halten. Ich habe nämlich einen Pakt mit meinen Schwestern geschlossen. Wir haben uns gegenseitig geschworen, uns von Männern fern zu halten. Wer den Pakt bricht, muss als Buße etwas machen, was er normalerweise hasst, zum Beispiel Rasen mähen oder Autos waschen. Ich schwöre euch, dass es mir nicht wie Gloria und Christina ergehen wird, die bereits schwach geworden sind. Ich halte mich an den Pakt.“

„Das finde ich nicht gut. Du darfst dich nicht zurückziehen“, warnte Mario. „Trey hat Recht. Du wirst den Richtigen finden, vielleicht sogar schon morgen.“

Sierra versuchte, Marios Lächeln zu erwidern. Zum Glück kam die Kellnerin an den Tisch, um noch eine Runde Getränke zu bringen, womit die Diskussion über Sierras Liebesleben beendet war. Von da an konzentrierte sie sich vollständig aufs Essen und tat, als würde es ihr tatsächlich schmecken.

Trotzdem war sie erleichtert, als das wöchentliche Treffen vorbei war und sie auf dem Parkplatz zu ihrem Wagen ging. Sie beschloss, nachher ein bisschen im Park zu spazieren. Es war zwar windig, aber frühlingshaft warm. Vorher wollte sie jedoch heimfahren und sich erst einmal die Augen ausweinen.

„Warte einen Moment, ich möchte mit dir reden.“

Sierra blieb neben ihrem Wagen stehen und drehte sich um. Alex. Natürlich, das hätte sie sich denken können. Der Mann gab nie klein bei. Sein ganzes Auftreten signalisierte Macht und Erfolg. Das braune Haar hatte er aus der Stirn nach hinten gekämmt, und die grünen Augen betrachteten die Welt meist reichlich zynisch. Die harten Gesichtszüge schüchterten die Leute wohl ebenso ein wie seine eins fünfundachtzig Körpergröße. Jedenfalls mussten die meisten zu ihm aufsehen, was sicher ein Vorteil in seinem Beruf war. Sein Gesicht passte perfekt zu dem schlanken kräftigen Körper. Sierra gestand ihm zu, dass er ein äußerst attraktiver Mann war. Doch für ihren Geschmack besaß er eindeutig zu wenig Gefühl.

„Wozu soll ich warten?“, entgegnete sie leicht gereizt. „Damit du das Messer in der Wunde noch drehen kannst? Es reicht, Alex.“

Sie schob den Schlüssel ins Schloss, doch ehe sie die Tür öffnen konnte, legte Alex ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie wieder zu sich herum.

„Nein, es reicht noch nicht“, erklärte er. „Es war vorhin geradezu lächerlich, wie du in dein Bier geweint hast, als würde die Welt untergehen.“

Diese offene Geringschätzung verletzte Sierra nicht nur, sondern ärgerte sie auch gewaltig. „Von dir erwarte ich bestimmt kein Verständnis, Alex! Du hast ja überhaupt keine Ahnung, was Liebe ist.“

„Ich bitte dich!“, rief er aus. „Bei diesem Verlierer Chad Newbern sprichst du von Liebe? Du hättest ihn schon längst zum Teufel schicken sollen. Ich bin froh, dass er weg ist.“

„Ich wüsste wirklich gern“, antwortete sie zornig, „wieso du meinst, perfekt zu sein.“

„Ich behaupte nicht, perfekt zu sein“, entgegnete er.

„Wenn du so viel über Liebe weißt, Herr Anwalt, wieso hast du dann nie eine Frau bei dir?“

„Vielleicht, weil ich klug genug bin, nicht zu denken, nur mit einer Frau könne ich wirklich glücklich sein.“ Jetzt sah er genauso finster drein wie Sierra. „Ich komme allein sehr gut klar. Das solltest du auch, anstatt dich wie eine Schlingpflanze an jeden Verlierer zu klammern, der dich nur ansieht.“

Das saß! Es war nicht ungewöhnlich, dass Alex hart war, doch diesen Tadel steckte sie nicht so einfach weg. Schließlich war er ihr Freund. Begriff er nicht, dass sie gerade jetzt Mitgefühl und Verständnis brauchte?

Sierra schluckte heftig und strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Ich muss los.“

„Nein, noch nicht. Ich …“

„Du hast dich klar und deutlich ausgedrückt“, hielt sie ihm vor und streifte seine Hand von der Schulter. „Ich fahre jetzt heim. Wir sehen uns. Irgendwann.“ Bevor er sie aufhalten konnte, öffnete sie die Tür und setzte sich ans Steuer.

Alex schüttelte bloß den Kopf und blieb stehen, bis sie den Parkplatz verlassen hatte.

Dieser blöde Kerl, dachte Sierra, während sie durch die Straßen von Red Rock fuhr. Manchmal spielte er sich so auf, dass sie ihn am liebsten angebrüllt hätte. Trotzdem schätzte sie ihn als Freund.

Am College hatte Alex ihr in schwierigen Zeiten geholfen und sie oft aufgerichtet. Zum Beispiel damals, als ihre beiden älteren Schwestern sich zerstritten hatten und weit weg von der Familie gezogen waren. Sierra hatte sehr darunter gelitten. Als Sozialarbeiterin kümmerte sie sich um Problemfamilien, aber der eigenen Familie hatte sie nicht helfen können. Sie hatte sich schrecklich nutzlos gefühlt damals. Doch Alex hatte ihr versichert, es würde wieder besser werden. Und er hatte Recht behalten.

Gloria und Christina waren heimgekehrt, und alle hatten sich miteinander ausgesöhnt. Gloria erwartete ihr erstes Kind und wollte im Juni den renommierten Geschäftsmann Jack Fortune heiraten. Christina hatte sich mit Derek Rockwell verlobt.

Ihre Schwestern waren glücklich verliebt. Sierra hatte immer geträumt, die Erste zu sein, die heiratet. Der Traum war jedoch zusammen mit sämtlichen schönen Plänen für die Zukunft geplatzt.

Minuten später verbannte Sierra alle Gedanken an Liebe und Ehe, bog in die malerische Straße ein, in der sie wohnte, und parkte vor ihrem einstöckigen Haus, vor und hinter dem schattenspendende Eichen wuchsen.

Das Haus war 1880 von einem Viehzüchter erbaut worden. Im Lauf der Zeit war das Gebäude modernisiert worden, doch noch heute bestanden sämtliche Fußböden aus blank polierten Eichenbrettern. Auch Wände und Decken waren aus Holz gefertigt. Einige Reparaturen wären zwar dringend nötig gewesen, und auch die Außenverkleidung müsste gestrichen werden. Sierra zahlte jedoch eine äußerst günstige Miete, weil der Eigentümer ein alter Freund der Familie war. Außerdem liebte sie das Haus, das viel Platz bot, auch wenn es nachts einsam war.

Im Haus ging sie sofort ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. In Jeans und weißem T-Shirt sah sie anschließend im Wohnzimmer die Post durch, die sie auf den Couchtisch gelegt hatte.

Ihr Zorn auf Alex war längst verraucht, jetzt tat es ihr sogar schon leid, ihn so abgekanzelt zu haben. Er hatte sie zwar unschön behandelt, es aber gut gemeint. Darum hätte sie ihn freundlicher behandeln sollen. Es gefiel ihr gar nicht, dass sie die Beherrschung verloren hatte. Vielleicht sollte sie warten, bis er in seinem Büro war, und sich dann telefonisch entschuldigen?

Während sie noch überlegte, klopfte es an der Haustür. Da nachmittags so gut wie nie Besuch kam, rechnete sie fest mit einem Vertreter. Als sie jedoch die Tür öffnete, stand Alex Calloway auf der Veranda.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie überrascht.

„Darf ich hereinkommen?“

Sie hatte ihm zwar schon verziehen, doch das brauchte er ja nicht gleich zu wissen. Schließlich hielt er ihr ständig vor, sie wäre zu weich. Es war höchste Zeit, sich ihm von ihrer harten Seite zu zeigen.

„Wozu? Damit du mich weiterhin beleidigen kannst?“

„Nein“, versicherte er, „und ich möchte mich mit dir auch nicht an der Tür unterhalten.“

Seufzend stieß sie die Fliegengittertür auf und ließ ihn eintreten. Alex blieb mitten im Wohnzimmer stehen und schob die Hände in die Taschen der khakifarbenen Hosen. Darüber trug er ein langärmeliges dunkelgrünes Hemd, keine Krawatte. Diese Kleidung entsprach absolut nicht den eleganten Anzügen, die von den meisten erfolgreichen Anwälten in San Antonio getragen wurden. Alex legte jedoch keinen Wert darauf, durch sein Äußeres zu beeindrucken. Viel wichtiger war ihm, dass Mandanten sich bei ihm wohl fühlten und Vertrauen zu ihm hatten. Sierra hatte das stets an ihm geschätzt.

„Wolltest du dich nicht mit einem Mandanten treffen?“, fragte sie. „Hat er dich versetzt?“

Alex war Strafverteidiger und hatte eine eigene Kanzlei in San Antonio. Sosehr Sierra seinen Mut, unabhängig zu sein, bewunderte, sosehr kritisierte sie immer wieder den Standort seines Büros. San Antonio war dreißig Kilometer entfernt, und Alex lebte in Red Rock. Seine Heimatstadt hätte ihn viel dringender gebraucht als eine Großstadt, in der es von Anwälten wimmelte.

„Ich habe Pauline gebeten, sich um den Mandanten zu kümmern, bis ich komme“, antwortete er. „Das schafft sie schon.“

Pauline war eine lebhafte Frau mittleren Alters, die das Büro mühelos im Griff hatte. Die Anwaltsgehilfin war die einzige Frau, die Alex in die Schranken weisen konnte. Trotzdem lobte er sie völlig zu Recht stets über den grünen Klee.

Sierra setzte sich wieder auf die Couch. Draußen riefen zwei Spottdrosseln. Es war ein ruhiger Nachmittag.

„Was willst du denn hier?“, fragte sie erneut.

Er zögerte einen Moment. „Ich möchte mich bei dir dafür entschuldigen, dass ich mich vorhin so schäbig aufgeführt habe.“

Sierra lächelte erleichtert. „Das hast du wirklich, aber ich verzeihe dir. Als du vorhin geklopft hast, wollte ich dich sogar schon anrufen und mich bei dir entschuldigen. Ich war auch nicht gerade nett zu dir.“

Mit den Händen in den Taschen kam er zu ihr und setzte sich. „Vergiss es. Ich möchte nur nicht, dass du … na ja, ich sehe dich nicht gern in diesem Zustand. Wir sind nun schon seit Jahren befreundet, und ich habe viel zu oft beobachtet, wie irgendein Mistkerl einfach über dich hinweggetrampelt ist. Trey hat Recht. Du bist eine schöne junge Frau, die Ansprüche stellen sollte.“

Alex fand sie schön? Bisher hatte er nichts in der Richtung gesagt. Da er sich bislang immer nur mit sagenhaften Frauen gezeigt hatte, war das nun wirklich eine Überraschung.

Verlegen wich sie seinem Blick aus. „Ich habe mir nie bewusst einen Verlierer ausgesucht. Es hat sich einfach so ergeben. Wahrscheinlich versagt mein Urteilsvermögen bei Männern.“

„Wozu brauchst du überhaupt einen Mann in deinem Leben?“, fragte er kopfschüttelnd.

„Was ist denn das für eine Frage?“, erwiderte sie ungläubig. „Frauen sehnen sich nun mal nach Zuneigung, Liebe und Freundschaft. Das Singledasein ist ziemlich einsam. Du solltest das eigentlich wissen.“

„Sierra, es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn du ab und zu mit einem Mann zusammen bist. Du solltest dich nur nicht nach einer festen Bindung sehnen. Ich dachte eigentlich, dass ihr Frauen nicht mehr so altmodisch eingestellt seid.“

„Das verstehst du nicht“, behauptete sie.

„Ich weiß schon – es liegt an deinen Schwestern. Sie werden bald heiraten und du nicht, weil Chad abgehauen ist. Das ist es doch, oder?“

Sie stand auf und ging durch den großen, spärlich eingerichteten Raum. „Kann schon sein“, räumte sie ein. „Meine Schwestern waren fünf Jahre fort. Gloria hat in Colorado, Christina in Kalifornien gelebt. Aber das weißt du ohnedies, weil ich mich oft genug bei dir ausgeweint habe. Sie haben mir gefehlt, und für meine Eltern war es ebenfalls schrecklich.“

„Ja, der Bruch zwischen deinen Schwestern hat deine Eltern getroffen“, bestätigte er. „Du bist geblieben und hast versucht, ihnen zu helfen. Jetzt sind deine Schwestern heimgekehrt und haben den Streit beigelegt. Alles ist vergeben und vergessen, und beide haben die Liebe ihres Lebens gefunden.“

„Allerdings.“ Sierra blieb am offenen Fenster stehen, und in ihre Stimme schlich sich eine Spur von Bitterkeit ein. „Und ich, die langweilige brave Tochter, habe die Liebe verloren.“

Hinter ihr murmelte Alex eine Verwünschung. „Chad war nicht die Liebe deines Lebens, und das weißt du.“

„Das kannst du gar nicht wissen“, hielt sie ihm vor und drehte sich um.

Alex kam zu ihr und legte ihr die Hand an den Arm. „Doch. Du hast in seiner Gegenwart nie verliebt ausgesehen.“

„Du weißt, wie eine verliebte Frau aussieht?“, fragte sie überrascht.

Er lachte. „Ist das eine Fangfrage?“

Sie musste mit ihm lachen, verstummte jedoch, als es klopfte.

Er warf einen Blick zur Haustür. „Erwartest du jemanden?“

„Nein. Das ist bestimmt ein Vertreter. Geh du an die Tür, Alex. Männer lassen sie eher in Ruhe.“

„Gern. Den werde ich schnell wieder los.“

Während Alex zur Tür ging, lief Sierra in Richtung Küche, um einen Kaffee zu machen. Sie hatte jedoch die Küche noch nicht erreicht, als Alex ihren Namen rief. Zu ihrer Überraschung stand auf der Veranda eine sehr junge Frau mit einem Neugeborenen in einer Tragetasche.

„Miss Sierra?“, fragte die Frau zögernd. „Sind Sie das?“

„Ja.“ Sierra öffnete die Fliegengittertür und trat ins Freie. „Ginger?“

Sierra kannte die Frau mit dem kurzen kastanienbraunen Haar und der blassen Haut von der Arbeit her. Der Vater hatte ihre Mutter misshandelt und musste sich deshalb auf richterliche Anordnung von ihr fern halten. So etwas hatte Sierra schon oft erlebt, doch dieser Fall war durch Gingers Schwangerschaft besonders kompliziert gewesen.

„Stimmt etwas nicht? Ist dein Vater vielleicht wieder daheim aufgetaucht?“

Ginger schüttelte nervös den Kopf. „Nein, ich … also, ich habe das Kind bekommen. Es ist ein Junge.“

Sierra warf einen Blick auf das winzige Baby mit rötlich braunem Haar. Es schlief, und es war ein hübsches Kind mit einem reizenden Mündchen und einem entzückenden Näschen.

„Zauberhaft, Ginger“, stellte Sierra begeistert fest. „Du bist bestimmt sehr stolz.“

„Ja, Miss Sierra, das bin ich.“

„Was kann ich für dich tun?“

Die Jugendliche wurde rot. Sie tat Sierra leid. Mutter und Tochter brauchten alle Hilfe, um es in dieser Welt zu schaffen, und bei ihrer Familie fanden sie sicher keine Unterstützung.

„Könnten Sie vielleicht auf den Kleinen aufpassen? Nur kurze Zeit“, fügte Ginger hastig hinzu. „Wissen Sie, meine Mom arbeitet, und ich muss ins Krankenhaus fahren. Meine Tante ist dort und wird gerade untersucht, und sie hat Angst und so. Ich möchte eine Weile bei ihr bleiben und sie aufmuntern.“

Das war für Sierra kein Problem, weil sie heute freihatte. Ein Baby im Haus würde ihr helfen, ihre schlechte Stimmung zu vergessen. „Aber natürlich. Ich passe gern auf den Kleinen auf.“

Erleichtert überreichte Ginger ihr die Tragetasche. „Toll! Ich hole noch die Windeltasche aus dem Wagen. Bin gleich wieder da.“

„Du brauchst unbedingt einen Mann im Haus“, scherzte Alex.

„Diesem kleinen Mann konnte ich nicht widerstehen. Ist er nicht niedlich? Sieh nur, er hat ein Grübchen im Kinn – genau wie du.“

Alex schüttelte lachend den Kopf. „Du wirst nie ein Kind herumlaufen sehen, das mir ähnlich ist. Die Verantwortung mit Kindern ist mir zu groß.“

Das war Sierra neu. Bisher hatte Alex sich nie gegen Kinder ausgesprochen. Doch bevor sie ihn darauf ansprechen konnte, kam Ginger zurück.

„Danke, Miss Sierra. In der Tasche ist alles, was Sie brauchen. Ich komme so bald wie möglich wieder.“

„Du brauchst dich nicht zu beeilen, Ginger“, versicherte Sierra. „Hoffentlich hat deine Tante nichts Ernstes. Dein Kind ist bei mir jedenfalls in guten Händen.“

Ginger lächelte flüchtig und eilte zu dem klapperigen Wagen am Straßenrand.

Sierra sah ihr nachdenklich hinterher. „So viel zu meinem freien Nachmittag“, stellte sie fest und kehrte ins Haus zurück.

Alex folgte ihr mit der Windeltasche. „Wie heißt der Kleine?“

„Ach, das habe ich nicht gefragt.“ Sie trug das Baby zur Couch und stellte die Tragetasche darauf. Alex setzte sich daneben.

„Niedlich“, bestätigte er, nachdem er sich das Baby genauer angesehen hatte. „Nicht gerade viele Haare, aber das wächst ja noch. Sind alle Babys so? Ich meine, haben sie nur Flaum?“

„Man glaubt es nicht“, meinte sie amüsiert. „Du hast sämtliche Juraexamen geschafft, aber von Babys weißt du nichts.“

„Ich weiß, dass sie laut und feucht sind, und ich habe mich stets gehütet, welche in die Welt zu setzen.“

Sie setzte sich und lehnte sich zurück. „Und warum?“

„Das liegt doch auf der Hand. Ich bin nicht verheiratet, und ein Kind braucht beide Elternteile. Beide Elternteile im selben Haus, um genau zu sein.“

Sierra überlegte. Wie würde Alex’ Sohn wohl aussehen? Kraftvoll und sehr attraktiv. Er würde ein Kind konsequent aber liebevoll erziehen, wie ein Vater das tun sollte.

„Am Heiraten kanns ja wohl nicht liegen. Bestimmt hast du jede Menge Heiratsanträge bekommen“, bemerkte sie.

Er stand auf und lächelte spöttisch. „Die Ehe ist nur dazu da, Scheidungsanwälte reich zu machen. Ich habe jedenfalls nicht die Absicht, einem Kollegen Honorar in den Rachen zu stopfen.“

„Wir sollten etwas gegen deine zynische Einstellung unternehmen“, stellte Sierra fest.

„Aber nur, wenn du vorher mehr Rückgrat bekommen hast.“ Er lächelte ihr noch ein Mal zu und ging zur Tür. „Ich muss los. Schönen Tag noch, kleine Mom.“

„Ich wollte Kaffee machen“, rief sie ihm nach.

Er trat jedoch schon auf die Veranda hinaus und sah durch die Fliegengittertür zu ihr herein. „Das holen wir bei einer anderen Gelegenheit nach. Kümmere du dich um den kleinen Kerl und vergiss den anderen, verstanden?“

Vielleicht sollte sie tatsächlich auf ihn hören. „Ich werde mich bemühen.“

2. KAPITEL

Erst nach einer Stunde merkte Sierra, dass sie immer noch auf der Couch saß und fasziniert das schlafende Baby betrachtete. Sie zwang sich, aufzustehen und Kaffee zu machen. Kurz darauf wurde der Kleine wach.

Im Wohnzimmer wickelte sie das Baby und gab ihm ein Fläschchen, das Ginger in die Windeltasche gestellt hatte. Das Kind trank und schlief ein. Sierra legte es auf ihr Bett, damit es nicht dem Durchzug im Wohnzimmer ausgesetzt war.

Wie hieß der Kleine? Und wie wollten Ginger und ihre Mutter für ihn sorgen? Die Familie lebte so schon am Existenzminimum. Wie sollten sie nun fünf Mäuler stopfen? Es gab Hilfsprogramme für Bedürftige. Sierra musste unbedingt mit Gingers Mutter, Mrs. Rollins, sprechen, damit sie Hilfe beantragte. Außerdem wollte sie sich vergewissern, dass Mr. Rollins nicht wieder betrunken auftauchte und seine Familie prügelte.

Zwei, drei Stunden später genoss Sierra zwar noch immer jede Minute mit dem Baby, fragte sich aber doch, wodurch Ginger aufgehalten wurde. Auch nach vier Stunden hatten sie noch nichts von der jungen Frau gehört.

Schließlich rief sie im Red Rock General Hospital an und bat, Ginger ausrufen zu lassen. Sie musste lange warten, ehe sich die Telefonistin in der Zentrale wieder meldete.

„Es tut mir leid, Miss Mendoza, aber Ihre Bekannte meldet sich nicht. Wahrscheinlich hat sie das Krankenhaus bereits wieder verlassen.“

„Können Sie mir dann sagen, ob Sie eine Mrs. Rollins unter den Patienten haben?“

„Einen Moment.“

Sierra betrachtete das schlafende Baby, während sie wartete. Wo steckte Ginger nur?

„Tut mir leid, Miss Mendoza, aber wir haben keine Patientin mit diesem Namen. Vielleicht ist sie unter einem anderen eingetragen.“

Da Sierra keine Ahnung hatte, wie Gingers Tante hieß, bedankte sie sich und legte auf.

Was sollte sie tun? Die Fürsorge anrufen? Schlechte Idee, weil man das Neugeborene dann bestimmt gleich der Familie weggenommen und bei einer Pflegefamilie untergebracht hätte. Der Kleine durfte nicht von einem Haushalt zum nächsten wandern.

Die Sonne ging bereits unter. Sierra schaltete im Wohnzimmer die Lichter ein und holte das Baby zu sich.

Autor

Stella Bagwell
Eigentlich ist Stella Bagwell gelernte Friseurin, tragischerweise entwickelte sie aber eine Haarspray-Allergie. Schlecht für sie, gut für ihre Leserinnen. Denn so verfolgte Stella ihr kreatives Talent in eine andere Richtung weiter und begann mit viel Enthusiasmus, Romane zu schreiben. Was ganz bescheiden auf einer alten Schreibmaschine begann, entwickelte sich auch...
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