Kampf um Windermere

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Ritter Wolfram hat geschworen: Eines Tages wird er Windermere zurückbekommen! Ist dieser Tag nah, als er auf Geheiß des Königs die schöne Kathryn Somers nach London bringen soll? Denn unter falschem Namen rasten sie auf Windermere, wo Kathryn ein geheimnisvoller Siegelring zugesteckt wird: der Ring des wahren Erben …


  • Erscheinungstag 01.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765019
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Northumberland, England

Ende April 1421

Verflucht sollte er sein! Ein verdammter Narr, dieser Baron Somers!

Mit großen Schritten durchstreifte Wolfram Gerhart Colston den Wald, hin zum See, weg von seinen Männern. Wie konnte Somers es nur wagen, sich der königlichen Order zu widersetzen? Für wen, zum Teufel, hielt er sich? Der Monarch hatte Wolf gesandt, um Somers’ Stieftochter zu holen, und genau das würde er auch tun! Er wollte in ewiger Verdammnis schmoren, wenn er mit leeren Händen zurückkehrte. Und es gab keine Zeit zu verlieren. Er würde das Mädchen nach London bringen, egal, wie sehr sich Somers dagegen sträubte.

Geschickt wich der groß gewachsene Ritter in der Dunkelheit einem heruntergefallenen Ast aus und setzte seinen Weg zum See fort, in der Hoffnung, am dunklen Wasser einige Augenblicke der Ruhe zu finden. Es war schon fast Mitternacht, und er hatte noch keinen Schlaf gefunden, so verärgert war er über den widerspenstigen Baron, diesen schäbigen, faulen Trunkenbold. Lady Edith, seine Frau, war genauso schlimm mit ihrer widerlich süßen Art und ihren begehrlichen Blicken.

Wolf musste sich eingestehen, dass er über all dies mehr als nur ein bisschen aufgebracht war. Was, in Gottes Namen, wollte König Heinrich V. bloß von der unbedeutenden Kathryn Somers? Da Heinrich erst kürzlich mit seiner Braut Catherine de Valois aus Frankreich heimgekehrt war, konnte Wolfram nicht verstehen, wie ihm gerade jetzt diese junge Frau aus Northumberland so wichtig sein sollte. Außerdem war er höchst verärgert darüber, dass ausgerechnet er in diese entlegene Grafschaft geschickt worden war, um das Mädchen zu holen.

War er, Wolf, nicht bekannt für seine kalte Präzision, seine Kühnheit in der Schlacht und seine Unempfänglichkeit allen verschwenderischen Tollheiten des Hofes gegenüber? Es gab so viele wichtigere Aufgaben für Heinrichs Gefolgsleute, die erst kürzlich nach England zurückgekommen waren, dass Wolf sich über eine solche Vergeudung seiner Talente sehr ärgerte.

Er hoffte nur, dass dies nicht einer von Heinrichs lächerlichen Scherzen war. Aber bei näherem Nachdenken schien das unwahrscheinlich. Seitdem Heinrich den Thron seines Vaters geerbt hatte, war er viel verantwortungsbewusster geworden, als er es in seiner wilden Jugend jemals gewesen war. Nein … dies war kein Scherz.

Das Einzige, was Wolf für diesen unliebsamen Auftrag entschädigte, war die Tatsache, dass er nun als königlicher Abgesandter reiste. Bevor er die junge Kathryn dann nach London brächte, beabsichtigte er, Windermere Castle aufzusuchen, um dort seinen Cousin Philip Colston zu treffen, den derzeitigen Earl of Windermere.

Wolf wollte jede nur erdenkliche Anstrengung unternehmen, um den betrügerischen Earl zu entmachten.

Er war überzeugt davon, dass Philip für den gewaltsamen Tod seines Vaters, des vormaligen Earl of Windermere, Lord Bartholomew Colston, und seines älteren Bruders John verantwortlich war. Zwanzig Jahre waren bereits vergangen seit ihrer Ermordung. Zwanzig lange Jahre … und nun endlich wollte Wolf nach Windermere reisen und alle Beweise aufdecken, die nötig waren, um Philip als Verräter und Mörder zu entlarven.

Das Einzige, was Wolfs Plan entgegenstand, war Lady Kathryn. Sie war der Grund, warum es ihm unmöglich gewesen war, von London aus direkt nach Windermere zu reiten. Und nun musste er die junge Frau mit sich nach Windermere nehmen – und auch zu all den anderen Rittergütern, die er besuchen würde. Da es Gerüchte gab, dass die Schotten versuchen könnten, Lady Kathryn zu entführen, wollte Heinrich sie sicher in Wolfs Obhut wissen.

Es war noch ein bisschen zu kalt zum Schwimmen, aber Kathryn Somers tauchte trotzdem in den kühlen See, noch bevor die alte Bridget bemerkt hatte, dass sie fort war. Nicht, dass sie für Bridgets Fürsorglichkeit nicht dankbar gewesen wäre, aber Kathryn war nun schon zwanzig Jahre alt und brauchte weiß Gott keine Kinderfrau mehr. Und Bridget bewachte sie mit Adleraugen.

Die alte Frau, eine entfernte Verwandte, war nicht nur die frühere Amme und Gesellschafterin ihrer Mutter gewesen, sondern auch Kathryns einzige Verbündete gegen die Härte und Einsamkeit der letzten fünfzehn Jahre seit dem Tod ihrer Mutter. Aber Bridget hatte sich in ihrer Sorge um Kathryn zu einem wahren Höllenhund entwickelt. Jetzt versetzten sie schon die wenigen Soldaten König Heinrichs, die ihr Lager auf den Feldern vor der Burg ihres Stiefvaters aufgeschlagen hatten, in helle Aufregung.

Der Mond war als schmale Sichel über den niedrigsten Bäumen zu sehen, und ein diesiger Nebel, der dicht über dem Boden schwebte, ließ den Wald wie ein Feenreich erscheinen. Der See war der perfekte Ort, um allein zu sein und Fluchtpläne zu schmieden. Das war allerdings leichter gesagt als getan. Es entsprach überhaupt nicht ihren Wünschen, König Heinrichs Befehl Folge zu leisten und in London zu erscheinen; dennoch wusste Kathryn, dass sie sich ihm auch nicht offen widersetzen konnte. Ein möglicher Ausweg bestünde aber darin, so zu tun, als ob der Auftrag des Gesandten ihr nie zu Ohren gekommen wäre. Wenn sie also zufälligerweise abwesend sein sollte und die Order des Königs sie offiziell nicht erreichte, dann könnte man sie unmöglich der Nichtachtung königlicher Befehle beschuldigen. Unglücklicherweise war sie sich sicher, dass diese verwünschte Eskorte sie vermutlich in jedem beliebigen Versteck aufspüren würde. Sie hatte den Anführer aus einiger Entfernung gesehen: Er war ein sehr großer, stattlicher Ritter mit dunklem, ungebändigtem Haar, der nicht gerade aussah wie ein Mann, der ihre Weigerung, ihm zu folgen, einfach hinnehmen würde.

Vielleicht wäre es aber möglich, ihm zu entkommen, dachte sie. Zu Pferd war sie so geschickt wie nur irgendein Mann aus der Gegend; und ihre Kunstfertigkeit mit Pfeil und Bogen übertraf die der meisten sogar. Es gab also keinen Grund, warum sie nicht im Wald bleiben und den Soldaten des Königs durchaus wochenlang entgehen könnte. Wenn sie allerdings an den dunkelhaarigen Ritter dachte, musste sie sich eingestehen, dass sie möglicherweise scheitern würde.

Und was war mit ihrem Stiefvater? Wenn er ihr befahl zu gehen und sie sich ihm offen widersetzte … Kathryn schauderte. Sein Vergeltungsschlag würde rascher erfolgen als der des Königs. Es war besser, noch nicht an die möglichen Folgen zu denken.

Kathryn verließ den tieferen Teil des Sees und ging zurück auf das Ufer zu. Im seichten Wasser richtete sie sich auf, löste ihr Haar und ließ die hellblonden Locken frei herunterfallen. Wie sehr sie es liebte, wenn die kalte Luft so wie jetzt über ihren nackten Körper strich. Sie streckte ihre Arme aus, dann über ihren Kopf und genoss das sinnliche Vergnügen, das ihr die kühle Nachtluft bereitete.

Vielleicht würde ihr die Lösung ihres Problems über Nacht einfallen. Noch besser wäre es, wenn Rupert vielleicht von seinen Verpflichtungen in London zurückkehren könnte. Immerhin war es möglich – wenn auch recht unwahrscheinlich, wie sie sich selbst eingestehen musste –, dass er kommen und sie vor dem Schicksal, das ihr König Heinrich zugedacht hatte, retten würde. Als einem von Heinrichs angesehenen Rittern stände es vielleicht in Ruperts Macht, sich für sie einzusetzen.

Ganz entgegen ihrer sonst zuversichtlichen Natur musste Kathryn zugeben, dass bisher nur sehr wenige Angelegenheiten zu ihren Gunsten ausgegangen waren und sie vielleicht nicht auf eine problemlose Rettung hoffen sollte. Sie tat besser daran, auf ihre eigene Eingebung und Unberechenbarkeit zu vertrauen. Unzählige Male hatte sie es geschafft, ihrem Stiefvater und einer Tracht Prügel zu entgehen, indem sie ihn durch ihr unerwartetes Handeln von sich ablenkte und verwirrte.

Sie fragte sich, was der Baron jetzt von ihr erwartete.

Gedankenverloren saß Wolf auf einem umgestürzten Baumstamm am Rande des Waldes und blickte auf den See hinab. Er war überzeugt davon, dass Philip Colston angeordnet hatte, seiner Familie auf ihrem Weg nach Bremen zu Wolfs Mutter Lady Margrethe aufzulauern. Bartholomew, der frühere Earl of Windermere, und sein Sohn John waren vor Wolfs Augen auf grausamste Weise ermordet worden, ebenso fast ihre ganze Gefolgschaft. Von allen Mitreisenden waren nur Wolf und ein junger Knappe namens Hugh Dryden mit dem Leben davongekommen.

Überdies hatte es Philip – im Falle, dass der Überfall fehlschlüge – geschafft, Bartholomew Colston und seinen Sohn John mit einem versuchten Mordanschlag auf König Heinrich IV. in Verbindung zu bringen. Philip hatte sehr gründlich dafür gesorgt, den Namen seines Onkels zu entehren. Hätten Bartholomew Colston und seine Söhne den Angriff überlebt, so wären sie gewiss in England geächtet worden.

Philip und sein ebenfalls verräterischer Vater Clarence hatten keine Ahnung, dass jemand dem Überfall auf dem Festland entkommen war. Soviel sie wussten, waren alle aus Bartholomews Gefolge vernichtet worden. Aber Wolf hatte nicht nur den Überfall überlebt; um ihn zu schützen und ihm den Vorteil der Überraschung zu sichern, wenn er bereit war, zurückzukehren und Philip zu entmachten, war auch seine wahre Identität all die Jahre geheim gehalten worden.

Wolf war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er die Gegenwart einer weiteren Person in seiner Nähe erst nach einer ganzen Weile bemerkte. Als er den Blick in Richtung des nebelverhangenen Sees schweifen ließ, glaubte er, im Mondlicht seinen Augen nicht trauen zu können. Den Tiefen des Sees entstieg eine Jungfrau, genau wie in den Märchen, die er als Kind gehört hatte. Sein Ärger und seine Bitterkeit waren sofort wie weggeblasen.

Die Haut der Maid schimmerte im fahlen Licht, und ihr Haar schien, als sie es löste, wie aus feinster goldener Seide gesponnen. Die Nacht war kühl, und Wolf glaubte fast sehen zu können, wie die Gänsehaut über ihren Körper kroch. Die Spitzen ihrer wohlgeformten Brüste hatten sich jedenfalls schon aufgestellt, und Wolf verlangte es unbändig danach, ihre Haut zu berühren.

Sein Blick glitt an ihr entlang; ihm gefielen ihre schönen Beine, ihre Hüften und die schlanke Taille, während sie aus dem See auf ihn zukam, ohne ihn zu bemerken. Es verschlug ihm fast den Atem, als sie im knöcheltiefen Wasser stehen blieb und sich dehnte, indem sie den Kopf in den Nacken warf und die Hände nach dem Mond ausstreckte.

Ihr Gesicht war ihm abgewandt, aber Wolf konnte es sich leicht vorstellen. Er erhob sich wie in Trance, blieb gebannt von ihr stehen und ließ ihre weichen, sanften Gesichtszüge vor seinem geistigen Auge erscheinen.

Die Elfe entstieg dem Wasser und ging zu ihrem Kleiderbündel, das abseits vom Ufer lag. Sie begann sich abzutrocknen; als die unirdische Schönheit jedoch plötzlich Schritte hinter sich vernahm, riss sie mit einer heftigen Bewegung ihren langen Umhang an sich, warf ihn hastig um und bedeckte sich so gut, wie es ihr unter den gegebenen Umständen möglich war.

„Sir, Ihr verletzt die Regeln des Anstands!“, brach es erschreckt aus Kathryn hervor, als sie ihn sah. Der Mann kam so schnell auf sie zu, dass sie keine Möglichkeit mehr hatte, sich hinunterzubeugen und den in ihren Kleidern versteckten Dolch zu fassen. Sie wollte seine Aufmerksamkeit nicht darauf lenken, dass sie eine Waffe besaß. Es ist besser, höflich zu sein und die Gelegenheit abzuwarten, das Messer ohne Kampf an mich zu bringen, dachte sie.

„Ich zögere, mich zu entschuldigen“, sagte er, noch immer außerstande, ihr Antlitz zu sehen, dank der Kapuze, die sie sich weit ins Gesicht gezogen hatte. „Bis vor einigen Augenblicken ahnte ich nichts von Eurer Gegenwart, aber ich kann nicht leugnen, dass ich den Anblick, den Ihr mir botet, genossen habe.“

„Gänzlich ohne mein Wissen!“

„Euch ist kalt.“

„Was der Mensch nicht alles weiß!“, murmelte sie vor sich hin, als er noch näher kam.

Kathryn wollte sich nicht durch seine Größe einschüchtern lassen. Sie wusste, dass er sie in Blitzesschnelle überwältigen konnte. Wenn ich doch nur an das Messer herankommen könnte, dachte sie. Aber sie wagte es nicht, sich danach zu bücken, aus Angst, dass er sie umstoßen würde und sie ihm dann schutzlos ausgeliefert wäre.

Sie musste fort von hier, doch der dunkelhaarige Mann hatte offensichtlich nicht die Absicht, sie gehen zu lassen. Vielleicht sollte sie versuchen, einfach davonzulaufen. Sie war schnell und kannte die Waldwege gut. Ein Mann von seiner Größe würde möglicherweise langsam sein; aber was, wenn sie sich irrte? Wenn er sie einholte? Und das Cottage entdeckte, ihren einzigen Zufluchtsort im Wald? Sie könnte keinesfalls den ganzen Weg zur Burg nur mit ihrem Umhang bekleidet zurücklaufen. Die Gefolgsleute ihres Stiefvaters würden sicherlich …

„Wo wohnt Ihr?“ Seine Stimme klang sanft. „Es ist hier draußen nicht sicher für eine Dame, so allein. Meine Männer lagern in der Nähe. Und ich würde meine Hand nicht für ihre Anständigkeit ins Feuer legen, wenn sie in der Dunkelheit allein auf ein junges Mädchen träfen.“

Gütiger Gott, er war ein Edelmann. Kathryn seufzte vor Erleichterung und schickte ein stummes Dankgebet zum Himmel. Die Ritterlichkeit gebot es ihm, ihr die gebührende Ehrerbietung zu erweisen. „Habt Dank für Eure Bemühungen, Sir“, sagte sie beruhigt. Eine Änderung der Vorgehensweise war vonnöten. Wenn sie sich honigsüßer Worte bediente, so wie es ihre Stiefschwestern immer taten, dann konnte sie ihn vielleicht dazu bringen, sich zu entfernen. „Ich werde nur rasch meine Sachen zusammensuchen und mich auf den Weg machen …“

„Wo ist Euer Zuhause?“

„Nicht weit.“ Sie ließ ihre Stimme so süß klingen, wie sie nur irgend konnte.

„Ich kann es Euch nicht erlauben, unbegleitet zu gehen. Gefahren lauern in der Nacht, Mistress.“

Kathryn wollte den Mann vor Wut anschreien, hielt jedoch ihr Temperament im Zaum. „Bitte, Sir, wenn Ihr mir erlaubt, meine Kleider zu nehmen, dann dürft Ihr mich zu meinem Haus geleiten“, sagte sie schmeichelnd.

Ritterlichkeit schön und gut, doch wer konnte voraussehen, wie ein Fremder sich verhalten würde? Sogar Lord Somers, ihr eigener Stiefvater, war ihr gegenüber gemein und brutal. Kathryn hätte beinahe laut aufgestöhnt, als der Ritter sich bückte und alle ihre Habseligkeiten auf einmal aufhob. Nun würde sie den Dolch nie in die Hände bekommen. Vermutlich wäre es ihr auch nicht möglich, ihm davonzulaufen, schon gar nicht ohne ihre Schuhe. Nein, sie konnte sehen, dass er sich für einen Mann seiner Größe sehr gewandt bewegte.

„Ihr verwirrt mich“, sagte er.

„Oh?“ Kathryn wandte sich ab und versuchte, auf dem Weg zur Hütte ihre Ruhe wiederzufinden.

„Als ich Euch zuerst erblickte, dachte ich, Ihr wärt eine der sagenumwobenen Nymphen.“ Schwang ein Anflug von Belustigung in seiner Stimme mit? „Jetzt vermute ich eher, dass Ihr aus Fleisch und Blut seid. Dennoch zeigt Ihr wenig Furcht vor mir. Warum?“

Wenn er wüsste, dass sie gerade nach einer Möglichkeit suchte, an ihr Messer zu gelangen, um ihm die Klinge zwischen die Rippen zu stoßen. „Natürlich bin ich vorsichtig, Sir. Ich erkenne nur zu gut, wie schutzlos ich bin. Es bereitet mir Unbehagen, auf Euer Gespür für Anstand und Ritterlichkeit angewiesen zu sein. Ich hoffe bei Gott, dass Ihr mir nichts anzutun gedenkt.“ Wenn ihre Stiefschwestern sie jetzt sehen könnten, würden sie sich vor Lachen biegen.

Das Cottage war schon fast in Sicht, doch für den Recken in der finsteren Nacht vermutlich schwer zu erkennen, da es von einem Dickicht aus Bäumen umgeben war. Ihre Stiefmutter hatte es angeblich für die Familie bauen lassen, doch Kathryn wusste, dass sie es zu anderen Zwecken nutzte. Glücklicherweise war Lady Edith heute Nacht nicht mit einem ihrer Liebhaber dort. Es könnte Kathryn also gelingen, hineinzuschlüpfen, die Tür zu verriegeln und im Warmen zu warten, bis der Ritter draußen endlich verschwunden war.

„Hier sind wir, Sir.“ Kathryn hielt an und drehte sich ihrem Begleiter zu, um ihn aus seinen Pflichten zu entlassen, aber der Mann schien den Fingerzeig nicht zu verstehen. „Meine … meine Mutter erwartet mich“, log sie.

Er kam auf sie zu; und obwohl Kathryn sein Gesicht in der Dunkelheit nicht richtig erkennen konnte, spürte sie, dass er sie aufmerksam ansah. Sie fühlte sich höchst unbehaglich dabei, so genau betrachtet zu werden, ausgerechnet von dem Menschen, der sie gerade beim Baden beobachtet hatte. Es war ausgesprochen unziemlich.

„S…sie ist krank, wisst Ihr … und … nun, sie wird sich große Sorgen machen, wenn …“

„Wer seid Ihr?“ Seine Stimme war sanft wie eine zärtliche Berührung. Er kam dichter heran. Seine Nähe war berauschend. Kathryns Mund wurde trocken. Obwohl der Ritter groß war, hatte sie plötzlich keine Angst mehr vor ihm. Eine ihr fremde Neugier erfüllte sie, als sie sich eingestand, dass noch nie zuvor ein Mann sie auf diese Weise beeindruckt hatte, wie er es tat. „Ich … ähm …“

Noch bevor sie antworten konnte, ließ er ihre Kleider fallen, die er getragen hatte, und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. Sein Mund streifte den ihren leicht, eine sanfte Liebkosung der Lippen, die sie erschauern ließ. Er seufzte, als sein Mund ihren wieder berührte, zärtlich zunächst, dann immer fordernder, bis seine Lippen schließlich ihre bedeckten und sie in einen Zustand der Atemlosigkeit und Verwirrung versetzten. Seine Hände glitten unter ihren Umhang bis zu ihren Schultern, dann ihren nackten Rücken hinunter und noch tiefer, bis sie ihre wohlgeformten Rundungen erreichten. Er zog sie fest an sich. Sie spürte seinen harten, bekleideten Körper an ihrer nackten Haut, und eine Welle der Lust durchströmte ihren Schoß. Noch nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches erlebt. Nicht einmal Rupert hatte jemals …

Kathryn entwand sich ihm erschrocken. „Bitte nicht!“

„Wer seid Ihr?“

„Lasst mich gehen!“

„Mein Name ist Wolf.“ Sein heißer Atem drohte ihr Ohr zu versengen, und seine Lippen streiften wieder die ihren.

Kathryn versuchte sich loszumachen. Niemand hatte sie jemals auf diese Weise geküsst; sie fühlte sich im Innersten aufgewühlt.

„Wer seid Ihr?“, wiederholte er.

„Niemand! Lasst mich gehen!“ Mit diesen Worten riss sie sich los und rannte zur Hütte. Als sie drinnen war, schob sie den schweren Riegel vor die Tür und lehnte sich gegen die raue Wand, bis sich ihr Atem beruhigte und ihr Herz aufhörte, wie wild zu schlagen.

Wolf wusste nur zu gut, dass sie nicht mit ihm zusammen gesehen werden wollte, aber er wollte gerne alles riskieren, nur um sie wieder berühren zu dürfen. Sie war so anders als alle, die er bisher kennengelernt hatte. Schön, verführerisch, faszinierend. Er war von seiner eigenen Reaktion auf sie überrascht, und nur ein kleiner Vorgeschmack auf diese überirdische Schönheit reichte ihm nicht aus. Er begehrte sie so, wie er noch nie zuvor eine Frau begehrt hatte.

Aber die bittere Wahrheit war, dass er es nicht wagen konnte, den hier ansässigen Adel zu brüskieren, während er in des Königs Auftrag reiste. Er musste also dieses Mädchen, diese bezaubernde Unbekannte, fürs Erste aus seinen Gedanken verbannen.

Schließlich wandte Wolf sich um und ging in Richtung des Lagers in den dichten Wald zurück. Er war ein geduldiger Mann. Wenn alles in Windermere erledigt war, würde er wiederkommen und sie suchen.

Kathryn konnte die ganze Nacht kein Auge zutun. Sie saß im Dunkeln in eine Decke gehüllt und zitterte immer noch, obgleich dies nicht an mangelnder Wärme liegen konnte. Es wäre trotzdem schön gewesen, nach draußen zu gehen, um ihre Kleider zu holen; aber sie fürchtete, dass er dort noch auf sie warten könnte.

„Wolf.“ Das passt zu ihm, dachte sie bei sich. Er war zweifelsohne stark genug, um ein ganzes Rudel Wölfe anzuführen; und obwohl er zu ihr äußerst zärtlich gewesen war, ahnte sie, dass er bei aller Freundlichkeit seinen Willen sehr wohl durchzusetzen wusste. Im Mondlicht hatte sie die wilde dunkle Mähne und seine hellgrauen Augen sehen können, die in der Nacht fast zu glühen schienen.

Sie musste einen Weg finden, König Heinrichs Schar am Morgen zu entgehen, aber alles, woran sie jetzt denken konnte, war Wolf. Seine Lippen, die Art, wie seine Zunge ihren Mund erforscht hatte, wie seine Hände ihre Schultern berührt hatten, ihren Rücken hinunter, bis hin zu …

Rupert hatte sie noch nie geküsst. Vor über drei Jahren war er mit König Heinrich fortgegangen, ohne sich wenigstens anstandshalber mit ihr zu verloben, hatte aber versprochen, nach der Rückeroberung der französischen Herrschaftsgebiete zurückzukehren. Doch hier saß sie nun, eine ganze Ewigkeit nach dem Fall der Normandie, und Rupert war noch nicht erschienen. Wie lange wollte er noch auf sich warten lassen?

Kathryn vermeinte geradezu fühlen zu können, wie sie Tag für Tag älter wurde. Ihre Stiefschwester Margery sollte bald verlobt werden, und auch für Eleanor hatte man in nächster Zukunft ähnliche Pläne. Kathryn sehnte sich danach, mit Rupert fortzugehen, seine Frau zu werden und die Herrin seines Hauses. Und jetzt verzehrte sie sich auch noch nach etwas anderem.

Solche Gefühle, wie sie der Ritter in ihr entfacht hatte, waren sicher sündhaft. Allein der Gedanke an die Geschehnisse ließ die warme, pulsierende Welle wieder in ihrem Inneren aufbranden; und sie schämte sich bei der Erinnerung an Wolfs Berührungen. Ruperts Berührungen, meinte sie natürlich. Mit Rupert wird es genauso sein, sagte sie sich, besser noch, wenn ich erst seine Frau bin.

Kurz vor Sonnenaufgang kletterte Kathryn aus dem kleinen Fenster auf der anderen Seite des Cottages. Sie schlich vorsichtig um die Ecke und bemühte sich, im Licht der Dämmerung zu erkennen, ob noch jemand im Dunkeln lauerte. Da Wolf fort war, raffte sie ihre Kleider zusammen und lief schnell hinter das Häuschen zurück, wo sie sich sicherer fühlte. Hastig kleidete sie sich an und eilte zurück zur Feste ihres Stiefvaters.

Obwohl Somerton Castle groß war, wusste Kathryn, dass niemand ihr Glauben schenken würde, wenn sie behauptete, die ganze Nacht innerhalb der Burgmauern verbracht zu haben. Nicht, dass es ihren Stiefvater kümmern würde, wo sie sich nächtens aufhielt – das Einzige, was für ihn zählte, war die Tatsache, dass sie ihm reibungslos den Haushalt führte und als Sündenbock herhalten konnte, falls dies nicht der Fall war. Dennoch würde ihre Abwesenheit ihm den gewünschten Anlass geben, ihr eine Tracht Prügel zu verabreichen, was eine seiner Lieblingsbeschäftigungen zu sein schien. Und Bridget hatte gewiss schon jede Kammer nach ihr abgesucht. Kathryn beschlich ganz plötzlich das schlechte Gewissen, weil sie der alten Frau Kummer und Sorgen bereitet hatte. Bridget war in letzter Zeit nicht bei bester Gesundheit gewesen, ohne dass Kathryn wirklich zu sagen wusste, was ihr fehlte.

Sie rannte über den Hof zu den Stallungen. Dort gab es genügend Schlafmöglichkeiten; und es war auch nicht das erste Mal, dass Kathryn die Nacht hier bei den Pferden verbrachte.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Kathryn von einer lauten Stimme auf dem Hof geweckt wurde. Das war ohne Zweifel der Gesandte König Heinrichs, und sie hatte nicht einmal die Spur eines Plans. Das Herz klopfte ihr plötzlich bis zum Hals, als sie die verärgert donnernde Stimme erkannte. Es war Wolf, der Ritter vom See. „Erklärt Euch, Somers!“, verlangte er. „Wo ist sie?“ Jetzt liegt keine Sanftheit mehr in seinen Worten, dachte sie, obwohl sie letzte Nacht noch wie eine zärtliche Berührung auf mich gewirkt haben.

Durch die angelehnte Stalltür sah sie ihren Stiefvater auf den Hof schwanken. Kathryn schaute auf zur Sonne, um die Zeit zu schätzen. Obwohl es noch nicht ganz Mittag war, hatte Somers schon zu viel getrunken. Seine Kleidung war zerknittert und besudelt, und die Bartstoppeln der letzten Nacht standen ihm noch im Gesicht. Sein Antlitz hatte diesen gemeinen Ausdruck angenommen, den Kathryn nur zu gut kannte. Er konnte kaum aufrecht stehen. Kein Wunder, dass der Ritter ungeduldig wurde. Vermutlich hatte er seit seiner Ankunft keine einzige zusammenhängende Antwort von Somers bekommen.

„Ich sage Euch doch, sie war hier. Und ich werde dieses schwachköpfige Balg auch auftreiben.“ Der Baron kniff die Augen zusammen, und Kathryn erkannte die Anzeichen trunkener Rachsucht. In diesem Zustand wollte sie ihm nicht über den Weg laufen.

„Ich werde in einer Stunde zurück sein“, sagte der Ritter, der dem Baron in Bezug auf seine Wut in nichts nachstand. „Dann werde ich die junge Kathryn abholen und sofort danach aufbrechen. Entweder Ihr sorgt dafür, dass sie dann hier bereitsteht, oder Ihr bekommt des Königs Zorn zu spüren.“

Wolf drehte sich um und entfernte sich mit einer Eleganz, die im krassen Gegensatz zu seiner kräftigen Statur stand. Kathryn hatte die Gelegenheit, sein Gesicht und seinen Körperbau kurz zu betrachten. Seine Züge waren markant und insgesamt nur allzu gefällig. Selbst eine schmale Narbe, die sich von der rechten oberen Hälfte seiner Stirn bis hin zur linken Wange erstreckte, konnte seine starke Anziehungskraft nicht mindern. Seine kühlen grauen Augen lagen unter dichten schwarzen Brauen, die in ihrer Beschaffenheit und Farbe genau zu seiner ungezähmten Mähne passten.

Kathryn beobachtete, wie sich der Mann voll Zorn durch sein dunkles Haar fuhr, und wusste, dass sie schnell handeln musste. Sie würde sich weder von den Männern ihres Stiefvaters einfangen lassen, noch gegenüber diesem Wolf und seinen Leuten irgendeine Schwäche zeigen. Sie wollte sich verstecken und auf Rupert warten. Erst nachdem er seinen Anspruch auf sie geltend gemacht hatte, erst dann würde sie geruhen, dem Wunsch des Königs zu entsprechen und nach London zu reisen. Denn wenn sie Baron Somers’ Besitzungen jetzt verließe, wie würde Rupert sie dann jemals finden können? Sicherlich war er schon auf dem Weg nach Norden, um sie zu holen.

Auf der hofabgewandten Seite schlüpfte Kathryn mit der alten Myra am Zügel aus den Stallungen, einem Pferd, das ihr Stiefvater erst kürzlich von einem benachbarten Gut erworben hatte. Kathryn hoffte, dass die alte Myra mit ein bisschen Überredung die etwa sechzehn Meilen von Somerton in östlicher Richtung nach Hause laufen würde und dass Baron Somers’ Männer der Spur des Pferdes folgten. Kathryn hatte natürlich nicht vor, die Mähre zu deren früherem Heimatort zu begleiten.

Unbemerkt schlich sie sich zu der kleinen Ausfallpforte in der Burgmauer, nahm den großen Schlüssel aus dem Versteck und öffnete die Tür. Anschließend führte sie das Pferd den Hang hinab bis zu den Deckung bietenden Bäumen, richtete es nach Osten aus und gab ihm einen kräftigen Schlag auf das Hinterteil. Die alte Myra stob wie von der Hornisse gestochen davon, dasselbe tat auch Kathryn, nur in entgegengesetzter Richtung.

Als sie sich dem Dorf näherte, blieb sie kurz stehen, um eine Hand voll Erde aufzuheben und sich damit Arme und Gesicht zu beschmieren. Falls einer der Männer des Barons zufällig vorbeireiten sollte, war sie sicher, für eine Dorfbewohnerin gehalten zu werden. Mit einem Seufzer und einem Stoßgebet durchquerte Kathryn schnell den Wald, in der Hoffnung, dass Myra die Leute ihres Stiefvaters auf die falsche Fährte locken würde.

Unglücklicherweise hatte Kathryn die Rechnung ohne die alte Mähre gemacht. Nachdem diese nämlich in Richtung ihres früheren Zuhauses losgeprescht war, stieß sie auf ein Hindernis: Ein Bächlein war durch die Frühlingsschauer so angeschwollen, dass der Gaul ganz entgegen Kathryns ursprünglichen Plänen umkehrte und in Richtung Somerton Castle zurücktrabte.

Ohne die Irreführung durch Myras Spur konnten die Gefolgsleute des Barons Kathryn mühelos und rasch finden und ergreifen. Sie hatte sich für so schlau gehalten, als sie nach Somerton aufbrach, und nicht für einen Augenblick daran gedacht, dass Somers’ Männer dort zuerst hinreiten würden. Warum hatten sie sich nicht von Myra auf die falsche Fährte führen lassen? Warum war es ihr nicht in den Sinn gekommen, auf einen Baum zu klettern und dort abzuwarten? In den Ästen, die ihr so vertraut waren, hätten sie nie nach ihr gesucht.

Kathryn war ratlos, aber nur für einen kurzen Augenblick. Es ist noch ein weiter Weg nach London, dachte sie bei sich, während sie unsanft zur Burg geschleift wurde. Viel konnte noch passieren, bevor sie die Stadt erreichte; und sie schwor sich, einen Plan auszuhecken, der es ihr ermöglichen würde, Rupert zu treffen.

„Ach, mein Kind, mein kleines Mädchen“, wehklagte Bridget, als Kathryn in den Burghof gestoßen wurde. Die Männer des Barons waren unnötig grob zu ihr. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht, ich wusste ja nicht …“

„Schweig, Frau!“, herrschte Lady Edith sie zornig an. Diese Angelegenheit mit ihrer Stieftochter hatte ihr Leben schon genug durcheinandergebracht, auch ohne sich ständig das Gejammer der verwirrten Alten anhören zu müssen. Sie wandte sich Kathryn zu. „Ich sehe, dass du dich deinem Stand entsprechend herausgeputzt hast.“

Margery und Eleanor kicherten hinter vorgehaltener Hand.

Kathryn schluckte. Sie wusste, dass sie in einem abscheulichen Zustand war, weigerte sich aber dennoch, ihr jetziges Aussehen wesentlich zu verbessern, nur um Lady Edith oder irgendjemandem sonst einen Gefallen zu tun. Sie machte ihren Rücken gerade und richtete sich würdevoll auf. Ihr Stolz und ihr Sinn für Humor waren die einzigen beiden Besitztümer, die man ihr nicht hatte nehmen können. Sie machte sich selber Mut, indem sie an Rupert dachte und wie er kommen und sie von hier fortbringen würde. Hätte ihr richtiger Vater noch gelebt, dann hätte er sie beschützt, für sie gesorgt …

„Wo ist die kleine Missgeburt?“, lallte Baron Somers beim Betreten des Hofes. Als er um die Ecke bog und Kathryn erblickte, trat ein grausames Funkeln in seine Augen. Seine Gefolgsleute erkannten die Gemütsverfassung ihres Herrn sofort und machten keine Anstalten, Kathryn beizustehen oder sie zu beschützen.

Für Kathryn kam es nicht infrage, sich zu ducken, selbst als Baron Somers ausholte und ihr mit dem Handrücken ins Gesicht schlug. Der Hieb ließ ihre Unterlippe aufplatzen und sie zu Boden gehen; dennoch stand sie sofort wieder auf und lief davon. Es brachte sie an den Rand der Verzweiflung, das brutale Gelächter hinter sich zu hören, dann die ihr folgenden Schritte, die langsam, aber sicher näher kamen. Sie würden mit ihr spielen wie die Katze mit ihrer Beute. Es war kein neues Spiel, sie durch den Hof zu jagen, müde werden zu lassen und schließlich vor den Baron zu zerren, damit der jegliche Grausamkeit, die ihm in den Sinn kam, an ihr auslassen konnte.

Dieses Mal schlug der Baron ihr nur ein blaues Auge, dennoch wurde sie von dem Hieb ohnmächtig. Jemand schleppte sie in ihre Kammer und schloss sie ein. Es dauerte noch eine ganze Weile, bevor Kathryn wieder zu Bewusstsein kam.

„Ach, mein Liebes“, flüsterte Bridget beruhigend, während ihr Tränen über das Gesicht flossen. „Was hat er dir diesmal wieder angetan? Wenn meine Meghan noch leben würde, könnte nichts von alledem geschehen.“

Kathryn öffnete ihr rechtes Auge, das unverletzte, nicht angeschwollene, und sah Bridgets schmales Gesicht über sich. „Was ist passiert?“, flüsterte sie. Es tat weh, die Lippen zu bewegen; und als sie ihre Finger zum Mund führte, wusste sie auch, warum. Dunkles Blut sickerte immer noch aus der Wunde, die Somers ihr beigebracht hatte.

„Du musst mit den Männern des Königs gehen“, sagte die alte Amme. „Wenigstens wirst du deinem Stiefvater, diesem Satan, entkommen. Du wirst endlich sicher sein vor seiner teuflischen Brutalität.“

„Aber Rupert …“

„Rupert wird nicht mehr kommen, weißt du das nicht? Kannst du das nicht endlich begreifen?“, wandte Bridget müde und verzweifelt ein. Sie hatte immer und immer wieder versucht, die Tochter ihrer geliebten Meghan zu überzeugen. „Natürlich habe ich den Jungen gern, aber da er sich bis heute nicht erklärt hat, wird er es nun gewiss nicht mehr tun. Es ist also unsinnig von dir, noch länger auf ihn zu warten. Immerhin hat er seit drei Jahren nichts von sich hören lassen. Die einzige Art, wie wir etwas von ihm erfahren haben, war doch durch die wenigen Reisenden, die …“

„Ach, Bridget, hör auf, mein Kopf tut mir zu weh.“ Sie wollte nicht darüber nachdenken, dass Rupert vielleicht nicht zu ihr zurückkehren würde. Und auch nicht darüber, dass der große Ritter käme, um sie mit sich fortzunehmen.

„Diesmal hat er dich wirklich gut erwischt. Komm, Mädchen. Du musst Vertrauen haben zu unserem Monarchen. Der Sohn unseres ehemaligen Königs Henry Bolingbroke kann dir nichts Böses wollen. Der Vater war gerecht, und du hast ebenso gut wie ich gehört, dass auch der Sohn ein ehrenhafter Mann sein soll.“

Bridget half Meghans Tochter beim Aufstehen.

Kathryn sah die alte Frau von der Seite an. Ihre Schlussfolgerungen waren einleuchtend. Dennoch schlug ihr das Herz bis zum Hals, als sie hörte, wie Reiter sich der Burg näherten.

Wolfram duckte sich, um durch den Türeingang zu passen und die Halle von Somerton Castle betreten zu können. Ein einladendes Feuer brannte im Kamin; und Wolf sah den Baron in der Nähe in einem großen geschnitzten Lehnstuhl sitzen und aus einem silbernen Pokal trinken. Vier Kumpane lungerten herum und zechten ebenfalls. Keiner von ihnen erhob sich, um dem königlichen Gesandten den nötigen Respekt zu zollen.

„Tretet nur ein, Sir Wolfram“, sagte Lady Edith und geleitete den Ritter und drei seiner Leute zu der Gruppe.

„Ich vermute, Ihr habt Eure Stieftochter gefunden.“

„Sie ist bei ihrer Amme und will nicht zu uns kommen.“ Die Aussprache des Barons war noch viel undeutlicher als am Morgen.

„Dann schlage ich vor, dass Ihr sie holt.“Wolf hatte kein Verlangen danach, ein weinendes Mädchen aus den Armen seiner Amme zu reißen. Es wäre wesentlich besser, wenn die Stiefeltern sie in die Halle brächten.

Baron Somers schaute, ob seine Frau ihm beistehen würde, doch sie zog sich unter Protest zurück. „Diese undankbare kleine Hexe – sie will mir einfach nicht gehorchen“, beteuerte Lady Edith. „Hat sie niemals. Ich werde bestimmt nicht zu ihr gehen.“

„Bezweifle, dass sie mit mir kommen wird …“, bemerkte der Baron mit einem Grinsen.

Wolf war am Ende mit seiner Geduld. Er hatte genug davon, sich ständig im Kreis zu drehen. Beim Allmächtigen, wenn diese Leute das Mädchen nicht holen wollten, würde er es eben selber tun, ohne Rücksicht auf Verluste. Er wandte sich in Richtung des Palas. „Welche Kammer?“, rief er ärgerlich über die Schulter zurück. Verdammt, einer von ihnen sollte mir besser bald eine Antwort geben, dachte er.

„Dritte von rechts“, kam die mundfaule Antwort des Barons. „Aber Ihr braucht vielleicht …“ Wolf war schon den Gang entlanggestürmt. „… den Schlüssel.“

Die vermaledeite Tür war abgeschlossen! Er sollte verflucht sein, wenn er zurückgehen und diesen Trunkenbold dort in der Halle noch um irgendetwas bitten würde. Mit der Schulter rammte er die massive Holztür, bis sie sich krachend öffnete.

Wolf ließ den Blick durch den Raum schweifen, aber alles, was er sehen konnte, war eine in der Ecke kauernde dürre alte Frau und ein dreckverschmierter Knabe mit aufgesprungener, blutiger Lippe. Hier war kein Mädchen. Der elende Baron hatte ihn belogen! Mit diesem Schwachsinnigen musste er noch ein Wörtchen reden!

„Wo ist sie?“, donnerte er los.

Der übel zugerichtete Junge bewegte sich auf Wolf zu. Seine abgenutzte braune Kappe, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte, verdeckte sein Haar. Wolf bemerkte, dass ein unverletztes Auge eine ungewöhnlich schöne moosgrüne Farbe hatte, von dichten dunkelbraunen Wimpern umrahmt war und in Tränen zu schwimmen schien. Der Bursche blinzelte mehrmals, um wieder klar sehen zu können, wobei Wolfram nicht entging, wie er vor Schmerz leicht zusammenzuckte.

„Ich bin Kathryn.“

Wolf schaute sich im Raum um und war sicher, sich verhört zu haben. Er hätte schwören können, dass es dieser Knabe gewesen war, der gesagt hatte, er sei Kathryn.

„Es ist wahr, Sir“, sagte die Alte mit schwacher Stimme. „Das ist sie. Ich habe ihre Sachen in diese zwei Satteltaschen gepackt.“

„Ihr?“ Wolfram war verblüfft. Der König hatte ihm nicht genau gesagt, was ihn bei seiner Ankunft erwarten würde, doch dies hätte er nicht vermutet. Ein niedliches kleines Mädchen, vielleicht; aber so etwas? Nicht so ein schmutziges, zerschundenes Balg.

Noch einmal schaute er sich im Raum um. Es gab keine Möbel, nur eine mit Stroh gefüllte Matratze in einer Ecke des Raumes. Doch saubere Binsenmatten lagen auf dem Boden und verströmten einen würzigen Duft. Frische Blumen standen in einem großen Tonkrug im Fenster, und ein Holzkreuz hing an der Wand über der Schlafstelle. Er fragte sich, ob dieser junge … Mensch für den freundlichen Eindruck verantwortlich war, den die Große Halle machte. Wolf hielt das für wahrscheinlich, denn in dieser Burg erschien ihm niemand sonst dazu fähig zu sein. Auch in dieser kärglichen Umgebung hatte die junge Kathryn es fertig gebracht, sich einen heimeligen Zufluchtsort in einer sonst recht feindlichen Umwelt zu schaffen.

Langsam bekam er eine vage Vorstellung von der unglücklichen Lage der jungen Frau und stellte fest, dass er nicht übel Lust hätte, ihren Stiefvater dafür büßen zu lassen. Wenn der widerliche Trunkenbold sie nicht um sich haben wollte, warum, in drei Teufels Namen, verheiratete er sie dann nicht?

„Ich habe nur eine Bitte, Sir“, sagte Kathryn. Sie hob stolz das Kinn, und es fiel ihr offensichtlich schwer, ihn um einen Gefallen zu bitten. „Dass meine alte Kinderfrau uns begleiten darf. Sie ist seit dem Tod meiner Mutter ständig bei mir gewesen und …“

„Wie Ihr wünscht“, unterbrach er sie. Er wollte Somerton Castle so schnell wie möglich verlassen, selbst wenn er deshalb eine zusätzliche Belastung in Kauf nehmen musste. „Pack deine Sachen, Frau. Du hast nicht viel Zeit.“

„Geduld, Herr Ritter“, sagte das Mädchen, wobei es ihm in die Augen schaute. „Auf ein paar Augenblicke mehr oder weniger wird es nicht ankommen.“

Er ließ die beiden keinen Moment allein. Denn sollte der Baron das Mädchen noch mehr misshandeln, würde sich ihre Abreise auf unabsehbare Zeit verzögern. Außerdem wollte Wolf ihr keine Möglichkeit geben, wieder zu verschwinden. Ihrem zerlumpten, aber entschlossenen Aussehen nach zu urteilen, könnte sie den Mut aufbringen, noch einen weiteren Fluchtversuch zu unternehmen. Er war sich nicht mehr im Klaren darüber, ob es der Baron war, der sich weigerte, des Königs Aufforderung Folge zu leisten, oder sie, doch er wollte kein Risiko eingehen. Er würde sie nach London schaffen – und wenn er sie auf ihrem Pferd festbinden müsste.

Es stellte sich heraus, dass Baron Somers nicht gewillt war, ein Pferd für Kathryn bereitzustellen. Da Wolf ihn auf keinen Fall bitten wollte und sowieso beabsichtigt hatte, die kleine Kathryn vor sich auf seinem Hengst reiten zu lassen, kehrte er nun zu seinem ursprünglichen Plan zurück. Sie war ein wenig älter, als er vermutet hatte, aber sein Streitross Janus würde sie beide ohne Schwierigkeiten tragen können. Nach einer ganzen Weile war auch die alte Bridget auf einem Packpferd zu sitzen gekommen und bildete mit zwei sie begleitenden Rittern aus Wolfs Gruppe die Nachhut.

„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was der König mit so einem nutzlosen, dreckigen Straßenbalg will“, bemerkte Lady Edith laut genug, dass Kathryn es hören konnte.

Wolf fühlte, wie der Körper des Mädchens sich anspannte, dennoch antwortete es nicht auf die bewusst unfreundliche Äußerung der Stiefmutter.

Baron Somers kam polternd aus der Halle in das helle Sonnenlicht und lehnte sich an den Türpfosten neben seine Frau. Er zuckte die Schultern, blinzelte in die Sonne und beobachtete die Abreise der königlichen Gesandten.

„Ich will sie wiederhaben!“, rief er.

Kathryn hörte Wolf ärgerlich brummen, was aber augenscheinlich nicht für die Ohren des Barons bestimmt war.

„Habt Ihr gehört?“, brüllte Somers. „Wenn der König mit ihr fertig ist, dann will ich sie wiederhaben! Brauche das Balg, um mir den Haushalt zu führen.“

Es war schon Nachmittag, als sie endlich Somerton verließen. Wolf hoffte nur, dass er nicht derjenige sein würde, der Lady Kathryn zu Baron Somers zurückbringen musste, nachdem König Heinrich seine Angelegenheiten mit ihr geregelt hatte.

2. KAPITEL

Ihr könntet jetzt Euren Griff lockern, Herr Ritter“, stieß Kathryn wütend hervor. „Der Rücken Eures Rosses ist so breit wie ein Lastkahn. Es ist mir unbegreiflich, wie Ihr glauben könnt, dass ich hinunterfalle.“

Kathryn war noch nie so eng zwischen den Schenkeln eines Mannes eingekeilt gewesen. Es war ein sehr verwirrendes Erlebnis für sie. Doch sie fühlte sich so zerschunden und ermattet von der langen durchwachten Nacht im Cottage, dass sie sich mit dem Rücken gegen Wolfs Brust lehnte. Er lockerte seinen Griff unwesentlich und äußerte seinen Unmut durch ein Murren. Sie wusste, dass sie vor ihm auf der Hut sein musste. Immerhin war auch er nur ein Mann, und sie hatte schon mehr als genug Erfahrungen mit den Männern aus Baron Somers’ Gefolge gemacht. Schließlich war es Wolf gewesen, der ihre Lage letzte Nacht ausgenutzt hatte.

Es war allerdings sehr beruhigend, dass er sie nicht als Nymphe vom See erkannte. Sie beschloss, dass es sowohl leichter als auch schlauer wäre, ihre Tarnung bis London aufrechtzuerhalten. Sie war sich der Tatsache bewusst, welchen Vorteil es hatte, ein schmutziges, unscheinbares Balg zu sein, im Gegensatz zu einer sauberen, gepflegten Dame. Dies hatte sie bei ihrem Stiefvater und seinen Gefolgsleuten an einem regnerischen Nachmittag vor einigen Jahren gelernt. Zufällig war Lady Edith dazugekommen und hatte so das Schlimmste verhindert. Kathryn überstand den Zwischenfall unbeschadet und um eine Erfahrung reicher.

Nur ungern gab sie zu, dass es ihr keineswegs unangenehm war, wie die starken Arme des Ritters sie nun umfassten, selbst wenn er sie etwas zu fest hielt. Sie hätte fast glauben mögen, dass er sie ein wenig beschützen wollte – und das hatte noch niemand zuvor getan. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich vorzustellen, dass sich jemand um sie sorgte.

Während sie so dahinritten, fragte sie sich, was König Heinrich bloß von ihr, einer Vollwaise, wollte. Er war so beschäftigt gewesen, die Franzosen zu schlagen und eine französische Frau für sich zu gewinnen, dass sie sich nicht erklären konnte, wie er von ihrer Existenz wissen, geschweige denn die Zeit oder Neigung haben konnte, an sie zu denken.

Über ihre eigene Herkunft wusste Kathryn nur, dass ihr richtiger Vater vor ihrer Geburt gestorben war. Ihre Mutter war Meghan, die Tochter von Trevor Russell, dem vormaligen Earl of Meath aus Irland. Wie ihre Mutter jedoch dazu gekommen war, Lord Somers zu heiraten, entzog sich Kathryns Wissen. Aber irgendwie war es geschehen, und so hatte sie Somers zum Stiefvater bekommen. Obwohl sie aus der Zeit vor dem Tod ihrer Mutter nur sehr verschwommene Erinnerungen an ihn hatte, war er ihr damals noch nicht so verwahrlost und grausam vorgekommen. Tatsächlich hatte der Baron erst nach seiner Eheschließung mit Lady Edith und der Geburt seiner eigenen Töchter zu trinken begonnen. Mit der Zeit hatten sich dann Kathryns Lebensumstände immer weiter verschlechtert.

Wenn sie ihr bisheriges Leben zurückverfolgte, konnte Kathryn beim besten Willen nicht begreifen, warum der König sie nach London bringen ließ. Bridget hingegen schien ausgesprochen sicher zu sein, dass es für Kathryn das Beste wäre, Heinrichs Befehl zu folgen. Die alte Amme wünschte sich nichts sehnlicher als ein besseres Leben für ihren jungen Schützling.

Kathryn hatte schon seit Jahren in keinen Spiegel mehr geschaut, war aber überzeugt davon, dass sie kein hübsches Gesicht besaß. Edith und ihre Töchter machten keinen Hehl daraus, was sie von all den Schönheitsfehlern der armen Kathryn hielten, angefangen von dem Grübchen im „zu breiten“ Kinn bis hin zu ihrem Haar, das „farblos“ war „wie das Heu auf den Feldern“ und schier nicht zu bändigen. Die anderen Familienmitglieder überragten Kathryn um Haupteslänge und gaben sich keine Mühe zu verbergen, dass sie Kathryns zierliche Statur als Makel empfanden. Ihre Augen waren zu grün, und ihre Haut war zu bleich. Dank ihrer Stiefmutter und den Stiefschwestern wusste sie, dass nichts an ihr so war, wie es sein sollte. Kein Wunder also, dass Rupert noch nicht um sie gefreit hatte. Aber er wird bald kommen, versuchte sie sich selbst Mut zu machen. Ganz bestimmt.

So unscheinbar sie auch war, die Bediensteten mochten sie und führten ihre Anordnungen gerne aus. Mit den Jahren gewöhnte Kathryn sich daran, den Haushalt zu leiten, da ihre Stiefmutter mit anderen Dingen beschäftigt war. Sie hatte ein gutes Erinnerungsvermögen und ein noch besseres Gedächtnis für Zahlen, was ihr die Führung der Rechnungsbücher ihres Stiefvaters sehr erleichterte. Nachdem der Kämmerer des Barons vor drei Jahren gestorben war, hatte Kathryn es übernommen, die Einnahmen aus dem Grundbesitz zu verwalten und die Arbeit der Bauern zu überwachen. Deshalb erachtete Baron Somers es nicht mehr für nötig, einen neuen Verwalter einzustellen, und Kathryn erkannte, dass es von Vorteil sein konnte, nützlich zu sein. Seitdem bemühte sie sich, für Somers unersetzlich zu werden.

Sie hoffte, er würde sie nicht während einer seiner trunkenen Wutanfälle töten, wenn er sie nur dringend genug brauchte.

Mithilfe eines Mönchs, der regelmäßig nach Somerton kam, um dort für das Kloster Güter und Lebensmittel zu tauschen, eignete Kathryn sich ein erstaunliches Wissen im Bereich der Wissenschaft und der Pflanzenheilkunde an. Sie schaffte es sogar, neben ihrer geliebten Rosenlaube einen Garten mit Heilkräutern anzulegen. Oft begleitete sie Bruder Theodore bei seinen Heilertätigkeiten zu den Leibeigenen und Dorfbewohnern von Somerton und entwickelte beträchtliche Fähigkeiten in den Heilkünsten.

Die anderen Lieblingsbeschäftigungen ihres Schützlings waren der alten Bridget allerdings ein Dorn im Auge. So liebte Kathryn es, wie ein Mann rittlings auf einem Ross zu reiten. Es gab für sie nichts Schöneres, als auf einem Pferderücken über die Wiesen zu sprengen und den Wind auf dem Gesicht und in ihrem Haar zu spüren. Auch bereitete es ihr Vergnügen, sich mit ihrer Schleuder oder mit Pfeil und Bogen mit den Jägern in Baron Somers’ Wäldern zu messen. Bridget missfiel es aufs Äußerste, wenn Kathryn auf die Waldbäume kletterte und sich hoch über dem See auf einen starken Ast legte, um die Wolken zu betrachten, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten.

Wolf vermutete, dass sie eingeschlafen war. Sie lehnte jedenfalls zurückgesunken an seiner Brust, und er musste sie schon seit einigen Meilen stützen, um zu verhindern, dass sie von Janus’ Rücken hinabglitt. Er überlegte, wie alt sie wohl sein mochte. Sechzehn vielleicht? Diese verfluchten Lumpen, die sie trug, machten es ihm unmöglich, festzustellen, ob ihr Körper der eines Kindes oder der einer Frau war. Gewiss schon alt genug, um verheiratet zu werden, doch warum hatte sie dann noch keinen Mann? Ihr Leben mit Baron Somers und seiner Familie war offensichtlich für sie nicht ganz einfach, dennoch harrte sie in Somerton bei ihren Stiefeltern aus.

Das musste an ihrem Mangel an weiblichen Reizen liegen. Ihre Art, sich zu kleiden, war jedenfalls recht abstoßend für eine junge Frau. Er hatte bestimmt noch nie eine Dame gesehen, die sich mit solch grobwollenen Beinkleidern und ebensolcher Tunika gewandete. Während er Kathryn betrachtete, überlegte er, ob ihre herausfordernde Art Baron Somers veranlasst hatte, sie zu schlagen, oder ob es dem Mann ein verderbtes Vergnügen bereitete, seine Stieftochter zu misshandeln. Wolf entschied sich dafür, im Zweifel eher Lord Somers und seinem aufbrausenden Temperament die Schuld zu geben. Er hielt nicht viel von betrunkenen Männern, die Frauen und Kinder schlugen; und er konnte nicht leugnen, dass er eine gewisse Befriedigung dabei empfand, die junge Kathryn den teuflischen Klauen des Barons entrissen zu haben. Dieser Mensch und andere von seinem Schlag sollten sich lieber an Größe und Kraft ebenbürtige Gegner suchen.

Lady Kathryn war jedoch offensichtlich auch kein Engel. Viel zu selbstsicher und rebellisch für ein Mädchen. Wie sie es geschafft hatte, ins Dorf zu fliehen, war ihm ein Rätsel. Sie war schwierig, hatte darauf bestanden, von ihrer alten Kinderfrau begleitet zu werden, und gab seinen Männern Befehle, ganz so, als ob sie die Verantwortliche wäre. Außerdem starrte sie geradezu vor Dreck … und dennoch roch sie nicht wie eines dieser verwahrlosten Bälger. Stattdessen duftete sie nach Blumen. Rosen, dachte er, obwohl er nicht viel Ahnung von Pflanzen hatte. Mit einiger Beunruhigung stellte er fest, dass ihr Duft angenehm, ja sogar sehr anziehend war.

Als sie sich kurz darauf etwas bewegte und sich ihre Hüften näher an ihn schoben, musste er unwillkürlich an das Erlebnis der letzten Nacht am See denken. Während Wolf Kathryns Gewicht verlagerte, erinnerte er sich an die wunderschöne blonde Frau, mit der er nur einige wenige Augenblicke verbracht hatte.

Aber er konnte sich jetzt nicht solchen Gedanken hingeben. Er musste sich darauf besinnen, dass er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hatte. Seine ganze Aufmerksamkeit sollte der Rückerlangung der Grafschaft Windermere gelten. Das hatte er sich fest vorgenommen. Er stand nun schon einige Jahre in Heinrichs Diensten und hatte die Achtung und das Vertrauen des Königs für sich gewonnen. Jetzt musste er nur noch handfeste Beweise für Philip Colstons Verrat finden. Heinrich wäre dann dazu verpflichtet, Wolfs Anspruch auf Windermere anzuerkennen und seine Familienehre wiederherzustellen.

Trotz dieser Vorsätze konnte Wolfram nicht leugnen, dass er sich stark zu der Frau am See hingezogen gefühlt hatte. Sie war ein Traum, den er sich nie eingestanden, eine Sehnsucht, die er immer unterdrückt hatte. Aber er kannte den Schmerz der Liebe und des Verlustes nur zu gut und hatte sich geschworen, nie wieder in diese Falle zu tappen. Seinen Vater und seinen Bruder hatte er auf schicksalhafte Weise verloren. Doch während ihm dieses Unglück und sein Kampf um Gerechtigkeit eine kühle Selbstbeherrschung verliehen, war es die völlige Teilnahmslosigkeit seiner Mutter, die ihn all die Jahre lang im Innersten quälte.

Wolf hatte zwar den hinterhältigen Überfall überlebt, aber seitdem mit Margrethe Colston kein einziges Wort mehr gewechselt. Seine Mutter bemerkte nicht einmal, dass es ihn überhaupt gab. Das Schlimmste für Wolf war dabei nicht, dass sie in ihrer eigenen Welt zu leben schien, unfähig, mit anderen zu reden – sondern die Tatsache, dass sein Überleben ihr nicht die geringste Hoffnung gegeben hatte. Das Leben ihres jüngeren Sohnes hatte ihr offenbar nichts bedeutet.

„Gerhart.“

Im Halbschlaf hörte Kathryn eine raue Stimme, als einer der Männer an Wolfs Seite ritt. Sie sah keine Veranlassung, die beiden darauf hinzuweisen, dass sie schon wach war, sondern musste sich vielmehr überlegen, wie sie fliehen und zurückkehren konnte, um in der Nähe von Somerton auf Rupert zu warten. Kathryn versuchte die Reiserichtung zu verfolgen, damit sie sich zurechtfinden konnte, wenn die Zeit gekommen war. Es fiel ihr jedoch schwer, da sie entsetzlich müde war, ihr Kopf schmerzte und es in ihren Augenhöhlen noch immer schrecklich pochte.

„Es wird bald dunkel werden“, sagte der Reiter zu dem Mann, den sie als „Wolf“ kannte. Kathryn fragte sich, warum er ihn „Gerhart“ genannt hatte. „Die Alte fällt uns schon fast vom Pferd.“ Er sprach mit einem eigentümlichen Akzent, der Kathryn aber nicht unangenehm war. Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, dass er ein großer blonder Mann war, der sich gut im Sattel machte.

Kathryn unterdrückte das dringende Bedürfnis, sich umzudrehen und nach Bridget zu sehen. Wolf antwortete dem Ritter nicht sofort, und Kathryn fragte sich, ob er vielleicht überlegte, ihre alte Kinderfrau einfach am Wegesrand zurückzulassen.

„Wir werden bald rasten“, sagte Wolf schließlich. „Zwei Männer sollen vorausreiten und nach einem geeigneten Lagerplatz Ausschau halten.“

Kathryn fühlte, wie er einen langen Seufzer ausstieß. Er musste in furchtbarer Eile sein, nach London zu kommen, wenn diese kleine Verzögerung ihn so sehr ärgerte. Mussten nicht auch Ritter irgendwann einmal ausruhen? Hatten sie etwa nie Hunger? Sie spürte, wie seine Arme sich sicher und fest um sie legten. Entgegen ihrer Annahme schien Wolf überhaupt nicht müde zu sein. Er musste die Ausdauer eines Ackergauls haben. Kathryn dagegen war erschöpft; und obwohl sich ihr Geist immer noch dagegen sträubte, wusste sie doch, dass sie es mit diesem Wolf nicht aufnehmen konnte. Wenigstens nicht zum jetzigen Zeitpunkt.

Sie fühlte sich so sicher und warm in seinen Armen, dass sie sich wieder an ihn schmiegte. Später würde sie dann über ihre Flucht nachdenken und planen, wie sie dorthin kommen würde, wo Rupert sie finden konnte. Sie wollte gerade wieder einschlummern, als Wolf sagte: „Da gab es diese Frau letzte Nacht in Somerton.“

Zuerst war Kathryn erstaunt und glaubte, dass er zu ihr gesprochen hätte. Doch bevor sie antworten konnte, merkte sie, dass der Mann, der vorher das Wort an Wolf gerichtet hatte, wieder neben ihnen ritt.

„Ja?“, antwortete er. Kathryn hätte ihn gerne besser sehen wollen, tat aber stattdessen weiterhin so, als ob sie schlafen würde.

„Nachdem wir das Mädchen nach London geschafft haben und die Sache mit Philip geregelt ist, werde ich zurückgehen und sie suchen.“

„Wer ist denn diese Frau?“

„Das weiß ich nicht. Aber sie war … anziehend. Fesselnd.“ Wolf schien um Worte verlegen.

Der Ritter lachte. „Ich habe dich noch nie so … gefesselt gesehen, Cousin.“ Er wartete darauf, dass Wolf noch etwas sagen würde, bekam aber keine Antwort. „Dir liegen die Damen doch schon seit Jahren zu Füßen, aber du …“

„Nicht diesmal“, unterbrach ihn Wolf. „Es war merkwürdig. Sie war so … anders.“ Kathryn hörte die Verwirrung in seiner Stimme und war zu ihrer eigenen Überraschung ein wenig stolz darauf, auf ihn eine solche Wirkung gehabt zu haben. Sie konnte sich an keinen Mann erinnern, außer Rupert, der sie jemals reizvoll gefunden hatte, geschweige denn fesselnd. Auf der anderen Seite war der Gedanke, dass Wolf ihretwegen nach Somerton zurückkehren würde, äußerst beunruhigend. Er war als Mann keineswegs so sanftmütig und charmant wie ihr Rupert.

„Wie ist ihr Name?“

„Den wollte sie mir nicht nennen.“

„Das klingt ja vielversprechend.“ Unter halb gesenkten Lidern beobachtete Kathryn, wie der Mann die Augenbrauen hob. „Ich nehme an, dass es sich nicht um die ebenso reizende wie verführerische Lady Edith handelt.“

„Pah“, stieß Wolf verächtlich hervor. Kathryn fühlte den Laut, den er von sich gab, mehr, als dass sie ihn hörte.

„Es kann noch Monate dauern, bis unser Vorhaben erledigt ist, Gerhart“, sagte der Ritter belustigt. „Denkst du, dass sie auf dich warten wird?“

„Was macht es, ob sie nun wartet oder nicht? Ich werde sie besitzen“, antwortete Wolf mit größter Zuversicht.

Kathryns Stolz schwand augenblicklich. Wie konnte er es nur wagen, anzunehmen, dass sie sich ihm sofort an den Hals werfen würde, wenn er wiederkäme?

Am liebsten hätte sie ihm laut die Meinung gesagt, doch sie biss sich auf die Lippe und versuchte, ihre Wut zu bezähmen. Seine Selbstüberschätzung war nicht zu fassen. Dieser Mann dachte doch tatsächlich, dass er sie besitzen würde, nur weil er sie einmal geküsst hatte. Er kannte sie nicht einmal! Und er wird mich auch nicht kennenlernen, schwor sie sich.

„Und du sagst, dass du nicht weißt, wer sie ist?“

„Nein, Nicholas, sie wollte mir ihren Namen nicht verraten.“

„Könnte sein, dass deine Lady Kathryn sie kennt, wenn du sie ihr beschreibst.“

„Könnte sein.“

Seine Lady Kathryn! Wie viele Frauen gehörten diesem Wolf eigentlich? Sie zügelte ihr unbändiges Verlangen, ihren Ellenbogen in seinen Leib zu rammen, da sie wusste, dass sie sich nur an seiner Rüstung verletzen würde.

„Ich denke, dass es am besten wäre, mit deinen Gedanken bei Windermere zu bleiben und nicht bei einer zukünftigen Ehefrau. Außerdem gibt es da immer noch Lady Anna. Wenn du sie heiratest …“

„Ehefrau?“ Wolf lachte höhnisch. „Ich habe nicht von einer Ehefrau gesprochen.“

Nicholas grinste, und Kathryn geriet immer mehr in Wut. Wenn er entdeckte, dass sie die Frau vom See war, würde er also … Sie schwor sich, ihm keine Möglichkeit zu geben, herauszufinden, wer sie war.

„Aha, Lady Kathryn erwacht“, verkündete Nicholas, als sie sich unruhig hin und her warf. Kathryn war so wütend, dass es ihr unmöglich war, noch länger so zu tun, als ob sie schliefe. „Habt Ihr gut geruht, Mylady?“

„Leidlich.“

„Eure Stimme – es ist recht schwer, unter dieser Dreckschicht und den Lumpen, die Ihr tragt, etwas zu erkennen –, aber Eure Stimme scheint nicht die eines Kindes zu sein.“ Nicholas betrachtete sie eingehender, um ihre Züge trotz all des Schmutzes und der blauen Flecken auszumachen.

„Ihr habt recht. Ich bin kein Kind mehr.“ Sie konnte ihren Ärger nicht verbergen, als sie den schönen Recken ansah, der neben ihr ritt.

„Ihr erwartet doch nicht, dass wir Euch glauben, wenn Ihr sagt, dass Ihr schon eine erwachsene Frau seid?“, fragte Wolf ungläubig.

„Ich erwarte gar nichts von Euch“, gab Kathryn aufgebracht zurück. „Außer einer Reise nach London, die ich nicht gewollt habe.“

„Ach, die Fahrt ärgert Euch also?“, fragte Nicholas schmunzelnd.

„Wie geht es Bridget? Sie muss doch schon vor Müdigkeit umfallen. Sie ist das Reiten nicht gewohnt.“

„Die alte Frau ist tatsächlich erschöpft“, antwortete Nicholas. „Wir werden bald unser Nachtlager aufschlagen.“

„Was für Vorsichtsmaßnahmen gedenkt Ihr während der Nacht zu unserem Schutz zu treffen? Ich habe gehört, dass das Reisen auf diesen Straßen sehr gefährlich sein soll …“

„Ich bitte Euch, Mylady.“ Wolf machte sich lustig über sie. „Neun meiner Männer reisen mit uns und wären gar nicht entzückt, wenn sie hörten, wie Ihr ihre Fähigkeiten in Zweifel zieht.“

Neun! Ihr habt nur neun?“

„Unsere Anzahl ist ausreichend. Nun seid endlich still. Genug mit diesem Geschwätz.“

Kathryn war mehr als aufgebracht, dass sie der Verantwortung dieses groben Klotzes übergeben worden war. Er hatte kein Recht dazu, sie herumzukommandieren. Und sie schätzte es überhaupt nicht, von ihm so unhöflich behandelt zu werden.

Als sie kurze Zeit später über einen grasbewachsenen Hügel kamen, entdeckten sie die zwei Männer, die vorausgeschickt worden waren, um einen geschützten Platz für das Nachtlager zu suchen. Sie hatten schon eine geeignete Stelle gefunden und ein kleines Feuer angezündet, das auf der Lichtung loderte.

Erleichtert stieg Kathryn vom Pferd und ging zu Bridget, um ihr zu helfen. Der alten Frau taten alle Knochen weh, und obwohl sie üblicherweise nicht mit ihren Wehwehchen hinterm Berg hielt, war sie heute vorsichtiger als sonst. Die zwei Frauen gingen zu den Bäumen, um ihre persönlichen Bedürfnisse zu verrichten, und fanden dahinter einen Bach mit kühlem, frischem Wasser. Dort hielten sie inne, um ihren Durst zu stillen.

„Oje, oje, dein Auge, Kind“, sagte Bridget und betrachtete Kathryns Gesicht. „Lass es mich für dich waschen.“

„Ach nein, Bridget, ich würde es vorziehen, so schmutzig zu bleiben, wie ich bin, solange wir in Gesellschaft von Heinrichs ungehobelten Kerlen reisen.“

„Ungehobelt, sagst du?“

„Ja, Bridget. Ungehobelte Bauerntölpel.“

„Aber sicher doch. Du, mein Engel, die du schon in Frankreich und bei Hofe und an so vielen anderen vornehmen Orten gewesen bist, würdest sofort einen Bauern erkennen, wenn du einen siehst, nicht wahr.“

„Mach dich nicht lustig über mich, Bridget. Es braucht nur wenig Erfahrung und noch weniger Verstand, um zu sehen, dass dieser Mann …“

„Wer? Sir Gerhart? Der Anführer?“

„Was weißt du von ihm?“

„Nun, Sir Clarence und Sir Alfred haben ein wenig mit mir geplaudert“, sagte Bridget, während sie ihren schmerzenden Rücken streckte, „um mich wach und auf dem Pferd zu halten. Sie haben ein paar Dinge erwähnt …“

„Was für Dinge?“

„Nun, Alfred hat gesagt, dass Sir Gerhart und Sir Nicholas die Enkel eines deutschen Fürsten seien …“

„Ach?!“

Autor

Margo Maguire
Seit 1999, als Margos erstes Buch “ The Bride of Windermere” erschien,, verkaufte sie mehrere historische Liebesromane an Harlequin. Inzwischen arbeitet sie hauptberuflich als Autorin und genießt die Flexibilität ihrer Tagesplanung, die sie zu ihrer Zeit als Krankenschwester nicht hatte. Mit drei Teenies zu Hause und einem regen Familienleben ist...
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