Küsse, die das Herz zum Schmelzen bringen

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Michelle weiß, wie man sie auf der Station nennt: die Eiskönigin. Aber als ihr Kollege Dr. Ty Smith sie auf seinem Motorrad nach Hause bringt, spürt sie plötzlich eine brennende Sehnsucht nach ihm, nach Liebe... Gefährlich, denn Ty bleibt niemals lange an einem Ort!


  • Erscheinungstag 01.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729363
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Herzchirurgin Michelle Ross stieß die Tür zum Operationssaal 4 im Raleigh Medical Center in North Carolina schwungvoll mit der Hüfte auf.

Heute stand die Herzoperation von Mr. Martin an. Dieser Patient war genau der Typ Mensch, der ihr allergrößtes Mitgefühl erregte. Fast immer hatten solche Patienten kleine Kinder, die zu Hause warteten und hofften, dass es ihren Eltern wieder besser ging. Sie musste diesem Vater helfen. Sie musste sein Leben retten, damit er wieder bei seiner Familie sein konnte.

Sie blickte die Mitglieder ihres Teams kurz an und fragte knapp: „Alle bereit?“

Die Ärzte und Schwestern, die um Mr. Martin, einen Mann mittleren Alters, versammelt waren, hatten sich leise miteinander unterhalten. Jetzt verstummten sie. Wäre ein Skalpell versehentlich auf den Boden gefallen, hätte man das Echo gehört, so still war es im Raum.

Michelle bemerkte, dass alle es vermieden, ihr in die Augen zu sehen. Was ging hier vor? Normalerweise war ihr Team ohne Zögern bereit, mit der Operation zu beginnen. Nur aus Gewohnheit stellte sie jedes Mal dieselbe Frage.

Pannen waren in ihrem OP nicht erlaubt, Effizienz war ihr Motto. Ihre Patienten verdienten die allerbeste Behandlung, und die bekamen sie. Sie hatte jeden im Team sorgfältig ausgewählt, und alle wussten, was von ihnen erwartet wurde. Sie vertraute ihrem Team, also was war heute los?

Niemand wollte offenbar antworten. In diesem Fall, der ihre völlige Aufmerksamkeit erforderte, verringerte dies ihre Anspannung nicht gerade. Sie trat an ihren Platz am OP-Tisch. Dann fiel ihr Blick auf den jungen Arzt, der dem Anästhesisten assistieren sollte. „Wo ist Dr. Schwartz?“, fragte sie.

Die Augen des jungen Kollegen waren über dem Mundschutz sichtbar. Er blinzelte nervös. Dann sagte er: „Die Vertretung für Dr. Schwartz ist noch nicht da.“

Michelle Ross wollte gerade verärgert nachfragen, als jemand zur Tür hereinkam. Ein Mann mit breiten Schultern wandte ihr den Rücken zu. Dann drehte er sich um und blickte die Gruppe an. Seine orangefarben gestreifte Operationshaube fiel ihr sofort auf, denn sie passte überhaupt nicht in ihre geordnete und sterile Welt. Er trug den normalen blauen Kittel des Krankenhauses, aber was ebenfalls ihre Aufmerksamkeit erregte, waren die limonengrünen Clogs, die durch die sterilen Überziehschuhe an seinen Füßen schimmerten.

Wer war dieser Clown? Es fehlte nur noch die rote Pappnase. Als er näher kam, bemerkte Michelle, dass die Augen über seinem Mundschutz auffallend jadegrün waren.

Er blickte sie an, zwinkerte ihr zu. Das brachte sie für einen Moment aus dem Konzept.

Das war doch wohl nicht etwa der verspätete Vertretungs-Anästhesist?

„Hallo zusammen, ich bin Ty Smith, die Vertretung für den Kollegen Schwartz.“ Obwohl er einen Mundschutz trug, bemerkte sie, dass er lächelte und Augenkontakt mit jedem im Team suchte.

„Unser Patient ist bereit, und wir warten alle nur noch auf Sie“, sagte sie, um weitere Plaudereien zu unterbinden.

„Sie müssen Dr. Ross sein“, stellte er in lockerem Ton fest.

„Ja. Fangen wir an.“

Der Anästhesist zog den Stuhl an seinem Platz mit dem Fuß näher heran und setzte sich mit einer lässigen Bewegung. Dabei schien er keinen weiteren Gedanken mehr an sie zu verschwenden oder ein schlechtes Gewissen zu haben, dass alle im Team auf ihn hatten warten müssen.

Er blickte den Assistenzarzt an: „Gut gemacht.“

Der junge Mann, der bei Michelles Frage zuvor so nervös reagiert hatte, entspannte sich sichtbar.

Dr. Smith überprüfte die Narkosevorbereitungen und sah Michelle an. „Ich bin bereit, wenn Sie es auch sind, Doc.“

Wieder irritierten seine Augen Michelle. Sie erinnerten sie an grünen Rasen nach einem Frühlingsregen. „Dr. Ross, bitte“, wies sie ihn zurecht.

„Der Patient ist bereit, Dr. Ross.“ Michelle beschlich das Gefühl, dass er sich über sie lustig machte.

Mehrere Stunden später setzte sie die letzte Naht. Sie war erleichtert, dass die Operation komplikationslos verlaufen war. Ihr Patient hatte sehr wahrscheinlich noch ein langes Leben vor sich und würde seine Kinder aufwachsen sehen. Darauf war sie stolz.

Ihr Vater war an einem Herzinfarkt gestorben, als sie zwölf Jahre alt war. Sie waren gerade unterwegs gewesen, um neue Schulkleider für sie zu kaufen, und ihre Mutter und sie hatten sich nicht einigen können. Plötzlich hatte ihr Vater sich an die Brust gegriffen und war im Einkaufszentrum zu Boden gestürzt. Noch immer konnte Michelle die Rufe der umstehenden Passanten hören. „Schnell, holt einen Krankenwagen!“ Menschen liefen hektisch umher. Aber am deutlichsten war ihr in Erinnerung, wie sie verzweifelt schluchzte.

Bei der Beerdigung, als sie neben ihrer Mutter in der ersten Bank in der Kirche saß, hatte sie sich geschworen, dazu beizutragen, dass anderen Kindern möglichst erspart blieb, was sie selbst erleben musste. Sie hatte Medizin studiert und hart gearbeitet, um Herzchirurgin zu werden. Ihre persönliche Erfahrung lehrte sie, dass Humor bei dieser Arbeit nichts zu suchen hatte. Medizin war eine ernsthafte Angelegenheit.

Michelle wollte gerade die Operation abschließen, als ein leises Summen sie ablenkte. Es kam vom Kopfende des OP-Tisches. Während der Operation hatte sie den Neuen im Team nicht angesehen. Stattdessen hatte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Patienten gegolten, auch wenn ihr Assistent den ersten Schnitt gesetzt hatte.

Sie blickte zum Kopfende des Tisches. Smith schaute konzentriert auf einen Monitor. Die anderen Teammitglieder um den Tisch traten unruhig von einem Bein aufs andere. Michelle war der Meinung, dass ein Operationssaal kein Ort war, um Musik zu hören. Sie wollte nicht, dass irgendetwas die konzentrierte Atmosphäre störte. Es sollte möglichst still sein.

Eine frostige Anspannung breitete sich aus. Die verstohlenen Blicke ihrer Kollegen entgingen ihr nicht.

Der Neue schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. „Summen Sie doch einfach mit.“

Dieser Mann brachte Unruhe in ihren OP. Er musste ihr Team wieder verlassen. Dafür würde sie sorgen.

„Wie ist der Blutdruck?“, fragte sie kurz angebunden.

„Stabil.“

„Dann sind wir fertig. Der Patient kann jetzt auf die Intensivstation verlegt werden. Und hören Sie auf zu summen.“

„Jawohl, Ma’am.“

Er klang wie ein unartiger Schuljunge, den man gerade zurechtgewiesen hatte, weil er ein Mädchen an den Haaren gezogen hatte.

Ty rieb sich den Nacken, um seine verspannten Muskeln zu lockern, und verließ den OP. Er war müde, denn er war bis spät in der Nacht unterwegs gewesen. Am Stadtrand war ein Autounfall passiert. Er hatte mitgeholfen, und es hatte sehr lange gedauert, die Verletzten zu versorgen. Er kam nicht gern zu spät, aber ihm war keine Wahl geblieben. Da er als Erster an der Unfallstelle gewesen war, musste er helfen. Er nahm seine Pflicht als Arzt sehr ernst.

Es machte ihm nichts aus, immer wieder umzuziehen. Das hatte er schon sein ganzes Leben lang getan, und er war daran gewöhnt. Seine Eltern waren Möchtegernhippies gewesen und immerzu irgendwelchen Rockbands nachgereist. Joey, sein sechs Jahre jüngerer Bruder, hätte ständige medizinische Betreuung und ein solides Zuhause gebraucht, aber das widersprach dem Lebensstil seiner Eltern. Mal fragten sie irgendeinen obskuren Guru um Rat, ein andermal verabreichten sie Joey ein paar Heilkräuter. „Wenn wir in die Wüste ziehen, kann Joey besser atmen. Das Klima dort wird ihm guttun, er wird sich erholen.“ Sie hatten sich geirrt. Ein tödlicher Irrtum.

Seine Eltern behaupteten, es sei Schicksal gewesen. Ty sah das anders. Joey hätte weiterleben sollen, ihm ständig hinterherlaufen und ihm auf die Nerven gehen mit seiner neugierigen Fragerei. Als Ty am Boden saß, um ihn herum Gemurmel, Jammern und betäubender Räucherstäbchenrauch, hatte er beschlossen, dass er dieses Leben nicht mehr wollte.

Er konnte und wollte nicht akzeptieren, dass seine Eltern Joey nicht zu einem normalen Arzt gebracht hatten. Er hätte Joey nicht einfach sterben lassen. Und deswegen beschloss er, die Kommune zu verlassen, um bei seinen Großeltern zu leben.

Ty war intelligent und hatte in der Schule sehr gute Noten, deshalb entschied er sich, Medizin zu studieren. Wenn er anderen half, konnte er vielleicht ein wenig wiedergutmachen, was seinem kleinen Bruder passiert war. Gleich nach dem Studium bot ihm ein Freund einen Job an. Er besaß eine Firma, die Ärzte als Vertretung in Kliniken vermittelte. Er nahm den Job an. Als Vertretungsarzt arbeitete er immer dort, wo er gerade gebraucht wurde. Meistens blieb er nur ein paar Wochen an einem Ort. Er hatte sich an diesen Lebensstil gewöhnt. Und heute wollte er nur noch eines: zu seinem Apartment fahren und ins Bett fallen.

„Dr. …“

„Ty Smith.“ Er gab der Chirurgin die Hand.

Sie sah gut aus. Glänzende braune Haare, volle Lippen und ein ebenmäßiger Teint. Schade, dass sie so schroff war. Im Lauf der Jahre waren ihm viele solcher Menschen begegnet, aber diese Frau gewann den ersten Preis. „Wir haben uns noch nicht vorgestellt. Ich bin Ty. Wie darf ich Sie nennen?“

„Dr. Ross.“

Brrr … Eine eisige Brise wehte ihm entgegen. Die Farbe ihrer Augen verstärkte diesen Eindruck noch. Normalerweise hatte er eine Schwäche für Frauen mit eisblauen Augen, aber bei ihr nicht. Er hatte auch mit anderen Ärzten zusammengearbeitet, die mit seiner lockeren Art nicht unbedingt zurechtkamen, aber so abweisend hatte noch niemand auf ihn reagiert. Das war wirklich alles andere als eine freundliche Begrüßung.

„Dürfte ich Sie einen Moment sprechen? Privat?“ Förmlicher hätte ihr Tonfall nicht sein können.

„Sicher.“ Er steuerte auf eine ruhige Ecke zu, und sie folgte ihm.

Er bemühte sich, so professionell wie möglich zu klingen. „Nun, Dr. Ross, schön, Sie kennenzulernen. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.“

„Wir werden nicht mehr zusammenarbeiten. Ich finde nicht, dass wir uns gut ergänzen. Ich erwarte von meinem Anästhesisten, dass er pünktlich ist.“

Was war nur passiert, dass diese Frau so dermaßen verbissen war?

„Es tut mir leid, dass Sie diesen Eindruck von mir haben. Ich bin nicht absichtlich zu spät gekommen. Außerdem hat der Assistenzarzt seine Arbeit sehr gut gemacht. Unser Patient war keine Sekunde lang in Gefahr. Wo kein Schaden, da auch kein Kläger. Bis später.“ Er wollte ihr klarmachen, dass er sich nicht unterkriegen ließ, obwohl er neu im Krankenhaus war.

Sie wollte antworten, verhaspelte sich aber vor Ärger.

Ty wartete ihre Antwort nicht ab. Er drehte sich um und machte sich auf den Weg in den Umkleideraum.

Zwei Stunden später saß er im Schwesternzimmer auf der Intensivstation. Er war nicht so früh fertig geworden wie erhofft und notierte sich gerade die Werte des letzten Patienten. Als er aufblickte, kam Dr. Ross in Begleitung einer Frau und zweier Teenager herein. Sie führte die drei zum Bett von Mr. Martin.

Die Krankenschwester links neben ihm flüsterte ihrer Kollegin zu: „Die Schneekönigin kommt!“

Sie war anscheinend jedem gegenüber so unterkühlt.

„Stimmt. Aber die Frau hat einen guten Geschmack“, antwortete die andere. „Schade, dass sie nicht so nett ist, wie sie sich anzieht.“

Die Frauen waren offensichtlich ein wenig neidisch.

Ty fand das auch nicht verwunderlich. Dr. Ross war eine attraktive und sehr elegante Frau. In ihrem hellrosa Jackett und dem engen Rock, der ihre Figur betonte, war sie wirklich ein Blickfang. Er setzte sich kerzengerade auf und begutachtete sie von Kopf bis Fuß. Sein Blick folgte ihren wohlgeformten Beinen hinab zu den schlanken Fesseln, bis er bei ihren High Heels ankam, die perfekt zu ihrem Rock passten. Er hätte sein Motorrad verwettet, dass diese Schuhe von einem Designer speziell für sie angefertigt worden waren.

Dann wanderte sein Blick wieder hoch zu ihrem glänzenden braunen Haar. Sie hatte es mit einer großen silbernen Spange zusammengefasst, die den Eindruck noch verstärkte, dass diese Frau alles unter Kontrolle hatte. Unter ihrem OP-Kittel hatten sich ein paar äußerst attraktive Kurven versteckt. Schade nur, dass sie so frostig war.

Wenn sie sprach, unterstrich sie ihre Worte mit eleganten Handbewegungen. Sie wies auf die Apparate, die das Bett des Patienten umgaben. Offenbar erklärte sie, wozu sie dienten und wie sie funktionierten. Zu seiner Überraschung lächelte sie gelegentlich in die kleine Runde. Offenbar verbarg sich unter dem unterkühlten Äußeren doch ein wenig menschliche Wärme. Ihn wollte sie daran aber nicht teilhaben lassen, war sein Eindruck.

Sie sah in seine Richtung, und für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. War da Ängstlichkeit in ihren Augen?

Nein, er musste sich wohl getäuscht haben. Dr. Ross strotzte geradezu vor Selbstbewusstsein.

Ty lehnte sich im Stuhl zurück und beobachtete die Familie, die sich um den Patienten versammelt hatte. Dr. Ross war einen Schritt zurückgetreten und beantwortete gelegentliche Fragen.

Ty stand auf und wollte die Abteilung verlassen. Als sie wieder in seine Richtung blickte, überlegte er es sich anders, ging zu ihr hinüber und fragte unauffällig: „Gibt es ein Problem?“

Sie erstarrte. „Nein. Warum fragen Sie?“, zischte sie. Dabei schaute sie weiter auf die Familienmitglieder, als wollte sie sichergehen, dass diese von der Unterhaltung nichts mitbekamen.

„Aus meiner Sicht macht alles einen guten Eindruck“, meinte er leise. „Wenn es weiter so komplikationslos verläuft, muss er morgen nicht mehr künstlich beatmet werden.“

„Ich würde es begrüßen …“

Die Dame, offenbar die Ehefrau des Patienten, unterbrach ihre Unterhaltung und blickte zuerst ihn und dann Dr. Ross an.

Die Ärztin räusperte sich und zögerte fast unmerklich. Sie hatte wohl nicht vorgehabt, ihn vorzustellen, aber es wäre jetzt unhöflich gewesen.

Er lächelte die Frau an und reichte ihr die Hand. „Hallo, ich bin Ty Smith. Ich bin Anästhesist und habe bei der Operation mit Dr. Ross zusammengearbeitet.“

„Ich danke Ihnen. Mein Mann war bei Ihnen offensichtlich in sehr guten Händen. Auch mein Sohn und meine Tochter …“, sie nickte den beiden Teenagern zu „… sind dankbar für alles, was Sie für ihn getan haben.“

„Ich versichere Ihnen, dass die Operation sehr gut verlaufen ist. Dr. Ross ist eine hervorragende Chirurgin.“ Er sah seine Kollegin an. Ein skeptischer Zug huschte über ihr Gesicht. Sie fragte sich offenbar, woran sie bei ihm war. Er hatte es ernst gemeint, als er ihre Fähigkeiten gelobt hatte. Sie war wirklich besser als viele Ärzte, die er kannte, aber sein Lob schien ihr unangenehm zu sein.

„Es tut mir leid, dass Sie im Moment nicht länger bleiben können“, sagte Dr. Ross zu der Frau. „Essen Sie doch zu Abend, und kommen Sie nach dem Schichtwechsel wieder.“

„Das werden wir. Kommt, Kinder. Danke, Dr. Ross, Dr. Smith. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.“

Als die Familie an ihm vorbei zur Tür ging, nickte er allen zu.

Dr. Ross wandte sich an die Krankenschwester und besprach mit ihr den Zustand des Patienten.

Ty ging leise fort. Nach ihrer unangenehmen Unterredung hatte sie sicherlich nicht gewollt, dass er sich in das Gespräch mit der Familie des Patienten einmischte. Für ein paar Sekunden hatte er hinter ihrer unterkühlten Fassade Gefühle wahrgenommen, die er nicht benennen konnte.

Ein paar Minuten nachdem Michelle die Intensivstation verlassen hatte, klopfte sie an die Tür des Chefarztes.

„Herein.“

Michelle war nicht immer einverstanden mit den Entscheidungen und Anweisungen von Dr. Marshall, aber sie hielt ihn für fair. Er war für sie eine Art Mentor. Mehr als einmal hatte er sich für sie eingesetzt, als sie Probleme mit der Verwaltung gehabt hatte. Meistens mischte er sich jedoch nicht in ihre Arbeit ein. Er unterstützte sie, aber er war vom alten Schlag. Als er Medizin studierte, waren die meisten Ärzte noch Männer gewesen. Eine Frau als Herzchirurgin hatte ihm zunächst ein wenig Bauchschmerzen bereitet.

Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich.

Der Chefarzt lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte sie interessiert an. „Was führt dich zu mir? Du warst schon lange nicht mehr bei mir im Büro, wenn ich mich recht erinnere.“

„Bob, du weißt, dass ich mich selten beklage.“

Er nickte und blickte sie prüfend an.

„Aber ich kann nicht gestatten, dass der neue Anästhesist noch einmal mit mir im OP arbeitet.“

Marshall richtete sich auf und blickte sie besorgt an. „Geht es dem Patienten gut?“

„Dem Patienten geht es gut. Ausgesprochen gut sogar.“

Er entspannte sich. „Was ist dann das Problem? Smith – so heißt er doch, nicht wahr? – hat einen sehr guten Ruf. Und einen beeindruckenden Lebenslauf. Hervorragend.“

„Ich kann keinen Anästhesisten gebrauchen, der zu spät zur Operation kommt.“

Bob sah sie ungläubig an. „Warum ist er denn zu spät gekommen?“

„Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht gesagt.“

„Hast du ihn denn nicht gefragt?“

„Nein, das habe ich nicht. Aber ich brauche ein Team, das pünktlich ist.“

„Wenn das das Einzige ist, was dich an ihm stört, dann solltest du ihn fragen, warum er zu spät gekommen ist. Ich weiß, dass du dein Team fest im Griff hast, aber jeder von uns kommt mal zu spät.“

„Ich nicht.“

Bob stieß einen Seufzer aus. „Du bist immer pünktlich. Es wäre vielleicht ganz gut, wenn du manchmal unpünktlich wärst.“ Er sagte die letzten Worte so leise, dass sie sie fast nicht gehört hätte. „Michelle, ich glaube, du übertreibst etwas. Wir haben zu wenige Anästhesisten, und ich kann nicht jeden von deinen OPs fernhalten, der dir nicht passt. Smith ist hochqualifiziert. Wenn er nichts tut, was einem Patienten schadet, musst du einen Weg finden, mit ihm zusammenzuarbeiten.“

„Aber …“

„Michelle, ich weiß, dass du eine sehr engagierte Ärztin bist. Ich schätze das, aber ich denke, du kannst dieses Problem ohne mich lösen. Smith wird nur sechs Wochen lang hier sein. Ich bin sicher, dass du solange mit ihm zurechtkommen wirst.“

Sein Telefon klingelte, und er griff nach dem Hörer. „Lass mich wissen, wenn es ein Problem gibt, das einen Patienten betrifft.“ Er hielt den Hörer ans Ohr: „Hallo?“

Die Unterredung war beendet. Michelle verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Ohne Bobs Unterstützung hatte sie keine Wahl. Sie musste allein mit dem Neuen klarkommen. Wie sollte sie das nur aushalten? Einfach alles an ihm störte sie.

Ty trat hinaus in den warmen Frühlingsabend. Er war froh, nach Hause zu kommen – oder zumindest in das Apartment, das er die nächsten Wochen sein Zuhause nennen würde. Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er nie in einem richtigen Haus aus Ziegeln und Mörtel gewohnt.

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und massierte seinen verspannten Nacken. Es hatte länger gedauert als gehofft, aber er war noch bei dem Patienten gewesen, der am nächsten Tag operiert werden sollte. Erst jetzt konnte er das Krankenhaus verlassen.

Er schwang sich seine schwarze Bomberjacke über die Schulter und machte sich auf dem Weg zu seinem Motorrad. Eine Frau in einem engen Rock ging in einiger Entfernung vor ihm her.

In der Dämmerung konnte er weder ihre Haarfarbe noch ihre Kleidung erkennen, aber ihren aufreizenden Hüftschwung, als sie in die Schatten und wieder heraus trat. Sie bewegte sich wie ein Model auf einem Pariser Laufsteg. Noch nie hatte er eine Frau so sexy gehen sehen. Er hätte nichts dagegen, ihre Bekanntschaft zu machen. Vielleicht arbeitete sie in der Krankenhausverwaltung. Gleich morgen wollte er es herausfinden.

Mit einem Gefühl der Enttäuschung sah er, wie sie zwischen zwei parkende Wagen trat und er nur noch ihren Kopf sehen konnte. Eine Minute später erreichte er ihr Auto. Sie blickte ihn an. Sein zunehmendes männliches Interesse bekam eine eiskalte Dusche verpasst.

„Dr. Ross!“ Er konnte sein Erstaunen beim besten Willen nicht verbergen. Es war die Schneekönigin, die diesen unglaublich sexy Hüftschwung hatte!

Auch sie blickte ihn fast erschrocken an. Ihr Wagenschlüssel fiel zu klirrend zu Boden.

„Dr. Smith. Suchen Sie mich?“ Ihre Stimme klang plötzlich ein wenig zu hoch.

Vielleicht lag das daran, dass er sie eben noch bewundernd angeblickt hatte.

Sie ging elegant in die Knie und hob ihren Schlüssel auf. „Stimmt etwas mit unserem Patienten nicht?“

„Soweit ich informiert bin, geht es ihm gut.“

„Warum sind Sie dann hier?“

„Dies ist ein öffentlicher Parkplatz. Mein Motorrad steht dort drüben.“ Er deutete an ihr vorbei in die Richtung.

Sie warf einen Blick über die Schulter. „Sie fahren Motorrad?“ Es klang verblüfft und zugleich ein wenig vorwurfsvoll. „Das ist gefährlich.“

„Haben Sie es jemals ausprobiert?“

„Nein!“

„Dann tun Sie es. Vielleicht macht es Ihnen ja Spaß.“

Er blickte auf ihre schlanken Fesseln, die auf den hohen Absätzen balancierten. „In diesem Outfit würden Sie allerdings Aufmerksamkeit erregen. Man könnte Ihnen so tief unter den Rock schauen, dass es einen Verkehrsstau geben könnte.“ Er schmunzelte.

Als sie den Kopf senkte, grinste er noch breiter. Das konnte er nur als Verlegenheit deuten.

Wenn er sich nicht irrte, waren ihre Wangen jetzt genauso rosa wie ihre Schuhe. Irgendetwas an ihrer Reaktion ließ ihn vermuten, dass sie Komplimente von Männern nicht gewohnt war. Wahrscheinlich schreckte ihre unterkühlte und schroffe Art die meisten Männer ab. Dabei war sie zweifellos sehr attraktiv.

„Ich habe nicht das geringste Interesse daran, einen Stau zu provozieren.“ Sie stieg in ihren Wagen ein und schlug die Tür ein wenig zu heftig zu.

Vielleicht hatte sie kein Interesse daran, aber die Frau hatte ganz eindeutig alles, was nötig war, um genau das zu erzeugen.

Ty ging zu seinem Motorrad. Sie musste an ihm vorbeifahren. Als sie neben ihm war, blickte sie ihn eine Sekunde lang seltsam intensiv an. Dann gab sie Gas und war verschwunden.

Ja, die nächsten Wochen würden ganz ohne Frage interessant werden.

Michelle näherte sich dem schlichten roten Backsteinhaus, in dem ihre Mutter wohnte. In dieser Gegend am Stadtrand sahen alle Häuser ähnlich aus. Die Wohnzimmervorhänge bewegten sich, und das Gesicht ihrer Mutter erschien. Michelle stieg aus, öffnete den Kofferraum und hob Plastiktüten mit Lebensmitteln heraus.

Sie ging zur Haustür. Als sie fast auf der Schwelle stand, öffnete sich die Tür. „Mum, du hättest nicht aufstehen sollen. Ich kann doch selbst aufsperren.“

Michelles Mutter, groß, aber zerbrechlich, grau meliertes Haar, lächelte. „Ich weiß, Liebes, aber du hast ja keine Hand frei.“

„Und der Arzt hat gesagt, dass du dich schonen sollst.“

„Das tue ich. Du machst dir zu viele Sorgen. Und was wissen Ärzte schon?“ Sie lächelte noch herzlicher. Michelle musste lachen. Damit neckten sie sich oft. Ihre Mutter war sehr stolz auf ihre Tochter und sagte ihr das auch oft. Michelle machte sich ständig Sorgen um ihre Mutter, seit ihr Vater gestorben war. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, sie auch noch zu verlieren. Dann wäre sie ganz allein auf der Welt.

„Mum, setz dich doch zu mir in die Küche. Ich räume die Einkäufe weg und mache uns etwas zum Abendessen.“

„Ja, schön. Dann kannst du mir erzählen, wie dein Tag war. Du arbeitest viel zu hart. Von morgens bis abends bist du im Krankenhaus, und dann kommst du noch hierher, um nach mir zu sehen!“

Diese Diskussion führten die beiden ständig, und sie drehte sich immer im Kreis.

Michelle und ihre Mutter gingen durch den Flur in die kleine gemütliche Küche. Sie war Michelles liebster Raum im Haus, denn sie verband mit der Küche die schönsten Erinnerungen an ihren Vater. Auch so viele Jahre nach seinem Tod setzten weder sie noch ihre Mutter sich auf den Stuhl, auf dem er immer gesessen hatte.

Michelle bereitete ein einfaches Abendessen zu. Ihre Mutter erzählte ihr dabei von einem Buch, das sie gerade las, und den Kindern aus der Nachbarschaft, die gekommen waren, um ihr selbstgebackene Kekse zu verkaufen. Michelle hatte immer ein schlechtes Gewissen, weil ihre Mutter so oft allein war.

Vor ihrer Krebserkrankung war diese sehr aktiv gewesen. Jetzt befand sie sich zwar auf dem Weg der Besserung, aber Michelle machte sich Sorgen, dass ihre Mutter die Hoffnung auf eine Heilung aufgegeben hatte. Und was noch schlimmer war: Michelle fühlte, dass auch sie selbst nicht wirklich daran glauben mochte. Sie war Herzchirurgin. Krebs war nicht ihr Fachgebiet. Hier hatte sie nicht alles unter Kontrolle, und es war schwer für sie, damit klarzukommen.

Nach all den Jahren, in denen sie Medizin studiert und dann als Ärztin gearbeitet hatte, konnte sie ihrer Mutter nicht wirklich helfen. Der Krebs schien unberechenbar. Das Wichtigste war, die Hoffnung nicht aufzugeben. Mehr konnte sie nicht tun. Aber diese Machtlosigkeit machte Michelle wütend und verzweifelt.

Sie stellte ihrer Mutter einen Teller hin. Der zweite kam auf den Platz, an dem sie ihr Leben lang gesessen hatte. Dann füllte sie Eistee in zwei Gläser und setzte sich.

„Also, wie war dein Tag? Ist irgendetwas Besonderes passiert?“, fragte ihre Mutter, während sie in ihrem Essen herumstocherte.

Plötzlich kam Michelle der breitschultrige, ungehobelte Anästhesist mit dem dunklen, unordentlichen Haar in den Sinn. Sie hatte keine Ahnung, warum.

„Nein, nichts Besonderes. Meine Operationen waren erfolgreich, das ist immer ein guter Tag.“

„Du weißt, dass du öfter ausgehen solltest.“

Michelle seufzte. Fast jeden Tag sorgte sie dafür, dass es einem Patienten wieder besser ging. Manchmal rettete sie sogar ein Leben, das verloren zu sein schien. Trotzdem war ihre Mutter nur daran interessiert, dass sie einen Mann kennenlernte. Egal, wie alt oder wie erfolgreich sie war, ihre Mutter wünschte sich vor allem, dass sie endlich jemanden fand, der zu ihr passte.

Autor

Susan Carlisle
<p>Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
Mehr erfahren