Mit dir für immer

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Willow Lake ist seine Heimat, nur widerstrebend kehrt er zurück - nicht ahnend, dass sein Leben vollkommen auf den Kopf gestellt wird. Hell leuchten die Sterne über dem Willow Lake - doch Mason Bellamy hat keinen Blick dafür. Als Mann, der die Großstadt, die Frauen und das Abenteuer liebt, erträgt er die Idylle seiner alten Heimat nur schwer. Für ihn steht fest: Sobald er eine Pflegerin für seine kranke Mutter gefunden hat, kehrt er Willow Lake den Rücken. Doch dann trifft er Faith McCallum, alleinerziehende Mutter zweier Töchter. Fasziniert von der sanften Frau, stimmt er neugierig zu, als sie ihn bittet, noch länger zu bleiben. Noch ahnt Mason nicht, dass sie und ihre Kinder schon bald all seine Barrieren zum Einsturz bringen und ihm zeigen werden, was in seinem Leben fehlt. Emotionale Bindungen, Tiefe … und wahre Liebe.


  • Erscheinungstag 10.12.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495076
  • Seitenanzahl 360
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Wiggs

Mit dir für immer

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Ivonne Senn

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Starlight on Willow Lake

Copyright © 2015 by Susan Wiggs

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Autorenfoto: © Susan Doupé

ISBN ebook 978-3-95649-507-6

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. TEIL

„Von allem, was sichtbar ist, ist das Höchste der Fixsternhimmel.“ –
Nikolaus Kopernikus

1. KAPITEL

Mason Bellamy schaute zu dem Berg hinauf, der seinen Vater getötet hatte. Der Name des Berges war so unschuldig – Cloud Piercer, Wolkendurchstecher. Das üppige Licht der neuseeländischen Wintersonne warf seinen Zauber über den Augenblick. Schneebedeckte Hänge glühten im unglaublichen Rosa und Dunkelviolett eines seltenen Edelsteins. Die Neuseeländischen Alpen mit ihren Granitadern und dem Gletschereis bildeten einen atemberaubenden Hintergrund vor einem Himmel, der so klar war, dass es in den Augen brannte.

Ein knochiger weißer Funkturm, dessen Satellitenschüssel Signale aus dem Weltall empfing, erhob sich auf einem nahe gelegenen Gipfel. Die einzige andere Störung der Schönheit der Natur befand sich oben auf dem Hang – ein schwarz-gelbes Tor mit dem Hinweis: „Nur für Profis“. Daneben prangte ein rundes Zeichen zur Anzeige der Lawinengefahr, dessen Zeiger auf „mittel“ stand.

Er fragte sich, ob jeden Tag jemand den ganzen Weg hier heraufkam, um die Nadel auf dem Schild einzustellen. Vielleicht hatte sein Vater letztes Jahr die gleiche Überlegung angestellt. Vielleicht war das der letzte Gedanke gewesen, der ihm durch den Kopf gegangen war, bevor er unter zweihunderttausend Kubikmetern Schnee begraben wurde.

Nach Aussage von Zeugen aus der Stadt am Fuße des Berges war es eine trockene Lawine gewesen, deren Pulverschneewolke jeder Einwohner von Hillside Township hatte sehen können, sobald er hinaufschaute. Der Unfallbericht besagte, dass es einen Moment gedauert hatte, bis man die Lawine hörte. Dann aber hatte man das Donnern im Umkreis von mehreren Meilen vernommen.

Bei den Maori aus der Gegend rankten sich viele Legenden um den Berg. Die Eingeborenen respektierten seine drohende Schönheit genauso wie seine tödliche Natur. Ihre Mythen waren erfüllt von belehrenden Geschichten über Menschen, die von ihm verschluckt worden waren, um die Götter zu besänftigen. Seit Generationen forderte der stolze Fels, der das ganze Jahr über in Schnee gehüllt war, die waghalsigsten Skifahrer der Welt heraus. Die strahlende Nordseite war Trevor Bellamys Lieblingsabfahrt gewesen. Und seine letzte.

Trevors letzter Wunsch, den er in seinem Testament verfügt hatte, war es, der Mason hierher ans andere Ende der Welt geführt hatte, mitten hinein in den Winter auf der südlichen Erdhalbkugel. Im Moment war ihm jedoch alles andere als kalt, denn bei der Ersteigung des Berges war er ordentlich ins Schwitzen geraten. Er zog den Reißverschluss seines Parkas auf. Diese Piste war nur für die zugänglich, die gewillt waren, sich von einem Helikopter zu einem Landeplatz auf dreitausend Metern Höhe bringen zu lassen und dann auf Skiern, die mit besonderen Anti-Rutsch-Überziehern ausgestattet waren, mehrere Hundert Meter weiter hinaufzustapfen.

Er schnallte seine Skier ab und zog die mit einem Klettverschluss befestigten Überzieher von den Unterseiten, um sie sorgfältig in seinem Rucksack zu verstauen. Dann betrachtete er erneut den Berg. Dabei spürte er, wie das Adrenalin durch seinen Körper kreiste.

Wenn es darum ging, an gefährlichen Orten Ski zu fahren, war er ganz der Sohn seines Vaters.

Das Geräusch rhythmischen Scharrens zog seine Aufmerksamkeit auf den Weg, den er gerade erklommen hatte. Er schaute hinüber und hob überrascht einen Skistock. „Hier drüben, Kumpel.“

Adam Bellamy legte das letzte Stück des Weges zurück. Mit einer Hand schirmte er seine Augen gegen die tief stehende Sonne ab. „Du hast gesagt, du würdest mir ordentlich Dampf machen, und das hast du“, rief er. Seine Stimme hallte über das eisige Terrain.

Mason grinste seinen jüngeren Bruder an. „Ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht. Aber sieh dich an. Du schwitzt noch nicht mal.“

„Methionin. Für die Arbeit werden wir alle drei Monate auf unsere Stoffwechselkondition getestet.“

Adam war Feuerwehrmann mit einer Statur, die es ihm ermöglichte, seine achtzig Pfund schwere Ausrüstung Treppen hinaufzuschleppen.

„Cool. Mein einziges Ausdauertraining besteht darin, morgens die letzten Meter zu sprinten, um meine U-Bahn nicht zu verpassen.“

„Das harte Leben eines internationalen Finanzmanagers“, sagte Adam. „Einen Moment, ich hole schnell meine kleine Geige raus.“

„Wer sagt denn, dass ich mich beschwere?“ Mason nahm seine Brille ab, um etwas Antibeschlagspray aufzutragen. „Ist Ivy auch in der Nähe? Oder hat unsere kleine Schwester unterwegs ein Team aus Bergführern engagiert, die sie den Berg hinauftragen, damit sie ihn nicht auf ihren Skiern erklimmen muss?“

„Sie ist nah genug, um dich zu hören“, sagte Ivy, die in diesem Moment auf dem Bergkamm erschien. „Und befinden die Bergführer sich nicht derzeit im Streik?“

Sie trug einen umwerfenden türkisgrünen Parka und eine weiße Skihose, dazu eine Gucci-Sonnenbrille und weiße Lederhandschuhe. Ihr blondes Haar quoll wild und windzerzaust unter ihrem Helm heraus.

Vor Masons innerem Auge blitzte das Bild ihrer Mutter auf. Ivy sah ihr so ähnlich. Er verspürte einen Anflug von Schuldgefühlen, als er an Alice Bellamy dachte. Ihre letzte Abfahrt war ebenfalls hier auf diesem Berg gewesen. Aber anders als Trevor hatte sie überlebt. Wenngleich einige behaupteten, das, was ihr zugestoßen war, sei wesentlich schlimmer, als zu sterben.

Ivy stapfte auf ihren Skiern zu ihnen. „Hört mal, ihr zwei. Ich will es nur vorher gesagt haben: Wenn ich die Erde eines Tages verlasse, erwarte ich nicht, dass meine erwachsenen Kinder ihr Leben riskieren, nur um meine Asche zu verstreuen. Stellt sie einfach in der Schmuckabteilung von Neiman Marcus ab. Das reicht mir völlig.“

„Den Wunsch solltest du lieber aufschreiben“, sagte Mason.

„Woher willst du wissen, dass ich das nicht schon längst getan habe?“ Sie zeigte auf Adam. „Hilf mir mal, diese Überzieher von den Skiern abzumachen, ja?“ Nacheinander hob sie ihre Skier an und steckte sie aufrecht in den Schnee.

Adam entfernte mit geübter Hand die Folien unter den Laufflächen. Dann tat er dasselbe bei seinen Skiern und stopfte die Überzieher in seinen Rucksack. „Das ist wahnsinnig steil, genau, wie Daddy es immer beschrieben hat.“

„Hast du Schiss?“ Ivy zog den Kinnriemen an ihrem Helm fest.

„Bin ich jemals vor einer Piste zurückgeschreckt?“, erwiderte Adam. „Ich werde es jedoch langsam angehen lassen. Keine verrückten Tricks.“

Alle drei ließen sie den Blick über die wunderschöne Abfahrt schweifen, die im Licht der spätnachmittäglichen Sonne unglaublich friedlich vor ihnen lag. Es war das erste Mal, dass sie sich an diesem Platz aufhielten. Als Familie waren sie an allen möglichen Orten zusammen Ski gefahren, aber nie hier. Dieser besondere Berg war die spezielle Domäne ihres Vaters und ihrer Mutter gewesen.

Sie standen in der Reihenfolge ihrer Geburt – Mason, der Erstgeborene, derjenige, der ihren Vater am besten kannte. Adam, drei Jahre jünger, hatte Trevor am nächsten gestanden. Und Ivy, noch in den Zwanzigern, war das sprichwörtliche Baby der Familie – angebetet, anspruchsvoll, scheinbar zerbrechlich, aber mit dem Herzen einer Löwin. Sie hatte die Zuneigung ihres Vaters so sicher dominiert, wie die Sonne die Dämmerung dominierte, auf eine Weise, wie nur eine Tochter es konnte.

Mason fragte sich, ob seine Geschwister jemals die Dinge über ihren Vater erfahren würden, die er wusste. Und falls ja, würde das etwas an ihren Gefühlen für ihn ändern?

Sie standen nebeneinander, ihr Schweigen mächtiger als jede Unterhaltung, die sie hätten führen können.

„Es ist unglaublich“, sagte Ivy nach einer langen Pause. „Die Bilder werden dem nicht gerecht. Vielleicht war Dads letzter Wunsch gar nicht so verrückt. Das hier ist womöglich der hübscheste Berg aller Zeiten und ich werde ihn mit meinen beiden besten Kumpels erleben.“ Sie seufzte. „Ich wünschte, Mom könnte hier sein.“

„Ich werde alles filmen“, sagte Adam. „Wir schauen es uns dann gemeinsam an, wenn wir nächste Woche wieder in Avalon sind.“

Ein Jahr nach dem Unfall versuchte ihre Mutter, sich an ein neues Leben an einem neuen Ort zu gewöhnen – ein kleines Städtchen in den Catskills am Rande des Willow Lake. Mason war sich sicher, dass das nicht das Leben war, das Alice Bellamy sich für sich vorgestellt hatte.

„Hast du ihn?“, fragte Adam.

Mason schlug sich mit der flachen Hand an die behelmte Stirn. „Verdammt. Ich habe ihn vergessen. Warum wartet ihr beide nicht hier, während ich nach unten fahre, mir die Asche schnappe, mich vom Helikopter wieder raufbringen lassen und dann noch einmal das letzte Stück auf Skiern hochsteige?“

„Sehr lustig“, sagte Adam.

„Natürlich habe ich ihn.“ Mason setzte seinen Rucksack ab und wühlte darin herum. Dann zog er ein in ein marineblaues Tuch eingeschlagenes Gefäß heraus. Er wickelte es aus und reichte das Tuch Adam.

„Ein Bierseidel?“, fragte Ivy.

„Was anderes habe ich nicht gefunden“, erwiderte Mason. Das Seidel war unglaublich kitschig. Mason hatte es während seiner Collegezeit erstanden. Es war bunt bemalt mit einer Szene, die einen lachenden Falstaff zeigte, und hatte einen Deckel aus Zinn. „Die verdammte Urne, in der sie ihn angeliefert haben, war zu groß. Die hätte niemals in mein Gepäck gepasst.“

Mason verschwieg seinen Geschwistern lieber, dass die Hälfte der Asche auf dem Fußboden seines Wohnzimmers in Manhattan gelandet war. Trevor Bellamy von der Urne in das Bierseidel zu bekommen war schwieriger gewesen, als er erwartet hatte. Erschrocken von der Vorstellung, dass sein Vater in den Fasern seines Teppichbodens steckte, hatte er die verschüttete Asche aufgesaugt und war jedes Mal zusammengezuckt, wenn eins der größeren Teile geräuschvoll in den Beutel gesogen worden war.

Dann hatte er es nicht über sich gebracht, den Staubsaugerbeutel einfach in den Müll zu werfen, also war er auf den Balkon hinausgegangen und hatte die Überreste auf der Avenue of the Americas verstreut. An dem Tag hatte ein leichter Wind geherrscht und die pingeligste Nachbarin des Hochhauses hatte ihren Kopf aus dem Fenster gesteckt und mit erhobener Faust gedroht, den Hausmeister über seinen Verstoß zu informieren. Der Großteil der Asche war wieder auf den Balkon zurückgeweht. Mason hatte schließlich abgewartet, bis der Wind abgeflaut war, und die Reste dann mit einem Besen vom Balkon gefegt.

Also hatte es nur der halbe Trevor Bellamy in das Bierseidel geschafft. Was angemessen war, wie Mason fand. Ihr Vater war ja auch zu seinen Lebzeiten immer nur halb da gewesen.

„Ich habe damit kein Problem“, sagte Adam. „Dad hat sein Bier geliebt.“

Mason hielt das Bierseidel hoch. Er hob sich stark gegen das schwächer werdende Licht des nachmittäglichen Himmels ab.

„Ein Prosit“, sagte Adam.

„Salut“, sagte Mason auf Französisch, der Sprache, die ihr Vater wie eine Muttersprache gesprochen hatte.

„Cin cin.“ Ivy, die Künstlerin der Familie, bevorzugte Italienisch.

„Take your protein pill and put your helmet on“, zitierte Mason eine Zeile aus David Bowies Song Space Oddity. „Legen wir los.“

Ivy setzte die Sonnenbrille wieder auf. „Mom fährt so gerne Ski. Es ist traurig, dass sie es nie wieder tun wird.“

„Ich nehme es auf, damit sie es sich anschauen kann.“ Adam zog mit den Zähnen einen seiner Handschuhe aus und hob die Hand, um die Kamera anzuschalten, die an seinem Helm befestigt war.

„Wollen wir ein paar Worte sagen?“, fragte Ivy.

„Würde es dich aufhalten, wenn ich Nein sage?“ Mason entfernte das Klebeband, das den Deckel des Bierseidels fixierte.

Ivy streckte ihm die Zunge heraus. Dann schaute sie zu Adam und sprach in die Kamera: „Hey Mom. Wir wünschten, du könntest jetzt bei uns sein, um dich von Dad zu verabschieden. Wir haben es alle auf den Gipfel des Cloud Piercer geschafft, genau, wie er es gewollt hat. Es ist irgendwie surreal, hier im Winter zu stehen, während dort, wo du bist, am Willow Lake, gerade der Sommer beginnt. Es fühlt sich an wie … ich weiß nicht … als hätten wir die Zeit zurückgedreht.“

Ivys Stimme zitterte vor unterdrückten Gefühlen. „Wie auch immer, hier bin ich mit meinen beiden großen Brüdern. Daddy hat es geliebt, wenn wir drei zusammen waren, Ski gefahren sind und Spaß hatten.“

Adam drehte den Kopf, damit die Kamera die majestätische Aussicht um sie herum aufnehmen konnte. Die zerklüfteten Felsen der Neuseeländischen Alpen, die über die gesamte Länge der Südinsel verliefen, hoben sich scharf gegen den Himmel ab. Mason fragte sich, wie es an dem Tag gewesen war, an dem seine Eltern hier Ski gefahren waren. Ihre letzte gemeinsame Abfahrt. War der Himmel so blau gewesen, dass es in den Augen geschmerzt hatte? Hatte die kalte Luft in der Lunge gebrannt? War die Stille allumfassend gewesen? Hatte es irgendein Anzeichen gegeben, dass der Schnee der gesamten Bergfront sie unter sich begraben würde?

„Sind wir so weit?“, fragte er.

Adam und Ivy nickten. Er betrachtete das Gesicht seiner kleinen Schwester, dessen Ausdruck vor Trauer um ihren Vater weich geworden war. Sie hatte ihm besonders nahegestanden und sein Tod hatte sie schwer getroffen – vielleicht noch schwerer als ihre Mutter.

„Wer ist der Erste?“, fragte Adam.

„Ich kann nicht“, sagte Mason. „Ihr, äh, wollt nicht in die Wolke fahren, wenn ihr wisst, was ich meine.“ Er zeigte auf das Bierseidel.

„Oh, stimmt“, sagte Ivy. „Dann fährst du als Letzter.“

Adam drehte die Kamera so, dass sie bergauf zeigte. „Fahren wir einer nach dem anderen, um nicht eine weitere Lawine auszulösen, okay?“

Es war eine bekannte Sicherheitsmaßnahme, in lawinengefährdeten Gebieten mit großem Abstand die Pisten hinunterzufahren. Mason fragte sich, ob sein Vater davon gewusst hatte. Er fragte sich auch, ob sein Vater diese Regel wissentlich missachtet hatte. Er bezweifelte, dass er seine Mutter je danach fragen würde. Was vor einem Jahr an diesem Berg passiert war, konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Ivy setzte die Sonnenbrille ab und küsste das Bierseidel. „Bye, Daddy. Flieg in die Ewigkeit, okay? Aber vergiss nicht, wie sehr du hier auf Erden geliebt wurdest. Ich werde dich für immer in meinem Herzen behalten.“ Sie fing an zu weinen. „Ich dachte, ich hätte alle Tränen aufgebraucht, aber ich schätze, das stimmt nicht. Ich werde immer eine Träne für dich verdrücken, Daddy.“

Adam wackelte mit seinen behandschuhten Fingern vor der Kamera. „Yo, Dad. Du warst der Beste. Ich hätte mir nicht mehr wünschen können. Abgesehen von mehr Zeit mit dir. Bis später, Kumpel.“

Jeder von ihnen hatte einen anderen Trevor Bellamy gekannt. Mason konnte sich nur wünschen, dass der Vater, den er gekannt hatte, derjenige gewesen wäre, der bei Ivy ihre Zärtlichkeit und Loyalität hervorgerufen hatte oder Adams Heldenverehrung. Er kannte eine andere Seite ihres Dads, aber nie würde er derjenige sein, der die Erinnerungen seiner Geschwister an ihn zerstörte.

Adam schob sich durch das Tor, auf dem die Warnung stand, dass die Piste nur für erfahrene Skiläufer geeignet war, und fuhr den Berg hinunter, wobei seine Kamera alles aufnahm.

Ivy wartete einen Moment und folgte dann in sicherer Entfernung. Dank Adam, dem Vorsichtigen unter ihnen, trugen sie alle eine Ausrüstung mit Notsignalen und einem Lawinenairbag, der sich im Falle eines Lawinenabgangs automatisch öffnen würde.

Ihre Mutter hatte am Tag des Unfalls auch so einen Airbag getragen. Ihr Vater nicht.

Adam glitt erfahren und kontrolliert den Hang hinunter. Den steilen Teil meisterte er mit Leichtigkeit und zeichnete eine gewundene Spur in den unberührten Pulverschnee. Ivy folgte ihm elegant und machte aus seiner S-Kurve eine Doppelhelix.

Ein leichter Windhauch bewegte die eisige Luft. Mason beschloss, dass den verdammten Berg zu erklimmen zu harte Arbeit gewesen war, um jetzt die konservative Route nach unten zu nehmen. Er war schon immer der Waghalsigste von ihnen gewesen und entschied sich mit fröhlicher Unbekümmertheit für die Abfahrt, die sein Vater vermutlich genommen hatte.

„Los geht’s“, sagte er in die klare Leere hinein und öffnete mit dem Daumen den Deckel des Bierseidels. Die kalte Luft musste dem Steingut ordentlich zugesetzt haben, denn ein Stück brach ab und schnitt durch den Handschuh in seinen Daumen. „Autsch.“ Er ignorierte den Schnitt und konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe.

War noch etwas von der Essenz seines Vaters übrig? War Trevor Bellamys Seele irgendwo in den bescheiden aussehenden Überresten gefangen und wartete darauf, auf dem Berggipfel freigelassen zu werden?

Sein Vater hatte sein Leben gelebt. Und er hatte ein Vermächtnis aus Geheimnissen hinterlassen. Für seine Freiheit hatte er den ultimativen Preis bezahlt und seine Bürde auf den Schultern eines anderen geparkt – auf denen seines ältesten Sohnes.

„Gute Reise, Dad“, sagte Mason. Mit den Skistöcken in der einen Hand, den Arm mit dem Bierseidel hoch in die Luft gestreckt, stürzte er sich kontrolliert den Berg hinunter. Einen Moment lang hörte er die Stimme seines Vaters: Lehne dich in die Angst, mein Sohn. Daher kommt die Kraft. Die Worte schwebten aus der Vergangenheit zu ihm herüber, aus einer Zeit, als alles noch unkompliziert gewesen war, als Dad einfach Dad gewesen war, der ihm beibrachte, einen Berg hinunterzufahren, und der mit ungezügelter Freude gejubelt hatte, wenn er, Mason, eine steile Abfahrt gemeistert hatte. Das war vermutlich der Grund, warum er Sportarten vorzog, die das Adrenalin bei ihm in Wallung brachten, bei denen er auf dem schmalen Grat zwischen Angst und Triumph balancieren musste.

Die Asche bildete hinter ihm eine Wolke, wurde von einer Bö nach oben gewirbelt und über dem Antlitz von Trevors geliebtem, aber tödlichem Berg verstreut.

Was wir am meisten lieben, kann uns umbringen. Vielleicht hatte er den Spruch irgendwo einmal gehört. Oder er war ihm gerade erst eingefallen.

Je schneller Mason fuhr, desto weniger wurde er von so unbequemen Dingen wie Gedanken gestört. Das war das Schöne am Skifahren in gefährlichen Gebieten. Erfüllt von der Aufregung der Fahrt, nahm er nur am Rande wahr, dass Adam die Kamera auf ihn gerichtet hatte. Er konnte nicht widerstehen, ein wenig anzugeben und eine Spur in einem frischen, unberührten Schneebett zu legen, die sich wie eine Schlange den Berg hinunterwand. Als er einen zerklüfteten Felsen entdeckte, dessen Seite sich perfekt für einen Sprung eignete, hielt er darauf zu. Lehne dich in die Angst, mein Sohn. Er richtete seine Skier aus und sprang über den Rand. Ein paar Sekunden lang flog er durch die Luft. Der Wind fuhr unter seinen Parka und machte ihn für einen Moment zu einem menschlichen Kite. Die steile Landefläche raste mit atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zu. Als er aufkam, schwankte er etwas, schaffte es aber, nicht hinzufallen und den Bierseidel weiter in der Hand zu behalten.

Er lachte kurz auf. Wie war das, Dad? Wie habe ich das gemacht? Auf die eine oder andere Art war sein gesamtes Leben eine Vorstellung für seinen Vater gewesen – im Sport, in der Schule, im Beruf. Nun hatte er sein Publikum verloren und das war unglaublich befreiend. Deshalb fragte er sich, wieso jetzt Tränen seine Skibrille beschlagen ließen. Als die Piste flacher wurde und seine Geschwindigkeit sich auf natürliche Weise verlangsamte, sah er, dass Ivy hektisch mit den Armen wedelte.

Was nun?

Er raste auf sie zu und bemerkte, dass Adam sein Handy am Ohr hatte.

„Was ist los?“, fragte er. „War mein monumentaler Lauf nicht gut genug? Oder postest du das Video bereits online?“

Trotz der kalten Luft war Ivys Gesicht bleich. „Es ist Mom.“

„Am Telefon? Grüß sie schön von mir.“

„Nein, du Trottel. Ihr ist etwas zugestoßen.“

2. KAPITEL

Für Mason war Geld ein Werkzeug, kein Ziel. Und wenn er von einem entlegenen Bergdorf zu einem internationalen Flughafen musste, war er froh, genügend davon zu haben. Innerhalb weniger Stunden nach der abgebrochenen Ascheverteilaktion saßen sie in der First-Class-Lounge in der Abflughalle von Christchurch und warteten auf ihren Flug nach New York. Von dort würden sie mit einem Privatjet in nördlicher Richtung am Hudson River entlang nach Avalon fliegen. Er hatte seine Assistentin angewiesen, ein Wasserflugzeug aufzutreiben, damit sie auf dem Willow Lake landen und vor dem Steg am Haus ihrer Mutter festmachen konnten.

Die gesamte Reise würde ungefähr vierundzwanzig Stunden dauern. Dank der Zeitverschiebung würden sie am selben Tag landen, an dem sie abflogen. Die Reise kostete irgendetwas um die dreißigtausend Dollar, was er ohne mit der Wimper zu zucken bezahlte. Es war nur Geld. Er hatte ein Händchen dafür, so leicht Geld zu machen, wie andere Männer am Wochenende in ihrer Garage Vogelhäuschen bauten.

Adam telefonierte gerade mit jemandem in Avalon. „Wir sind auf dem Weg“, sagte er und schaute auf die Uhr in der Lounge. „Wir sind da, wenn wir da sind. Okay, wartet einfach auf uns.“

„Hast du Genaueres erfahren?“, wollte Mason wissen, nachdem Adam aufgelegt hatte.

„Sie ist die Treppe hinuntergefallen und hat sich das Schlüsselbein gebrochen“, erwiderte sein Bruder. Er steckte das Handy zurück in die Tasche. „Es ist ein Wunder, dass sie sich nicht den Schädel aufgeschlagen hat oder von ihrem motorisierten Rollstuhl überfahren worden ist.“

„Ich kann nicht glauben, dass sie hingefallen ist“, sagte Ivy mit zittriger Stimme.

„Und was zum Teufel machte sie überhaupt oben an einer Treppe?“, wollte Mason wissen. „Der gesamte untere Bereich des Hauses ist doch extra für sie umgebaut worden.“

„Wenn du sie öfter als nur alle Jubeljahre mal besuchen würdest, wüsstest du, dass inzwischen der Fahrstuhl installiert worden ist“, erwiderte Adam.

Adam kümmerte sich um die tägliche Pflege ihrer Mutter, die auf dem Grundstück am See wohnte. Mason hatte die Rolle des Finanzberaters übernommen und regelte die Finanzen und die logistischen Probleme, eine Rolle, die genau nach seinem Geschmack war. Er wischte den Kommentar seines Bruders beiseite. „Ich verstehe nur nicht, wie sie es geschafft hat, die Treppe hinunterzufallen. Sie ist eine Tetraplegikerin in einem Rollstuhl. Sie kann sich nicht rühren.“

„Sie kann ihre Lippen bewegen und ihren Rollstuhl mit ihrem Atem steuern“, sagte Ivy. „Außerdem arbeitet sie mit ihrer Physiotherapeutin daran, ihre Arme an den Ellbogen zu strecken, was ihrer Mobilität hilft.“

„Ich verstehe trotzdem nicht, was sie überhaupt oben gemacht hat.“ Masons Herz schlug so heftig, dass seine Brust schmerzte. Er und seine Mutter hatten ihre Differenzen, aber wenn es darauf ankam, fühlte er nichts als Liebe und Trauer. Und jetzt einen Anflug von Panik.

„Bist du sicher, dass es ihr gut geht?“, fragte Ivy und stellte das Tablett mit Cappuccino und Croissants auf den Tisch in der Ecke, in der sie saßen.

„Ja, abgesehen von ihrer üblichen Verbitterung und Wut“, sagte Adam.

„Jesus.“ Mason strich sich durchs Haar.

„Nein, der diensthabende Pfleger heißt José.“ Adam las eine E-Mail auf seinem Handy.

„Feuer den Scheißkerl sofort“, befahl Mason.

„Das muss ich nicht“, erwiderte Adam. „Er hat von sich aus gekündigt. Sie haben alle gekündigt. Keine ihrer Hilfen hat mehr als ein paar Wochen durchgehalten.“

„Er hätte es nicht verhindern können“, meinte Ivy. „Laut Mrs Armentrout hat Mom den Fahrstuhl nach oben genommen, ohne jemandem Bescheid zu sagen.“

„Armentrout? Die Haushälterin?“, fragte Mason. „Dann sollte sie auch gefeuert werden.“

„Du bist derjenige, der sie eingestellt hat“, merkte Adam an.

„Meine Assistentin hat sie eingestellt. Mit meiner Zustimmung.“

„Und sie ist großartig. Außerdem ist es die Aufgabe des Pflegers, auf Mom aufzupassen, nicht die der Haushälterin.“

„Sie braucht Hilfe, aber keine Dauerüberwachung“, sagte Ivy.

„Vielleicht doch, wenn sie sich heimlich in den ersten Stock schleicht.“ Mason verbrachte mehr Zeit mit Gedanken an ihre Mutter, als alle sich vorstellen konnten. An dem Tag vor einem Jahr hatte seinen Vater die endgültige Tragödie ereilt. Alle – ihn eingeschlossen – sagten, dass ihre Mutter Glück hatte, da sie überlebte.

Sie empfand das jedoch nicht so. Von dem Augenblick an, in dem man ihr gesagt hatte, ihre Wirbelsäulenverletzung bedeutete, dass sie nie wieder gehen, geschweige denn Ski fahren, Salsa tanzen, von Klippen springen, einen Triathlon laufen oder selbst ein Auto fahren würde, hatte sie gegen ihr Schicksal gewütet. Jeder, der sich traute, ihr ins Gesicht zu sagen, dass sie Glück hatte, am Leben zu sein, riskierte, von ihrer scharfen Zunge verletzt zu werden.

Nach mehreren Operationen, medikamentösen Therapien und intensiven Reha-Maßnahmen hatte Alice eingewilligt, nach Avalon zu ziehen, um sich an ihr neues Leben als Witwe und Querschnittsgelähmte zu gewöhnen und so viel Unabhängigkeit zu erlangen, wie ihr möglich war. Avalon war die Stadt, in der Adam lebte, direkt am Ufer des schönsten Sees im gesamten Ulster County, mit dem Zug nur ein paar Stunden von New York City entfernt.

Jedes der drei Bellamy-Kinder spielte seine Rolle. Adam, ein Feuerwehrmann mit einer Zusatzausbildung als Rettungssanitäter, wohnte im Bootshaus des Anwesens, das Mason nach dem Unfall für seine Mutter gekauft hatte. Adam war gut darin, sich um Menschen zu kümmern, und es war eine Erleichterung, zu wissen, dass ein Familienmitglied vor Ort war, um nach ihrer Mutter zu sehen.

Mason war dafür verantwortlich, sicherzustellen, dass seine Mutter alles hatte, was sie benötigte, um ihr neues Leben in Avalon aufzubauen. Er hatte sie mit einem großzügigen Grundstück versorgt und das Haus, das groß genug war, um Personal zu beherbergen, für ihre Bedürfnisse umbauen lassen. Das historische Anwesen lag am sonnengetränkten Ufer des Willow Lake. Es waren einige Umbauten nötig gewesen, damit ihre Mom sich dort mit ihrem elektrischen Rollstuhl gefahrlos fortbewegen konnte. Unter anderem waren die Türen verbreitert und eine Gegensprechanlage und ein Fahrstuhl eingebaut worden. Durch den Garten führten mehrere befestigte Wege. Außerdem gab es ein privates Fitnessstudio für ihre Physiotherapie, einen geheizten Pool, eine Sauna und ein Spa, ein Bootshaus sowie einen Steg mit Rampen und Flaschenzügen. Sie hatte alles an Personal, was sie brauchte, darunter einen balinesischen Koch, der mit dem Cordon Bleu, dem blauen Band der Franzosen für hervorragende Kochkünste, ausgezeichnet worden war, einen Fahrer und eine im Haus wohnende Pflegekraft.

Jeder hatte seine Rolle. Mason hatte gedacht, dass es funktionierte, aber offensichtlich gab es jetzt keine Pflegekraft mehr.

„Was meintest du, als du gesagt hast, alle haben gekündigt?“, fragte er Adam.

„Wie ich schon sagte, das würdest du verstehen, wenn du sie mal besuchtest. Ivy lebt an der Westküste und schafft es trotzdem, öfter vorbeizuschauen als du, obwohl du in der Stadt wohnst.“

Ivys Rolle war etwas undefinierter, aber genauso wichtig. Manchmal kam es Mason so vor, als trage sie ihren Teil bei, indem sie einfach nur bezaubernd und liebevoll und unterstützend war. Sie war zehn Jahre jünger als er und ein Mensch, der einen Raum betrat und ihn sofort mit Licht erfüllte. Während der ersten Tage nach dem Unfall war Ivy für ihre Mutter so wichtig gewesen wie reiner Sauerstoff.

„Mom braucht meine Gesellschaft nicht“, erklärte er. „Ich habe ihr das beste Haus gekauft, das wir finden konnten, habe ihr alles Personal besorgt, das sie benötigt, habe das Haus für sie und ihren Rollstuhl umbauen lassen. Ich weiß nicht, was zum Teufel ich sonst noch tun könnte.“

„Manchmal muss man gar nichts tun“, sagte Ivy. „Manchmal ist einfach da zu sein alles, was sie braucht.“

„Nicht von mir.“ Er prüfte den Kalender auf seinem Handy. „Die Operation zum Richten ihres Schlüsselbeins hat sie also schon hinter sich. Wie lange wird sie im Krankenhaus bleiben müssen?“

„Vermutlich nicht lange“, sagte Adam. „Wir werden mehr wissen, wenn wir uns mit den Ärzten unterhalten.“ Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. „Hör mal, ich wollte dir das eigentlich heute Abend beim Essen erzählen. Du wirst dich die nächsten Monate um Mom kümmern müssen – vielleicht auch länger.“

Mason winkte ab. „Ich kann nicht mal für ein paar Stunden bleiben. Ich soll übermorgen mit Regina nach Los Angeles fliegen“, erklärte er. „Sie hat ein Treffen mit einem ziemlich einflussreichen neuen Kunden organisiert.“

Er fand es nicht angebracht zu erwähnen, dass Regina – die sowohl seine Kollegin als auch seine Freundin war – und er dieses Mal ein paar Tage Surfurlaub in Malibu mit eingeplant hatten.

„Das wirst du absagen müssen“, sagte Adam schlicht. „Du musst bei Mom bleiben.“

„Was zum Teufel meinst du damit, ich muss bei ihr bleiben?“

„Im Haus am See wohnen. Deine Geschäfte von dort aus führen.“

Mason zuckte zurück. „Was soll das alles?“

„Ich muss für eine Weile fort“, erklärte Adam. „Eine Spezialausbildung für die Arbeit.“

Sofort wandte Mason sich an Ivy.

Sie hob abwehrend beide Hände. „Mein Stipendium in Paris, erinnerst du dich? Das, worauf ich die letzten fünf Jahre hingearbeitet habe? Es fängt nächsten Monat an.“

„Verschieb es.“

„Na klar. Ich erkläre dem Direktor des Institut de Paume, mir einen Platz frei zu halten.“ Ivy schob ihre Sonnenbrille hoch und fixierte ihn mit einem intensiven Blick. „Du bist dran, Bruder.“

„Okay, meinetwegen, aber ich werde nicht in die Catskills ziehen. Meine Assistentin wird eine andere Pflegekraft suchen, die bei ihr einziehen kann.“

„Verdammt“, sagte Adam. „Mom braucht Familie. Sie braucht dich.

Mason hatte eine lange Reihe von Pflegekräften, materiellen Dingen und Komfort für seine Mutter organisiert. Er hatte keine Kosten gescheut – Fahrstühle, Hilfsmittel –, für Alice Bellamy war nichts zu teuer.

Dank ihm fehlte es ihr an nichts.

Abgesehen von einer Sache, die ihr niemand geben konnte und die sich mit seinen gesamten Millionen nicht kaufen ließ.

Einige Probleme ließen sich nicht dadurch lösen, dass man Geld auf sie warf.

Dennoch konnte er sich nichts Schlimmeres vorstellen, als mit seiner verbitterten, verletzten Mutter, zu der er – anders als seine Geschwister – seit seinen Teenagerjahren eine wackelige Beziehung hatte, in einer Kleinstadt festzuhängen.

Und jetzt erwartete man von ihm, dass er bei ihr einzog.

Oh nein, verdammt noch mal, nein, dachte er.

„Was ist das für eine Spezialausbildung?“, fragte er Adam.

„Ich werde als Brandursachenermittler ausgebildet. Das findet oben in Albany statt und dauert zwölf bis sechzehn Wochen.“

„Ehrlich?“

„Er hat Frauenprobleme“, sagte Ivy. „Das ist die geografische Kur dagegen.“

„Halt den Mund, du verzogenes Gör. Ich habe keine Frauenprobleme.“

„Okay, nennen wir es Mangel-an-Frauen-Probleme.“

„Was? Jetzt hör aber auf.“

Zu Masons Überraschung lief Adam rot an.

„Das ist kompliziert. Und wo wir gerade von kompliziert sprechen, wie viele Frösche hast du allein in diesem Jahr geküsst?“

Ivy beklagte sich oft über den Stand ihres Liebeslebens, doch Mason hatte keine Ahnung, warum. Sie war wunderschön, ein bezaubernder Mensch und ein wenig verrückt. Alle liebten sie. Nur nicht der Richtige, schätzte er.

„Halt du den Mund“, erwiderte sie und Mason hörte das laute Echo ihrer Kindheit in den Schlagabtausch sickern.

„Ihr haltet jetzt beide den Mund“, sagte er. „Konzentrieren wir uns darauf, was wir wegen Mom unternehmen sollen.“

„Ivy fährt nach Paris, um sich flachlegen zu lassen …“

„Hey.“ Sie schlug Adam auf den Arm.

„Und ich kann den Zeitplan der Ausbildung nicht ändern, nur damit es besser in deine Reisepläne passt. Also bist du jetzt dran, Mason.“

„Aber …“

„Nichts, aber. Es ist an der Zeit, dass du mal einspringst.“

Mason sah seinen Bruder und seine Schwester finster an. Es war kaum zu glauben, dass sie alle drei die gleiche DNA hatten, so unterschiedlich, wie sie waren. „Kommt nicht infrage. Ich verfüge über keinerlei Fähigkeiten, die benötigt werden, um ihr zu helfen. Und auf gar keinen Fall werde ich an den verdammten Willow Lake ziehen.“

3. KAPITEL

Ich hätte ja das gemästete Kalb für dich geschlachtet, aber ich bin im Moment ein wenig indisponiert“, sagte Alice Bellamy, als Mason auf dem Anwesen am Willow Lake eintraf.

„Ist schon okay. Ich bin sowieso Vegetarier.“ Mason fragte sich, ob seine Mutter überhaupt bemerkt hatte, dass er seit seinem zwölften Lebensjahr kein Fleisch mehr aß.

Er durchquerte den eleganten Salon, wo sie am Fenster saß, beugte sich hinunter und streifte mit seinen Lippen ihre Wange. Seife und Creme, eine frisch gewaschene Bluse – die gleichen Gerüche, die er immer mit ihr assoziiert hatte. Nur war sie in der Vergangenheit in der Lage gewesen, ihn wenigstens kurz zu umarmen oder eine Hand auszustrecken und ihm die Haare aus der Stirn zu streichen, eine Geste, die aus seiner Kindheit überdauert hatte.

Er setzte sich ihr gegenüber und verbarg die herzzerreißende Trauer, die er empfand. Er musterte ihr Gesicht und war überrascht, wie wenig sie sich vom Hals aufwärts verändert hatte. Glänzendes blondes Haar, zarte Haut, kornblumenblaue Augen. Er war immer stolz gewesen, eine so jugendliche und gut aussehende Mutter zu haben. „Du hast dir das Schlüsselbein gebrochen“, sagte er.

„So hat man es mir gesagt.“

„Ich dachte, du hättest einen Gips oder eine Schlinge oder so.“

Sie schürzte die Lippen. „Es ist ja nicht so, dass man mich davon abhalten müsste, meine Arme zu bewegen.“

„Äh, stimmt.“ Seit dem Unfall wusste er nicht mehr, wie er mit seiner Mutter umgehen sollte. Ach was, wem versuchte er etwas vorzumachen? Er hatte noch nie gewusst, wie er mit ihr umgehen sollte. „Hast du … tut es weh?“

„Darling, unterhalb meiner Brust fühle ich gar nichts mehr. Weder Schmerz noch Vergnügen. Gar nichts.“

Er ließ ein paar Sekunden vergehen, während derer er über eine Antwort nachdachte, die nicht falsch und nicht herablassend oder schlicht und einfach ignorant klang. „Ich bin froh, dass es dir gut geht. Du hast uns einen gehörigen Schrecken eingejagt.“

Schweigen hallte durch den Raum, der wie eine offene Lounge geschnitten war, die von einem aus massiven Flusssteinen erbauten Kamin dominiert wurde. Deckenhohe Regale voller Bücher schmückten die Wände, und die sorgfältig ausgewählten Möbel waren so arrangiert, dass seine Mutter mit ihrem Rollstuhl gut dazwischenpasste. In einer Ecke stand ein großer Schreibtisch, in einer anderen ein Messingteleskop auf einem Dreifuß. Das Klavier, das sie in jedes Haus begleitet hatte, in das sie als Familie gezogen waren, war jetzt ein Sammelplatz für gerahmte Familienfotos.

Der stets präsente Ausblick auf den Willow Lake wurde von großen Flügeltüren eingerahmt, die sich mit einem Schalter öffnen ließen. „Wie auch immer“, sagte er. „Wir werden dir sofort eine neue Pflegekraft besorgen. Meine Assistentin hat bereits Kontakt zu verschiedenen Agenturen aufgenommen.“ Er schaute auf seine Uhr. „Wir haben heute genug zu tun, sodass uns nicht langweilig wird. Der Anwalt kommt in einer halben Stunde. Bist du dafür bereit?“

„Anwalt?“ Sie runzelte die Stirn und trank mit dem Strohhalm aus dem Kaffeebecher, der auf dem Tablett ihres Rollstuhls festgeklemmt war.

„Mein Anwalt aus der Stadt hat mir jemanden von hier aus Ulster County empfohlen …“

„Wofür?“

„Um uns mit der Klage wegen Fahrlässigkeit gegen den Pfleger zu helfen, der zugelassen hat, dass du die Treppe hinuntergefallen bist, und natürlich gegen die Agentur, die ihn vermittelt hat.“

„Oh nein, das tun wir nicht. Das war nur ein dummer Unfall“, sagte sie. „Daran hatte niemand Schuld.“

„Mom, du bist mit einem hundertfünfzig Kilo schweren motorisierten Rollstuhl die Treppe hinuntergefallen. Es ist ein Wunder, dass du nicht zerquetscht worden bist. Jemand hat fahrlässig gehandelt …“

„Das wäre dann wohl ich“, unterbrach sie ihn. „Ich habe mich auf den Steuerknüppel gelehnt und bin über die Stufen gefahren.“

„Dann trägt der Rollstuhlhersteller die Schuld.“

„Keine Anwälte“, sagte sie. „Was … was passiert ist, daran hatte niemand Schuld. Es wird keine Klage geben. Ende der Geschichte.“

„Mom, du hast Anrecht auf Schadensersatz.“ Wenn es eins gab, das Mason nicht ertrug, dann waren es Menschen, die sich weigerten, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen.

„Auf keinen Fall“, sagte sie. „Ich will kein Wort mehr darüber hören.“

Er schickte Brenda eine SMS, damit sie den Termin mit dem Anwalt absagte. „Wie du meinst. Das lässt uns mehr Zeit, uns mit potenziellen neuen Pflegekräften zu treffen.“

„Entzückend.“

„Adam hat mich schon gewarnt, dass du ein alter Griesgram geworden bist.“

„Ich wette, er hat nicht Griesgram gesagt. Er ist ein Feuerwehrmann. Ich bin sicher, er hat einen farbenfroheren Ausdruck für mich. Wie Zicke aus der Hölle oder so.“

Adam ist ein Heiliger, dachte Mason. Sankt Adam. Ein Heiliger, den er innerlich verfluchte, weil er abgereist war. Adam und Ivy waren so lange geblieben, bis ihre Mutter aus dem Krankenhaus entlassen worden war, dann hatten sie beide losgemusst. Adam zu seiner Ausbildung und Ivy zurück nach Santa Barbara, um alles für ihren Umzug nach Europa vorzubereiten.

„Ich habe die Lebensläufe der Kandidaten ausgedruckt, mit denen wir uns treffen“, sagte er. „Willst du sie dir jetzt ansehen oder …“

„Ich denke, ich würde jetzt gerne in den Garten gehen.“

Er biss die Zähne zusammen und wandte den Blick ab, damit sie nicht sah, wie genervt er war.

„Du bist genervt“, sagte sie. „Du kannst es nicht erwarten, wieder zu fahren. Du bist schon mit einem Fuß aus der Tür raus.

Verdammt. Ertappt. Er setzte eine entspannte Miene auf. „Sei nicht albern. Ich bin froh, hier zu sein und ein wenig Zeit mit dir zu verbringen.“

„Klar.“ Sie nahm den Controller ihres Rollstuhls zwischen die Lippen und rollte auf die Glastüren zu. „Lass uns das Anwesen inspizieren, das du gekauft hast. Du hast es im Sommer noch gar nicht gesehen.“

Er hielt sich zurück und beobachtete beeindruckt, wie sie ihren Rollstuhl dazu nutzte, den Schalter zu bedienen, der die Türen öffnete. Als er auf die Terrasse hinaustrat, raubten ihm der Blick und die kühle Reinheit der Luft den Atem. „Wow“, sagte er.

„Das hast du wirklich gut gemacht“, sagte sie. „Ich weiß alles, was du für mich getan hast, sehr zu schätzen. Du hast mich nach Avalon gebracht, dieses Haus an meine Bedürfnisse anpassen lassen, Personal angeheuert. Wenn ich schon den Rest meines Lebens ein Krüppel sein werde, kann ich das nun wenigstens stilvoll tun.“

„Ich dachte, wir wollten nicht Krüppel sagen.“

„Nicht, wenn ich höflich bin. Aber ich fühle mich dieser Tage nicht sonderlich höflich.“

„Lass mich einen Moment den Ausblick genießen, okay?“ Als er das Grundstück das letzte Mal gesehen hatte, war es von einer dicken Schneeschicht bedeckt gewesen. Das Anwesen war als Webster House bekannt und in den 1920er Jahren von den Erben von Daniel Webster erbaut worden. Seine Entscheidung, es zu kaufen, hatte jedoch nichts mit dessen historischer Bedeutung zu tun gehabt oder mit dessen Ruf oder dessen Wert als Investition. Er hatte nur einen schönen Ort haben wollen, an dem seine Mutter in der Nähe von Adam leben konnte – ihrem Lieblingssohn – und der sich schnell an ihre speziellen Bedürfnisse anpassen ließ.

Während dieses Prozesses hatte er die Vorteile einer großen Familie, die in einer Kleinstadt wohnte, kennengelernt. Seine Cousine Olivia war mit dem Bauunternehmer verheiratet, der das fantasievolle Haus aus Holz und Stein in seinen ursprünglichen Glanz als Sommerresidenz aus längst vergangenen Zeiten zurückversetzt hatte. Sein Cousin Ross war mit einer Krankenschwester verheiratet, die sich auf die Ausrüstung von Häusern für die Bedürfnisse von körperlich Behinderten spezialisiert hatte. Ein weiterer Cousin, Greg, war Landschaftsarchitekt. Olivia war selber eine begabte Inneneinrichterin, sodass das Anwesen innerhalb weniger Monate bereit gewesen war für seine Mutter, für Adam und das im Haus wohnende Personal.

Mason hatte keine Kosten gescheut. In seiner Position brauchte er das auch nicht. In den letzten zehn Jahren hatte er seine eigene Firma geleitet, Private Equity, und die Geschäfte liefen gut. Er hatte alles Geld der Welt. Aber natürlich hatte Reichtum seine Grenzen. Er konnte seiner Mutter nicht ihre Mobilität zurückkaufen. Er konnte auch nichts kaufen, um ihr das Lächeln zurückzugeben.

Er atmete tief die Morgenluft ein. „Sie ist süß“, sagte er.

„Wie bitte?“

„Die Luft hier. Sie ist süß.“

„Ja, ich schätze, das ist sie.“

„Der Garten sieht toll aus. Bist du mit ihm zufrieden?“

„Dein Cousin Greg hat eine Crew vorbeigeschickt, die sich um das Rasenmähen und die Gartenpflege kümmert.“

Sie nickte in Richtung des breiten Rasenstreifens, der sich bis zum Seeufer hinunterzog. Dort unten gab es einen Steg und ein aus Holz und Stein erbautes Bootshaus, das verschiedene Kajaks, ein Catboot und ein 1940er Chris-Craft beherbergte. Wenn er nicht auf der Feuerwache war, lebte Adam im Obergeschoss.

Uralte Trauerweiden tauchten ihre knospenden Zweige in das ruhige, sonnenbeschienene Wasser. Das Wort, das ihm dazu einfiel, war unberührt. Der Willow Lake war einer der schönsten Seen in einer Gegend voller schöner Seen. Am anderen Ufer erhoben sich sanft grüne Hügel, über denen wattige Wolken schwebten. Am Nordende des Sees lag ein altes Sommercamp, das seit über hundert Jahren existierte – Camp Kioga.

Am südlichen Ende lag das Städtchen Avalon. Es sah aus wie aus einem Bilderbuch mit seinem kleinen Bahnhof, dem altmodischen Marktplatz, der aus Quadern erbauten Bibliothek im griechischen Stil und den schattigen Uferparks. Die Umgebung der Stadt war genauso attraktiv – es gab eine Bergstraße, die ins Skigebiet führte, ein Baseballfeld für das örtliche Baseballteam, weiße Kirchen, deren Spitztürme durch das frische Laub der Bäume schauten. Die Klippen am Shawangunks zogen Kletterer aus der ganzen Welt an. Irgendwo nicht weit entfernt gab es vermutlich auch die üblichen Schandflecke aus Waffenläden, Trailerparks, baufälligen Farmen und großen Ladenketten. Aber von hier aus konnte er nichts davon sehen. Und wichtiger noch, seine Mutter ebenfalls nicht.

Das Grundstück, das er für sie gekauft hatte, lag am westlichen Ufer des Sees, sodass man von hier jeden Morgen den Sonnenaufgang sehen konnte, wie der Makler bei der Besichtigung betont hatte. Der Mann hatte die weiteren Vorzüge des historischen Gebäudes hervorgehoben, nicht ahnend, dass Mason bereits beschlossen hatte, das Anwesen zu kaufen. Er suchte nach Sicherheit für seine Mutter, nicht nach einer guten Investition für sein Geld.

„Warum hören sie alle auf?“, fragte er und blätterte durch die ausgedruckten Lebensläufe der Kandidaten für den Job des Pflegers oder der Pflegerin, die er mit nach draußen genommen hatte. „Liegt es an der Unterkunft, die wir ihnen zur Verfügung stellen?“

„Hast du die Räume je gesehen?“

Er hatte sich nach der Fertigstellung des Umbaus Fotos angeschaut. Die Einliegerwohnung für die Pflegekräfte lag in einem Seitenflügel des Hauses und bestand aus mehreren Zimmern mit Blick auf den See, die mit neuen Möbeln und luxuriösen Einbauten ausgestattet waren. „Okay, guter Punkt. Also was dann?“

„Ich habe sie nicht gefragt. Ich bin mir aber sicher, dass Adam dir die Ohren vollgeheult hat. Niemand will mit einer trübsinnigen alten Frau zusammenleben, die kaum das Fernsehprogramm zu Der Preis ist heiß wechseln kann.“

Oh je. „Du bist nicht alt“, sagte er. „Deine Eltern würden ausflippen, wenn sie dich das sagen hören würden. Und trübsinnig zu sein ist eine Wahl. Genau wie Der Preis ist heiß zu gucken.“

„Danke, Sigmund Freud. Ich werde mich daran erinnern, wenn ich das nächste Mal im Bett liege und in einen Plastikschlauch pinkle …“

„Mom.“

„Oh, tut mir leid. Ich wollte dich nicht mit der Realität meiner Körperfunktionen belästigen.“

Allmählich verstand er, warum sie alle gekündigt hatten.

„Wo soll ich Ihre Sachen hinbringen, Mr Bellamy?“, fragte die Haushälterin.

Mason stand am Fenster und schaute auf den unglaublich friedlichen und schönen Willow Lake hinaus. Obwohl er am Abend zuvor spät eingetroffen war, war sein Gepäck nicht mitgekommen – irgendeine Verwechslung an einem der Flughäfen zwischen hier und Neuseeland.

Jetzt rollte Mrs Armentrout die beiden großen Koffer ins Zimmer. Sie trugen kleine Zettel, auf denen „Unbeaufsichtigtes Gepäck“ stand.

Er hatte sein Gepäck nicht mehr gesehen, seit er in Neuseeland in den Flughafen gestürmt war, nachdem sie den Anruf wegen des Unfalls seiner Mutter erhalten hatten. Jetzt merkte er, dass er die Koffer gar nicht brauchte, denn sie enthielten fast nur Winterkleidung.

„Lassen Sie sie einfach hier stehen“, sagte er.

„Möchten Sie Hilfe beim Auspacken?“

„Klar, wann immer Sie Zeit dafür haben.“

„Ich kann es gleich jetzt tun.“

Die Haushälterin arbeitete effizient, hängte seinen maßgeschneiderten Anzug in den antiken Schrank, faltete die Kaschmirpullover sorgfältig zusammen und verstaute sie in der Kommode aus Zedernholz. Seine Hemden hängte sie auf Bügel, wobei sie bewundernd über den Stoff strich.

Philomina Armentrout sah eher wie ein Supermodel aus als wie eine Haushälterin. Gebürtig aus Südafrika, war sie groß und schlank, mit weicher, milchkaffeebrauner Haut und schwarzen Haaren. Sie trug eine schicke schwarze Hose und eine weiße Bluse und war sehr dezent geschminkt. Nur bei genauem Hinsehen konnte man die winzigen Narben entdecken, wo ihr Kiefer zusammengenäht worden war, nachdem ihr Ehemann sie angegriffen hatte. Mason hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Haushalt mit dem besten Personal auszustatten, und Mrs Armentrout war definitiv die Beste. Das war jedoch nicht der einzige Grund, warum er sie eingestellt hatte. So geschlagen und zerstört, wie sie gewesen war, hatte sie einen Neustart im Leben gebraucht, und er hatte sich um ihren Immigrationsprozess gekümmert. Laut Adam führte sie das Haus wie ein hochpreisiges Boutique-Hotel und überwachte alle Aspekte des Haushalts.

Sein Handy in der Ladestation auf dem Tisch vibrierte beharrlich und signalisierte eine weitere SMS von Regina. Sie hatte die Nachricht von seinen geänderten Plänen nicht sonderlich gut aufgenommen und ihn mit allen möglichen Fragen gelöchert, die er schon mit seinem Bruder und seiner Schwester durchgegangen war: Warum musste er persönlich vor Ort sein? Konnte sich nicht einer seiner Angestellten darum kümmern, eine neue Pflegerin einzustellen? Könnten Adam oder Ivy nicht ihre Pläne ändern und einspringen?

Nein, das konnten sie nicht. Beide hatten Verpflichtungen, die sie einhalten mussten – Adams Ausbildung zum Brandursachenermittler und Ivys Kunststipendium am Institut de Paume. Ihm war im Moment nicht danach, sich auf eine Debatte mit Regina einzulassen, also ignorierte er ihre Nachrichten.

In der letzten Nacht hatte er in dem bequemen Gästebett wie ein Toter geschlafen. Hier war es so verdammt still, die Luft war so süß und der Jetlag hatte ihn endlich eingeholt.

„Ist meine Mutter schon auf?“, fragte er.

Sie schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims. „Bald. Lena, die Nachtschwester, bringt sie um neun Uhr zum Kaffee in den Salon. Sie können jedoch gleich in ihr Zimmer gehen, wenn Sie möchten.“

Er wollte seine Mutter sehen … aber nicht, bevor sie nicht für den Tag fertiggemacht war.

Von all den Dingen, an die Alice Bellamy sich gewöhnen musste, war der Verlust der Privatsphäre am schwersten zu ertragen. Eine andere Person zu benötigen, die sich um all die persönlichen Dinge kümmerte, war ein konstanter Quell des Ärgers. „Ich warte noch“, sagte er. „Der Kaffee ist übrigens großartig. Danke, dass Sie mir eine Tasse heraufgeschickt haben.“

„Wayan röstet ihn selber. Er bekommt die grünen Kaffeebohnen von seiner Familie aus Bali. Sie haben irgendeinen merkwürdigen Namen wie Tupak oder Leewalk oder so.“

„Luwak“, sagte Mason. „Kein Wunder, dass er so gut ist. Sie sollten mal was darüber lesen. Sie werden nicht glauben, wo er herkommt.“

„Ach, ist das nicht das Zeug, das aus dem Hintern der Zibetkatze kommt oder so?“

„Stimmt. Also ist er höchst biologisch fermentiert.“

Wie Mrs Armentrout war der Koch wegen seiner einzigartigen Fähigkeiten ausgewählt worden, aber auch wegen der dringenden Notwendigkeit für ihn, schlimmen Verhältnissen zu entkommen. Wayan hatte die Kreuzfahrtschule auf den Philippinen besucht. Dann war er abrupt aus dem Programm geworfen worden und beinahe ohne einen Cent in einem fremden Land gestrandet. Mason hatte ihn durch ein Sponsoringprogramm gefunden und ihn mitsamt Frau und Sohn um die halbe Welt hierhergeholt. Die Familie lebte über dem alten Kutschenhaus, das zu einer Garage für vier Autos mit angeschlossener Werkstatt umgebaut worden war. Seine Frau Banni arbeitete als Haushaltshilfe und persönliche Assistentin, und ihr Sohn Donno war Alices Fahrer, Mechaniker und Mädchen für alles. Mason hatte Wayan bislang nicht kennengelernt, aber Adam sang wahre Loblieder auf seine Kochkünste.

Mrs Armentrout hielt ein Surfshirt hoch. „Es ist eine Schande, dass Sie Ihren Urlaub abbrechen mussten“, sagte sie. „Ich habe gehört, Malibu ist der beste Ort der Welt zum Surfen.“

„Das wird er auch noch eine Weile bleiben“, erwiderte er nur.

„Und das Skifahren war gut?“, fragte sie.

„Darauf können Sie wetten.“ Ihm kam kurz in den Sinn, zu erklären, dass der Trip nicht nur ein Urlaub gewesen war, sondern eine Reise, um den letzten Willen seines Vaters zu erfüllen, gefolgt von einem geschäftlichen Abstecher nach Malibu. Er wusste, dass die Erklärung ihn weniger wie ein egoistisches Arschloch aussehen lassen würde, das seiner verletzten Mutter aus dem Weg ging. Aber es war ihm egal, wenn sie ihn als egoistisches Arschloch ansah. Das machte die Dinge nur leichter.

„Wie geht es ihr?“, fragte er. „Sie hat nicht viel über ihren Sturz zu sagen gehabt.“

„Der Arzt meint, das Schlüsselbein wird gut verheilen. In der OP hat man es mit Metallplatten und Schrauben gerichtet und sie konnte das Krankenhaus schon am nächsten Tag wieder verlassen.“

„Ich habe mich bereits mit dem Chirurgen über das Schlüsselbein unterhalten. Das war nicht meine Frage.“

„Sie ist … es ist unglaublich schwer, Mr Bellamy. Aber sie erträgt es tapfer.“

„Waren Sie da, als sie gestürzt ist?“

„Niemand war da. Sie können sich gerne den Bericht der Rettungssanitäter ansehen.“

„Ich bin sicher, den hat Adam sich schon genauestens angeschaut“, erwiderte Mason.

Die Uhr auf dem Kaminsims schlug neun. Er spürte, dass Mrs Armentrout ihn beobachtete. Er konnte ihre Gedanken förmlich hören. Sie fragte sich, warum er nicht sonderlich erpicht wirkte, sich hier häuslich einzurichten. „Ich lasse Sie das hier zu Ende machen“, sagte er und wünschte sich, Tausende von Meilen weit weg zu sein. „Ich werde jetzt zu meiner Mutter gehen. Wir fangen heute mit den Bewerbungsgesprächen an.“

Als er die breite, gewundene Treppe ins Erdgeschoss hinunterging, fragte er sich, ob das die Stelle war, wo seine Mutter mit ihrem Rollstuhl umgefallen war. Hatte sie panisch aufgeschrien? Hatte sie Schmerzen empfunden?

Er ließ seine Finger über das warme Geländer aus Walnussholz gleiten. Sie konnte die Textur des Holzes nicht in den Fingerspitzen fühlen. Alle körperlichen Empfindungen unterhalb der Wirbelsäulenverletzung waren weg. Und doch, wenn er an ihren Gesichtsausdruck vom Vorabend dachte, wusste er, dass sie die tiefste Form des Schmerzes empfand.

„Mrs Bellamy?“ Mrs Armentrout kam auf die Veranda hinaus. „Ihr erster Termin ist da.“

„Ich Glückliche.“

„Wir empfangen ihn dort.“ Mason zeigte auf den Salon hinter den Glastüren.

Damit begann die Arbeit, die richtige Person zu finden, die das Leben für eine wütende, behinderte Frau mit großen Problemen, was ihre Einstellung anging, erträglich machen würde. Sie handelten die ersten Bewerber in schneller Reihenfolge ab.

Die Gespräche waren kurz und geschäftsmäßig. Mason beobachtete seine Mutter genau, während sie die Kandidaten befragte. Sie verriet nichts und behielt die ganze Zeit eine freundliche, neutrale Miene bei. Ihre Stimme war kontrolliert und etwas eisig, was ihre akkurate Aussprache noch unterstrich. Alice Bellamy hatte in Harvard studiert und obwohl sie behauptete, den Großteil ihrer Collegezeit mit Skifahren verbracht zu haben, hatte sie ihr Studium mit Auszeichnung abgeschlossen. Sie hatte eine erfolgreiche Karriere als Spezialistin und Führerin von Abenteuerreisen gehabt, die perfekte Ergänzung zum Job ihres Mannes als internationaler Finanzmanager.

Mason hörte jedem Bewerber aufmerksam zu und fragte sich, wie zum Teufel ein Mensch es angehen würde, jemandem wie Alice Bellamy zu helfen, sich ein neues Leben aufzubauen. Welcher Kandidat war der Aufgabe gewachsen? Die Militärkrankenschwester, die wie ein Sumo-Ringer gebaut war? Die mütterliche Frau mit dem Abschluss in Ernährungswissenschaften? Die Personaltrainerin in Lycrashorts? Die Krankenschwester mit dem Hintern, den er nicht anzustarren aufhören konnte? Die zähe Frau aus Brooklyn, deren letzter Patient ihr ein glühendes dreiseitiges Empfehlungsschreiben mitgegeben hatte?

Er war froh, dass Brenda den Lebensläufen Fotos beigelegt hatte, denn die Gesichter der Bewerber verschwammen langsam zu einer undefinierbaren Masse. Jeder von ihnen hatte ungewöhnliche Fähigkeiten und Talente. Mason war sich sicher, dass der oder die Richtige dabei war. Sie mussten nur entscheiden, wer es war.

Nachdem die letzte Bewerberin gegangen war, legte er die Lebensläufe auf den Tisch und schenkte seiner Mutter ein ermutigendes Lächeln. „Brenda hat einen fabelhaften Job gemacht“, sagte er. „Die Bewerber waren alle ausgezeichnet. Hast du einen Favoriten?“

Sie starrte mit unlesbarer Miene aus dem Fenster.

Er nahm den ersten Lebenslauf in die Hand – Chandler Darrow. „Dieser Typ war super. Er hat eine beeindruckende Referenzliste – Erster in seiner Klasse an der SUNY New Paltz, dazu Referenzen von dankbaren Familien aus den letzten zehn Jahren.“

„Nein“, sagte Alice nach einem Blick auf das Foto, das am Lebenslauf hing.

„Er ist perfekt. Alleinstehend, angenehme Persönlichkeit, er wirkte sehr fürsorglich.“

„Er hatte einen verschlagenen Blick.“

„Was?“

„Seine Augen – sie wirkten so verschlagen. Das kann man sogar auf dem Foto sehen.“

„Mom …“

„Nein.“

Die Zähne zusammengebissen, zwang Mason sich zu einem Lächeln und nahm den nächsten Lebenslauf in die Hand. Marianne Phillips, die ebenfalls über makellose Referenzen verfügte, einschließlich der Tatsache, dass sie für die Familie Rockefeller gearbeitet hatte.

„Sie hat nach Knoblauch gerochen“, sagte seine Mutter.

„Nein, hat sie nicht.“ Mist, dachte Mason. Das läuft nicht gut.

„Ich habe die meisten meiner Fähigkeiten verloren, aber nicht meinen Geruchssinn. Ich kann Knoblauch nicht ausstehen. Das weißt du.“

„Okay, die Nächste. Darryl Smits …“

„Mach dir gar nicht erst die Mühe. Ich kann den Namen Darryl nicht leiden.“

„Ich weiß nicht mal, was ich dazu sagen soll.“

„Ich habe es doch gerade gesagt – nein.“

„Casey Halberg.“

„Sie hatte Crocs an. Wer trägt Crocs zu einem Bewerbungsgespräch? Die sehen aus wie Hufe.“

„Jesus …“

„Den mochte ich auch nicht. Jesús Garza. Ehrlich gesagt kannst du alle Männer von der Liste streichen und uns damit viel Ärger ersparen.“ Sie hielt inne, um nachdenklich zu den Familienfotos auf dem Klavier zu schauen. „Ich hatte nie viel Glück mit Männern“, fügte sie leise hinzu.

„Was?“ Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. „Egal“, sagte er dann, weil er sich nicht ablenken lassen wollte. „Widmen wir uns den weiblichen Kandidatinnen.“

Sie seufzte ungeduldig und schaut wieder grimmig zu den Fotos. Es gab Bilder ihrer Eltern – Masons Großeltern –, die in Florida lebten. Direkt nach dem Unfall seiner Mutter hatten sie sich bis zur Erschöpfung um sie gekümmert. Dann war bei ihrem Dad Parkinson diagnostiziert worden und er war eingesprungen. Die Brüder seiner Mutter, die einen Wasserflugzeugservice in Alaska leiteten, waren zu weit weg, um zu helfen.

„Wieso steht hier ein Klavier?“, wollte seine Mutter wissen.

„Es gehört dir schon dein ganzes Leben lang. Du liebst Klaviermusik“, erwiderte Mason. „Jeder in der Familie spielt.“ Er hatte als Kind Unterricht genommen und war richtig gut gewesen, hatte jedoch seit Jahren nicht mehr gespielt. Warum eigentlich? Er mochte es, Musik zu machen, aber er nahm sich einfach nicht die Zeit dafür.

„Jedes Mal, wenn ich das Ding anschaue“, sagte seine Mutter, „erinnert es mich daran, dass ich aus dem Gedächtnis ein Dutzend Nocturnes von Chopin spielen konnte. Jetzt ist mein Klavier nichts mehr als ein Abstellplatz für alte Fotos.“

„Wir dachten, es würde dir vielleicht gefallen, wenn ab und zu jemand für dich spielt.“

„Wie du?“

Touché. „Ich bin ziemlich eingerostet, aber ich werde versuchen, für dich zu spielen, wann immer ich hier bin, Mom.“

„Nur, dass du nie hier bist.“

„Hey, guck mal“, sagte er und wedelte mit einem der Lebensläufe. „Diese Frau namens Dodie Wechsler gibt an, dass sie Klavier spielen kann und sich ihren Lebensunterhalt auf dem College damit verdient hat, Unterricht zu geben.“

„Das war die Gesprächige“, sagte seine Mutter. „Sie hat zu viel geredet.“

„Mom, ich verstehe, dass du deine Unabhängigkeit verloren hast. Wir alle wünschten, dass du niemanden bräuchtest, der sich um dich kümmert. Aber wir müssen der Realität ins Auge sehen. Du brauchst jemanden. Also wählen wir besser jemanden aus, und zwar schnell.“

„Alle Leute, die wir heute getroffen haben, sind inakzeptabel. Es gibt keinen unter ihnen, den ich ausstehen kann.“

„Mabel Roberts.“

„Zu kirchlich.“

„Was?“

„Sie hat ständig gesagt, was für ein Segen alles ist – dieses Haus, der See, der Sommeranfang. Ich hatte das Gefühl, sie hat mich die ganze Zeit verurteilt.“

„Sie hat eine positive Einstellung. Das ist gut.“

Alice schniefte und wandte den Blick ab.

„Ich verstehe, Mom. Der Mensch, den du brauchst, existiert nicht. Weil er ein verdammter Heiliger sein müsste. Nur keiner, der zu kirchlich ist.“

Sie waren alle Bewerber durchgegangen, die seine Assistentin gefunden hatte – bis auf eine. Ein Fund in letzter Minute, eine Frau namens Faith MacCallum. Ihr Profil auf den Jobwebseiten sah vielversprechend aus, auch wenn Brenda bislang noch keinen Termin mit ihr vereinbart hatte.

Wie standen die Chancen, dass sie diejenige sein könnte? Wäre sie stark genug, um mit Alice Bellamy klarzukommen?

Obwohl kein Foto dabei war, gefiel ihm diese Bewerberin. Er mochte den Namen – Faith McCallum. Es war ein robuster Name, auch wenn seine Mutter vermutlich denken würde, er klänge zu kirchlich. Es war der Name einer Frau, die organisiert und kontrolliert war und Klasse besaß. Der Name eines Menschen, dessen Leben so ruhig dahinschnurrte wie ein Tesla-Motor und dessen heilige Qualitäten diesem Haushalt Frieden bringen würden.

4. KAPITEL

Mist.“ Faith McCallum tippte mit einem Finger kräftig auf die Tastatur des uralten, gebraucht gekauften Laptops. „Komm schon, du Scheißkiste, arbeite ein letztes Mal für mich.“

Die Jobanfrage hatte endlich Ergebnisse gezeigt. Als die E-Mail aufgeblitzt war, hatte sie die Betreffzeile lesen können: „Antwort auf Ihre Bewerbung“. Aber in dem Moment, als sie draufgeklickt hatte, war das dumme Ding abgestürzt.

Sie hatte den Computer neu gestartet und jetzt war der Bildschirm auf der Startseite eingefroren – tägliche Gedanken für Diabetiker. Der heutige Gedanke war besonders nervtötend. Spring und das Netz wird erscheinen.

Faith war schon oft gesprungen, doch bislang hatte sie nichts erreicht, außer böse aufzukommen.

Sie stand frustriert auf und ging nach draußen, um die Wasserschüssel der Katze aufzufüllen. Es war nicht ihre Katze. Es war nicht mal ihre Schüssel. Der Streuner hatte vor ein paar Wochen angefangen, sie regelmäßig zu besuchen. Er ließ niemanden an sich heran, also hatte sie ihn Fraidy genannt, weil er ein kleiner Hasenfuß war, und ihm Futter und Wasser unter die Treppe gestellt.

Nachdem sie zu ihrem Computer zurückgekehrt war, starrte sie einen Moment auf das nach wie vor eingefrorene Bild auf dem Monitor und versuchte dann, den Link zu der Jobseite anzuklicken, die sie jeden Tag dreimal aufrief. Ihre Suche nach einer neuen Anstellung hatte inzwischen verzweifelte Züge angenommen. Die Agentur, die häusliche Pflegekräfte vermittelte, hatte ihr seit drei Monaten keine neuen Angebote mehr geschickt. Und selbst wenn sie Arbeit für sie fanden, reichte das Honorar nicht, um auch nur eine Rennmaus zu verpflegen, geschweige denn zwei Töchter. Sie war bereits mit der Miete im Rückstand und die Hausverwaltung hatte ein neues Management bekommen.

In ihrer Verzweiflung hatte sie ihren Lebenslauf auf jeder Website zum Thema Pflegekräfte gepostet, die sie finden konnte, in der Hoffnung, selber einen Job aufzutun, der ihr ein ausreichendes Einkommen bescherte, anstatt es mit einer weiteren Agentur zu versuchen, die einen Großteil ihres Gehalts als Provision einstrich.

Endlich reagierte der Browser. Der „kostenlose“ WLAN-Anschluss in ihrem Trailerpark war unglaublich langsam. Normalerweise schaffte sie es locker, mehrere Dinge im Haushalt zu erledigen, während eine Seite sich aufbaute.

„Moooom.“

Ihre jüngere Tochter Ruby zog das Wort weinerlich in die Länge. Das kleine Mädchen trampelte herein und riss dabei die Tür weit auf. Deren Aufprall an der Wand ließ den winzigen Trailer erzittern. „Cara hat vergessen, an der Bushaltestelle auf mich zu warten. Und sie hat mir wieder meinen Essensgutschein geklaut.“

„Hab ich gar nicht“, sagte Cara, die ihrer jüngeren Schwester folgte und sich auf das kleine Sofa fallen ließ. Mit geübter Lässigkeit schlug sie ihr Biologiebuch auf.

„Hast du wohl.“

„Hab ich nicht.“

„Wo ist er dann hin, hm?“, wollte Ruby wissen. Sie nahm ihren Rucksack ab und stellte ihn auf den eingebauten Tisch.

„Wer weiß?“, fragte Cara, ohne aufzuschauen. Sie zwirbelte eine Strähne ihres violett gefärbten Haars zwischen den Fingern.

„Du weißt es“, erwidert Ruby. „Weil du ihn geklauen hast.“

„Geklaut“, korrigierte Cara ihre Schwester. „Und das habe ich nicht.“

„Du hast ihn aber letztes Mal genommen.“

„Das war vor einem Monat und du warst an dem Tag krank.“

„Ja, aber …“

„Hast du irgendetwas zu Mittag gegessen?“, unterbrach Faith die beiden erschöpft.

Ruby zog einen Schmollmund, der sie noch zauberhafter wirken ließ als so schon. Manchmal glaubte Faith, dass Rubys süßes Aussehen das Einzige war, was sie am Leben erhielt, denn sie war so zerbrechlich.

„Mrs Geiger hat mir die Hälfte ihres Thunfischsandwiches und eine Tüte Milch gegeben. Und diese ekligen getrockneten Apfelspalten. Ich hasse Thunfisch. Aber nach der Schule hat Charlie O’Donnell beim Fußballtraining seine Chips mit mir geteilt.“

Ruby war ein wenig in Charlie O’Donnell verliebt, einen Achtklässler, der beim Fußballtraining der Grundschüler aushalf.

„Nimm dir ein Glas Wasser und setz dich“, sagte Faith. „In ein paar Minuten checken wir deinen Blutzuckerspiegel.“ Ein vertrauter Knoten bildete sich in ihrem Magen. Jeden Tag brachte Rubys Typ-1-Diabetes neue Sorgen und neue Herausforderungen. Sie wandte sich an Cara: „Du sollst an der Bushaltestelle auf sie warten.“

„Hab ich vergessen.“

„Wie kannst du etwas vergessen, was du jeden Tag tun sollst?“

„Sie kennt den Weg nach Hause doch.“

Faith nahm an, der wahre Grund war, dass Cara niemanden wissen lassen wollte, wo sie wohnten. Der Lakeside Estates Motor Court war nicht ganz so schlimm, aber kein Kind wollte zugeben, dass es in einem Trailerpark wohnte. Trotz seines Namens lag der Park nicht am See und er war auch weit davon entfernt, ein „Anwesen“ zu sein, aber hier war es sicher und nicht weit bis zur Schule der Mädchen.

Die Webseite hatte sich endlich aufgebaut, und Faith richtete ihre Aufmerksamkeit darauf, sich zu der E-Mail auf ihre Bewerbung durchzuklicken. Draußen bellte Guptas Hund wie verrückt und kündigte damit die tägliche Ankunft des Briefträgers an. Ruby, die Angst vor Hunden hatte, zuckte bei dem Geräusch zusammen.

„Ich geh schon.“ Cara legte ihre Hausaufgaben zur Seite und ging, um die Post zu holen.

Die Antwort auf Faiths sorgfältig verfassten Beitrag, in dem sie ihre Dienste als Pflegerin anbot, sah vielversprechend aus. Ihr Interesse war geweckt und sie beugte sich näher zum Monitor. „Wir suchen nach einer erfahrenen Person, die alle Aufgaben der häuslichen Pflege für eine an den Rollstuhl gebundene Frau mit einer Wirbelsäulenverletzung überwacht. Gehalt und Extras schließen eine Wohnung auf dem Gelände mit ein.“

Okay, vielleicht doch nicht. Sie und ihre Mädchen würden niemals alle in ein kleiderschrankgroßes Gästezimmer im Haus irgendeiner Frau passen. Trotzdem, der Job wäre direkt hier in Avalon, was alleine schon Grund genug war, ihn sich näher anzuschauen, denn die Mädchen hassten die Vorstellung, am Ende jedes Schuljahres die Schule wechseln zu müssen.

Sie notierte sich die Kontaktinformationen für den Fall, dass ihr Laptop erneut den Geist aufgab. Dann antwortete sie auf die Frage nach einem möglichen Vorstellungstermin und schlug den nächsten Vormittag vor. Morgen war Samstag, also würde Cara ihre Schicht in der Bäckerei ausfallen lassen müssen, um auf Ruby aufzupassen, was sicher wieder zu einigen Diskussionen führen würde, doch das ließ sich nun mal nicht ändern. Verzweifelte Zeiten verlangten nach verzweifelten Maßnahmen.

Cara kam von der Rezeption zurück, in der Hand einen Stapel Briefe. „Rechnungen und Werbemüll“, sagte sie.

„Hast du erwartet, dass wir im Lotto gewonnen haben?“

Cara ließ die Rechnungen auf den Tresen neben sie fallen und warf den Rest in die Altpapierkiste zu ihren Füßen.

Faith nahm eine der Hochglanzbroschüren in die Hand. „Was ist das hier von Johns Hopkins? Das ist an dich adressiert.“

Cara zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. „Wie ich schon sagte, Müll.“

Faith betrachtete das wunderschöne Foto vom College-campus. Ein Brief, der auf dem Briefpapier der Universität getippt war, rutschte heraus. Ganz unten stand eine persönliche Nachricht, die offenbar per Hand vom Direktor der Zulassungsstelle geschrieben worden war: Cara, du hast eine strahlende Zukunft vor dir. „Hier steht, dass du aufgrund deiner Testergebnisse eingeladen wirst, dich früher zu bewerben, und dass sie auf die Zulassungsgebühr verzichten.“

Ein weiteres Schulterzucken. „Ich bin nicht interessiert.“

„Du hast mir gar nicht erzählt, dass du die Testergebnisse zurückhast.“

„Oh. Okay, ich habe meine Testergebnisse zurück.“

Cara trieb sie in den Wahnsinn, als wäre das ihr Beruf. Und zwar jeden Tag. „Und?“, wollte Faith wissen.

„Sie sind ganz okay.“

„Cara Rose McCallum.“

Schwer seufzend wühlte Cara in ihrem Rucksack und zog einen Zettel heraus.

Faith überflog die Zahlen, die die verbalen und mathematischen Fähigkeiten ihrer Tochter bewerteten. Wenn sie das richtig interpretierte, hatte Cara den härtesten standardisierten Test der Avalon High mit Bravour gemeistert. „Und du hattest vor, mir das wann zu zeigen?“

„Das sind doch nur Zahlen.“ Cara ließ sich wieder aufs Sofa fallen und machte sich erneut an ihre Hausaufgaben.

„Zahlen, die uns verraten, dass du unter dem einen Prozent der besten Schüler bist, die diesen Test gemacht haben.“

„Heißt das, sie ist wirklich klug?“, fragte Ruby.

„Wirklich, wirklich klug“, erwiderte Faith. Stolz, Erschöpfung und Frustration vermischten sich. Wenn ein Mädchen so klug war wie Cara, sollte es stolz auf sein Potenzial sein und nicht gleichgültig oder, schlimmer noch, niedergeschlagen. Faith wollte ihr die Welt schenken. Sie wollte beiden Mädchen die Welt schenken. Stattdessen mussten sie in einem Trailerpark leben, wobei sie gerade so über die Runden kamen.

„Wenn sie so klug ist“, überlegte Ruby laut, „warum vergisst sie mich dann nach der Schule immer?“

Faith ignorierte die Frage und sah die Rechnungen durch. Darunter waren zwei verdächtig dicke Umschläge vom St. Francis Hospital und vom Diabetes-Zentrum. Dennis war dort vor drei Jahren verstorben und sie zahlte seitdem die Rechnungen eines toten Mannes. Im Gelübde hieß es, „bis dass der Tod euch scheidet“, aber ganz offensichtlich glaubte das Rechnungswesen des Krankenhauses, dass die Rechnungen selbst nach dem Tod nicht eingestellt werden sollten.

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