Neue Träume in Sunshine Valley

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Nach dem Tod seiner Eltern ändert sich für Eishockey-Profi Jordan Kincade alles. Zusammen mit seinen Geschwistern erbt er das Weingut und trägt die Verantwortung für seine kleine Schwester. Zurück in seiner Heimatstadt fühlt er sich, als ob ihm ein Puck in den Magen knallt: Sunshine Creek, seit Generationen im Familienbesitz, steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Und dann trifft Jordan ausgerechnet auf Lucy, die nichts mehr mit dem Mauerblümchen von früher gemein hat - und ihm anscheinend nie verziehen hat, was vor Jahren geschah …

"Eine erfrischend neue Stimme im Liebesroman-Genre."

New York Times-Bestsellerautorin Rachel Gibson


  • Erscheinungstag 06.02.2017
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499364
  • Seitenanzahl 336
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Jordan Kincade atmete den beißenden Geruch von verschwitzten Körpern und der Eisfläche unter seinen Schlittschuhen ein. Er verschlang die Energie, das packende Spiel und das nahezu unkontrollierte Chaos wie ein perfekt gegrilltes Steak. „We Will Rock You“ von Queen dröhnte aus den Lautsprechern, und angespannte Erwartung erfüllte das bis auf den letzten Platz besetzte Eisstadion, als er nun zum Powerplay auflief. Die Carolina Vipers lagen zwar einen Punkt zurück, aber er wusste, dass die lauten Anfeuerungsrufe des Heimpublikums sie noch zum Sieg führen würden.

Das war jedes Mal so.

Nach einem üblen Cross Check durch Dimitri Pavel wurde Jordan – sehr zur Freude des Publikums – mit einer Fünf-Minuten-Strafe belegt. Jetzt musste er sich zusammenreißen und sich aufs Spiel konzentrieren. Er durfte nicht zulassen, dass Pavels zahnloses Grinsen ihn dazu verleitete, noch mehr Strafminuten anzuhäufen. Dafür stand zu viel auf dem Spiel.

„Dir wird das Grinsen noch vergehen, Kumpel.“

Pavel spuckte schlimm, wenn er sprach, was seine Gegner dazu verleitete, dem Sprühnebel aus Spucke auszuweichen und dadurch den Puck zu verlieren. Jordan, der im Gegensatz zu Pavel noch alle Zähne hatte, konnte sich vorstellen, wie schwierig es war, sich zu artikulieren, wenn die eigene Mundhöhle wie die eines Säuglings aussah. Aber selbst wenn Pavel der Schnodder in Strömen übers Gesicht liefe, würde es Jordan nicht kümmern. Keine Kompromisse. Er wollte sich den Bully holen.

„Bei deinem zahnlosen Maul wär ich auch neidisch auf mein Grinsen“, schoss Jordan zurück. Okay, die Vorlage war zu verlockend gewesen. Er musste ihm einfach einen reindrücken. Sollte er doch heulen.

Wie ein Wolf, der sich auf seine Beute konzentriert, richtete Jordan seine Aufmerksamkeit auf den Schiedsrichter, der nun die Hand hob und den Puck vor Jordans Schlittschuhe fallen ließ. Sofort katapultierte er das Ding übers Eis zu Tyler Seabrook. Der Center übernahm. Indem er geschickt Stöcken, Schlittschuhen und Ellbogen der Gegner auswich, schaffte er einen Pass aus der neutralen Zone. Jordan schnappte sich den Puck und knallte ihn ins Tor, bevor der Torhüter auch nur reagieren konnte.

Hinter dem Tor leuchteten die elektrischen Lampen rot auf, und das Torsignal ertönte. Die Menge sprang auf und brach in lauten Jubel aus, während Jordans Mitspieler sich um ihn scharten und ihm schulterklopfend gratulierten. Nichts war besser als das Feiern mit den Teamkameraden nach einem wichtigen Tor. Der Punkt, den er soeben erzielt hatte, war wichtig und befreite ihn hoffentlich von der Last der Strafminuten, die er im Lauf der Partie angesammelt hatte. Nun stand es unentschieden, und die Carolina Vipers mussten schnell noch ein Tor nachlegen oder in der Verlängerung gewinnen. Doch ob ihnen das gelingen würde, war fraglich.

Der Reihenwechsel gab Jordan die Gelegenheit, sich kurz auszuruhen. Bei den normalen Ligaspielen war er nicht so angespannt, aber je näher sie den Play-offs kamen, desto mehr spürte er jeden einzelnen Muskel. Wenn er heute Abend nach Hause kam, würde er sich fühlen, als hätte ihn ein Zug überrollt. Wenn sein Team jedoch gleich gewonnen hatte und sie in der Kabine waren, würde er seine Lieblingsmasseurin anrufen und sie um einen Hausbesuch bitten. Zu seinem Glück besaß die Dame ein attraktives Lächeln, lange blonde Haare, eine Vorliebe für feinen Whiskey – und arbeitete am liebsten nackt.

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er Beau Boucher dabei zusah, wie er den Gegner gegen die Bande drängte, dass das Glas vibrierte. Der schwergewichtige Verteidiger setzte seine gesamte Kraft ein, um sich den Puck zu schnappen und ihn übers Eis zu Stürmer Scott O’Reilly hinüberzuschicken. O’Reilly versenkte ihn so schnell im Netz, dass der gegnerische Torhüter keine Chance hatte.

Die letzten zwei Sekunden der regulären Spielzeit waren angebrochen. Alle Spieler der Carolina Vipers drängten auf die Eisfläche, um ihren Sieg zu feiern. Falls sich nicht noch in letzter Sekunde ein Wunder ereignen würde, waren die Vipers dem Stanley Cup nun einen großen Schritt näher gekommen.

Halleluja, verdammt noch mal.

Nach einer Niederlage konnte es in der Kabine so still sein wie in einer Gruft, doch an diesem Abend war der Lärmpegel ohrenbetäubend.

Jordan versuchte sein Bestes, um beim Interview mit dem Reporter des Observer nicht die ganze Zeit debil zu grinsen. Was für ein Hochgefühl! Er liebte dieses Spiel, sein Team und momentan sogar seinen Coach Bill Reiner, der rundheraus zugab, ein arrogantes Arschloch zu sein. Aber egal. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Jeder Mann auf Schlittschuhen, der sich gerade in diesem Raum befand, konnte sich nun vorstellen, bald den Heiligen Gral des Eishockeys in den Händen zu halten und zu küssen.

Nachdem er das Interview beendet hatte, konnte Jordan endlich mit den anderen feiern. Aber erst mal musste er raus aus den Klamotten und unter die Dusche. Der Plan war, den Sieg gleich nebenan in der Stammkneipe des Clubs zu feiern. Im Turk’s Ice House gab es kaltes Bier, perfekt zubereitete Steaks, spitze Dartpfeile und jede Menge hübscher Ladys, denen es nichts ausmachte, wenn ein frisch getaufter Rookie mit einem knallroten Irokesen oder seinem Suspensorium über der Hose reinkam. Diese Einführungsrituale waren die Hölle, und im Turk’s freuten sich alle, wenn sie dem Grünschnabel noch ein paar zusätzliche Qualen verursachen konnten.

Heute Abend allerdings spielte es keine Rolle, ob man der Captain, ein altgedienter Veteran oder ein Grünschnabel war. Heute Abend waren sie ein Team und feierten als Team. Schon morgen war wieder Alltag, es ging weiter mit dem Training und der Vorbereitung auf die wichtigsten Spiele dieser Saison.

Bei den Spinden hatte Boucher den Rookie Colton Dahl gerade in den Schwitzkasten genommen. Jordan lachte. Er war echt happy. Tausendmal glücklicher, als er es in letzter Zeit gewesen war. Inzwischen lief es echt rund bei ihm. Wäre er abergläubisch, müsste er davon ausgehen, dass seine Glückssträhne bald abreißen würde, aber er ließ sich ja nicht einmal einen Glücksbart wachsen wie ein paar seiner Teamkollegen, wenn es in die Play-off-Phase ging. Es machte ihm auch nichts aus, unter einer Leiter hindurchzugehen, und auch beim Anblick einer schwarzen Katze machte er sich keine Gedanken. Im Moment waren seine Vibes einfach gut, und er würde alles dafür tun, dass es auch so blieb.

Grinsend zog er sich sein Trikot mit der Nummer 18 über den Kopf. Die Farben Lila und Schwarz flackerten kurz vor seinen Augen, bevor er das stinkende Hemd in den Wäschekorb feuerte und den Schulterschutz in seinen Spind warf. Er wollte sich gerade hinsetzen und die Schlittschuhe ausziehen, als sein Handy klingelte.

Sollte er jetzt wirklich rangehen?

Irgendwie war die blond gefärbte Tussi, die er letzte Woche abgeschleppt hatte, an seine Nummer gekommen. Nicht, dass er etwas dagegen hatte, dass sie gern mit ihm ins Bett ging, aber er hatte einfach keine Lust auf eine feste Beziehung. Vor allem nicht, wenn bei seinem Anblick die Dollarzeichen in den Augen einer Frau zu leuchten begannen und sie sich schon vorstellte, eines Tages seinen Ring am Finger zu tragen. Natürlich könnte es auch jemand anderes sein. Zum Beispiel eins seiner fünf Geschwister.

Er griff nach seinem Handy und schaute aufs Display.

Es war Ryan.

Sein großer Bruder rief ihn nur äußerst selten an. Normalerweise hatte er zu viel mit der Leitung des elterlichen Weinguts in Washington State um die Ohren. Noch dazu als alleinerziehender Vater mit einer neunjährigen Tochter. Aber vielleicht hatte Ryan das Spiel ja im Fernsehen gesehen und wollte ihm gratulieren.

Also nahm Jordan ab. „Hey, großer Bruder. Hast du das Spiel gesehen?“

„Nur das erste Drittel.“

„Was? Wieso das denn?“ Jordan lachte. „Du konntest es wohl nicht ertragen, dass ich fünf Minuten auf der Bank saß, weil ich Pavels Riesenzinken neu gestaltet habe?“

„Nein, Jordy.“ Ryans Stimme ließ Jordan erstarren. „Es tut mir leid. Ich rufe nicht wegen des Spiels an. Ich habe leider sehr schlechte Nachrichten.“

Er schluckte. „Was ist denn?“

Als Ryan schwieg, lief es Jordan kalt den Rücken hinunter. Hinter ihm erreichte die Lautstärke in der Kabine einen neuen Höhepunkt. „Warte mal kurz. Ich geh mal eben auf den Flur, hier drin kann ich dich kaum verstehen.“

Jordan schob die Schwingtüren auf und trat in den deutlich ruhigeren Gang zwischen der Umkleidekabine und dem Büro des Coachs. „Also, was ist los?“ Bei fünf Geschwistern konnte alles Mögliche passiert sein, wie es in der Vergangenheit oft genug vorgekommen war. Ethan war mal in einen Waldbrand geraten und nur knapp davongekommen. Parker hatte schwere Verbrennungen erlitten, als eine Bratpfanne mit heißem Fett in Brand geriet, Declan hatte auf dem Freeway einen schweren Verkehrsunfall gehabt, und Ryan selbst hatte sich mal bei einem Sturz vom Dach sämtliche Knochen gebrochen. Nicole, ihre kleine Schwester, schien die Einzige von ihnen zu sein, die sich nicht in schöner Regelmäßigkeit irgendwelche Körperteile zertrümmerte.

Ryan räusperte sich. „Es gab einen Unfall.“

„Was für einen Unfall? Ist Riley okay?“, fragte Jordan und hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil er seine kleine Nichte viel zu selten sah.

„Ihr geht es gut. Aber … Mom und Dad.“

Jordans Herz setzte einen Schlag aus. „Was ist mit ihnen?“

„Sie hatten einen Hubschrauberrundflug über Molokai gebucht.“ Ryans Stimme begann zu zittern. „Sie sind abgestürzt.“

„Was?“ Ungläubig boxte Jordan in die Luft. Vor ein paar Tagen waren seine Eltern nach Hawaii geflogen, um dort ihren fünfunddreißigsten Hochzeitstag zu feiern. Sie hatten sich so auf das tolle Wetter und die tropischen Cocktails gefreut. „Wie …“

„Sie sind tot, Jordy. Es gab keine Überlebenden.“

Eine eiserne Faust schien sich um Jordans Kehle zu schließen und ihm die Luft abzudrücken. Er konnte plötzlich nicht mehr atmen. Nicht mehr denken. Sich nicht mehr bewegen. Er musste sich festhalten, um nicht vornüberzukippen. Plötzlich war ihm speiübel. Er wusste nicht einmal, wann er das letzte Mal länger mit seiner Mom oder seinem Dad gesprochen hatte. Und jetzt …

Wie aus der Ferne hörte er seinen Bruder seinen Namen sagen.

Betäubt von Schmerz, hielt er den Hörer wieder ans Ohr. „Ich setze mich in den nächsten Flieger“, versprach er.

„Es gibt noch einige Dinge zu klären. Jemand muss nach Hawaii fliegen und die Leichen identifizieren, damit sie freigegeben und nach Hause gebracht werden können“, sagte Ryan unglaublich ruhig.

Ryan war immer der Starke von ihnen gewesen, der mit dem Rückgrat aus Stahl. Auch wenn Jordan als knallharter Typ auf dem Eis galt, Ryan war es, dem es gelang, auch in ausweglosen Situationen gefasst zu bleiben. Sogar als seine Frau ihn und die gemeinsame Tochter verlassen hatte, war er souverän geblieben. Jordan bewunderte ihn sehr dafür.

„Ich setze mich in den nächsten Flieger nach Hause“, wiederholte Jordan.

„Aber was ist mit deinen sportlichen Verpflichtungen?“

„Scheiß drauf. Wir sehen uns morgen.“ Mit zitternden Händen beendete Jordan den Anruf und schluckte die Übelkeit hinunter. Zweifellos würden seine Brüder auch ohne ihn zurechtkommen, damit er sich auf die Meisterschaft konzentrieren konnte. Ihm würde der Pokal jedoch nichts bedeuten, wenn er sie jetzt im Stich ließe. Zu oft war die Familie bei ihm erst an zweiter Stelle gekommen.

Er wusste nicht, ob man ihn zu Hause wirklich brauchte, aber er brauchte jetzt seine Familie – so viel stand fest.

Hinter den Schwingtüren ging die ausgelassene Feier weiter. Doch für Jordan war das Leben, wie er es gekannt hatte, auf einen Schlag vorbei.

2. Kapitel

Wer auch immer gesagt hatte, dass man nie mehr wirklich nach Hause zurückkehren konnte, wenn man einmal fortgegangen war, hatte damit den Nagel auf den Kopf getroffen. In dem Haus, das er nie als Zuhause empfunden hatte, saß Jordan auf dem Ledersofa im Wohnzimmer seiner Eltern, umgeben von Menschen, die denselben Nachnamen trugen wie er. Seine Geschwister, mit denen er als Kind so fröhlich und vertraut gewesen war, kamen ihm unter dem Eindruck der erstickenden Trauer und der Grabesstille plötzlich vor wie sehr entfernte Verwandte.

Ihre Eltern hatten die Familie in ihren Grundfesten zusammengehalten, auch wenn das Fundament in den letzten Jahren ein bisschen zu bröckeln begonnen hatte. Aber durch ihre Einheit und mit ihrer Liebe hatten seine Eltern es geschafft, auch trübe Tage hell erstrahlen zu lassen. Das Wissen, dass die Menschen, die ihm das Leben geschenkt hatten, plötzlich nicht mehr da waren, dass er ihnen nie mehr etwas erzählen und sie nie wieder um Rat fragen konnte, erfüllte Jordan mit einem so unvorstellbaren Schmerz, dass es ihm fast den Atem raubte.

In seinen Augen brannten Tränen, als er den Blick von seinen geballten Fäusten abwandte. Auf der anderen Seite des Zimmers saß sein Zwillingsbruder Declan – Workaholic und Multimillionär – auf einem Ledersessel und bearbeitete sein Smartphone. Plötzlich sah er auf, als hätte Jordan ihn angesprochen. Sie tauschten rasch einen Blick, dann konzentrierte sich Declan wieder auf sein Handy.

Zwillingsbrüder hin oder her, sie waren sich so nah gewesen, wie zwei Brüder sich nur sein konnten. Sie hatten zwar nicht dieses seltsame Zwillingsding laufen, bei dem der eine instinktiv dasselbe spürt wie der andere, aber eine besondere Verbindung zwischen ihnen gab es früher dennoch. Obwohl schon damals, als sie einander nachts ihre Träume und Ziele anvertraut hatten, ihre Unterschiedlichkeiten deutlich zum Vorschein gekommen waren.

Declan war immer der Rationalere von ihnen beiden gewesen, während Jordan der Impulsivere war. Nicht, dass Declan in einer Schlägerei nicht seinen Mann stehen konnte. Das konnte er. Oft genug hatte er Jordan ein blaues Auge verpasst. Doch Dec war immer derjenige gewesen, der Pläne geschmiedet und beschlossen hatte, Erfolg in allem zu haben, was er tun würde. Und er hatte sich nie davor gescheut, für diesen Erfolg hart zu arbeiten. Jordan bewunderte seinen Bruder für seinen Erfolg in der Finanzwelt. Er hatte immer gute Tipps für Geldanlagen parat und auch Jordan sehr gut bei seinen Investitionen beraten, aber die brüderliche Verbundenheit, ihre persönliche Bindung, die sie einst erlebt hatten, war schon lange verschwunden.

Jordan hatte im Gegensatz zu seinem Bruder immer nur einen Traum gehabt – er wollte Eishockey spielen und eines Tages den Stanley Cup gewinnen, die wichtigste Eishockeytrophäe der Welt. Als Kind hatte er nicht gewusst, welche Opfer seine Eltern auf sich nahmen, damit er sich diesen Traum erfüllen konnte. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, in den Eisstadien von Philadelphia, wo sie damals lebten, unterwegs zu sein, und alle Spieler, die er erwischen konnte, über das Spiel auszuquetschen. Sobald er die Schnürsenkel seiner Schlittschuhe selbst zubinden konnte, wurde Eishockey sein Leben. Durch diesen Tunnelblick hatte er sich immer weiter von seinem Zwillingsbruder entfernt.

Neben ihm auf dem Sofa saß Ethan, dessen dunkle Haare schon lange keinen Friseur und dessen langer Bart schon lange keinen Rasierer mehr gesehen hatten. Er war der jüngste der fünf Brüder. Da er als Feuerwehrmann arbeitete, musste er auch nicht aussehen wie ein Model, aber trotzdem juckte es Jordan in den Fingern, ihn wegen seines ungepflegten Aussehens aufzuziehen. Dafür waren kleine Brüder schließlich da.

„Hast du vergessen, wo dein Rasierapparat liegt?“

Ethan grinste kurz. „Hab gar keinen.“

„Echt nicht? Haben sie denn bei der Feuerwehr keine Angst, dass dein Gesicht in Brand gerät bei der Matte?“

„Denen ist es wohl wichtiger, dass wir Waldbrände verhindern.“ Ethan zuckte die Schultern. „Wer hätte das gedacht.“

Eins zu null für ihn.

So viel zum Thema Humor.

Ethan war aufgrund seines Jobs die meiste Zeit im Jahr unterwegs. Aber irgendwie schaffte er es trotzdem besser als Jordan, mit den anderen in Kontakt zu bleiben.

Parker, der als Vierter in diesen Haushalt mit Testosteronüberschuss hineingeboren worden war, kam mit einem Tablett voller Snacks ins Zimmer. Er war – wie Jordan – immer ein bisschen wilder gewesen als der Rest. Als Teenager hatte er dauernd Ärger gemacht. Und trotzdem hatten seine Eltern nie die Hoffnung aufgegeben, dass aus ihm etwas Anständiges würde. Sie wussten, dass er intelligent genug war, um alles zu erreichen, was er sich wünschte. Aber jahrelang hatte er sein Talent sinnlos vergeudet. Schließlich hatten seine Eltern ihm ein Ultimatum gesetzt – was dazu geführt hatte, dass Parker Koch geworden war. Mit seinem Talent hatte er es zu einem der erfolgreichsten Unternehmer im Foodtruck-Business im Großraum Portland, Oregon, gebracht.

Jetzt hielt er Jordan das Tablett hin, und ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Sein knurrender Magen erinnerte ihn plötzlich daran, dass er seit gestern nichts mehr gegessen hatte.

„Wo hast du die denn so schnell hergezaubert?“, fragte Jordan, während er sich ein Stückchen Ananas im Speckmantel nahm und in den Mund steckte.

„Hallo? Ich hab die Kochshow ‚Chopped‘ gewonnen, weil ich gut und schnell bin“, prahlte Parker.

„Genau, und über Letzteres hat sich deine letzte Freundin auch beschwert.“ Die Steilvorlage musste Jordan verwandeln. Natürlich war er sehr stolz auf seinen Bruder und auf das, was er ohne jede fremde Hilfe auf die Beine gestellt hatte.

„Leck mich“, antwortete Parker grinsend.

„Jungs, benehmt euch“, ermahnte Tante Pippy die beiden mit strafendem Blick. Sie bot einen beeindruckenden Anblick, denn sie trug mehr schwarzen Eyeliner als Lady Gaga.

Irgendwie war ihre Tante Pippy in den sechziger Jahren stehen geblieben. Sie trug Make-up in dicken Schichten, psychedelische Farbkombinationen und stets riesige Ohrringe, die einen ausknocken konnten, wenn man ihnen zu nahe kam. Ihr neonorangefarbenes Haar war zu einer Frisur zurechtgemacht, die Jordan nur noch aus uralten Fernsehserien kannte. Sie war das absolute Gegenteil ihrer eher konservativen und ernsthaften Mutter – Pippys jüngerer Schwester –, aber auf jeden Fall sehr unterhaltsam.

Neben Pippy saß der einzige weibliche Spross der Familie.

Nicole war von beinahe ätherischer Schönheit, besaß aber die rebellische Art einer typischen Siebzehnjährigen. Ihm persönlich machte Nicki Angst. Er war ihre temperamentvollen Ausbrüche nicht gewohnt. Er war sie nicht gewohnt. Als sie geboren wurde, war er 16 und damals schon kaum noch zu Hause gewesen. Er war zwischen Ost- und Westküste gependelt, um Eishockey zu spielen, und hatte die Hälfte der Zeit bei seinem Onkel in Philadelphia verbracht. Seine kleine Schwester endlich mal besser kennenzulernen hatte bisher nicht ganz oben auf seiner To-do-Liste gestanden.

Heute war der sonst rebellische Teenager jedoch in Tränen aufgelöst, und Jordan hatte das Gefühl, ihr Trost spenden zu müssen. Nur ihr finsterer Blick hatte ihn bisher davon abgehalten, sie in den Arm zu nehmen. Aber irgendwie verdeutlichte dieser Blick ihm, dass er auf der Liste ihrer Lieblingsmenschen keinen der oberen Ränge einnahm.

Das hatte er nun davon.

Als Tante Pippy Nicki einen Arm um die Schultern legte, hätte Jordan erleichtert sein können, dass jemand für sie da war. Stattdessen kam er sich noch mieser vor.

Nur Ryans entzückende Tochter Riley war nicht anwesend. Die Neunjährige hatte in ihrem kurzen Leben schon zu viele Verluste erleiden müssen. Der schlimmste war sicher der, dass ihre Mutter sie ihrer vermeintlichen Filmkarriere wegen im Stich gelassen hatte. Dabei zählte als größte Errungenschaft der ehemaligen Laura Kincade eine Hauptrolle in einem Werbespot für Toilettenpapier, in dem sie in die Kamera grinsen und atemlos „herrlich zart“ keuchen durfte. Jordan hatte Toilettenpapier bis dato nie mit dem Adjektiv „herrlich“ in Verbindung gebracht. Aber sie hätten gut und gern eine Familienpackung von dem Zeug brauchen können, um die Tränen zu trocknen, die das Verschwinden der Mutter bei ihrer kleinen Tochter verursacht hatte.

Die Familie Kincade war nach dem Tod des Großvaters in den Bundesstaat Washington gezogen, wo sich das Weingut befand, das ihr Großvater hinterlassen hatte. Zumindest hatten das ihre Eltern behauptet, als sie mit ihren fünf Söhnen aus dem Vororthäuschen in Philadelphia wegzogen. Später stellte sich heraus, dass der Umzug auch dazu dienen sollte, Jordan und seine Brüder in einer Umgebung unterzubringen, in der sie weniger Ärger machen oder bekommen konnten. Denn anscheinend hatten sie alle ein gewisses Talent dafür. Alle – bis auf Ryan, der schon immer reifer und vernünftiger gewesen war als seine Brüder.

Jordan sah seinen ältesten Bruder an. Als Leiter des Weinguts hatte er die Aufgabe übernommen, das Testament ihrer Eltern vorzulesen. Seine dunklen Augenbrauen wölbten sich über den knallblauen Augen, sein Markenzeichen. Ryan musterte die Gesichter der anwesenden Familienmitglieder.

„Abgesehen von den Umständen freue ich mich sehr, euch alle zu sehen“, eröffnete er ihnen, und sein schmerzvoller Blick lastete zusätzlich auf Jordans Berg von schlechtem Gewissen. „Ich weiß, dass Mom und Dad euch nie wirklich über den wirtschaftlichen Zustand des Weinguts auf dem Laufenden gehalten haben. Sie dachten, dass ihr alle mit eurem eigenen Leben genug zu tun habt und euch nicht noch Gedanken über das machen müsst, was hier vor sich geht. Der eine oder andere von euch mag sich darüber gewundert haben, der eine oder andere auch nicht. Jedenfalls ist heute Mr. Anderson bei uns. Er wird nun ihren Letzten Willen verlesen.“

Ihren Letzten Willen. Oh Gott.

Plötzlich lagen Jordan die eben verspeisten Häppchen schwer im Magen, und ihm wurde ein bisschen übel.

Der untersetzte, stämmige Rechtsanwalt erhob sich und nahm einen Stapel mit Papieren aus einem Ordner. Rein äußerlich erinnerte er Jordan an eine ältere Version von George Constanza aus der Fernsehserie „Seinfeld“. Nur leider war dieser Mann nicht hier, um Witze zu machen.

„Bevor wir anfangen, möchte ich Ihnen mein tiefes Mitgefühl über Ihren Verlust zum Ausdruck bringen. Ich habe Ihre Eltern fast 20 Jahre lang gekannt und habe sie immer respektiert und bewundert. Falls Sie nach dem heutigen Tag irgendwelche Fragen an mich haben, darf ich Ihnen versichern, dass Sie mich jederzeit anrufen können.“

Jordan lief es eiskalt den Rücken hinunter. Die Endgültigkeit des Todes ihrer Eltern wurde durch ihren Letzten Willen offiziell besiegelt. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich bereit war, sich das anzuhören. Nicht wegen des Inhalts, sondern eben wegen dieser Endgültigkeit. Wegen des enormen Verlusts. Und der schrecklichen Tatsache, dass er seine liebenden Eltern, die ihm immer eine Stütze gewesen waren, nie mehr wiedersehen würde.

Der Anwalt las die üblichen Formalitäten vor, dann rückte er seine Brille zurecht und begann mit dem Vortragen des eigentlichen Testaments. „Bis sie die Volljährigkeit erlangt, werden ihre Brüder das Sorgerecht für unsere Tochter Nicole Eloise Kincade haben. Das gesamte Anwesen mit Weingut, Bed & Breakfast, Haupthaus und dem Grundstück mit einer Größe von zwölftausend Hektar wird zu gleichen Teilen aufgeteilt zwischen Ryan Matthew, Jordan Daniel, Declan Paul, Parker Gregory, Ethan Alexander, Nicole Eloise und Riley Elizabeth Kincade. Ein Pauschalbetrag von fünfundzwanzigtausend Dollar geht an Frau Penelope Margaret Everhart, die Schwester meiner Frau.“

Tante Pippy schloss die Augen und senkte den Kopf. Jordan wusste nicht, ob es eine Geste der Dankbarkeit oder der Trauer war.

Der Anwalt räusperte sich und fuhr dann fort. „In Bezug auf das Weingut Sunshine Creek Vineyards haben Ihre Eltern darum gebeten, dass das Anwesen und alle darauf befindlichen Gebäude nicht verkauft oder einer einzelnen Partei überlassen werden mögen. Es war ihr persönlicher Wunsch, dass das Weingut in seiner Gesamtheit in der Familie Kincade verbleibt und an die folgenden Generationen weitervererbt wird.“

Die Stille lastete wie eine Gewitterwolke über dem Raum, als Ryan mit grimmiger Miene den Kopf hob. „So schwer mir die Frage auch fällt: Möchte jemand von euch aussteigen?“

Blicke kreuzten den Raum, doch alle Mienen blieben ernst und undurchdringlich.

Jordan schluckte schwer.

Damals, als sie noch klein waren, hieß ihr Motto: Einer für alle und alle für einen. Jordan war der Erste gewesen, der diese Kette durchbrochen hatte, als er im Alter von 18 Jahren für den NHL Draft ausgewählt wurde und Profi-Eishockeyspieler wurde. Danach hatte er nie mehr zurückgeblickt. Seine Eltern hatten ihn immer unterstützt, auch als seine Besuche zu Hause zusehends seltener wurden. Die Feiertage zu Hause zu verbringen war mit der Zeit immer schwieriger geworden. Im letzten Jahr hatte er es nicht einmal an Weihnachten nach Hause geschafft, weil am nächsten Tag ein wichtiges Spiel anstand. Er sah sich noch in dem öden Hotelzimmer sitzen, wie er aus dem Fenster in einen schneewolkenverhangenen Himmel guckte und an seine Familie dachte, die gemeinsam um den Weihnachtsbaum versammelt war. Er hatte sich sehr einsam gefühlt.

Das letzte Mal, als er die gesamte Familie gesehen hatte, war vergangenen Herbst vor Beginn der Eishockeysaison gewesen. Die Spiele selbst waren hektisch und gingen schnell vorbei, aber eine Saison war lang und hart. Er war viel unterwegs. Trotzdem hätte er wirklich öfter nach Hause fahren können. Warum hatte er es nicht getan, fragte er sich jetzt. War es ihm vielleicht zu umständlich gewesen, nur für einen oder zwei Tage rüberzufliegen? Oder war ihm die Beziehung zu seiner Familie am Ende doch nicht so wichtig wie sein Beruf? Am Geld hatte es sicher nicht gelegen. Wie war es nur über die Jahre zu dieser Distanz gekommen?

Die Familie steht an oberster Stelle.

Das war immer das Motto seines Vaters gewesen. Dieser Satz klang nun in seinen Ohren, und er konnte ihn nicht vergessen. Jordan glaubte, dass seine Eltern perfekt gewesen waren, mit einer perfekten Ehe und einer perfekten Familie. Und dennoch hatte er all das hinter sich gelassen – mit dem Ergebnis, dass er sich inmitten seiner Familie nun wie ein Fremder fühlte.

Er sah sich im Zimmer um und betrachtete die gerahmten Fotos, die die Familiengeschichte der Kincades illustrierten. Da gab es Bilder von seinen Eltern, seinen Brüdern und von seiner Schwester bei Picknicks im Weinberg oder bei anderen gemeinsamen Unternehmungen in der Natur. Ungestellte Fotos von seinen Brüdern, die grinsend Arm in Arm dastanden. Oder ein Bild von seinen Brüdern beim Tauziehen mit ihrer lachenden Schwester. Und viele Fotos von Ryan und seiner Tochter Riley.

Auf allen diesen Bildern waren die Menschen, denen Jordan sich am engsten verbunden fühlen sollte. Doch das einzige Foto von ihm stammte aus dem vergangenen Jahr, nach Verkündigung der Mannschaftsaufstellung. Er grinste in die Kamera, als würde er nichts und niemanden auf dieser Welt brauchen bis auf das nächste Spiel und den nächsten großen Sieg. Es war das einzige Foto von allen, auf dem nur eine einzige Person zu sehen war. Es war ein Schock für ihn, als er erkannte, wie sehr dieses Foto sein Leben abbildete.

Auf allen anderen Bildern sah man seine Familie, wie sie glücklich zusammen das Leben genoss.

Ohne ihn.

Seine Schuld, nicht ihre.

Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst.

In diesem Moment wurde ihm klar, was er verpasst hatte.

Das wollte er nun zurück.

„Ich bin dabei.“ Er sah sich im Zimmer um und bemerkte, wie die anderen ihn spöttisch anschauten. „Mom und Dad hätten sich das gewünscht. Dass wir alle zusammen das bewahren, was sie aufgebaut haben. Es wäre nicht fair, die Arbeit allein Ryan zu überlassen. Immerhin hat er ja auch noch eine Tochter, für die er allein sorgen muss.“

Und Jordan war das genaue Gegenteil von Ryan. Er hatte sich nie an den Leitsatz seines Vaters gehalten.

Jetzt war sein Team auf dem Weg in die Play-offs – ohne ihn. Noch nie hatte er seine Mannschaft hängen lassen. Jahrelang hatte er sich den Arsch aufgerissen, um einmal im Leben den Cup zu holen. Er war 33, und bisher hatte sich sein ganzes Leben alles nur um ihn gedreht. Und um Eishockey. Um das, was er wollte, was er brauchte, was er sich wünschte. Die andere Seite kannte er nicht einmal. Er wusste nicht, was „Geben“ bedeutet – außer er hatte Schlittschuhe an den Füßen und den Schläger in der Hand. Dafür hatte er einen Vertrag, einen Clubbesitzer und Coach Reiner, der ihn jeden Tag zurückerwartete. Genau wie seine Mannschaft, die auf ihn zählte und ihn für den Kampf um den Titel mit einem freien Kopf brauchte. Doch er selbst wollte im Moment nichts anderes, als um seine Eltern zu trauern und wieder näheren Kontakt zu den Menschen in diesem Zimmer aufzubauen.

„Und zwar zu hundert Prozent“, fügte er hinzu.

„Wir schätzen den Gedanken, Jordy. Aber bitte nimm es uns nicht übel, wenn wir dir das nicht ganz abnehmen. Dein Team ist gerade auf dem Weg in die Play-offs.“ Ryan zuckte mit den Achseln. „Wie willst du also hundert Prozent hier sein bei dem Pensum, das dich da erwartet?“

Auch Declan, Ethan und Parker musterten ihn zweifelnd. Tante Pippy seufzte nur, und Nicole starrte ihn wütend an. Der Rechtsanwalt war plötzlich sehr interessiert an den Dokumenten, die vor ihm lagen.

„Das krieg ich schon hin.“

Ihm war nur eins wichtig: wieder zur Familie zu gehören. Gerade konnte er nicht einmal mehr sagen, wann genau er sich von ihnen abgekapselt hatte. Doch hoffentlich fand er bald genug Zeit, um das herauszufinden und seine Fehler wiedergutzumachen.

Er rieb sich die Hände, ließ sie sinken und sah seine Familie an. „Bitte gebt mir eine Chance.“

Als der Nieselregen nachließ, trat Jordan auf die große Steinterrasse, die von Blumentöpfen und Kriechpflanzen gesäumt war und von der man einen Blick auf die Weinreben genoss.

Bald würden die reifen Trauben sie mit den kräftigen Weiß- und Rotweinen versorgen, die sein Vater kreiert hatte.

Als junger Mann hatte sich Jordan nicht im Geringsten für den Weinanbau interessiert. Doch sein Vater hatte darauf bestanden, dass auch Jordan sich mit der Familientradition beschäftigte. Dass auch er lernte, wie viel harte Arbeit notwendig war, um etwas entstehen zu lassen, an dem sich auch nachfolgende Generationen erfreuen konnten.

Jetzt erst verstand Jordan, was sein Vater ihm damals damit hatte sagen wollen, warum er es ihm hatte beibringen wollen. Doch ihm war es damals nicht wichtig gewesen.

Das war jetzt anders.

Um ihn herum erhob sich die Landschaft aus sanften grünen Hügeln und dem kleinen Bach, und der Blick auf diese Szenerie erfüllte ihn mit einem tiefen inneren Frieden. Als das Anwesen noch seinem Großvater gehört hatte, war es viel kleiner gewesen und nicht so schick. Eher ein Hippie-Dorf als ein erfolgreiches Wirtschaftsunternehmen.

Jordan atmete tief die frische, nach Regen riechende Luft ein und stellte überrascht fest, dass dieser Duft Erinnerungen in ihm auslöste. Plötzlich war er eifersüchtig. Wie deplatziert.

In diesem Moment wurden die Terrassentüren aufgesto-ßen, und Ryan trat mit zwei Gläsern Wein in der Hand zu ihm. Er stellte die Gläser auf dem Tisch ab und nahm Jordan fest in den Arm.

„Schön, dass du zu Hause bist.“

Die Umarmung umhüllte Jordan wie eine warme Decke. Er fühlte sich geborgen.

„Schön, wieder zu Hause zu sein.“

„Unsere Brüder kann man diesbezüglich ja vergessen, also versprich wenigstens du mir, dass wir eine Partie Basketball spielen.“

„Läuft.“

Das Begrüßungsritual war zu Ende, und Ryan nahm die Gläser. „Probier mal.“ Er hielt Jordan ein Glas mit dunkelrotem Wein hin.

„Was ist das für einer?“

„Euphoria. Der Cabernet Syrah, den Dad in den letzten Jahren perfektioniert hat.“

Jordan hatte einen Kloß im Hals, als er den Wein ins Licht hielt. Er ließ ihn im Glas kreisen, roch daran und nahm einen kleinen Schluck. „Leichte Note von Vanille und Schokolade.“

„Ja. Fast perfekt.“ Ryan trank auch einen Schluck. „Für Dads Geschmack immer noch zu pfeffrig.“

„Ich bin mir sicher, dass du das hinkriegst.“ Jordan ließ den Blick erneut über das Anwesen schweifen, und wieder machte sich dieses Gefühl von Eifersucht in ihm breit. „Weißt du noch, wie wir immer unsere Sommerferien hier verbracht haben?“

„Na klar.“ Ryan lachte. „Ich schätze mal, auf die Hälfte der Bäume hier sind wir raufgeklettert.“

„Mindestens.“ Jordan trank noch einen Schluck. „Wir sind durch den Wald gestreift, haben den Fluss durchquert und so getan, als wären wir Weltentdecker.“

„Dabei waren wir nur ein paar dumme Kinder.“ Ryan drehte sich um und lehnte sich gegen den Zaun. „Erinnerst du dich daran, wie wir Opa angebettelt haben, dieses Stück Draht an die alte Scheune zu nageln, damit wir Basketball spielen konnten?“

„Ich erinnere mich vor allem daran, dass ich der Einzige war, der so groß war, dass er Körbe werfen konnte.“ Jordan blinzelte im Sonnenlicht, das plötzlich hinter einer dicken Wolke zum Vorschein kam. „Und ich erinnere mich an unsere Lagerfeuer unten am Bach, wo wir Marshmallows geröstet haben.“

„Und dabei ein- oder zweimal fast einen Waldbrand verursacht haben.“

„Und wie Oma dann mit dem Nudelholz angerannt kam? Bis Opa uns schließlich beibrachte, wie man ein sicheres Lagerfeuer macht.“

Bei der Erinnerung an ihre Großmutter in Schürze, Baumwollkleid und Turnschuhen mussten sie beide lachen.

„Wenn ich an Oma denke, fallen mir immer ihre Waffeln und ihr Brombeersirup ein“, sagte Ryan. „Und der Schrank mit der Bettwäsche, den sie immer leer geräumt hat, damit wir uns aus den Bettlaken Zelte bauen und draußen unter freiem Himmel schlafen konnten.“

Jordan lächelte und nickte. „Und ihre Gespenstergeschichten.“

„Ach ja!“ Ryan grinste. „Die hätte ich fast vergessen. Ethan hat sich ein paarmal ganz schön in die Hosen gemacht vor Angst.“

„Das waren immer tolle Sommerferien.“

Und dann war es für Jordan eines Tages vorbei gewesen mit dem Spaß und der Leichtigkeit des Seins, und der Ernst des Lebens hatte begonnen.

Während seine Brüder weiterhin im Sommer wochenlang der drückenden Hitze und Schwüle in Philly entgehen konnten, blieb er in der Stadt und nahm an Eishockeycamps teil. Seit dem Alter von dreizehn Jahren war er jeden Sommer im Morgengrauen aufgestanden und zum Eishockeytraining gegangen, um sich eines Tages in ferner Zukunft seinen Traum zu erfüllen. Damals hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, dass seine Brüder in dieser Zeit immer enger zusammenwuchsen, während er sich von ihnen entfernte, ihnen fremd wurde und damit auch einsam.

Eingebunden in die feste Routine der NHL, hatte er gar keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, welche Folgen seine Entscheidung für sein Familienleben haben könnte. 15 Jahre lang hatte er sich auch nie die Frage gestellt, was er einmal tun würde, wenn es eines Tages vorbei wäre mit dem Eishockey. Er machte sich keine Gedanken darüber, wo er leben und was er mit seiner freien Zeit anfangen würde. Dank seines hohen Einkommens und der klugen Anlagestrategien seines Bruders hatte er jetzt schon genügend Geld, um das tun zu können, worauf er Lust hatte – ohne noch einen Tag länger arbeiten zu müssen. Doch wenn er nicht mehr Eishockey spielte, was dann?

Wenn er für die anderen nicht mehr ihr Bruder war, wer war er dann?

„Ich vermisse diese Zeit“, gestand er.

„Ja.“ Ryan leerte sein Glas. „Das war eine schöne Zeit. Bist du deswegen rausgegangen? Um dich an alte Zeiten zu erinnern?“

„Nein. Ehrlich gesagt, habe ich darüber nachgedacht, wie sehr ich es vermasselt habe“, gestand Jordan seinem Bruder.

„Was vermasselt? Wie kommst du denn darauf?“

„Ich habe all das hier einfach hinter mir gelassen.“ Jordan deutete mit dem leeren Glas auf die Umgebung. „Und euch alle. Ich schätze mal, ich habe mich einfach zu lange nur um mich selbst gekümmert.“

Obwohl Jordan einige Zentimeter größer und breiter war als sein Bruder, schlug ihm Ryan jetzt kräftig auf den Rücken.

„Autsch!“

„Hör auf mit dem Selbstmitleid.“

„Das ist kein Selbstmitleid. Es tut mir einfach leid, dass ich von euch allen so wenig mitbekommen habe. Ich meine, unsere Schwester kenne ich so gut wie gar nicht. Sie sieht mich an, als wäre ich ein feuerspeiendes Ungetüm. Ich weiß nicht mal, welche Art von Musik sie gerne hört oder ob sie einen Freund hat. Oder ob sie gut in der Schule ist.“

„Momentan nicht.“

„Schade.“

„Ja. Und der Tod von Mom und Dad wird das auch nicht besser machen“, sagte Ryan. „Weißt du, sie war Moms kleine Prinzessin. Sie hat alles bekommen, was sie sich wünschte. Bis auf eins …“

„Nämlich?“

„Dads Aufmerksamkeit.“

„Soll das ein Witz sein? Nach fünf Jungs sollte man doch meinen, dass Dad endlich das bekommen hat, was er wollte!“

„Ich glaube eher, Mom hat bekommen, was sie wollte.“ Jordan musterte seinen Bruder, der eine grimmige Miene aufgesetzt hatte. „Was meinst du damit?“

„Ich möchte das Thema jetzt nicht vertiefen. Wir haben unsere Eltern gerade erst beerdigt. Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für dieses Gespräch.“ Ryan schüttelte den Kopf, stützte sich mit den Händen auf die Brüstung und betrachtete das Anbaugebiet. „Falls es den jemals geben wird.“

„Das ist nicht fair, Ryan. Wenn du etwas weißt, solltest du es mir sagen.“

„Ich weiß gar nichts. Ist nur so ein Bauchgefühl.“

„Wenn dein Bauchgefühl auf etwas anderes als auf Parkers Vorspeisenhäppchen mit Grummeln reagiert, habe ich ein Recht, es zu erfahren.“

Ryan drehte sich um und sah Jordan in die Augen. „Bist du wirklich sicher, dass du hundertprozentig dabei sein willst, hier auf dem Weingut?“

„Man kann mir vieles vorwerfen, aber sicher nicht, dass ich ein Lügner wäre“, konterte Jordan. Er durfte seinem Bruder diese Frage nicht übel nehmen.

„Und was ist mit deiner Sportkarriere?“

Jordan zuckte die Achseln. „Das krieg ich schon irgendwie hin.“

„Gut zu wissen. Denn Nicki braucht eine gewisse Führung. Nicht, dass sie mir nicht wichtig wäre oder ich sie nicht lieben würde, aber ich habe mit dem Geschäft und mit Riley wirklich schon alle Hände voll zu tun. Die Kleine ist am Boden zerstört wegen ihrer Großeltern. Sie braucht jetzt meine gesamte Aufmerksamkeit.“

„Das ist doch klar.“ Vermutlich konnte die arme Riley seit der Sache mit ihrer Mutter ohnehin nicht gut mit Verlusten umgehen.

„Wenn du also wirklich für eine Weile hierbleiben würdest …“ Ryan griff in seine hintere Hosentasche und zog einen zusammengefalteten Zettel heraus, den er Jordan reichte. „Dann sei ein guter Bruder und kümmere dich darum.“

„Was ist das?“

„Garantiert viel Spaß.“ Zum Abschied tippte Ryan sich mit zwei Fingern an die Stirn. „Falls du mich brauchst – ich bin im Büro.“

Jordan stellte sein leeres Glas auf der Brüstung ab, faltete das Blatt Papier auseinander und begann zu lesen.

„Auf … keinen … Fall!“

3. Kapitel

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten schob Lucy Diamond den Bleistifthalter auf ihrem Schreibtisch einen Mikromillimeter nach links. Die Bewegung war so minimal, dass niemand außer ihr selbst sie mitbekam. Dann fuhr sie mit der Hand über den Tintenlöscher und wuchtete einen dicken Aktenordner auf die Schreibtischplatte. Seufzend öffnete sie ihn und las zum wiederholten Mal die erste Seite.

Die meisten Schüler wählten den Kurs für Kreatives Schreiben bei Lucy in ihrem Abschlussjahr, weil sie davon ausgingen, in diesem Fach ohne großen Aufwand eine gute Note zu bekommen. Eine Art Spaßkurs, in dem man nicht viel tun und auch kein fieses Zeug lernen musste wie in Bio oder Mathe. Es gab nicht einmal Hausaufgaben und keine schwierigen Klausuren.

Und mit dieser Einschätzung hatten die Schülerinnen und Schüler auch zum Teil recht.

Überwiegend war es ein Spaßkurs, aber seit den drei Jahren, die Lucy nun an der Sunshine Valley High unterrichtete, hatten die Schüler zu ihrer Enttäuschung immer wieder feststellen müssen, dass man auch in ihrem Kurs die guten Noten nicht hinterhergeworfen bekam. Und dass man sehr wohl Hausaufgaben machen musste.

Die siebzehnjährige Nicole Kincade war ein gutes Beispiel für eine dieser intelligenten Schülerinnen, die einfach nichts taten. Das Mädchen verfügte über ein Potenzial, das bei anderen Schülerinnen erst viel später zutage treten würde. Doch in letzter Zeit wirkte Nicole noch abwesender als sonst. Sehr still. Mutlos. Teenager waren ja oft launisch und ließen eigentlich nichts an sich heran, aber wenn ein üblicherweise quirliges, offenes Mädchen sich auf einmal in sich zurückzog und nur noch Traurigkeit verströmte, schrillten bei Lucy sämtliche Alarmglocken. Ihr lag das Mädchen sehr am Herzen, deswegen beschloss sie auch, sich mit seinen Eltern in Verbindung zu setzen.

Mrs. Kincade hatte Lucy allerdings darüber informiert, dass sie und ihr Mann in nächster Zeit in Urlaub waren, daher hatten sie einen Termin für ein späteres Datum ausgemacht.

Aber Nicoles Eltern kamen nie zurück.

Und das änderte alles.

Lucy trauerte mit der ganzen Familie. Vor allem aber mit Nicole, die ohnehin gerade in ihren Teenagerängsten gefangen war.

Das Thema „Abschlusszeugnis“ nur wenige Tage nach der Beerdigung der Eltern anzusprechen war vielleicht nicht besonders feinfühlig, doch Lucy fand, dass Nicoles Zukunft wichtig war. Dass Nicole wichtig war. Deswegen musste sie herausfinden, was hinter ihrem sonderbaren Verhalten steckte. Entsprechend erleichtert und dankbar war Lucy, dass Ryan, der älteste der Kincade-Brüder, den Termin anstelle seiner Eltern wahrnehmen wollte, auch wenn er selbst sicher noch mitten in der Trauerphase steckte.

Ein rascher Blick auf die Uhr verriet Lucy, dass er spät dran war, aber in Anbetracht der Umstände fand sie das in Ordnung. Sie würde einfach so lange warten, bis er da war. Um nicht untätig herumzusitzen, stand sie auf und ging im Zimmer auf und ab, steckte den Tafelschwamm an die richtige Stelle und ordnete Bücher in einem Regal. Irgendwann würde der alleinerziehende Vater, der jetzt vermutlich auch Nicoles gesetzlicher Vormund war, schon auftauchen.

In diesem Moment öffnete sich quietschend die Tür hinter ihr.

Lächelnd drehte sie sich um, erstarrte jedoch, als nicht Ryan, sondern Jordan Kincade im Türrahmen des Klassenzimmers erschien. Er trug eine dunkle Sonnenbrille, eine schwarze Lederjacke, ein graues, eng anliegendes T-Shirt und Jeans. Ein leichter Bartschatten zierte sein kräftiges Kinn. Der Mann sah aus wie ein Supermodel und der Traum einer jeden Frauenfantasie.

Eine ganze Armada von unerwünschten Erinnerungen stürmte auf Lucy ein. Sie schob die Brille nach oben und atmete tief ein, um ihre plötzliche Nervosität zu überspielen.

Als sie Jordan zum letzten Mal gesehen hatte, war er noch ein halbes Kind gewesen. Ein sehr süßer Junge, der nett zu ihr war, sogar ein bisschen mit ihr geflirtet hatte. Als er sie dann unvermittelt nach einer ihrer Nachhilfestunden gefragt hatte, ob sie mit ihm zum Abschlussball gehen würde, war sie sprachlos gewesen. Natürlich hatte sie sofort abgelehnt, denn ganz sicher hatte er es sowieso nicht ernst gemeint.

In ihrer gesamten Highschool-Zeit war sie nicht ein einziges Mal von einem Jungen nach einem Date gefragt worden. Die Jungs hatten sie nicht mal angeguckt. Sie war nie auf einer Party gewesen, konnte nicht einmal tanzen.

Dank ihres Vaters, der billigem Whiskey ein bisschen zu sehr zugesprochen hatte, was ihre Mutter ihm rasch nachmachte, war es um Lucys Vertrauen in die Welt damals nicht allzu gut bestellt gewesen. Ihre Eltern hatten das Leben genauso aufgegeben wie ihre Tochter. Ihr mangelndes Interesse an ihrer Tochter und ihr permanentes Streiten hatten nicht gerade dafür gesorgt, dass Lucy ein gesundes Selbstvertrauen entwickelte. Zumal ihre Eltern sich nicht gegenseitig beschimpften, sondern ihre Gemeinheiten an ihr ausließen. Um überhaupt überleben zu können, hatte Lucy eine Art Unsichtbarkeitstaktik entwickelt.

Diese Unsichtbarkeit bot ihr Schutz vor allen Niederträchtigkeiten und ihrer Seelenpein, die sie nachts oft nicht schlafen ließ. Sie sorgte auch dafür, dass die gemeinen Mädchen in der Schule sie nicht beachteten. Wenn ein anderes Kind von ihnen gequält wurde, kam sich Lucy immer ein bisschen schuldig vor, weil sie so dankbar war, dass es nicht sie getroffen hatte.

Deswegen war es natürlich ausgeschlossen, dass ein so gut aussehender und beliebter Typ wie Jordan Kincade sie zum Abschlussball einladen würde. Er konnte doch alle Mädchen der Schule haben! Garantiert war das nur ein mieser Trick.

Doch weil er stur war bis zum Gehtnichtmehr, hatte er ihr Nein nicht akzeptiert.

Immer wieder hatte er sie gefragt und sie so freundlich und ehrlich angelächelt, dass sie schließlich beschlossen hatte, ihren schützenden Kokon zu verlassen und so zu tun, als wäre sie wie die anderen Mädchen. Sie wollte wirklich glauben, dass er über ihr mittelmäßiges Aussehen hinwegsah, über ihre dicken Brillengläser und ihre billigen Klamotten. Sie wollte darauf vertrauen, dass es ihm wirklich um sie ging. Dass er nicht Priscilla O’Neal als Begleitung wollte, die immer die neueste Mode trug und mit einer entsprechenden Oberweite ausgestattet war. Oder Amy Henderson, der der Ruf vorauseilte, immer gleich mit jedem ins Bett zu steigen. Und auch nicht Leslie Meyer, die nicht nur toll aussah, sondern auch wirklich nett war.

Nachdem Lucy also seine Einladung angenommen hatte, konnte sie vor Aufregung nicht mehr schlafen. Sie plünderte ihr Sparkonto fürs College und leistete sich ein neues Kleid. Sie ging zum Friseur, ließ sich stylen und sich zeigen, wie man sich schminkte, ohne dass man nuttig aussah.

Während der Absolventenfeier, an der ihre Eltern nicht teilnahmen, weil sie mal wieder betrunken waren, hatte Jordan sie mehrfach angesehen und angelächelt, was ihr höchste Glücksgefühle bescherte. Nach der Feier fuhr sie rasch nach Hause, um sich für den Ball zurechtzumachen.

Doch er tauchte nicht auf.

Sie saß in ihrem hübschen hellblauen Kleid, nach dem sie Ewigkeiten gesucht hatte, in ihrem Zimmer und wartete bis Mitternacht auf ihn. Was hatte sie nur falsch gemacht? Oder war seine Einladung von Anfang an nichts anderes als ein übler Scherz gewesen? Sie fühlte sich ausgenutzt und elend. Wie kam es, dass man so schnell nichts mehr wert war? Sie war traurig, auch darüber, dass Jordan Kincade doch nicht anders war als die anderen.

Aber vor allem kam sie sich dumm vor, weil sie auf die Verarschung auch noch hereingefallen war.

Natürlich wusste sie um ihre Position in der Hierarchie der Schule. Sie war immer das ruhige, schlaue Mädchen gewesen, von dem sich alle gern Nachhilfe geben ließen, das aber kein Junge küssen wollte. Sie trug eine Brille, hatte ihre mausbraunen Haare stets zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und immer einen fetten Rucksack mit Schulbüchern über der Schulter. Zu jener Zeit war sie mehr damit beschäftigt gewesen, sich durch gute Noten und Lernen aus ihrer Lebenssituation herauszumanövrieren, statt sich für Jungs zu interessieren.

Manche Dinge änderten sich nie.

Immer noch trug sie lieber Brille als Kontaktlinsen und fühlte sich wohler mit einem Pferdeschwanz oder einem unordentlich hochgesteckten Knoten, auch wenn ihr Haar jetzt mit roten und goldenen Strähnchen versehen war. Außerdem zog sie lieber flache Schuhe an als schicke Pumps. Trotzdem war sie heute ein anderer Mensch. Sie war stärker, weil sie einiges durchgemacht hatte. Und klüger, weil sie eine Methode gefunden hatte, um zu überleben und dabei auch noch glücklich zu sein. Und sie wusste mittlerweile ganz genau, was ihre Aufgabe im Leben war – das Unterrichten und ihr Einsatz für Schülerinnen wie Nicki. Genau deswegen ließ sie sich jetzt auch nicht einschüchtern von dem Typen, der sie damals so bitterlich enttäuscht hatte.

Lucy riss sich also zusammen, als Jordan die Sonnenbrille nach oben schob. Sein Lächeln war männlich und sexy und wirkte gleichzeitig ein bisschen grausam.

Aus dem Jungen von damals war ein überaus attraktiver Mann geworden. Hoch zehn!

Er war groß und breitschultrig, und seine Brust wirkte wie eine Wand. Unter seinem T-Shirt zeichneten sich Muskelpakete ab, kein Gramm Fett war an ihm zu entdecken. Seine ausgewaschenen Jeans betonten die langen Beine und die schlanke Taille. Sein ziemlich langes, fast schwarzes Haar glänzte im Neonlicht. Und der Blick seiner blauen Augen war direkt auf sie gerichtet.

Lucy bemühte sich darum, ganz souverän zu bleiben. Doch wenn man jemals einen Mann als „köstlich“ beschreiben wollte, würde Jordan Kincade ganz sicher auf der Tageskarte stehen.

Nur schade, dass er so ein Arsch war.

„Ms. Diamond?“ Er kam auf sie zu und streckte ihr die große Hand hin. „Jordan Kincade.“

Natürlich erinnert er sich nicht an mich.

Lucy lächelte und spürte ein seltsames Kitzeln in der Brust. Vielleicht wurde das hier doch noch ein großer Spaß. Schließlich bekam sie nur selten die Gelegenheit, sich ihrem Gegen-über überlegen zu fühlen.

Seine warme Hand schloss sich um ihre, und ihr Triumphgefühl verschwand schlagartig.

Von Nahem konnte sie ihn noch besser mustern. Sie atmete seinen verführerischen Duft nach abgetragenem Leder und Mann ein, und ihre Hormone schienen augenblicklich einen Freudentanz aufzuführen. So ungern sie ihren Körper in die Schranken wies – jetzt ging es nicht um ihre, sondern um die Bedürfnisse einer anderen Person.

„Bitte.“ Sie erwiderte seinen Händedruck nur leicht und wies dann auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. „Nehmen Sie Platz.“

Er warf einen Blick auf den Schülerstuhl und hob fragend die Augenbrauen. Als er sich setzte, quietschte der orangefarbene Plastikstuhl zum Gotterbarmen. Angesichts seiner Körpergröße erschien das Sitzmöbel besonders mickrig.

Lucy setzte sich ebenfalls hin und stellte fest, dass die unterschiedlichen Stühle dafür sorgten, dass sie über ihm thronte und ihm dadurch noch mehr überlegen war. Doch als er sich anlehnte und die Beine übereinanderschlug, wirkte er nicht, als wäre ihm das unangenehm.

So viel zum Thema, dem anderen eine Nasenlänge voraus zu sein.

„Es tut mir leid, wenn ich gerade überrascht gewirkt haben sollte.“ Sie schlug den Ordner auf und nahm Nicoles Akte heraus, dazu ihre Klausurergebnisse und die wenigen Hausarbeiten, die Nicole abgegeben hatte. Alle zu spät, aber immerhin. „Ich hatte Ihren Bruder Ryan erwartet.“

„Er hat auf dem Weingut zu tun und lässt sich entschuldigen.“

Ihr fiel auf, wie angenehm tief und weich seine Stimme klang. Wie heißer Rum mit Butter an einem kalten Winterabend. Sie konnte sich vorstellen, wie er ihr süße Ferkeleien ins Ohr flüsterte, während er sie an Stellen streichelte, die allein durch diese Fantasie sofort zu prickeln begannen.

„Ich verstehe.“ Sie riss sich zusammen und stellte sich vor, welcher Berg von Verpflichtungen Ryan Kincade nach dem Tod seiner Eltern erwartete. Ihr tat die Familie so leid. Vor allem Nicole, die noch so jung war und die Liebe und Fürsorge ihrer Eltern so dringend brauchte. „Mein herzliches Beileid. Ich entschuldige mich dafür, dass ich Sie zu dieser Unzeit wegen einer Sache herbitte, die angesichts der schrecklichen Ereignisse letztlich von keiner großen Bedeutung ist, aber …“

„Alles, was meine Schwester angeht, ist von großer Bedeutung, Ms. Diamond. Jetzt mehr denn je.“ Ernst sah er sie an. „Also bitte bilden Sie sich kein Urteil darüber, was ich denken könnte. Sie kennen mich nicht.“

Und ob sie ihn kannte.

Sie wusste zum Beispiel, dass er der Typ Mann war, der einer Frau Versprechungen machte und sie dann nicht einhielt.

Aber das war damals, und jetzt war jetzt.

„Entschuldigung, Mr. Kincade. Das war ganz sicher nicht meine Absicht.“

Er sah sie prüfend an, was ihr unangenehm war, und dennoch sorgte sein Blick dafür, dass ihr das Herz in der Brust hüpfte.

Vor allem als er sagte: „Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.“

„Ach ja?“ Ihr Herzschlag legte noch einmal zu, als sie mit einem Lachen zu vertuschen versuchte, was in ihrem Innern vor sich ging. „Das höre ich dauernd. Anscheinend habe ich so ein Allerweltsgesicht.“

Sie schob Nicoles Unterlagen zu ihm hinüber. „Bitte sehen Sie sich einmal Nicoles Arbeit an. Auch wenn sie die Aufgabe nicht richtig gelöst hat, muss man sagen, dass Nicole äußerst begabt ist.“

„Das ist eine Lüge.“

„Wie bitte?“ Irritiert sah sie ihn an. „Wie können Sie das sagen, ohne auch nur ein Wort gelesen zu haben? Ich garantiere Ihnen, dass Ihre Schwester sehr vielseitig begabt ist.“

„Ich rede nicht von der Arbeit meiner Schwester. Ich rede von Ihrer Behauptung, Sie hätten ein Allerweltsgesicht.“ Er beugte sich vor, ohne auch nur einen Blick auf die Arbeit vor ihm zu werfen. „Und ich frage mich, wieso Sie meiner Frage ausgewichen sind.“

Wow. Was hat dieser Mann für eine Präsenz. Die Art, wie sein Haar in perfekten Wellen über seine Ohren und in seinen Nacken fiel, hatte was. Und seine tiefblauen Augen waren schon fast überirdisch. Kein Wunder, dass er auf dem Eis seine Gegner einschüchterte.

Und das hatte nichts mit seiner Körpergröße zu tun.

Doch wenn er deshalb glaubte, Lucy würde ihm verraten, woher sie sich kannten, hatte er sich geschnitten. Unnötig, alte Erinnerungen heraufzubeschwören, wo es doch nur um eins ging: seiner Schwester zu helfen.

„Tut mir leid.“ Ihr Herz klopfte unregelmäßig, und sie entzog sich seinem Blick. „Ich würde jetzt gern mit Ihnen über die Noten Ihrer Schwester sprechen, die eventuell dafür sorgen könnten, dass sie ihren Abschluss nicht schafft. Wissen Sie, Ihre Schwester liegt mir sehr am Herzen, und mir ist schon vor dem Tod Ihrer Eltern eine Veränderung bei ihr aufgefallen.“

„Und nun sehen Sie mich nicht mal mehr an“, sagte er, ohne auch nur im Geringsten auf das einzugehen, was sie ihm gerade erklärt hatte. „Wieso nicht?“

Wieder beugte er sich vor, wieder atmete sie seinen verführerischen Duft ein. Normalerweise hatten solche Dinge keinerlei Wirkung auf sie. Jedenfalls nicht bei ihren Kollegen, die entweder zu viel Aftershave benutzten oder – noch schlimmer – zu viel eigenen Körpergeruch verströmten. Doch Jordans Duft war wie eine sexuelle Verheißung. Dieser Mann sollte einen Warnhinweis tragen!

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich erneut.

„In dieser Hausaufgabe zum Beispiel …“ Sie deutete auf die Seiten, die auf dem Stapel zuoberst lagen. „… waren die Schüler aufgefordert, ihre liebste Kindheitserinnerung zu schildern. Nicole hat stattdessen eine Folge von ‚Pretty Little Liars‘ nacherzählt. Das war zwar unterhaltsam, aber nicht das, was verlangt war. Und für eine Filmrezension kann ich sie leider nicht benoten.“

„Wieso nicht?“

Ohne nachzudenken, sah sie ihn an und entdeckte in seinem Blick eine Spur von Humor. Verdammt noch mal. Dieser Mann war wie ein Buffet mit den leckersten Desserts, die allesamt mit dem Schildchen „Nicht berühren“ versehen waren.

„Weil es den anderen Schülern gegenüber nicht fair wäre, die die Aufgabe richtig verstanden haben.“

„Nicole hat die Aufgabe sicher durchaus richtig verstanden.“ War das eine Narbe über seiner rechten Augenbraue? Vielleicht von einem Eishockeyschläger? Oder von einer wilden Gespielin, die ihm mit dem Ring an ihrem Finger unabsichtlich einen Schnitt zugefügt hatte? Aber vielleicht war er ja auch verheiratet, und seine arme Frau hatte ihn mit einer anderen erwischt und …

„Ms. Diamond?“

„Hmmm?“ Sie richtete den Blick wieder auf ihn, und seine funkelnden Augen verrieten ihr, dass er sie beim Träumen erwischt hatte.

„Ich habe gefragt, ob es eine Chance gibt, dass Nicole die Hausarbeit vielleicht nachholen kann, damit sie Sie noch einmal benoten können.“

„Oh.“ Nervös fuhr sie mit den Händen über den Ordner. „Natürlich. Das hatte ich ihr auch schon vorgeschlagen. Doch dann …“

„Sind unsere Eltern verunglückt.“

„Ja.“ Lucy holte tief Luft. „Es tut mir so leid, dieses Thema ausgerechnet jetzt mit Ihnen besprechen zu müssen. Aber ich werde Nicole alle Zeit lassen, die sie braucht, um die Arbeiten noch einmal zu machen.“

„Aber?“

„Aber sie muss es vor Halbjahresende erledigt haben, denn aufgrund der momentanen Situation befürchte ich, dass sie ihren Abschluss sonst nicht schaffen wird. Und da ist ja offensichtlich auch noch etwas anderes, das sie gerade beschäftigt.“

„Gibt es denn keine andere Möglichkeit?“

„Sie könnte das Schuljahr in der Sommerschule wiederholen. Das wiederum würde bedeuten, dass sie ihr Abschlusszeugnis nicht mit allen anderen zusammen bekommt.“

„Jetzt bin ich etwas verwirrt.“ Hilflos hob er die großen Hände.

Sie dachte eigentlich, sie hätte sich klar ausgedrückt.

„Wissen Sie, das ist das erste Mal, dass ich mit jemandem wie Ihnen zu tun habe.“

Was meinte er denn um Himmels willen damit?

„Wie bitte?“

„Ich meine, Sie haben gerade gesagt, Nicole liegt Ihnen am Herzen. Sie möchten nicht, dass sie scheitert, und dennoch scheinen Sie nicht willens zu sein, ihr eine Chance zu geben.“ Er lächelte sie an, um seine Worte zu entschärfen.

Wie konnte jemand so charmant wirken, wenn er einen Menschen aufs Gröbste beleidigte?

„Mr. Kincade, ich hoffe doch sehr, dass Sie damit nicht andeuten wollen, dass ich Nicoles Noten einfach nach oben korrigieren soll, damit sie zum Abitur zugelassen wird. Mein Ziel ist es zu unterrichten und nicht, den Schülern dabei zu helfen, wie man sich durchs Schulsystem mogelt. Ich glaube daran, dass jeder, der die Möglichkeit zu einer höheren Schulbildung bekommt, selbst die Verantwortung dafür trägt, ob er erfolgreich ist oder scheitert. Allerdings gibt es gewisse Vorgaben, die für die Erlangung des Reifezeugnisses nötig sind. Diese Kriterien lege nicht ich fest, sondern der Gesetzgeber.

Autor