Nur die Liebe heilt

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Das idyllische Hope's Crossing scheint Evie der perfekte Ort für einen Neubeginn. In der Ruhe und Abgeschiedenheit der Berge hofft sie, das schmerzliche Ereignis zu vergessen, welches ihre Karriere als Physiotherapeutin in L.A. beendete. Das Letzte, was sie da braucht, sind ein attraktiver Mann wie Brodie Thorne und seine schwerverletzte Tochter Taryn. Denn Brodie lässt nichts unversucht, um Evie zu überzeugen, Taryns Pflegerin zu werden. Zwar schwört sie sich verzweifelt, diesmal emotionale Distanz zu wahren. Doch Taryns Tapferkeit berührt sie bald ebenso tief wie Brodies Entschlossenheit, ihre Hilfe - und ihr Herz - zu gewinnen. Aber um frei zu sein für ein neues Glück, muss Evie sich erst den Schatten der Vergangenheit stellen...


  • Erscheinungstag 10.02.2014
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783862789511
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

RaeAnne Thayne

Hope’s Crossing – Nur die Liebe heilt

Aus dem Amerikanischen von Tess Martin

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Woodrose Mountain

Copyright © 2012 by RaeAnne Thayne

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München; pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-86278-951-1

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Es war ein warmer Sommerabend. Die Häuser von Hope’s Crossing schmiegten sich zwischen den hohen Bäumen aneinander wie bunte Schmucksteine an einer Kette – ein strahlend lapislazuliblaues Dach hier, eine karneolrote Garage dort, dazwischen das warme Topasbraun des alten Krankenhauses.

Evie Blanchard lehnte sich mit der Hüfte an einen großen Granitfelsen, um tief durchzuatmen. Vom Woodrose-Mountain-Wanderweg aus, der durch einen Kiefernwald oberhalb der Stadt führte, konnte sie die malerischen Gebäude und die farbenfrohen Blumengärten überblicken. Kurz vor Sonnenuntergang an einem Sonntag war die Stadt überaus ruhig – nur ein paar Autos parkten vor der historischen Episkopalkirche, dem ersten Backsteinbau von Hope’s Crossing aus einer Zeit, als die Stadt noch eine hektische Bergarbeitersiedlung mit einem Dutzend Saloons gewesen war.

Etwas weiter entfernt, in der Nähe von Miner’s Park, entdeckte sie noch weitere Wagen, und plötzlich fiel ihr ein, dass heute eine Bluegrass-Band auf der Freilichtbühne im Park auftrat.

Vielleicht hätte sie lieber den Abend bei Musik verbringen sollen, statt den Berg hinaufzujoggen. Es war immer sehr schön, an einem lauen Sommerabend mit Nachbarn und Freunden im Park zu sitzen, gute Musik zu hören, ein Glas Wein zu trinken und sich vielleicht etwas zum Essen aus dem Café zu holen.

Aber nein, das hier war die bessere Wahl gewesen. So sehr sie diese Open-Air-Konzerte mochte – nach drei anstrengenden Tagen am Schmuckstand beim Kunsthandwerksmarkt in Grand Junction sehnte sie sich nach Ruhe.

Jacques, ihr heller Labradoodle, streckte sich gelangweilt neben ihr auf dem Fußweg aus und schnappte nach einer Fliege, die die Frechheit besaß, um seinen Kopf herumzuschwirren.

„Du kannst einfach nicht verstehen, dass ich auch mal kurz verschnaufen muss, oder?“

Endlich erbarmte er sich der Fliege – sozusagen –, verschluckte sie, zog die Lefzen hoch und schien so stolz zu grinsen, als hätte er einen unglaublichen Trick der Jedimeister angewandt. Dann stellte er sich auf seine großen Pfoten und schaute Evie erwartungsvoll an, offensichtlich begierig auf weitere körperliche Betätigung.

Was sie ihm nicht verübeln konnte. Er war die letzten drei Tage am Stand unendlich geduldig gewesen und verdiente es, einmal richtig zu rennen. Zu dumm nur, dass ihre Pobacken und Beinmuskulatur da nicht mitmachten.

Endlich hatte sie wieder genug Luft, damit sie weiterjoggen konnte. So sehr ihre Muskeln auch schmerzten, spürte sie doch, wie die Anspannung sich mit jedem Schritt löste.

Früher in Kalifornien war sie gern am Strand gelaufen, die salzige Seeluft im Gesicht, das Hämmern der Schuhe auf dem feuchten Sand und den herrlichen Blick auf den Pazifik direkt vor sich.

Hier war weit und breit kein Meer in Sicht. Nur hohe Kiefern und Espen, weiße Zimthimbeeren und wilde Rosen, ab und zu das grelle Aufblitzen eines Berghüttensängers, der durch die Sträucher flog.

Sie war auch ohne das Schreien der Möwen über ihrem Kopf zufrieden. Zwar liebte sie das Meer noch immer, keine Frage, und manchmal sehnte sie sich danach, irgendwo allein am Strand zu sein und zuzusehen, wie die Brandung ans Ufer rollte. Aber irgendwie war diese Stadt ihre Heimat geworden.

Wer hätte jemals gedacht, dass ein in Kalifornien geborenes und aufgewachsenes Mädchen diese Art von Frieden und Heimatgefühl in einer kleinen Touristenstadt in den Rocky Mountains finden würde?

Tief atmete sie die nach Salbei duftende Luft ein, und die Verspannung wich noch weiter aus ihren Schultern. Hektische drei Tage lagen hinter ihr. Es war der vierte Kunsthandwerksmarkt der Saison gewesen, und bis September standen noch einige auf ihrem Terminplan. Ihre spontane Idee, bei Märkten in ganz Colorado ihren eigenen Schmuck und den einiger Kunden vom String Fever – dem Schmuckladen, in dem sie arbeitete – zu verkaufen, lief besser, als sie es sich in ihren wildesten Träumen hätte ausmalen können.

Besonders glücklich über ihren Erfolg war sie, weil alle Mitwirkenden einverstanden gewesen waren, einen Teil der Einnahmen für das Layla-Parker-Stipendium zu spenden.

Layla, die Tochter ihrer guten Freundin Maura McKnight-Parker, war im April bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen, der ganz Hope’s Crossing zutiefst erschüttert hatte.

Auf Kunsthandwerksmärkten auszustellen war aufregend, alles war so bunt und laut und lebendig. Gleichzeitig bedeutete es harte Arbeit, vor allem, da Evie alles selbst erledigte: den Stand aufbauen, die Schmuckauslage dekorieren, die Kunden beraten und die Kreditkartenabrechnungen auflisten. Das alles war eine große Herausforderung.

Am Wochenende musste sie sich mit zwei Diebstählen und dem unvermeidlich darauf folgenden Papierkram herumschlagen Deswegen war dieser Joggingausflug jetzt genau das, was sie brauchte.

Da sie schließlich müde war und ihre Muskeln angenehm brannten, nahm sie eine Abzweigung des Wanderwegs, der zurück in die Stadt führte. Sie hatte in der Eile ihre Trinkflasche vergessen, und auf einmal konnte sie an nichts anderes mehr denken als an einen großen Schluck kaltes Wasser.

Auf ihrem Heimweg, die Sweet Laurel Road runter, kamen sie und Jacques an einigen der älteren kleinen Holzhäuser vorbei, die gebaut worden waren, als die Stadt noch neu gewesen war. Evie entdeckte Caroline Bybee – die drahtigen grauen Zöpfe von einem großen Strohhut bedeckt –, die gerade ihre prächtigen Blumen goss.

Die Luft roch nach Sommer, nach Grillfleisch, gebratenen Zwiebeln und frisch gemähtem Gras, wie immer mischte sich zu all dem der Duft von Kiefern und Salbei.

Sie erreichte die steile Main Street, lief an den Geschäften vorbei und steuerte auf ihre kleine Zweizimmerwohnung über dem String Fever zu. Sie war hungrig und müde und wollte nur noch die Füße hochlegen, ein gutes Buch lesen und eine Tasse Tee trinken.

Das String Fever befand sich in einem zweistöckigen Backsteingebäude, das einmal das berüchtigtste Bordell der Stadt gewesen war. Evie bog in eine kleine Gasse ein, über die sie direkt zu dem hübschen, eingezäunten Garten hinter dem Laden gelangte. Die verwitterten Backsteine leuchteten in der Abendsonne.

Jacques bellte einmal scharf auf, als sie das Holztor erreichten. Der Garten war gerade groß genug für ein Blumenbeet, ein Stückchen Rasen und einen Tisch mit vier Stühlen, an dem die Mitarbeiter vom String Fever ihre Pausen verbringen oder die Kinder von Claire Bradford – künftige Claire McKnight – ihre Hausaufgaben machen konnten, während ihre Mutter arbeitete.

Sie musste sich wirklich eine größere Wohnung suchen, in der Jacques mehr Platz hatte. Bei ihrem Einzug in das Apartment über dem Laden hatte sie nicht geplant, einen Hund zu halten, geschweige denn einen derart großen wie Jacques. Sie hatte ihn nur für ein paar Wochen bei sich aufnehmen wollen, bis das Tierheim einen Besitzer für ihn gefunden hatte. Aber dann hatte sie sich in diesen großen, freundlichen Hund mit dem so unpassenden Pudelfell verliebt.

„Ganz langsam, du verrückter Hund. Wahrscheinlich bist du genauso durstig wie ich. In einer Minute kann ich dich von der Leine lassen.“

Sie trat durch das Gartentor und erstarrte, da Jacques einen Mann anbellte, der auf einem der Gartenstühle saß. Im Schatten des Sonnenschirms konnte sie die Gesichtszüge des Fremden nicht erkennen. Ihr Herzschlag schien einen Moment auszusetzen.

Früher in L.A. hätte sie in solch einer Situation das Pfefferspray gezückt und mit dem Zeigefinger der anderen Hand bereits die letzte 1 der Notrufnummer 911 gedrückt. Nur für den Fall.

Doch hier in Hope’s Crossing erschrak sie zwar, wenn ein fremder Mann im Halbdunkeln auftauchte, wurde allerdings nicht panisch. Noch nicht.

Sie kniff die Augen etwas zusammen und erkannte ihn auf einmal – was ihre inneren Alarmglocken laut aufschrillen ließ. Lieber hätte sie sich mit einem halben Dutzend mit Messern bewaffneten Verbrechern angelegt, als Brodie Thorne gegenüberzustehen.

„’n Abend“, begrüßte er sie und erhob sich.

Jacques zerrte an seiner Leine, was er normalerweise nicht machte. Weil Evie damit nicht gerechnet hatte, glitt ihr die Leine durch die Finger, und Jacques nutzte seine frisch gewonnene Freiheit, um begeistert auf den Mann zuzurennen.

Sie konnte nicht einmal rechtzeitig „Sitz“ rufen, bevor er Brodie erreicht hatte. Nach allem, was sie von Brodie wusste, rechnete sie damit, dass er den Hund von sich schieben würde, verbunden mit einem unhöflichen Kommentar nach dem Motto, sie habe ihren Hund nicht im Griff. Doch er überraschte sie, indem er anfing, den Hund zwischen den Ohren zu kraulen.

Sie wollte nicht, dass er nett zu Hunden war. Das passte nicht zu ihm und dem Bild, das sie von ihm hatte.

Ihre Bekanntschaft mit Brodie hatte schon holprig begonnen, als sie vor zwei Jahren eine E-Mail-Freundschaft mit seiner Mutter Katherine in einem Schmuckforum geschlossen hatte, die dazu führte, dass Evie nach Hope’s Crossing zog, um im String Fever zu arbeiten. Diesen Laden hatte Katherine vor Jahren eröffnet und irgendwann an Claire Bradford verkauft.

Seine Mutter war eine gute Freundin geworden, die Evie geholfen und unterstützt hatte, eine sehr dunkle Zeit zu überstehen. Evie hatte ihr unendlich viel zu verdanken. Höflich zu ihrem unfreundlichen Sohn zu sein war wohl das Mindeste, was sie tun konnte, zumal Brodie im Augenblick selbst mit großen Problemen zu kämpfen hatte.

„Tut mir leid. Warten Sie schon lange?“, fragte sie nach einer unangenehm langen Pause.

„Etwa zehn Minuten. Ich wollte Ihnen schon eine Nachricht hinterlassen.“

Sie hatte wenig Lust, mit ihm zu sprechen, zumal sie wahnsinnigen Durst hatte. „Entschuldigen Sie, aber ich habe vergessen, meine Trinkflasche einzupacken, und bin am Verdursten. Haben Sie noch einen Moment Zeit?“

„Sicher.“

„Möchten Sie hinaufkommen oder hier auf mich warten?“

„Ich komme mit.“

Sie hätte anders fragen sollen. Wie wäre es, wenn Sie hier einen Moment warten und sich verdammt noch mal aus meinem Privatleben raushalten? Nun war es wohl zu spät, die Einladung zurückzunehmen.

Sie stieg vor ihm die enge Treppe hinauf, sich bei jedem Schritt deutlich bewusst, dass er ihr folgte. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie die Nähe eines Mannes nicht mehr gewohnt war. Gut, sie hatte inzwischen ein paar Verabredungen in Hope’s Crossing gehabt, allerdings war nie etwas Ernsthaftes daraus geworden. Und keinen dieser Männer hätte sie in ihr persönliches Heiligtum eingeladen.

Die meiste Zeit war sie von Frauen umgeben. Sie arbeitete in einem Perlenladen, Himmel noch mal, einem Ort, der nicht gerade vor Testosteron strotzte. Wenn sie jemals wieder eine Beziehung haben wollte, würde sie sich etwas einfallen lassen müssen. Jetzt, wo sie ein gewisses Maß an Ruhe nach den schwierigen letzten beiden Jahren gefunden hatte, war es vielleicht wirklich an der Zeit, in dieser Hinsicht etwas zu unternehmen.

Falls sie irgendwann wieder ernsthaft daran denken sollte, sich auf dem Markt umzusehen, dann würde ihr der Name Brodie Thorne jedenfalls garantiert nicht in den Sinn kommen, obwohl er großartig aussah – wenn man auf diesen verführerischen, dunkelhaarigen Geschäftsmann-Typ stand.

Was bei ihr nicht der Fall war.

Sie nahm den Hausschlüssel aus der kleinen Tasche im Bund ihrer Jogginghose und schloss die Tür auf. Dann zuckte sie zusammen. Sie hatte das Durcheinander vergessen, das sie hinterlassen hatte, als sie gleich nach ihrer Rückkehr zum Joggen aufgebrochen war. Einen Berg von Kartons und Taschen und Koffern. Sie hätte Brodie wirklich mit Jacques unten im Garten warten lassen sollen.

Brodie zog eine Augenbraue angesichts des Chaos hoch – oder vielleicht auch wegen ihres ungewöhnlichen Einrichtungsstils – und der nicht zusammenpassenden Möbel: Berge von Kissen, zarte Vorhänge an den Fenstern und perlenbesetzte Lampenschirme, die sie in einer langen Winternacht gebastelt hatte. Viel schlichter als ihr Heim in Topanga Canyon oder ihr Elternhaus, eine große Villa in Santa Barbara. Aber ihr gefiel es.

Brodie lebte in einem riesigen Designerhaus aus Zedernholz und Glas oben am Canyon High, und sie konnte sich sehr gut vorstellen, was er von ihrem bescheidenen Apartment hielt. Und die Tatsache, dass sie sich auch nur einen Moment lang dafür schämte, machte sie wütend. Wütend auf sich und ungerechterweise auch auf ihn.

„Entschuldigen Sie das Durcheinander. Ich bin erst vor einer Stunde von einem Kunstmarkt in Grand Junction zurückgekommen und habe nur schnell mein Auto ausgeräumt.“

Sie schob den Koffer aus dem Weg, damit sie ins Wohnzimmer gehen konnten, und unverzüglich schien das Zimmer auf halbe Größe zu schrumpfen. Nur gut, dass sie Jacques unten gelassen hatte, mit den beiden großen männlichen Wesen in der kleinen Wohnung wäre kaum genug Luft zum Atmen geblieben.

„Kein Problem.“

Er betrat das Zimmer, blieb allerdings stehen. Für einen Mann, der normalerweise so selbstbewusst war, dass es schon an Arroganz grenzte, wirkte er aus irgendeinem Grund merkwürdig unsicher. Sie konnte selbst nicht sagen, weshalb sie diesen Eindruck hatte. Vielleicht lag es an seiner angespannten Haltung oder dem wachsamen Blick in seinen Augen.

Sie musste schlucken, und nun fiel ihr auch wieder ein, warum sie ihn überhaupt in ihre Wohnung eingeladen hatte. Weil sie am Verdursten war. Sie steuerte auf den Kühlschrank der offenen Küche zu und nahm den Wasserkrug heraus. „Kann ich Ihnen etwas anbieten? Wasser? Eistee oder eine Cola?“

„Nein danke.“

Sie warf die Tür zu, goss sich ein Glas ein und trank einen tiefen, köstlichen Schluck.

Wieso nur war Brodie in ihrer Wohnung und wirkte so nervös? Seit sie in Hope’s Crossing lebte, hatten sie nur wenige Worte miteinander gewechselt. Meistens waren sie bei irgendwelchen öffentlichen Anhörungen aufeinandergetroffen, wo sie sich gegen seine Pläne ausgesprochen hatte, diesen pittoresken Ort in eine schlechte Kopie jeder anderen Stadt zu verwandeln.

Ein Privatbesuch passte überhaupt nicht zu ihm.

Womit hatte sie ihn so sehr verärgert, dass er sie zu Hause aufsuchte? Wegen der vielen Kunstmärkte war sie doch in diesem Sommer nur selten in Hope’s Crossing gewesen. Vielleicht war er noch immer sauer, da sie bei der Planungskommission gegen eines seiner Bauprojekte gestimmt hatte, das sie persönlich für eine Verschandelung der Umwelt hielt.

Sie wurde sich plötzlich ihres verschwitzten T-Shirts und der engen Jogginghosen bewusst und der Tatsache, dass sie ihm vorhin auf der Treppe einen ungehinderten Blick auf ihren Hintern erlaubt hatte.

Um sich das Unbehagen nicht anmerken zu lassen, hob sie ihren Pferdeschwanz etwas an und fächelte sich Luft zu. Im Zimmer war es so heiß wie in einer Sauna. Schnell stellte sie ihr Glas auf der Küchentheke ab und ging zum Fenster, um es zu öffnen. Das hätte sie eigentlich tun sollen, bevor sie mit Jacques losgelaufen war.

„Haben Sie keine Klimaanlage?“

Evie zuckte mit den Schultern und verspürte sofort das Bedürfnis, ihre Arbeitgeberin und Vermieterin – vor allem aber gute Freundin – zu verteidigen. „Claire hatte angeboten, eine einzubauen, aber das wollte ich nicht. Ein Ventilator reicht mir normalerweise, und ich kann mich jederzeit in den Garten setzen, wenn es hier zu stickig wird.“

Sie stellte den Ventilator an. Die Luft, die er verteilte, war zwar nicht gerade kühler, aber zumindest fühlte sie sich jetzt im Raum etwas weniger drückend an.

„Ich gehe allerdings davon aus, dass Sie nicht hier sind, um über mein Raumklima zu sprechen, Brodie.“

Er schaute durch das Fenster in die dunkler werdende Abenddämmerung. Seine Gesichtszüge waren angespannt, als ob er sich für etwas besonders Unangenehmes bereit machte, und so langsam wurde sie nun doch neugierig.

„Ich möchte Ihren Service in Anspruch nehmen.“

Okay. Sie blinzelte. Das Gebäude war zwar in den wilderen Zeiten der Stadt mal ein Bordell gewesen, dennoch war sie sich fast sicher, dass Brodie das nicht so meinte, wie es geklungen hatte.

Davon abgesehen fand sie es nicht gerade erfreulich, dass ihr bei der Vorstellung ein warmer Schauer über den Rücken lief.

Sie trank einen weiteren Schluck Wasser. „Möchten Sie ein Schmuckstück kaufen? Ein Geschenk für Taryn?“

„Es betrifft Taryn, ja. Doch es geht nicht um Schmuck.“ Wieder blitzte eine Art Unbehagen in seinen Augen auf, das er aber schnell wegblinzelte. „Sie haben offenbar noch nicht mit meiner Mutter gesprochen, oder?“

„Nein. Nicht, seit ich am Donnerstag weggefahren bin.“

„Dann wissen Sie es wahrscheinlich noch nicht. Taryn kommt nach Hause.“

Etwas von ihrer Anspannung verschwand. „Oh Brodie. Das ist fantastisch!“

Auch wenn sie den Mann nicht ausstehen konnte, so war sie doch froh über diese großartige Neuigkeit. „Das ging nun aber doch schnell. Wie erstaunlich! Vergangene Woche hatte Ihre Mutter noch gesagt, dass Taryn noch mindestens ein paar Monate in der Reha bleiben müsste. Wie schön für Sie, dass sie derartige Fortschritte macht!“

„Sollte man denken.“

Bei seinem Tonfall runzelte sie die Stirn. „Finden Sie nicht?“

„Das würde ich gerne.“

„Der Unfall ist schon mehr als drei Monate her. Sind Sie denn nicht überglücklich?“

„Ich bin glücklich, dass meine Tochter nach Hause kommt. Selbstverständlich“, antwortete er knapp.

„Aber?“

Langsam stieß sie den Atem aus und verlagerte das Gewicht. „Die Reha-Klinik wirft sie mehr oder weniger hinaus.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Natürlich nennen sie es anders. Die freundliche Umschreibung lautet vielmehr, dass es an der Zeit sei, Taryn woanders unterzubringen.“

„Warum in aller Welt sollten sie so etwas sagen?“

„Die Ärzte und Physiotherapeuten von Birch Glen sind zu der Ansicht gelangt, dass sie Taryn nicht mehr weiterhelfen können. Sie arbeitet nicht mehr mit, es ist sogar so schlimm geworden, dass sie sich weigert, weiter zur Therapie zu gehen.“

„Aber es ist die Aufgabe der Ärzte, Taryn weiter zu motivieren.“ Evie wusste, wovon sie sprach, immerhin hatte sie fast zehn Jahre als Physiotherapeutin gearbeitet. Zahllose Male hatte sie gedacht, bei einem Patienten die Grenze erreicht zu haben, nur um dann eine neue Übung oder Dehnung zu entdecken, die alles veränderte.

„Das sollte man meinen. Birch Glen ist die angesehenste Reha-Klinik in ganz Colorado. Angeblich gibt es eine ellenlange Warteliste von Patienten, die auch wirklich Hilfe annehmen wollen. Es ist kein böser Wille, allen tut es wirklich sehr leid. Und so weiter, bla bla bla. Der Direktor denkt, dass Birch Glen Taryn so weit unterstützt hat, wie sie es zulässt, und dass sie mit den Mitarbeitern einer anderen Klinik vielleicht besser zurechtkommt.“

Das konnte Evie verstehen. Manchmal passten Patienten und Therapeuten einfach nicht zusammen, egal, wie sehr sie sich bemühten. „Das muss sehr schlimm für Sie sein – und vor allem für Taryn. Es tut mir so leid, Brodie. Ich habe von einigen exzellenten Reha-Kliniken in der Gegend um Denver gehört. Vielleicht gibt es dort Therapeuten, die Ihre Tochter besser anspornen können.“

„Sollte man meinen, nicht wahr? Aber hier geht es um ein fünfzehnjähriges Mädchen, das schwere Hirnverletzungen erlitten hat. Sie verhält sich nicht rational.“

„Spricht sie inzwischen?“ Von Katherine hatte sie erfahren, dass das Mädchen sich weigerte zu reden, da jedes Wort ein Kampf zu sein schien.

„Ihre Sprache ist besser geworden. Nun, zumindest besser als am Anfang. Sie konnte jedenfalls ganz eindeutig klarmachen, dass sie nach Hause möchte. Das war’s. Sie will einfach nur nach Hause.“ Er seufzte. „Sie hat gesagt, dass sie auch nirgendwo sonst mitarbeiten würde – nicht mal in der besten Reha-Klinik des ganzen verdammten Landes. Alles, was sie möchte, ist nach Hause zu kommen nach Hope’s Crossing.“

Er wirkte so verzweifelt, dass sie Mitleid mit ihm hatte. Gut, sie konnte ihn nicht ausstehen und fand ihn arrogant und humorlos. Aber es war auch nicht gerade leicht, ihren ersten – und zweiten und dritten – Eindruck von ihm mit dem Bild dieses hingebungsvollen Vaters in Einklang zu bringen, der in den letzten drei Monaten alles dafür getan hatte, dass seine Tochter wieder gesund wurde.

„Sie hat praktisch einen Tobsuchtsanfall wie eine Dreijährige gekriegt“, fuhr er fort.

„Sie ist durch die Hölle gegangen.“

„Genau. Und so sehr ich ihre Wünsche am liebsten ignorieren und einfach eine andere Klinik für sie suchen würde, muss ich darauf hören, was sie uns sagt. Sie macht keine Fortschritte mehr, und einige Therapeuten haben vorgeschlagen, dass wir uns darauf einlassen, was sie möchte. Sie nach Hause holen und dort eine Therapie beginnen.“

Jetzt dachte sie an seine Worte: Ich möchte Ihren Service in Anspruch nehmen – und auf einmal fielen alle Puzzleteilchen an ihren Platz.

„Und warum sind Sie hier?“, fragte sie, sich noch an die Hoffnung klammernd, dass sie sich täuschte.

Er wirkte, als würde er sich lieber eigenhändig sämtliche Fußnägel herausreißen, als hier in ihrem Wohnzimmer zu stehen und sie um einen Gefallen zu bitten.

„Das war eigentlich die Idee meiner Mutter. Bestimmt haben Sie eine Ahnung davon, wie viel Pflege Taryn benötigt, wenn wir sie nach Hause holen. Sie wird eine Krankenschwester brauchen und ein umfangreiches Reha-Programm. Physio-, Ergo- und Sprachtherapie. Sie kann – oder will – noch immer nicht mehr als einen oder zwei Schritte allein gehen. Sie kann ihre Hände nur eingeschränkt benutzen, vor allem die linke. Im Moment hat sie sogar Probleme, allein zu essen. Die Ärzte sind sich nicht sicher, welche Fähigkeiten – wenn überhaupt – sie zurückgewinnen kann.“

Hirnverletzungen konnten grausam und unberechenbar sein. Von einer Sekunde auf die andere wurde aus einem gesunden, lebhaften Mädchen, das gerne Snowboard fuhr, sich mit seinen Freunden traf und im Cheerleader-Team war, ein vollkommen anderer Mensch – womöglich für immer.

Er steckte die Hände in die Taschen. „Die Leute von Birch Glen haben mir erklärt, dass ich jemanden brauche, der die Pflege von Taryn koordiniert. Jemanden, der mit den ganzen Therapeuten und Pflegern zusammenarbeiten kann und dafür sorgt, dass sie alle Hilfe erhält, die sie benötigt.“

Evie wappnete sich gegen das, was er als Nächstes sagen würde. Sie musste an ein anderes Mädchen und diese schrecklichen Wochen und Monate nach dessen Tod denken, und alles in ihr schrie Nein. Nie wieder wollte sie so etwas durchmachen.

„Meine Mutter hat sofort Sie vorgeschlagen. Sie wären perfekt für die Aufgabe. Und ich bin hier, um Sie zu bitten, es sich zu überlegen.“

Da war es. Sie sog den Atem ein und schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrer Brust zusammenzuballen schien.

„Ich arbeite jetzt in einem Schmuckladen“, erwiderte sie leise.

„Aber Sie sind ausgebildete Physiotherapeutin. Meine Mutter meinte, dass Sie nach Ihrem Umzug auch die Zertifizierung für Colorado beantragt haben.“

Wenn das mal nicht eine ihrer dümmeren Ideen gewesen war. Sie hatte es mehr oder weniger als Herausforderung betrachtet und einfach herausfinden wollen, ob sie die Zertifizierung bekommen würde. Außerdem war das offizielle Papier nützlich für den Fall, dass irgendjemand Einwände gegen ihre freiwillige Arbeit für das lokale Seniorenzentrum hatte. Jetzt allerdings bereute sie diesen Schritt zutiefst.

„Nur weil ich etwas Bestimmtes kann, heißt es noch lange nicht, dass ich es auch tun will.“

Du meine Güte, sie klang vielleicht zickig. Warum brachte er das Schlimmste in ihr zum Vorschein?

Sein sowieso schon kalter Blick wurde eisig. „Weshalb nicht?“

Aus Hunderten von Gründen. Tausenden. Ihre Gedanken wanderten zu Cassie und diesen schrecklichen Tagen und zu dem schwer erkämpften inneren Frieden, der ihr seither über alles ging.

„Ich arbeite jetzt in einem Schmuckladen“, wiederholte sie. „Ich habe meinen alten Beruf an den Nagel gehängt. Und ich habe Verpflichtungen. Neben meiner Arbeit für Claire habe ich auch verschiedene andere Projekte angenommen, ganz zu schweigen von einem weiteren Kunstmarkt im August. Ich kann Ihnen Ihre Bitte unmöglich erfüllen.“

Nichts ist unmöglich. Das ist nicht nur ein verdammter Slogan.“

Er trat näher. Evie musste gegen den Drang ankämpfen, zurückzuweichen. „Wir sprechen hier über meine Tochter“, entgegnete er brummend. „Nach dem Unfall glaubte kein einziger Arzt, dass Taryn ihre Hirnverletzungen überleben könnte. Als sie all die Wochen im Koma lag, haben mich manche sogar dazu gedrängt, die lebenserhaltenden Maschinen ausschalten zu lassen. Es gebe für sie keine Chance, jemals ein normales Leben zu führen, sagten sie. Sie sei nichts als eine leere Hülle. Doch das ist sie nicht. Da drinnen ist noch immer die dickköpfige Taryn von früher!“

Die Liebe zu seinem Kind rührte Evie an. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie sich deswegen von ihm überreden lassen würde.

„Ich mache das nicht mehr, Brodie. Vielleicht kann Ihnen die Klinik jemanden aus der Gegend empfehlen, der Ihnen helfen kann.“

„Ich zahle Ihnen, was immer Sie verlangen.“

Dann nannte er einen Betrag, bei dem sie blinzeln musste. Einen winzigen Moment lang stellte sie sich vor, wie sie das Geld zwischen dem Layla-Parker-Stipendium und der Stiftung, die sie in Kalifornien unterstützte, aufteilen würde.

Nein. Der Preis, den sie bezahlen müsste, war einfach zu hoch.

„Es tut mir leid“, erklärte sie. „Doch ich gehöre nicht mehr in diese Welt.“

„Aus freiem Willen.“

„Richtig. Aus freiem Willen.“

Sein Blick – diese Augen, blau wie schillernder Achat – fixierte ihr Gesicht. „Bedeutet es Ihnen denn gar nichts, dass ein junges Mädchen Ihre Hilfe benötigt? Sie könnten ihr Leben verändern. Ist das denn nichts?“

Oh, das war einfach nicht fair. Woher kannte dieser verflixte Mann ihre verwundbarste Stelle?

Allerdings würde sie sich von ihm keine Schuldgefühle einreden lassen. „Sie müssen jemand anders finden“, wiederholte sie.

„Und wenn ich Ihr Honorar um zwanzig Prozent erhöhe?“

„Es spielt keine Rolle, wie viel Sie mir anbieten. Hier geht es nicht um Geld. Sie sollten wirklich nach jemandem mit mehr Erfahrung suchen.“

Jegliche Höflichkeit in seinem Ausdruck verschwand. Jetzt wirkte er nur noch verärgert. „Ich habe meiner Mutter gesagt, dass Sie es nicht tun würden. Niemals hätte ich jemanden wie Sie um Hilfe bitten sollen. Tut mir leid, dass ich meine und Ihre Zeit verschwendet habe.“

Und da war er wieder, der arrogante Mistkerl. Jemanden wie Sie. Was hatte das zu bedeuten? Jemand, der dagegen kämpfte, dass der Charme von Hope’s Crossing den üblichen Fast-Food-Restaurants und Kaufhäusern weichen musste? Jemand, der ein soziales Gewissen hatte?

„Nächstes Mal sollten Sie gleich auf Ihr Bauchgefühl hören“, fuhr sie ihn an.

„Es wird kein nächstes Mal geben. Da können Sie verdammt sicher sein.“

Er marschierte zur Tür, riss sie auf und stürmte die Treppe hinunter.

Nachdem er verschwunden war, presste Evie die Hand auf ihren plötzlich schmerzenden Magen. Wahrscheinlich hatte sie nur Hunger. Schließlich hatte sie außer einem Sandwich vor sechs Stunden noch nichts gegessen.

Sie sank auf einen Stuhl. Nein, es lag nicht am Hunger. Sondern an Brodie Thorne. Der Mann hatte sie nervöser gemacht als ein ganzes Zimmer voller Anwälte.

Vielleicht hätte sie zustimmen sollen. Sie mochte Katherine und stand tief in ihrer Schuld. Und Brodie hatte recht. Trotz des Altersunterschieds kannte sie Taryn gut. Sie war regelmäßig ins String Fever gekommen, ein Mädchen mit den Träumen und Plänen und den typischen Ängsten eines Teenagers.

Sie wollte ihr helfen, aber wie sollte das funktionieren? Es würde sie einfach viel zu viel kosten. Seit sie nach Hope’s Crossing gezogen war, hatte sie hart dafür gearbeitet, ein besseres Leben zu führen als zuvor. Als sie verloren und voller Trauer gewesen war. Ausgelaugt.

Sie wusste um ihre eigenen Grenzen, hatte sie auf eine harte Weise erkennen müssen. Wenn sie mit Patienten arbeitete, dann gab sie alles, was sie hatte – all ihre Energie, Kraft, Leidenschaft. Sie verlor jegliche professionelle Distanz, jegliche Objektivität.

Nach Cassies Tod und ihrem eigenen Zusammenbruch war ihr klar geworden, dass sie einfach nicht länger in diese Welt gehörte, ganz egal, wie viele Menschen sie dadurch enttäuschte.

Brodie musste den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung aufbringen, um die Tür nicht hinter sich zuzuknallen. Dann stapfte er die Treppe hinunter in den Garten hinter der Wohnung.

Er war so wütend, dass er am liebsten ein paar Blumen herausgerissen hätte. Oder jede verdammte einzelne. Ihr Hund – halb Pudel, halb Labrador und genauso komisch wie sie – wedelte zur Begrüßung bellend mit dem Schwanz. Brodie kraulte ihn zwischen den Ohren, stieß den Atem aus, und etwas von seiner Anspannung löste sich auf.

Allerdings nur etwas, nicht alles. Was zum Teufel sollte er jetzt machen? Gut, wahrscheinlich war er zu naiv gewesen, aber er hätte niemals gedacht, dass sie tatsächlich Nein sagen würde.

Welch eine Ironie. Er hatte diese Frau sowieso nicht für Taryns Pflege engagieren wollen. Seine Mutter hatte er für verrückt gehalten, als sie ihm Evie Blanchard vorgeschlagen hatte, nachdem der Direktor der Birch-Glen-Klinik – damals noch sehr vorsichtig – angedeutet hatte, dass die Behandlung für Taryn möglicherweise nicht die richtige war.

Evie Blanchard hatte eine Schraube locker. Sie trug ihr langes, blondes Haar offen oder in Zöpfen, zog offenbar lieber Sportsandalen als hohe Schuhe an und hatte immer irgendein auffälliges, vermutlich selbst gebasteltes Schmuckstück um. Meistens sah man sie in fließenden, blumigen Kleidern, als wäre sie eine Art Mutter-Erde-Hippie. Allerdings wusste er nun, dass sie manchmal auch unglaublich enge Sporthosen trug. Durch seinen Körper ging ein kleiner Ruck bei der Erinnerung daran – sehr zu seinem Ärger.

Er wollte sich nicht zu Evie Blanchard hingezogen fühlen. Sie gehörte zu diesen verflixten Gutmenschen, die in ihrer Freizeit nichts Besseres zu tun hatten, als Dinge durcheinanderzubringen, die zuvor vollkommen in Ordnung gewesen waren. Alles an ihr ging ihm auf die Nerven.

Als sie in die Stadt gekommen war, hatte er zuerst geglaubt, sie sei eine Schwindlerin, die seine viel zu vertrauensselige Mutter ausnutzen wollte. Im Ernst, welche normale Frau packte ihren Kram, ließ alles hinter sich und zog ans andere Ende des Landes, nur wegen einer E-Mail-Freundschaft?

Entweder war sie die geduldigste Betrügerin, von der er je gehört hatte, oder sie war wirklich nach Hope’s Crossing gekommen, um noch einmal neu zu beginnen. Seit einem Jahr war sie nun hier und schien sich gut eingelebt zu haben. Seine Mutter und all ihre Freundinnen jedenfalls mochten sie.

Er streichelte den Hund ein letztes Mal, dann trat er durch das Eisentor und marschierte die Gasse zurück auf die Main Street.

Evie Blanchard war vielleicht keine Betrügerin, dennoch hatte er sich immer bemüht, einen großen Bogen um sie zu machen. Sie hatte so eine Art, einen anzusehen, die ihn beunruhigte. Bevor er auch nur ein Wort gesagt hatte, fühlte er sich von ihr schon abgeurteilt. Er wusste genau, wofür sie ihn hielt. Für einen miesen Bauunternehmer mit einem dicken Scheckbuch, der Hope’s Crossing ruinieren wollte.

Was nicht stimmte. Er liebte diese Stadt. Das war sein Zuhause, hierher hatte er seine damals dreizehnjährige Tochter nach seiner gescheiterten Ehe gebracht. Und jetzt wollte er Taryn wieder nach Hause holen, damit sie endlich gesund werden konnte. Zählte das denn nicht?

Nun, wohl nicht für Evie Blanchard. Sie konnte ihn einfach nicht leiden. Es half auch nicht gerade, dass sie jedes Mal bei einem Planungstreffen oder einer öffentlichen Anhörung alles, was er vorhatte, mit eloquenten Äußerungen attackierte. Und er war jedes Mal entsetzt über das vollkommen unpassende Begehren, das er bei diesen Gelegenheiten mit jeder Faser seines Körpers verspürte.

Natürlich konnte er das schlecht seiner Mutter erzählen. Er wollte diese Tatsache ja nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen.

Deswegen hielt er lieber einen gesunden Abstand zu Evie Blanchard, ihrem welligen blonden Haar und ihrer schlanken Figur, die sich unter den engen Laufhosen äußerst vorteilhaft abgezeichnet hatte.

Dumm genug, dass seine Mutter ihn letztlich doch davon überzeugt hatte, dass Evie im Moment die einzige Person war, die seiner Tochter helfen konnte.

Katherines Argumente waren einleuchtend gewesen, voller Zitate aus medizinischen Artikeln, die Evie vor ein paar Jahren geschrieben hatte, und Zeitungsberichten über die unglaublichen Fortschritte, die sie bei einigen ihrer Patienten erzielt hatte. Seine Mutter hatte ihre Hausaufgaben gründlich gemacht und ihm alles präsentiert, was sie über Evie herausfinden konnte. Selbst Berichte von Eltern ihrer jugendlichen Patienten waren darunter gewesen. Nachdem er das Dossier über Evies Zeit als Therapeutin in Kalifornien gelesen hatte, war er schwer beeindruckt gewesen. Danach war er sich nicht mehr sicher, ob er sich noch mit einem anderen Physiotherapeuten zufriedengeben könnte.

Seufzend steuerte er auf seinen Wagen zu, der auf dem Parkplatz hinter dem Center of Hope Café stand. Er entdeckte Dermot Caine, den Besitzer des Cafés, der mit Mülltüten in beiden Händen zum Container ging. Brodie winkte.

„Stimmt es, dass dein Mädchen nach Hause kommt?“, fragte Dermot mit einem hoffnungsvollen Ausdruck auf seinem sonnengebräunten Gesicht.

„Das ist der Plan. Sie hat aber noch einen langen Weg vor sich.“ Er wünschte wirklich, dass er diesen Satz nicht jedes Mal hinzufügen müsste, wenn er mit jemandem sprach, doch die Leute in Hope’s Crossing hatten schon genug Enttäuschung und Verzweiflung in den letzten drei Monaten erlebt. Er wollte nicht, dass jemand überzogen hohe Erwartungen anstellte.

„Gib ihr eine herzliche Umarmung von mir, ja? Die Kleine ist eine echte Kämpferin. Wenn sie auf irgendwas Lust hat – auf meinen Heidelbeerkuchen oder die Schokoladenmousse, die sie immer so mochte –, dann sag mir einfach Bescheid, und ich werde persönlich liefern.“

„Das mache ich. Danke, Dermot.“ Es hatte eine Zeit gegeben, als der Besitzer des Cafés Brodie nur als Störenfried betrachtet hatte. Brodie hatte in den letzten Jahren hart daran gearbeitet, seinen Ruf in der Stadt zu verbessern, und es war schön für ihn zu sehen, dass Dermot sich um seine Tochter Gedanken machte.

„Ich meine es so. Jeder in der Stadt betet für dein Mädchen. Sie ist ein kleines Wunder, wirklich, das ist sie, und wir können es kaum erwarten, sie wieder bei uns zu haben.“

„Das freut mich. Und ich bin sicher, Taryn auch.“

Alle in Hope’s Crossing hofften darauf, dass Taryns Zustand sich besserte, und das bedeutete eine Menge Druck für eine Fünfzehnjährige, die gerade mal ein paar Worte am Stück sprechen konnte.

Wild entschlossen öffnete Brodie die Tür seines Wagens – Evie Blanchard war noch immer seine große Hoffnung.

Er war nicht bereit, jetzt schon aufzugeben. Das war einfach nicht seine Art, war es nie gewesen. Nicht früher, als er Skispringer war und für die Olympischen Spiele trainiert hatte, und auch nicht später als Geschäftsmann. Auf gar keinen Fall würde er sein kleines Mädchen im Stich lassen.

Er hatte als alleinerziehender Vater genug Fehler begangen. Angefangen damit, dass er eine Frau geheiratet hatte, die die erste Gelegenheit ergriff, abzuhauen, als Taryn gerade mal drei Jahre alt gewesen war. Mit der Hilfe seiner Mutter hatte Brodie es irgendwie geschafft, Taryn ein stabiles Zuhause zu bieten, mit allem, wonach ein Kind verlangen konnte.

Allerdings hatte er ihr nicht besonders viel von sich selbst gegeben. Während der letzten Jahre war ihre Beziehung schwierig gewesen, voller Streit und Wutausbrüche. Als sie dreizehn wurde, musste er feststellen, dass er nicht die geringste Ahnung von pubertierenden Mädchen und ihren Stimmungsschwankungen hatte. Bei all den Diskussionen und Androhungen von Hausarrest hatte er nicht bemerkt, dass Taryn immer mehr vom Weg abgekommen war und sich mit einer Clique eingelassen hatte, in der Alkohol getrunken wurde und die sogar in Häuser einbrachen.

Vor dem Unfall war er also vielleicht ein schlechter Vater gewesen, aber dieses Mal würde er seine Tochter nicht im Stich lassen. Er war fest entschlossen, die bestmögliche Hilfe für sie zu finden, um ihr Reha-Programm zu Hause fortzusetzen. Und ob es ihm nun passte oder nicht, war Evie Blanchard genau die richtige Person dafür.

Welche Rolle spielte es, dass er sie persönlich nervig und provozierend fand? Er war ein erwachsener Mann, er konnte das aushalten, vor allem, wenn sie die Person war, die seiner Tochter die bestmögliche Pflege garantieren konnte.

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen wachte Evie früh auf, erschöpft und mit geschwollenen Augen. Jacques steckte seine Schnauze in ihren Nacken, und sie lachte heiser.

„Ja, okay. Ich weiß, was du willst“, murmelte sie. Sie setzte sich behutsam auf, alle Knochen schmerzten von dem langen Wochenende. Jacques musste hinaus, und ein früher Marsch über den Woodrose-Wanderweg war jetzt genau das Richtige, um fit zu werden.

Schnell kleidete sie sich an, schnappte sich zehn Minuten später Jacques’ Leine und lief mit ihm hinaus in die Morgendämmerung.

Als sie den Ausgangspunkt des Weges erreicht hatten, waren sie beide schon etwas ruhiger. Der Pfad war feucht vom nächtlichen Regen, und Evie fragte sich, ob man von dem intensiven Duft des durchnässten Salbeis und der Kiefern berauscht werden konnte.

Je weiter sie nach oben stieg, desto atemberaubender wurde die Aussicht, die sie jedes Mal aufs Neue überwältigte. Hope’s Crossing wirkte klein und provinziell, vor allem im Schatten der riesigen Bergketten, die sich nach allen Richtungen ausbreiteten.

Die Stille war so vollkommen anders als der Lärm und Verkehr in L.A. – und sie hätte um nichts in der Welt tauschen wollen. Als sie in Hope’s Crossing angekommen war, erschöpft und verloren, hatte sie hier, wo sie atmen und denken konnte, nach und nach wieder zu sich selbst gefunden. Der Schmerz, die Trauer und die Selbstzweifel waren langsam geheilt.

Allerdings nicht ganz und gar. Seufzend hielt sie das Gesicht in die Sonne, die hinter dem Gipfel aufging. Gerade als sie geglaubt hatte, endlich einen guten Platz für sich gefunden zu haben, zufrieden mit sich und der Welt, schlug ihr die Realität wieder mitten ins Gesicht wie ein unerwarteter Ast, der sich über ihren Lebensweg streckte.

Müde von dem Wochenende, hatte sie nicht gut geschlafen und wilde Träume voller Erinnerungen und alter Gespenster gehabt. Da musste man nicht lange überlegen, wer schuld daran war. Brodie Thornes unerwartete Bitte war wohl die ganze Nacht durch ihre Gedanken gegeistert.

Sie kam sich wie ein Feigling vor, weil sie abgelehnt hatte. Aber das war sie nicht. Es hatte sie viel Mut gekostet, ihren Beruf aufzugeben, ihr Heim und ihre Freunde, und etwas zu suchen, das sie in L.A. nicht mehr finden konnte. Sie hatte hart dafür gekämpft, ihr Gleichgewicht wiederzugewinnen – Harmonie oder Erlösung, wie immer man es nennen wollte. So sehr ein Teil von ihr auch ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Absage hatte, so wusste sie doch, dass ein Nein die einzig richtige Antwort gewesen war.

Nachdem sie und Jacques sich genug bewegt hatten, lief sie den Weg wieder hinab, vorbei an einigen Touristen – angesichts der Wanderstäbe und Birkenstock-Schuhe und mit diesem gewissen Elan offensichtlich Europäer. Sie grüßten sie mit starkem Akzent, dann sagten sie etwas in melodischem Französisch und zeigten dabei auf Jacques mit seinem Labradorkörper und dem wolligen Pudelfell, das sie im Sommer kurz scheren ließ. Er schenkte ihnen ein hoheitsvolles Nicken, bevor er weiter den Pfad hinuntertapste, und Evie streichelte ihm lächelnd den Kopf. Mann, wie sie diesen Köter liebte.

Zurück in ihrer Wohnung, verbrachte sie den Morgen mit einigen Bastelanleitungen, die sie einer Schmuckzeitschrift vorlegen wollte, dann aß sie schnell ein Sandwich und ging zur Arbeit.

Es war einfach unmöglich, ihren momentanen Arbeitsweg – sechzehn enge Stufen über die Treppe und dann durch den Hintereingang ins String Fever – mit den endlosen Stunden zu vergleichen, die sie im südkalifornischen Stop-and-Go-Verkehr zugebracht hatte.

Als sie den Laden betrat, studierte ein junges Mädchen gerade die verschiedenen Schmuckdrähte, und zwei junge Mütter saßen in der Leseecke und blätterten die Musterbücher durch, während ihre Kinder das Spielzeug inspizierten, das Claire immer für die Kleinen bereithielt.

Evies Chefin war am Telefon in ihrem kleinen Büro. Durch die geöffnete Tür winkte Claire ihr zu, dann nahm Evie die Schürze mit den vielen Taschen vom Haken, in denen sie die Schmuckwerkzeuge verstauen konnte.

Claire beendete ihr Telefonat. Sie leuchtete heute geradezu. Ihre Augen glänzten, und ihr Lächeln war breit und strahlend. Sie trug ihr neu gefundenes Glück wie ein schimmerndes Diadem, und Evie freute sich für sie. Claire war die großzügigste Frau, die sie kannte, immer bemüht, anderen zu helfen. Obwohl sie nie verbittert gewirkt hatte, weil ihr Exmann kurz nach der Scheidung eine zehn Jahre jüngere Frau geheiratet und geradezu stolz mit ihr ein prächtiges Haus in Hope’s Crossing bezogen hatte, musste es für sie bestimmt ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.

Aber jetzt machte Riley McKnight sie glücklich. Jeder in der Stadt konnte das sehen, der Mann betete sie geradezu an.

„Du solltest frühestens in …“, Claire sah auf ihre Uhr, „einer Stunde hier sein.“

Evie lächelte. „Ich wollte noch mal das ganze Zubehör für den Workshop heute Abend checken.“

„Das ist wahrscheinlich eine gute Idee. Wir hatten am Wochenende noch ein paar kurzfristige Anmeldungen. Ich glaube, es sind allein am Samstag noch sechs dazugekommen. Deine Workshops sind immer voll. Seien wir ehrlich, du bist der Rockstar unter den Schmuckbastlern in Hope’s Crossing.“

Evie lachte. „Nicht schlecht, oder?“

„Ich hoffe nur, dass wir genug Platz an der Werkbank haben. Und wenn du immer noch der Meinung bist, dass wir eine zweite brauchen, dann sag mir Bescheid. Also, wie war es in Grand Junction?“

„Viel besser als erwartet. So gut sogar, dass es ziemlich stressig werden wird, das Sortiment vor dem nächsten Kunstmarkt am Labor-Day-Wochenende aufzufüllen.“

„Ich werde ein Schild an der Kasse anbringen, dass du noch weitere Schmuckstücke in Kommission nimmst. Was du da machst, ist wirklich toll, Evie. Ich kann kaum glauben, wie viel Geld in ein paar Monaten in das Stipendium geflossen ist. Mit dem gigantischen Betrag von der Wohltätigkeitsauktion im Juni und dem Geld, das seither mit deiner Hilfe eingegangen ist, könnten wir gleich mehrere Stipendien pro Jahr in Laylas Gedenken vergeben. Das machst du fantastisch, Evie.“

„Ich tue doch gar nicht viel. Du bist es, die den ganzen Papierkram und die Organisation erledigt. Schmuck zu verkaufen ist dagegen einfach Spaß.“

„Ich war auch schon auf Kunsthandwerksmärkten. Das ist auch harte Arbeit.“

„Bisher genieße ich es. Und für dieses Jahr bin ich fast fertig. Nur noch der Markt über das Labor-Day-Wochenende in Crested Butte.“ Schnell wechselte sie das Thema. „Und wie kommst du mit den Hochzeitsvorbereitungen voran?“

„Wessen?“

Evie lachte. „Ähm, deinen. Welche Hochzeit sollte ich denn sonst meinen?“

„Nun, für viele hier ist die Beaumont-Danforth-Hochzeit das wichtigste Ereignis in dieser Stadt, obwohl die erst in neun Monaten stattfindet. Gen Beaumont war jeden Tag hier und fragte nach den Glassteinen, die sie bestellt hat, um Geschenke für ihre Brautjungfern zu machen. Ich habe ihr immer wieder gesagt, dass die Lieferung zwei Wochen dauert, aber sie scheint zu glauben, es ginge schneller, nur weil sie es will.“

„Wenn jemand das Raum-Zeit-Kontinuum manipulieren kann, dann Genevieve Beaumont.“

Claire Lachen wirkte etwas angestrengt. „Ich spreche wohl im Namen aller Geschäftsleute von Hope’s Crossing, wenn ich zugebe, wie froh ich bin, wenn diese Hochzeit nur noch eine ferne Erinnerung ist.“

Genevieve Beaumont war die Tochter des Bürgermeisters von Hope’s Crossing und die bekannteste Anwältin der Stadt. Ihre Hochzeit war schon vor Monaten geplant gewesen und hätte im Oktober stattfinden sollen, doch dann hatte Gen sie wegen des tragischen Unfalls, der die ganze Stadt erschüttert hatte, verschoben.

„Und hattest du Zeit, dich um deine eigene Hochzeit zu kümmern?“, fragte Evie.

„Das wird so langsam. Wir denken jetzt an Dezember, mit einem kleinen, intimen Abendessen mit Tanz im Silver Strike Ballroom.“

„Wie schön. Ich kann es mir jetzt schon vorstellen. Alles in Silber und Weiß und Blau, mit bunten Lichtern und meterweise Tüll.“

Claires Gesichtsausdruck wurde nur einen Moment lang verträumt, bevor sie mit den Schultern zuckte. „Ich habe das ganz große Ding schon einmal gemacht. Dieses Mal möchte ich nicht so übertreiben.“

„Für Riley ist es aber das erste Mal.“

„Ihm ist es egal. Er würde am liebsten morgen mit mir nach Vegas durchbrennen, wenn seine Schwestern und seine Mutter ihn hinterher nicht umbringen würden.“

Evie lächelte zwar, war aber verblüfft über den unerwarteten Stich, den sie verspürte.

Wie kam das auf einmal? Sie war doch nicht neidisch auf Claire. Überhaupt nicht. So sehr sie sich über das Glück ihrer Freundin freute, so wenig suchte sie selbst eine Beziehung. Hatte sie denn nicht gerade letzte Nacht wieder festgestellt, dass sie vollkommen zufrieden mit ihrem freien Singleleben war? Jacques leistete ihr Gesellschaft, und die war um Längen angenehmer als jede romantische Verwicklung, die sie bisher erlebt hatte.

„Ihr beide verdient einfach eine wunderschöne Hochzeit. Und du weißt, dass ich dich bei allem unterstützen werde“, versicherte sie Claire.

„Sei vorsichtig.“ Claire lachte. „Ich könnte darauf zurückkommen, wenn der Termin näher rückt.“

„Du weißt sehr gut, dass ich dir das nicht anbieten würde, wenn ich es nicht ernst meinte.“

Claire wollte gerade etwas antworten, doch in diesem Moment kam das junge Mädchen, das sich bisher umgesehen hatte, zögernd auf sie zu. „Tut mir leid, dass ich Sie unterbreche. Ich kann auch später noch mal kommen.“

„Aber nein“, sagte Evie schnell. „Hannah, richtig? Du bist eine Freundin von Lara, die hier ab und zu arbeitet.“

„Nicht so richtig. Wir kennen uns nur von der Schule und so.“

Etwas an diesem Mädchen, ihr Unbehagen und ihre Unbeholfenheit, rührten Evies Herz.

„Wie können wir dir helfen?“, fragte Claire. In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

„Ich übernehme das“, bot Evie an. „Geh du ans Telefon.“

„Das ist wahrscheinlich schon wieder Gen“, vermutete Claire seufzend und durchquerte den Verkaufsraum, um in ihr Büro zu gelangen.

„Wenn Sie keine Zeit haben, dann kann ich ein anderes Mal wiederkommen.“

„Aber gar nicht“, beruhigte Evie das Mädchen. „Ich bin ganz Ohr. Wie kann ich dir helfen?“

„Ich kenne mich überhaupt nicht aus, aber ich würde gerne lernen, Schmuck zu machen. Ich dachte, ich bastle erst mal Ohrringe für meine Mom. Sie hat nächste Woche Geburtstag.“

„Wie schön!“

„Sie ist in letzter Zeit irgendwie traurig, wissen Sie, und ich dachte, na ja, dass sie sich über ein neues Paar Ohrringe freuen würde.“

Kirk. Das war ihr Nachname, wie Evie sich plötzlich erinnerte. Hannah Kirk. Sie kannte die Familie nicht gut, wusste aber, dass Hannahs Vater sie direkt nach Weihnachten wegen einer anderen Frau verlassen hatte. Und jetzt musste sich die Mutter um Hannah und ihre drei jüngeren Geschwister kümmern.

Wenn man den Gerüchten glauben konnte, war der Hoffnungsengel – der rätselhafte Wohltäter, der im letzten halben Jahr so vielen Familien mit Problemen geholfen hatte – seit Weihnachten mehrfach bei den Kirks aufgetaucht. Sie hoffte, dass es so war. Gretchen Kirk und ihre Kinder hatten so viel Pech gehabt, dass sie eine helfende Hand mehr als verdienten.

„Deine Mutter wird sich wahnsinnig über neue Ohrringe freuen, vor allem über selbst gemachte.“

„Das ist nur so eine verrückte Idee. Wie gesagt weiß ich gar nicht, wie das geht, und ich würde viel Hilfe brauchen.“

„Dann bist du hier genau richtig“, erwiderte Evie lächelnd. „Wir helfen gern, glaub mir. Vor allem unseren Anfängern. Wir haben hier einen Arbeitstisch mit Werkzeugen und allem Zubehör, das du brauchst. Und es ist immer jemand da, der dich beraten kann.“

Hannahs Gesicht leuchtete vor Erleichterung auf. „Wirklich? Das wäre toll. Danke. Vielen Dank. Sie haben recht, meiner Mutter würde das sehr gefallen, glaube ich.“

„Moms sind ganz verrückt nach selbst gemachten Geschenken. Möchtest du gleich anfangen? Wir können uns die Perlen und Schmucksteine ansehen und überlegen, welche Farben deine Mutter am liebsten hat.“

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