Nur ein Kuss?

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Ein Traum hat sich für die zierliche Lehrerin Harriet Smith erfüllt: Von dem Honorar ihres ersten Kinderbuches konnte sie sich ein zauberhaftes Cottage kaufen. Problemlos lebt sie sich in der kleinen Dorfgemeinde ein - nur eins belastet Harriet immer stärker: Ihr Nachbar, der arrogante Gutsbesitzer Rigg Matthews, raubt ihr den Schlaf. Sie hat sich in den attraktiven Mann verliebt, befürchtet aber, dass er seine Avancen nicht ernst meint. Auf dem Geburtstagsfest seiner Nichte Trixie küsst er Herriet zwar heiß und besucht sie nachts in ihrem Cottage, doch nun wartet sie seit Tagen auf eine Nachricht von ihm ...


  • Erscheinungstag 08.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733759230
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es ist längst dunkel, wenn ich im Dorf ankomme, und das ist meine eigene Schuld, dachte Harriet und verzog das Gesicht.

Sie war später aus London weggefahren, als sie vorgehabt hatte. Und dann hatte sie am Nachmittag auch noch in einer Autobahnraststätte einen Tee getrunken. Jetzt brach die Dämmerung herein, und sie brauchte mindestens noch eine halbe Stunde, bis sie das Dorf und ihr neues Zuhause erreicht hatte.

„Du bist verrückt!“, hatte Harriets Schwester Louise ausgerufen, als sie ihr erzählt hatte, dass sie umziehen würde. „Willst du wirklich aus London wegziehen und in einem abgelegenen Dorf nahe der schottischen Grenze leben?“, hatte Louise gefragt. Harriet hatte deutlich gespürt, wie entsetzt ihre Schwester gewesen war.

Bei dem Gedanken an ihre Schwester fühlte Harriet sich unbehaglich. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich um Louise, die vier Jahre jünger war, gekümmert. Harriet war damals zweiundzwanzig gewesen und hatte keine Sekunde gezögert, ihre Zukunftspläne aufzugeben und in London eine Stelle anzunehmen. Sie hatte davon geträumt, eine Zeit lang im Ausland als Lehrerin zu arbeiten. Stattdessen versuchte sie, Louise ein Zuhause zu geben.

Es war schwierig, mit Louise zurechtzukommen, sie war sehr rebellisch und eigensinnig. Einige Monate nach dem Tod ihrer Eltern kaufte Harriet von ihrem Erbteil für sich und ihre Schwester in London ein kleines Haus. Louise hingegen verkündete, sie wolle Model werden und ihr Erbe für die Ausbildung verwenden und auch dafür, sich die Welt anzusehen.

Louise war eine schöne junge Frau. Dennoch war Harriet überzeugt, ihre Schwester wolle nur Model werden, weil sie das vermeintlich glamouröse Leben reizte. Sie glaubte nicht, dass Louise genug Zielstrebigkeit und Charakterstärke besaß, um den Konkurrenzkampf auszuhalten und sich durchzusetzen. Deshalb redete sie ihr ins Gewissen und bemühte sich, sie umzustimmen.

Aber Louise wollte nicht auf sie hören. Sie wurde zornig, packte ihre Sachen und verschwand. Trotz intensiver Suche blieb sie sechs Monate unauffindbar. Harriet war sehr beunruhigt und hatte Schuldgefühle, weil sie ihrer Meinung nach versagt hatte.

Dann fing sie an, ihr Leben neu zu ordnen, und kam etwas zur Ruhe. Sie fand sich an der großen Gesamtschule, an der sie Englisch unterrichtete, immer besser zurecht und freundete sich mit Paul Thorby, einem Kollegen, an. Plötzlich tauchte Louise völlig überraschend und wie selbstverständlich wieder auf. Sie erklärte, sie habe in Italien gelebt und dort als Model gearbeitet.

Es tat ihr offenbar nicht leid, dass Harriet ihretwegen sechs Monate lang in Angst und Unruhe gelebt hatte. Sie redete nur über sich selbst und ihre Pläne. Und Harriet war so erleichtert über ihre Rückkehr, dass sie ihr keine Vorwürfe machte.

Sie würde einen reichen Italiener heiraten, den sie in Turin kennengelernt hätte, erzählte Louise. Gedankenlos und leichtfertig fügte sie hinzu, sie sei nur nach London gekommen, um ihr Brautkleid zu kaufen.

Als Harriet erfuhr, dass ihre Schwester Guido, wie der junge Mann hieß, erst sechs Wochen kannte, bat sie sie, mit der Hochzeit noch etwas zu warten. Natürlich wusste Louise alles besser und schlug Harriets Warnungen in den Wind.

Vier Wochen später heirateten Louise und Guido in Turin. Harriet gefiel ihr Schwager. Sie bezweifelte jedoch, dass Louise es schaffte, sich an das neue Leben in Guidos großer Familie zu gewöhnen.

Paul Thorby erinnerte Harriet daran, dass ihre Schwester erwachsen sei und gut auf sich selbst aufpassen könne. Er war ein netter Mensch, aber ungemein pedantisch. Er wurde leicht ungeduldig, wenn man ihm nicht genug Aufmerksamkeit schenkte. Geschwister hatte er keine, und als er Harriet mit nach Hause nahm, um sie seiner Mutter vorzustellen, wurde sie mutlos. Ihr war sogleich klar gewesen, dass sie mit Sarah Thorby nicht zurechtkommen würde.

Mit ihren vierundzwanzig Jahren war Harriet damals etwas unzufrieden mit ihrem Leben gewesen. Was war aus ihren Träumen geworden, durch die Welt zu reisen, ehe sie sesshaft wurde und sich um ihre Karriere kümmerte?

Nachdem Louise geheiratet hatte, gab es keinen Grund mehr, weshalb sie sich ihre Träume nicht endlich erfüllen sollte. Harriet brauchte auf niemanden mehr Rücksicht zu nehmen und nahm sich vor, am Ende des Schuljahrs über ihre Zukunft nachzudenken.

Sechs Monate hatte sie gebraucht, bis sie sich dazu durchgerungen hatte, sich von Paul zu trennen. Sie beschloss, ihm klarzumachen, dass sie sich noch nicht binden wollte und gern noch andere Länder kennenlernen würde. Doch plötzlich kam Louise nach Hause zurück. Die Ehe war gescheitert, und sie wollte sich von Guido scheiden lassen.

Harriet war bestürzt und versuchte, ihre Schwester zu überreden, zu ihrem Mann zurückzukehren. Aber Louise blieb hart und reichte die Scheidung ein. Und wie selbstverständlich zog sie wieder bei Harriet ein. Als Guido hinter Louise herkam und mit ihr sprechen wollte, schloss sie sich im Schlafzimmer ein und weigerte sich, ihn zu sehen. Sie überließ es Harriet, sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Er beschwerte sich sehr über seine Frau. Daraus schloss Harriet, dass er Louise nicht mehr liebte und die Ehe wirklich gescheitert war. Guido kehrte schließlich nach Turin zurück.

Paul mochte Louise nicht und erwartete von Harriet, dass sie ihre Schwester aufforderte, sich eine andere Unterkunft zu suchen. Aber dazu war Harriet viel zu gutmütig. Außerdem ging es Louise gesundheitlich nicht gut. Ihr war oft übel, sie wirkte ziemlich erschöpft und schien keine Energie mehr zu haben.

Als Teenager hatte Harriet ihre Schwester manchmal um ihre Schönheit beneidet. Louise hatte das volle goldblonde Haar, die feine helle Haut und die blauen Augen ihrer Großmutter väterlicherseits geerbt. Harriet hingegen sah eher aus wie ihre Mutter. Sie war zierlich und nicht so groß wie Louise. Ihre Augen waren jedoch genauso tiefblau wie Louise’ und bildeten einen interessanten Kontrast zu dem dunklen Haar mit dem rötlichen Schimmer.

Dass sie auf Männer nicht so anziehend wirkte wie Louise, war Harriet egal. Von Natur aus war sie eher zurückhaltend und etwas scheu. Deshalb war sie als Teenager und während des Studiums auf die Annäherungsversuche der jungen Männer und Kommilitonen nicht eingegangen.

Dann hatte sie Paul kennengelernt. Ihre Beziehung war weder aufregend noch leidenschaftlich. Harriet träumte noch immer davon, dass vielleicht eines Tages ein Mann auftauchte, der all die Gefühle in ihr weckte, die sie bei Paul nicht empfand. Deshalb wollte sie nicht mit ihm schlafen.

Sie überlegte, wie sie Louise beibringen sollte, dass sie das Haus verkaufen und für unbestimmte Zeit ins Ausland gehen wollte. Doch plötzlich eröffnete Louise ihr, sie sei schwanger. Dennoch war sie nicht bereit, die Scheidungsklage zurückziehen oder Guido zu informieren.

Harriet riet ihr, sich die ganze Sache noch einmal zu überlegen. Aber Louise reagierte geradezu hysterisch und wohnte natürlich immer noch bei Harriet, als die Zwillinge geboren wurden. Sie machte schließlich ihrer Schwester klar, dass sie nicht vorhatte auszuziehen.

Und wie hätte Harriet ihre eigene Schwester mit den Babys auf die Straße setzen können? Paul meinte, sie müsse Louise auffordern, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Doch Harriet lehnte es rundweg ab, und vor lauter Ärger redete Paul beinah zwei Wochen nicht mit ihr.

Als er seinen Ärger überwunden hatte und wieder mit ihr sprach, beendete sie die Beziehung. In den Jahren danach hatte sie gar keine Zeit für Freundschaften, denn sie musste für ihre Schwester und die Kinder mitarbeiten, die finanziell von ihr abhängig waren.

Louise nahm ihre Verantwortung als Mutter nicht ernst. Zuweilen verwöhnte sie die Zwillinge über alle Maßen, dann wieder ignorierte sie sie völlig. Sie weigerte sich zu arbeiten, hatte aber offenbar immer genug Geld, um sich neue Kleider zu kaufen. Abends ging sie oft mit irgendwelchen Männern aus.

Harriet liebte die Zwillinge, obwohl es manchmal schwierig war, mit ihnen zurechtzukommen. Louise hatte keine Lust, ihre Kinder zu erziehen, ließ es andererseits aber auch nicht zu, dass Harriet es tat.

Aus all diesen Gründen war das Leben für Harriet nicht leicht. Sie beklagte sich jedoch nie. Louise hingegen war seltsamerweise der Meinung, Harriet sei daran schuld, dass sie so früh geheiratet und die Kinder bekommen hatte. Schließlich gab es kurz nach dem neunten Geburtstag der Zwillinge gleich zwei Überraschungen.

Zuerst erhielt Harriet die Nachricht, dass der Verlag das Kinderbuch, das sie geschrieben und ihm zur Veröffentlichung angeboten hatte, herausgeben würde. Seit vielen Jahren schrieb sie die Geschichten auf, die sie abends den Zwillingen erzählte. Aber erst ein Artikel in einer Zeitschrift hatte sie auf den Gedanken gebracht, an langen Winterabenden die Geschichten zu überarbeiten und einem Verlag vorzulegen.

Sie konnte es kaum glauben, dass man sich wirklich dafür interessierte. Und noch unglaublicher fand sie es, dass man sie bat, vier weitere Kinderbücher zu schreiben.

Für die zweite Überraschung sorgte Louise. Sie verkündete, sie würde einen Amerikaner heiraten und mit ihm und den Kindern nach Kalifornien gehen.

Harriet hatte gewusst, dass ihre Schwester wieder jemanden kennengelernt hatte. Aber sie hatte im Lauf der Jahre so viele Affären gehabt, dass Harriet schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte, Louise würde wieder heiraten. Sie brauchte Anerkennung und Bewunderung, und wenn der Mann, mit dem sie gerade zusammen war, sie nicht so behandelte, wie sie es sich vorstellte, wandte sie sich dem nächsten zu.

Doch jetzt hatte sie offenbar einen Mann kennengelernt, der ihr gewachsen war. Danach war alles sehr schnell gegangen, und innerhalb weniger Tage hatte die Hochzeit stattgefunden.

Nachdem Harriet beinah zehn Jahre lang für Louise und die Kinder gesorgt hatte, konnte sie endlich so leben, wie es ihren eigenen Vorstellungen entsprach. Die Verantwortung hatte sie freiwillig auf sich genommen, weil sie ihre Schwester liebte und sich schuldig fühlte. Seltsamerweise glaubte sie wirklich, sie sei dafür verantwortlich, dass Louise so früh geheiratet hatte. Wenn ihre Eltern nicht gestorben wären, wäre auch Louise’ Leben anders verlaufen. Aber jetzt fühlte Harriet sich wie befreit.

Es hatte ihr nie gefallen, in London zu leben und zu arbeiten. Die Großstadt mit ihrer Hektik war nichts für sie, und sie sehnte sich nach Ruhe. Schon immer hatte sie die Landschaft im Norden Englands an der Grenze zu Schottland fasziniert. Deshalb verbrachte sie nach Louise’ Abreise ein verlängertes Wochenende in dieser Gegend, um zu wandern und sich zu entspannen. Sie genoss es, zum ersten Mal in ihrem Leben nur für sich selbst verantwortlich zu sein, über ihre Zukunft nachdenken und Pläne machen zu können.

An einem sonnigen Nachmittag entdeckte sie ungefähr eine Meile außerhalb des Dorfes Ryedale das Schild mit dem Hinweis an der Straße, dass ein Haus zu verkaufen sei. Sie hielt an und wanderte über den mit Unkraut überwachsenen Pfad zu dem Cottage, das hinter einer wild wuchernden Hecke verborgen war.

Wenig später fuhr sie zu dem Hotel zurück und rief den Immobilienmakler an. Und eine Woche später unterschrieb sie den Kaufvertrag.

Der Makler hatte ihr die Mängel nicht verschwiegen. Das Cottage lag sehr einsam, es war nicht an die Kanalisation angeschlossen, es war verwahrlost und der Garten verwildert. Außerdem mussten alle elektrischen Leitungen neu verlegt und die Sanitäreinrichtungen modernisiert werden. Aber nichts hatte Harriet davon abhalten können, das kleine Haus zu kaufen, in das sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte. Wie alle Verliebten wollte sie sich die Fehler oder Mängel an dem Objekt ihrer Zuneigung nicht eingestehen.

Trotzdem verschaffte sie sich einen guten Überblick über den Zustand des Hauses. Es war aus Stein, hatte winzige Fenster und niedrige Räume. Bauliche Mängel gab es glücklicherweise nicht.

Da auf dem Immobilienmarkt in London momentan die Nachfrage größer war als das Angebot, konnte sie ihr Haus rasch zu einem Preis verkaufen, der ihr enorm hoch vorkam. Sie nahm sich vor, einen Teil des Geldes gut anzulegen, um in Notfällen darauf zurückgreifen zu können. Und sie brauchte sich nicht sogleich eine neue Stelle zu suchen, sondern wollte abwarten, ob sie sich als Autorin den Lebensunterhalt verdienen konnte. Vielleicht war ihr erster Erfolg reiner Zufall gewesen und wiederholte sich nicht.

Als sie dem Schulleiter ihren Entschluss mitteilte, verzog er die Lippen und runzelte die Stirn. Er wies sie auf das Risiko hin, das sie einging. In der Umgebung ihres neuen Wohnorts sei es recht schwierig, eine Stelle als Lehrerin zu finden, meinte er. Der Mann erwähnte auch, dass er sie zur Beförderung vorgeschlagen hatte.

Aber sie ließ sich nicht umstimmen. Zu lange hatte sie nur für andere gesorgt und ihre eigenen Wünsche und Träume beinah vergessen. Mit ihren fünfunddreißig Jahren war sie nie völlig frei und unabhängig gewesen. Wenn sie die Chance, die sie jetzt hatte, nicht nutzte … Aber nein, so etwas durfte sie gar nicht denken. Natürlich würde sie ihre Chance wahrnehmen.

Harriet war so glücklich wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Zugleich war sie auch sehr nervös.

Der Makler half ihr und beauftragte Handwerker, die die elektrischen Leitungen verlegten und die Sanitäreinrichtungen erneuerten. Harriet ließ auch die Küche neu einrichten, das Badezimmer wurde modernisiert, und es wurde eine Zentralheizung installiert.

Wie um sich zu beweisen, dass sie sich richtig entschieden hatte, sortierte sie all die modischen Blusen, Röcke und Hosen aus, die sie als Lehrerin getragen hatte, und verschenkte sie. Dann ging sie in die Stadt und kaufte sich sportliche Outfits, wie Jeans, Wollpullover in kräftigen Farben, T-Shirts und dergleichen. Statt praktischer Gummistiefel kaufte sie sich ein Paar burgunderrote Boots, die gut zu ihrem Dufflecoat passten.

Natürlich wäre es auch schön, wenn sie Freunde finden würde, wie sie sich eingestand. In London hatte es sich nicht ergeben. Einige Male hatte Harriet versucht, ihrer Schwester klarzumachen, dass sie auch ausgehen wollte und Zeit für sich brauchte. Doch Louise hatte es nicht gern gehört und jedes Mal geschmollt. Schließlich hatte Harriet aufgehört, sich selbst eine Freude gönnen zu wollen.

Seltsamerweise fühlte sie sich schuldig, weil sie Louise und die Zwillinge kaum vermisste. Louise hatte sie nicht eingeladen, sie in Kalifornien zu besuchen. Hoffentlich hält ihre zweite Ehe, überlegte Harriet, denn in ihrem Cottage gab es nur ein Schlafzimmer. Die Wand zwischen den beiden kleinen Zimmern hatte sie einreißen lassen, um einen größeren Raum zu haben. Das dritte Schlafzimmer hatte sie zu einem Badezimmer umbauen lassen.

Ja, zum ersten Mal seit dem Tod meiner Eltern fühle ich mich frei, dachte sie. Sie konnte machen, was sie wollte, schreiben, träumen, durch die wunderschöne Landschaft wandern und alles nachholen, was sie schon immer gern getan hätte.

Plötzlich wurde sie aus den Gedanken gerissen, denn völlig überraschend tauchte ein Mann vor ihr aus dem Schatten der Bäume auf. Sie trat auf die Bremse, um ihn nicht zu überfahren, und ihr kleiner Wagen kam quietschend zum Stehen. Als der Mann auf sie zukam, wurde ihr bewusst, wie dumm es gewesen war, überhaupt anzuhalten. Und dann stellte sie fest, dass der Mann bis auf einen winzigen Slip nackt war. Soweit sie es in der anbrechenden Dunkelheit erkennen konnte, war er nass und schien zornig zu sein.

Der Mann riss die Tür auf, und erst in dem Moment fiel ihr ein, dass sie sie hätte verriegeln können.

„Trixie, was, zum Teufel, soll das Theater? Du hast deinen Spaß gehabt. Gib mir jetzt meine Sachen!“, stieß der Mann zornig hervor.

Harriet wurde von zwei kräftigen Händen an den Armen gepackt. Sie war entsetzt und versteifte sich, während sich Angst in ihr ausbreitete. Doch wenige Sekunden später ließ der Mann sie los. Er zog die Hände zurück und entschuldigte sich.

„Es tut mir leid, ich habe Sie mit jemandem verwechselt. Ich könnte diese Trixie umbringen, sie fährt dasselbe Auto wie Sie, es hat auch dieselbe Farbe“, erklärte er. Man sah ihm an, wie sehr er sich bemühte, seinen Zorn zu unterdrücken und sich zu beherrschen.

Er war mindestens einen Meter achtzig groß und breitschultrig. Harriet betrachtete ihn. Er ist ein gut aussehender Mann, dachte sie. Das dunkle Haar war nass und klebte ihm am Kopf, als käme er gerade aus dem Wasser. Das würde auch erklären, warum er beinah nackt war. Doch welcher einigermaßen normale Mensch würde um diese Zeit ganz allein in der einsamen Gegend schwimmen gehen?

Diese und andere Gedanken schossen ihr durch den Kopf, während er sich entschuldigte. Sie blickte ihn an und ärgerte sich darüber, dass sie errötete, als sie die Zusammenhänge erriet. Sie nahm an, dass er mit Trixie, seiner Geliebten, zusammen gewesen war. Wahrscheinlich hatte er mit ihr geschlafen, und anschließend war sie einfach ohne ihn weggefahren.

Harriet war irritiert. Es überlief sie heiß, und sie gestand sich wehmütig ein, dass es für sie so etwas nie gegeben hatte und sicher auch nicht geben würde. Sie war noch nie mit einem Mann zusammen gewesen und hatte sich noch nie mit jemandem leidenschaftlich gestritten.

Er war ungefähr drei oder vier Jahre älter als sie und hatte einen muskulösen Körper. Wie mochte seine Freundin aussehen? Sie war sicher sehr attraktiv und weltgewandt. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass er sie gefragt hatte, ob sie ihn mitnehmen würde.

Ihr Leben lang war sie vorsichtig gewesen, deshalb wollte sie sogleich Nein sagen. Aber er sieht so aus, als könnte ich es wagen, überlegte sie.

„Es tut mir leid“, erwiderte sie unbehaglich. „Ich bin sicher, Ihre Freundin wird bald zurückkommen“, fügte sie hinzu, wie um ihm etwas Nettes zu sagen.

Der Mann ließ sich nicht beschwichtigen, sondern wurde wieder zornig. Er kniff die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und blickte Harriet ärgerlich an. „Was haben Sie mir da unterstellt?“, fragte er kühl. „Trixie ist nicht meine Freundin, sondern meine Nichte. Wenn Sie glauben, es handle sich hier um ein Schäferstündchen, bei dem etwas schief gegangen ist, irren Sie sich. Es geht vielmehr um gezielte Manipulation.“ In seinen Augen blitzte es verächtlich auf.

„Mir ist klar, dass Ihnen die Situation sehr seltsam vorkommen muss. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich ein ganz normaler Mensch und ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft bin. Oder sehe ich so aus, als wäre ich verrückt genug, um mit meiner Freundin an einem kalten Herbstabend im Fluss zu schwimmen und sie dann mit meinen Sachen wegfahren zu lassen? Aus dem Alter bin ich heraus“, fügte er hinzu.

Harriet war überrascht, dass er sich offenbar über ihre falsche Vermutung, die eigentlich nahelag, mehr ärgerte als darüber, dass sie ihn nicht mitnehmen wollte. Sie betrachtete ihn genauer und stellte fest, dass seine Miene etwas arrogant wirkte. Im Gegensatz zu mir scheint er daran gewöhnt zu sein, jede Situation zu beherrschen, statt sich beherrschen zu lassen, dachte Harriet.

Auch wenn er ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft war, wäre es dumm, ihn mitzunehmen. Harriet erbebte, während sie darüber nachdachte, was alles passieren konnte. Es war nicht auszuschließen, dass alles nicht stimmte, was er ihr erzählt hatte.

Sie war froh, dass sie den Motor hatte laufen lassen. Nervös blickte sie über die Schulter und wünschte, es würde jemand vorbeikommen.

„Du liebe Zeit“, fuhr der Fremde sie zornig an. Offenbar ahnte er, was in ihr vorging. „Sehe ich etwa wie ein Vergewaltiger aus?“

Dabei blickte er sie so verächtlich an, als würde er sich eine Frau wie sie bestimmt nicht als Opfer aussuchen, falls er wirklich vorhätte, jemanden zu vergewaltigen. Harriet war sich viel zu sehr bewusst, dass sie weder erotisch noch sexy wirkte.

„Woher soll ich das wissen? Ich bin noch nie einem begegnet“, erwiderte sie gereizt. „Es tut mir leid, ich kann Sie nicht mitnehmen. Das müssen Sie einsehen. Aber ich kann jemandem Bescheid sagen. Soll ich die Polizei schicken?“

Wieder blickte der Mann sie verächtlich an. Es war ein kühler Wind aufgekommen, und sogar im Innern des Wagens spürte Harriet die Kälte. Deshalb wunderte sie sich gar nicht, dass der Mann auf einmal eine Gänsehaut bekam.

Sie war nahe daran, schwach zu werden, denn sie war von Natur aus ein hilfsbereiter, mitfühlender Mensch. Doch als sie den Fremden auffordern wollte einzusteigen, richtete er sich auf.

„Nein, das ist nicht nötig“, antwortete er kurz angebunden, während es in seinen Augen zornig aufblitzte. Dann verbeugte er sich leicht. Seltsamerweise wirkte diese Geste keineswegs lächerlich, sondern eher beleidigend. „Das liebe ich an den Frauen, sie sind so überaus verständnisvoll und hilfsbereit“, fügte er spöttisch hinzu.

Harriet wollte die Tür zuschlagen. Doch der Mann hielt ihre Hand fest. Als er mit den kalten, feuchten Fingern ihre Haut berührte, überlief es sie heiß. Sie saß reglos da, und ihr Herz klopfte zum Zerspringen.

„Glauben Sie wirklich, ich hätte Sie nicht schon längst überwältigen können, wenn ich es gewollt hätte? Sie wissen verdammt gut, dass ich Ihnen nichts tun will.“ Seine Stimme klang verbittert. „Aber es macht Ihnen offenbar Spaß, mich zu quälen. Ich habe Sie nur um einen kleinen Gefallen gebeten, sonst nichts.“

Plötzlich kam sie sich kleinlich und erbärmlich vor. Sie wollte gerade erklären, dass sie es sich anders überlegt habe, als er unvermittelt die Hand zurückzog und die Tür zuschlug. Harriet war verletzt und fühlte sich wie beraubt.

Der Mann drehte sich um und ging in die Richtung davon, aus der er gekommen war. Im Licht der Scheinwerfer sah sie seine große, muskulöse Gestalt, und dann war er verschwunden. Harriet erbebte, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie wie betäubt dasaß.

Sie nahm sich zusammen, legte den Gang ein und fuhr weiter. Eine halbe Stunde später erreichte sie das Dorf. Sie hatte immer noch Herzklopfen und konzentrierte sich darauf, die Straße zu finden, die zu ihrem Cottage führte. Plötzlich fragte sie sich, ob sie nicht doch die Polizei informieren sollte. Sie entschied sich jedoch dagegen, denn wahrscheinlich war dem Mann die ganze Sache peinlich.

Nicht ihm war es peinlich, sondern ich war peinlich berührt, als ich gemerkt habe, dass er beinah nackt war, gestand sie sich dann ein. Sie schluckte, als sie sich daran erinnerte, wie sehr sie sich bemüht hatte, dem Mann in die Augen zu sehen, statt seinen Körper zu betrachten, und sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen.

Und dann hatte er behauptet, seine Nichte sei für seine unangenehme Lage verantwortlich. Harriet runzelte die Stirn. Seine Erklärungen hatten sich für sie so angehört, als sagte er die Wahrheit. Sie hatte den Eindruck, der Mann hätte keine besonders hohe Meinung von Frauen. Woran mochte das liegen? Er sah so gut aus, dass Harriet eher vermutet hätte, er könne sich vor Verehrerinnen nicht retten.

Schließlich bog sie in die schmale Straße ein, die zu ihrem Cottage führte. Als sie es im Licht der Scheinwerfer erblickte, wünschte sie, sie wäre nicht so spät aus London weggefahren. Sie fand es deprimierend, ganz allein in ihrem neuen Zuhause anzukommen, ohne von jemandem erwartet zu werden, und dann auch noch alles in völliger Dunkelheit vorzufinden.

Das Cottage hatte einmal zu dem Landgut eines Großgrundbesitzers gehört. Man hatte keine Verwendung mehr dafür gehabt, als die Ländereien vor mehreren Jahren aufgeteilt und verkauft worden waren. Bis vor Kurzem hatte darin der Förster des früheren Besitzers gewohnt, wie der Makler Harriet erzählt hatte. Seit seinem Tod vor achtzehn Monaten hatte das Cottage leer gestanden.

Zwei Farmer aus der Umgebung hatten angeblich den größten Teil der Wiesen und Felder gekauft. Das Herrenhaus mit dem großen Grundstück darum herum hatte ein einheimischer Geschäftsmann erworben.

Während Harriet die Haustür aufschloss und Licht machte, breitete sich ein Gefühl der Erleichterung in ihr aus. Die kleine Eingangshalle wirkte hell und freundlich, und das Unbehagen, das sie seit dem Zwischenfall auf der Landstraße empfunden hatte, verschwand.

Warum hatte sie sich so schuldig gefühlt? Sie hatte dem Mann doch angeboten, die Polizei zu schicken. Sie blieb stehen. Seinen verbitterten Blick und seine abfälligen Bemerkungen über Frauen konnte sie nicht vergessen. Hoffentlich wohnt er weit genug weg, sodass ich ihm nie wieder begegne, überlegte sie.

Es war noch relativ früh, noch nicht einmal zehn Uhr. Trotz der langen Fahrt war sie nicht müde, sondern ruhelos und voller Tatendrang. Deshalb brachte sie nicht nur all ihre Sachen aus dem Auto ins Haus, sondern stellte den PC auf den Tisch ihrer Wohnküche und schloss ihn an. Dann setzte sie sich hin und arbeitete an einem Entwurf für einen Roman. Die Idee dazu war ihr erst gekommen, als sie den Kofferraum ihres Wagens ausräumte.

Ihre Möbel waren schon vor einigen Tagen gebracht worden. Harriet hatte mit dem Spediteur genau abgesprochen, wo was hingestellt werden sollte. Sie war noch einige Tage länger in London geblieben und hatte in einem Hotel übernachtet, weil sie noch einen Termin mit dem Verlag gehabt hatte.

Rasch vergaß sie alles um sich her und vertiefte sich in die Arbeit. Erst nach zwei Stunden hielt sie inne. Ihr Rücken schmerzte, und ihr war kalt. Sie unterdrückte ein Gähnen, druckte die Seiten aus, die sie eingegeben hatte, und stand auf.

Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Ich kann morgen durchlesen, was ich da geschrieben habe, dachte sie und stellte den Computer ab.

Autor

Penny Jordan
<p>Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...
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