Rote Sonne, weites Land

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Laura hat die Hoffnung aufgegeben, etwas von der Familie ihres verstorbenen Mannes Will zu hören — seit sieben Jahren hat keiner der Gaspers auch nur den leisesten Versuch unternommen, sich um sie oder ihre Tochter Chloe zu kümmern. Da taucht aus heiterem Himmel Wills Bruder Ryan auf ihrer einsam gelegenen Farm im Outback auf. Laura fühlt sich von der ersten Sekunde an sehr zu dem attraktiven Geschäftsmann hingezogen, dessen Augen so blau leuchten wie der weite Himmel...


  • Erscheinungstag 29.07.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733778903
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ryan bog von der gewundenen Landstraße auf einen langen Zufahrtsweg ab und hielt an. Auf dem verwitterten Holzschild an der Abbiegung las er Kardinyarr House. So lautete auch der Absender des Briefes, der neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Er war in mädchenhafter Handschrift geschrieben, das lavendelfarbene Briefpapier, mit kleinen Feen verziert, sah reichlich mitgenommen aus. Es war zerknüllt und wieder glatt gestrichen worden, die Buchstaben zum Teil von Tränen verwischt. Kardinyarr war der Ort, an dem er sie zu finden hoffte. Sie hatte den Brief schon vor mehreren Jahren geschrieben, aber Ryan war erst kurz zuvor auf ihn gestoßen, und ihre Zeilen waren sein einziger Anhaltspunkt.

Energisch legte er einen Gang ein und fuhr langsam über den unebenen, staubigen Kiesweg. Abrupt blieb er erneut stehen, als eine graue Kängurufamilie vor dem Auto auf den Weg sprang, die Anhöhe zu seiner Linken erklomm und hinter dem Hügel verschwand.

„Tja, so was sieht man nicht jeden Tag“, murmelte Ryan und fuhr weiter.

Er ignorierte das Schild mit der Aufschrift „Privatweg“ und steuerte den Hügel hinauf. An einer Gabelung bog er nach links ab zu einem äußerst imposanten Farmhaus und hielt wenig später unter einem der typischen immergrünen australischen Bäume mit ausladenden Ästen und roter Blütenpracht.

Als er den Motor abstellte, verstummte abrupt die CD mit dem Vortrag, den er kürzlich bei einem Wirtschaftsgipfel in London gehalten hatte. Er wollte die Rede für das Wirtschaftslehrbuch verwenden, das er in Kürze herausgab. Allerdings hatte er kaum zugehört. Seine Gedanken waren mit etwas anderem beschäftigt.

Das war also Kardinyarr House, das letzte Zuhause seines kleinen Bruders. Stolz und erhaben stand es auf einem windigen Hügel, und im Schein der untergehenden Sonne sah es genau so aus, wie Will es vor all den Jahren beschrieben hatte. Ein schwarzes Dach und dazu passende Fensterläden krönten den Klinkerbau. Eine hübsche Veranda mit schmiedeeiserner Brüstung umrahmte das robuste Gebäude und verlieh ihm eine heimelige Note.

Hastige Recherchen hatten ergeben, dass es seit Wills Tod vor nunmehr fast sieben Jahren unbewohnt war. Die ausländischen Eigentümer behielten das Anwesen nur als Investition, und der Farmbetrieb war längst eingestellt worden. Daher hatte Ryan verstreutes Laub, Schutt auf der Veranda und offensichtliche Verfallserscheinungen erwartet. Das Grundstück wirkte jedoch ordentlich und sauber. Gut erhalten. Einladend.

Will hatte damals in seiner E-Mail geschrieben:

Es gibt keinen Ort wie diesen. Die Farben, das Licht, die frische Luft – all das geht einem unter die Haut.

Ryan öffnete die Wagentür und sog mit einem tiefen Atemzug die Landluft ein, von der sein Bruder so geschwärmt hatte. Will hatte recht gehabt – das Duftgemisch, das ihm in die Nase stieg, war tatsächlich einzigartig. Kein Vergleich mit der von Autoabgasen verschmutzten Luft in Melbourne.

Okay, Will, dachte Ryan. Es ist reizvoll. Aber so reizvoll, um dafür auf all die anderen Chancen in deinem Leben zu verzichten? Verständnislos schüttelte er den Kopf.

Kardinyarr hätte nur ein kurzer Zwischenstopp auf Wills Rucksacktour durch das Land sein sollen. Aber nach allem, was Ryan jetzt über ihn wusste, hatte sein Bruder vorgehabt, diesen Ort niemals wieder zu verlassen. Und der Grund dafür war das Mädchen gewesen, von dem der zerknüllte lavendelblaue Brief stammte. Aber das Schicksal hatte einen anderen Plan verfolgt …

Ryan nahm den Umschlag, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Hemdtasche. Instinktiv verriegelte er das Auto, obwohl er seit fünf Kilometern keine Menschenseele mehr gesehen hatte, sondern nur die Kängurus und eine kleine Viehherde, die im Schatten eines weit verzweigten Gummibaumes graste.

Der Wind, der eben noch sein Haar zerzaust hatte, ließ etwas nach, und Ryan hörte Musik. Opernmusik, in der kratzigen Klangqualität einer alten Schallplatte, wehte an ihm vorbei und hallte in den Schluchten zu beiden Seiten des Hügels wider. Er wischte sich eine summende Fliege aus dem Gesicht und blickte zu dem verwitterten hölzernen Tor, das längst von Lilien, wildem Wein und einem üppigen Japanischen Ahorn überwuchert worden war.

Auf der anderen Seite dieses Tores hoffte er die Frau zu finden, die vor langer Zeit unter Tränen diesen Brief geschrieben hatte. Vielleicht konnte sie ihm erklären, warum sein kleiner Bruder der Welt, in die er geboren worden war, den Rücken gekehrt hatte.

Laura liebte Tage wie diesen. Ein paar Wolken am Himmel milderten die Sommerhitze, beeinträchtigten aber nicht das faszinierende Spiel aus Licht und Schatten in den Hügeln von Kardinyarr. Sobald sie mit der Wäsche fertig war und das Dinner zubereitet hatte, wollte sie sich ein sehr entspannendes Schaumbad gönnen. Allein der Gedanke daran machte sie glücklich.

Der Plattenspieler war so laut gestellt, dass die Musik eine musikalische Untermalung beim Aufhängen der Wäsche bot. Laura summte zu den Klängen des Orchesters, und dann brachte sie den Elstern auf den Regenrinnen in dürftigem Italienisch ein lautstarkes Ständchen, das sie mit theatralischen Gesten untermalte. Okay, sie war nicht Maria Callas, aber was verstanden die Vögel schon davon?

Anscheinend genug, denn schon bald türmten sie in wirrer Formation und landeten auf einem mächtigen Baum in einiger Entfernung. „He, Jungs!“, rief Laura. „Sonst ertragt ihr doch auch einiges, weil ihr wisst, dass es dafür Honigbrot gibt!“

Die Arie endete, eine neue begann, und Laura wandte sich wieder der Arbeit zu. Sie nahm ein schweres weißes Baumwolllaken, warf es über die Wäscheleine und drohte: „Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt! Zur Strafe gibt es heute keinen Honig aufs Brot.“

Ryan vergrub die Hände tief in den Jeanstaschen, während er über die Kiesauffahrt spazierte.

Einmal hatte Will ihrer jüngsten Schwester Sam geschrieben:

Ich habe mich nie zuvor so lebendig gefühlt. Ihr müsst unbedingt mal hierherkommen und es euch ansehen. Nur dann werdet ihr verstehen, warum ich bleiben möchte.

Aber sie waren nie hingefahren. Sie waren allesamt zu beschäftigt gewesen. Seine Schwester Jen als erste Geige beim Sydney Symphony Orchestra; Sam mit ihrer jungen Familie und ihrer in Eigenregie herausgegebenen Handarbeitszeitschrift, deren monatliche weltweite Auflage Hunderttausende erreichte; seine Eltern mit den Tierfilmen, die sie ständig in abgelegenen Dschungelgebieten drehten.

Keine zwei Wochen nach jener E-Mail war Will in ihrer Heimatstadt Melbourne beerdigt worden. An einem regnerischen Wintertag, mit über hundert Trauergästen, wie Ryan später erfahren hatte.

Hinter dem reparaturbedürftigen Gartentor, oben auf einem sanften Hügel, stand ein kleines Cottage, das früher die Unterkunft für Arbeiter gewesen sein musste. Blumen in allen Farben säumten die Veranda. An einer Hauswand lehnte ein rostfreier Wassertank. Der Zaun um das Haus war gepflegt und das Gras frisch gemäht, allerdings brauchte es dringend Wasser. Durch die weißen Laken, die an einer Wäschespinne flatterten, sah Ryan verschwommen die Umrisse einer weiblichen Gestalt. Laura Somervale.

Wer war diese Frau, für die Will sein Oxford-Stipendium aufgegeben hatte? War sie schüchtern, in sich gekehrt und gebildet? Künstlerisch veranlagt? Oder war sie nur ein einfaches Mädchen vom Lande, das einem einsamen, verirrten Jungen den Kopf verdreht hatte? Wer war diese Frau, die ein Mitglied der Familie Gasper dazu veranlasst hatte, allem, was von Bedeutung war, den Rücken zuzukehren?

Sie musste schon etwas ganz Besonderes sein, dachte Ryan spöttisch, denn sie hatte es zum zweiten Mal geschafft, einen Gasper aus seiner zivilisierten Welt der Fünfsternehotels und politischer Debatten in ihre Welt zu locken, in der Staub und Hitze und Fliegen regierten. Und das alles mit einem einzigen, Tränen getränkten Brief, den sie viele Jahre zuvor geschrieben hatte.

Die runde Wäschespinne drehte sich, und er erhaschte einen Blick auf kastanienrote Locken.

Sie ist entzückend. Sie ist süß. Sie bringt mich zum Lachen. Sie lässt mich über mich hinauswachsen. Dies ist ihr Zuhause, und daher ist es auch meins.

Ein ironisches Lächeln umspielte Ryans Lippen. Will musste gewusst haben, wie sein realistischer großer Bruder auf solch poetische Anwandlungen reagieren würde. Deshalb hatte er sich ihm gegenüber auch nicht offenbart, sondern seine Gefühle für das Mädchen aus Kardinyarr nur ihrer Schwester anvertraut.

Mit „entzückend“ konnte Ryan nichts anfangen. Fakten. Informationen. Begründungen. Diese Dinge konnte er zu einem ordentlichen Paket verschnüren, sobald er eine Antwort auf die Frage gefunden hatte, die ihn selbst nach all der Zeit noch beschäftigte: Warum ausgerechnet hier, Will?

Als Ryan näher kam, hörte er die Frau hinter den wehenden weißen Laken singen – sozusagen. Gelegentlich stimmten die Laute aus ihrem Mund mit den Tönen aus den Lautsprechern überein, aber das beruhte eher auf Zufall als auf Talent. Es klang lebenslustig, schrill und schlichtweg grauenhaft.

Er verlangsamte den Schritt. Vielleicht hätte er vorher anrufen sollen. Sie einfach unangemeldet zu überfallen, war ziemlich unhöflich.

Während Ryan noch überlegte, ob er einfach wieder gehen sollte, kam die Frau hinter dem nassen Laken hervor. Selbst ein Buschfeuer hätte ihn in diesem Moment nicht zum Umkehren bewegen können.

Kastanienbraune, üppige Locken fielen ihr über die Schultern, im Nacken lose zusammengehalten von einem pinkfarbenen Band, einem Schnürsenkel? Im Licht der tief stehenden Sonne zeichnete sich ihr schlanker Körper unter dem leichten, geblümten Sommerkleid ab.

Der Wind frischte auf, wehte vom Tal so stark über den Hügel, dass sich der dünne Stoff eng um ihre Beine schmiegte.

Sie bückte sich nach einem weiteren Laken. Als sie sich wieder aufrichtete, sang sie aus vollem Halse, warf den Kopf zurück und wiegte die Hüften im Takt der Musik.

„Na, wie gefällt dir das, Elsie?“, rief sie, während sie sich mit ausgestreckten Armen auf der Stelle drehte, sodass der weite Rock hoch wehte und wohlgeformte, gebräunte Oberschenkel enthüllte.

Das war Laura Somervale? Diese lebhafte Gestalt war Wills geheimnisvolle Traumfrau? Dieses unbekümmerte Wesen hatte Worte des tiefen Kummers und der Sehnsucht an eine Familie geschrieben, der sie nie begegnet war?

Was hatte Ryan sich nur dabei gedacht, sich so spontan ins Auto zu setzen und ans andere Ende der Welt zu fahren, um sie zu suchen? Er hätte ihrem Beispiel folgen und ihr einen Brief schreiben sollen.

Er ging rückwärts, doch das Knirschen seiner Reitstiefel auf dem Kies hallte laut durch die Luft, als die Schallplatte plötzlich verstummte. Abrupt blieb er stehen.

Die Frau drehte den Oberkörper um und starrte ihn mit Augen an, die von derselben Farbe waren wie das goldbraune Gras zu ihren Füßen. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und ließ ihre von Natur aus gebräunte Haut leuchten. Und da es Ryan den Atem verschlagen hatte, sagte er nichts, während er ihren stummen Blick erwiderte.

Laura hob eine Hand, um sich die Augen zu beschatten, während sie den Fremden musterte, der unerwartet in ihre kleine Welt eingedrungen war.

Maria Callas und das sehr heiße Schaumbad waren vergessen angesichts der reizvollen Kombination von dichten dunklen Locken und hellen Augen, die so blau leuchteten wie der weite Himmel. Die Schultern waren breit genug, um einen Ballen Heu tragen zu können; die langen Beine steckten in engen neuen Jeans; die hochgekrempelten Ärmel eines neuen Leinenhemdes enthüllten muskulöse Unterarme. Irgendetwas an seinen Augen erschien ihr vage vertraut, aber all die anderen Reize, die er zu bieten hatte, lenkten sie davon ab.

Unter dem prächtigen Jacarandabaum vor dem großen, wundervollen leer stehenden Kardinyarr House nebenan stand das Auto des Mannes. Sie hatte so laut gesungen, dass sie es nicht vorfahren gehört hatte. Es war schwarz, sportiv und teuer, und dazu mit frischem Staub bedeckt. Darüber musste sie lächeln. Auch wenn er die Landestracht trug und darin extrem gut aussah, war er kein Einheimischer. Die Kleidung war zu neu, das Auto zu schick, das Haar zu kurz geschnitten. Er roch förmlich nach einem Stadtmenschen. Laura dagegen war auf dem Lande geboren und aufgewachsen, und daher schien es unwahrscheinlich, dass sie ihm je begegnet war.

Sie fragte sich, wer er sein mochte. Ein verirrter Tourist? Oder ein Stripper, den ihre Freundin Jill, die sich ständig und überall einmischte und sie zu verkuppeln suchte, ihr als Geschenk geschickt hatte?

Nein, er ist bestimmt ein Vertreter.

Mit diesem tollen Auto und der Möchtegern-Cowboy-Kleidung war er bestens ausgestattet, um den Leuten mit seinem Charme etwas anzudrehen. Dann fiel ihr auf, wie lang der Schatten des Fremden war. Was immer er zu verkaufen hatte, er sollte sich schnell wieder verabschieden. Die kleine Nische, die ihr blieb, um ihr Bad zu nehmen und vielleicht ein Kapitel des Thrillers zu lesen, der auf ihrem Nachttisch verstaubte, wurde immer kleiner, je länger sie herumtrödelte.

„Hallo, Sie da!“, rief sie im Singsang.

Er nickte knapp und tippte dabei mit einer Hand an einen imaginären Hut. „Störe ich Sie?“, fragte er. Seine tiefe Stimme passte perfekt zu seiner Erscheinung. Sie war überzeugend und angenehm.

„Wahrscheinlich ist es besser so. Sonst hätte ich es nicht geschafft, die Wäsche aufzuhängen, bevor die Sonne untergeht.“ Ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass sie beschäftigt war und keine Zeit für einen Vertreter hatte, so umwerfend gut er auch aussehen mochte.

„Sie haben mit jemandem gesprochen?“, entgegnete er, ohne ihre Andeutung zu verstehen, während er sich nach der abgängigen Elsie umblickte.

Sie verzog das Gesicht. Beim Singen ertappt zu werden, war noch relativ harmlos. Aber dabei erwischt zu werden, wie sie mit den Vögeln redete, war schlichtweg peinlich. Sie lebte schon zu lange zurückgezogen auf ihrem geliebten Hügel. „Nur mit den Elstern“, gestand sie ein, aber leider waren sie nicht mehr da, um ihre Behauptung zu stützen.

Fältchen erschienen um seine Augen und kündeten davon, dass er gelegentlich lächelte, aber noch blieb sein hübsches Gesicht ernst. „Antworten die denn auch?“

„Nicht ausdrücklich. Aber wir haben eine Vereinbarung. Sie lauschen meinem Gesang, und ich danke es ihnen mit Nahrung. Honigbrot ist ihre Lieblingsspeise.“

„Aha, Sie kaufen sich also ihre Zuneigung.“

„Es scheint in letzter Zeit der einzige Weg zu sein, um welche zu kriegen.“ Wie konnte sie so etwas sagen? Hastig erläuterte sie: „Ich meine damit Zuhörer, die bereit sind, meinem Gesang zu lauschen – besonders Puccini. Zuneigung bekomme ich reichlich, ohne dafür bezahlen zu müssen.“

Insgeheim stöhnte sie. Der eindringliche Blick aus den leuchtenden Augen des Fremden ließ sie sinnloses Zeug plappern. Oder vielleicht lag es daran, dass er alles andere war als runzelig, o-beinig und dickbäuchig, wie es die meisten Männer aus dieser Gegend waren. Andererseits konnte es auch an der vagen Möglichkeit liegen, dass Jill ihn ihr doch als Stripper geschickt hatte.

Ryan war verblüfft. Obwohl er ein in der Öffentlichkeit gefragter Redner war, der weitaus mächtigere und einflussreichere Menschen beeinflussen konnte als dieses Temperamentsbündel hier, verschlug es ihm die Sprache.

Süß? Dieses Mädchen war mehr als einfach nur süß. Ihre Augen verrieten ihre Gedanken, noch bevor sie den Mund öffnete. Sie war direkt, frech und offensichtlich geistreich. Aber vielleicht war sie gar nicht Laura Somervale. Sein Puls beschleunigte sich bei der Vorstellung, dass sie eine völlig Fremde sein könnte, ein unbekanntes prachtvolles Wesen, das er ganz allein entdeckt hatte.

Dann fiel ihm der Brief in seiner Hemdtasche wieder ein. Oh doch, sie war es, dieses Mädchen mit den bloßen Füßen und wirren Locken, das ihr gebrochenes Herz auf kindlichem lavendelblauem Papier ausgeschüttet hatte.

Wer hat denn jetzt poetische Anwandlungen? Komm schon, zögere das Unausweichliche nicht länger hinaus und sag ihr endlich, wer du bist und was du willst.

Sie drehte sich ihm völlig zu, und er sah einen rosa Overall in Kindergröße in ihrer Hand.

Sein Herz begann zu klopfen. Die Worte in dem Brief, die bis dahin irgendwie irreal gewirkt hatten, nahmen plötzlich Gestalt an. Sie hatte eine kleine Tochter.

„Tja, da Sie nun erlebt haben, wie ich mich in mehrfacher Hinsicht blamiert habe“, sagte sie, „können Sie mir vielleicht verraten, was Sie hierher geführt hat.“

„Ich bin über Tandarah gekommen“, erwiderte er ausweichend, denn er musste Zeit schinden, um sich wieder zu fassen. „Die Frau, die das Upper Gum Tree Hotel leitet, hat mich hergeschickt.“

Plötzlich erschien die Idee von dem Stripper doch nicht mehr so abwegig. Lauras Wangen brannten. Sie musste sich sogar räuspern. „Jill Tucker? Kurze silberne Haare, schelmisches Funkeln in den Augen?“

Er nickte. „Sie hat mich hergeschickt, weil ich nach Laura Somervale suche.“

Nun, falls er doch ein Vertreter war, hatte er sich außerordentlich auf eine bestimmte Kundschaft spezialisiert. Sie senkte die Hand, mit der sie die Augen beschattet hatte, und wedelte ausholend mit dem Arm, so als würde sie sich als Hauptgewinn einer Quizshow präsentieren. „Und nun, wo Sie mich gefunden haben, was haben Sie da mit mir vor?“

Als er nicht antwortete, sondern sie nur mit diesen wachsamen bemerkenswerten Augen musterte, tat sie, was sie angesichts eines beunruhigenden Schweigens für gewöhnlich tat: Sie plapperte drauflos.

„Habe ich im Lotto gewonnen?“ Als er nicht reagierte, fuhr sie fort: „Nein? Nun, ich brauche keine Aluminiumverkleidung für mein Haus, ich kaufe nur die Lokalzeitung, und ich bin vollkommen zufrieden mit der Telefongebühr für Ferngespräche – zumal meine Bekannten alle in dieser Gegend wohnen.“

Ein kleines Lächeln spielte um die Lippen des Möchtegern-Cowboys. Wie erwartet war es ein charmantes verführerisches Lächeln, und es beschleunigte ihren Herzschlag.

Laura verwarf die Vertreterversion und entschied, dass ihre Pechsträhne geendet und der Himmel ihr eine Wiedergutmachung in Form dieses prachtvollen Mannes geschickt haben musste. Wäre ein Beipackzettel mitgeliefert worden, hätte darauf vermutlich gestanden: braucht drei anständige Mahlzeiten am Tag, hat einen erlesenen Geschmack, gibt gern Rückenmassagen und lässt drei Mal pro Woche sehr heiße Schaumbäder ein.

„Tja, es war eine lustige Art, ein paar Minuten zu verbringen“, sagte sie, „aber warum erlösen Sie mich jetzt nicht aus meiner Qual und sagen mir einfach, was ich für Sie tun kann?“

Er schluckte und verteilte sein Gewicht gleichmäßig auf beide Füße, die in funkelnagelneuen Reitstiefeln steckten. „Ms. Somervale, ich bin Ryan Gasper, Wills Bruder. Ich weiß, dass es lange gedauert hat, aber ich bin in Antwort auf Ihren Brief gekommen.“

In verblüfftem Schweigen beobachtete Laura, wie er in scheinbarer Zeitlupe einen zerknautschten Umschlag aus der Hemdtasche nahm und ihr reichte.

„Ich bin gekommen, um herauszufinden, ob es stimmt, was in diesem Brief steht. Sind Sie die Mutter von Wills Kind?“

Dieser Möchtegern-Cowboy, dieser Großstadtpinkel mit den himmlisch blauen Augen ist Ryan Gasper?

Ihre Gedanken überschlugen sich, wanderten all die Jahre zurück zum letzten Mal, als dieser Name sie beschäftigt hatte …

Laura hatte sich am Rand des Friedhofs hinter einer Trauerweide verborgen, gute zwanzig Meter entfernt von der Trauergemeinde.

In einem altrosa Sommerkleid und einem geliehenen Tweedmantel, mit einem breiten Haarband um die Locken, die sich im Nieselregen von Melbourne wild gekräuselt hatten, fühlte sie sich wie ein Kind, das Verkleiden spielte und hoffte, die Erwachsenen würden nicht merken, dass sie eigentlich nicht dazugehörte.

Die über hundert Leute, die sich gegen die Kälte zusammenkauerten, zählten beinahe ausnahmslos zur australischen Prominenz. Sogar sie, ein Mädchen aus dem Busch, erkannte eine Vielzahl von Fernsehgrößen und Politikern. Alle waren in elegantes Schwarz gekleidet, trugen schicke Hüte und Designer-Sonnenbrillen. Der einzige Hut, den Laura je besessen hatte, war ein zwanzig Jahre alter Akubra, der ihrem Vater gehört hatte und vom jahrelangen Tragen bei der Feldbestellung zerbeult und abgewetzt war.

Mit kalter Hand hielt sie einen mühselig verfassten und viel beweinten Brief. Das lavendelblaue Papier hatte sie zwei Jahre zuvor zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen. Elfen tanzten auf der oberen Ecke der Seite und versteckten sich hinter Fliegenpilzen am unteren Rand. Sie hatte nicht weiter auf das kindliche Muster geachtet, hatte nur dem Drang nachgegeben, ihre Verzweiflung zu Papier zu bringen.

Unwillkürlich legte sie sich beschützend eine Hand auf den Bauch. Er würde nicht mehr lange so flach sein. Sie war erst achtzehn, und ihr Leben hatte sich mit einem Schlag grundlegend geändert und sie nun an diesen Ort geführt.

Aber sie hatte keine andere Wahl. Ihre Eltern lebten nicht mehr, und diese Leute waren die einzige Familie, die ihr Kind jemals haben würde. Es waren einschüchternde, wohlhabende und einflussreiche Leute, die um den teuren Mahagonisarg standen, in dem ihr Sohn, ihr Bruder lag.

Laura beobachtete durch die Gruppe schwarz gekleideter Menschen hindurch, wie der Sarg langsam in die Erde gelassen wurde. Von irgendwoher ertönten die melancholischen Klänge einer Geige, und Lauras Herz wurde so schwer, dass sie kaum noch atmen konnte.

Ihr geliebter Will war so bescheiden, so unkompliziert gewesen. Sie hätte nie gedacht, dass er aus einer so vornehmen Familie stammen könnte. Aber in den letzten Tagen hatte sie die Wahrheit herausgefunden. In jeder Zeitung des Landes hatte sie unzählige Beileidsbezeugungen gefunden. Sie hatte alle ausgeschnitten und in einem Schuhkarton unter ihrem Bett verwahrt. Irgendwie hatte es ihr geholfen, jenseits ihrer Trauer zu leben, jenseits der schmerzlichen Erkenntnis, dass der Vater ihres ungeborenen Kindes gestorben war, noch bevor er von der Schwangerschaft erfahren hatte.

Um sich von ihrem schweren Herzen abzulenken, versuchte sie, seine Angehörigen einzuordnen. Die Geigerin musste seine Schwester Jen sein. Dann war da seine jüngste Schwester Samantha, die mit einem Fernsehstar verheiratet und selbst hochschwanger war. Wills Eltern, preisgekrönte Dokumentarfilmer, standen neben dem Pfarrer.

Aber wo steckte der ältere Bruder, von dem Will mehr gesprochen hatte als von den restlichen Geschwistern? Ryan. Der Workaholic, der weltbekannte Wirtschaftswissenschaftler, der durch die ganze Welt jettete nach Lust und Laune ausländischer Regierungen, um sie in Wirtschaftspolitik zu beraten. Wills Held.

Die Familie trat jetzt ans Grab. Jeder von ihnen warf eine blutrote Rose auf den Sarg. Aber Ryan war nicht dabei.

Laura hatte eine weite, beschwerliche Reise auf sich genommen, mit Bus, Zug und Straßenbahn, ganz allein, um ihrem Freund das letzte Geleit zu geben. Ryan Gasper standen Mittel, Geld und Zeit zur Verfügung. Wie konnte ein Mann nicht Himmel und Erde in Bewegung setzen, um am Begräbnis seines kleinen Bruders teilzunehmen? Was hätte ihr Kind von einer solchen Familie, die zwar kultiviert und wohlhabend, aber verstreut in aller Welt und für Laura fremd war?

Sie blickte auf den Brief in ihrer zitternden Hand, den sie unbewusst zerknüllt hatte, strich ihn wieder glatt und steckte ihn in die Tasche des geliehenen Mantels. Sie würde ihn später auf dem Heimweg nach Tandarah in den Postkasten werfen, und dann wäre es an den Leuten dort vorn am Grab, den nächsten Schritt zu unternehmen.

„Bis dahin“, flüsterte sie, und ihre Worte bildeten Dunstwolken in der kalten Winterluft, „gibt es wohl nur dich und mich, Kleines.“

Achtzehn Jahre jung, mutterseelenallein auf der Welt – abgesehen von dem winzigen Leben, das sie unter ihrem Herzen trug, wandte Laura sich ab und ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen …

Ryan bemerkte, wie blass Laura geworden war. Sie schien völlig erstarrt zu sein und bemerkte nicht einmal, wie ihr der rosafarbene Overall aus der Hand glitt.

„Sie sind Wills Bruder?“, wisperte sie. Ihre zuvor so vergnügte kräftige Stimme klang nun dünn und entrückt. Ohne das vorlaute und kecke Auftreten wirkte Laura plötzlich sehr zart. Zerbrechlich. Und furchtbar jung.

Er ging einen Schritt auf sie zu, denn er befürchtete, sie könne in Ohnmacht fallen. „Ms. Somervale?“

Sie rührte sich nicht, so als hätte sie ihn nicht gehört.

„Laura? Ist Ihnen nicht gut?“

Ihre Lippen zitterten, als sie mit ihrem Blick den Brief in seiner ausgestreckten Hand fixierte. Dann schlug sie sich eine Hand vor den Mund, so als wollte sie ein Schluchzen unterdrücken.

Doch gerade als Ryan sie an sich ziehen wollte, um sie zu stützen und zu trösten, geschah etwas Unglaubliches: Sie brachte ein Lächeln zustande.

„Sie sind also Wills Bruder“, stellte sie fest. „Ryan. Der Wirtschaftswissenschaftler, stimmt’s? Tut mir leid, dass ich Sie nicht erkannt habe. Aber Will hatte keine Fotos von Ihnen, und Sie waren nicht bei seiner Beerdigung.“

Er schloss aus ihren Worten, dass sie an der Beisetzung teilgenommen hatte. Er hatte nichts davon gewusst und seine Familie anscheinend auch nicht. Erstaunlich. Sie war vor all den Jahren unbemerkt in ihrer Mitte gewesen. „Ms. Somervale, ich bin nicht hier, um Ihnen oder Ihren Angehörigen Probleme zu bereiten. Ich bin gekommen, um …“ Er bückte sich nach dem staubigen Kinderoverall und reichte ihn ihr. „Ich muss Gewissheit haben.“

Sie holte tief Luft, nickte verständnisvoll und begegnete seinem Blick. „Im Upper Gum Tree. Dem Hotel in der Stadt, in dem Sie Jill Tucker getroffen haben. Heute Abend um sechs.“

Bevor er noch weitere Fragen stellen konnte, hörte er eine Stimme vom Cottage her rufen.

„Mu-um!“

„Ich komme schon, Kleines! Bleib drinnen!“, antwortete Laura.

Doch im nächsten Augenblick stürmte die Besitzerin des rosa Overalls aus dem Haus.

Ryan heftete seinen Blick auf das kleine Mädchen und vergaß sofort alles andere um sich herum. Sogar Laura Somervale verschwand für diesen Moment aus seinem Bewusstsein. Die Kleine hatte zwar das ovale Gesicht und die goldbraunen, ungebändigten Locken ihrer Mutter geerbt, aber Ryan erkannte auch typische Gasper-Züge. Die intelligenten blauen Augen. Das kantige Kinn. Sogar die Art, an der Unterlippe zu nagen, wie es seine Schwestern zu tun pflegten.

Autor

Ally Blake
Ally Blake ist eine hoffnungslose Romantikerin. Kein Wunder, waren die Frauen in ihrer Familie doch schon immer begeisterte Leserinnen von Liebesromanen. Sie erinnert sich an Taschen voller Bücher, die bei Familientreffen von ihrer Mutter, ihren Tanten, ihren Cousinen und sogar ihrer Großmutter weitergereicht wurden. Und daran, wie sie als junges...
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