Sinnliche Nächte in Alaska (Baccara 2116)
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Er war wieder da.
Felicity Hunt brauchte nicht mehr als den hellbraunen Stetson zu sehen, der auf seinen Knien ruhte, um zu wissen, dass Conrad Steele ihre Bitte ignorierte, ihr aus dem Weg zu gehen. Der Mann bedrohte die Balance, die sie sich in ihrem Berufsleben nach ihrer Scheidung so hart erarbeitet hatte.
Der alaskische Ölmagnat stand in dem Ruf, entschlossen zu sein. Geschmeidig und redegewandt hielt er durch, bis er gewonnen hatte.
Mich gewinnt er aber nicht.
Er tat heute im Wintergarten des Krankenhauses jedoch wirklich alles, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Conrad hielt eine Vorlesestunde ab. Es war herzerwärmend, wie die kleinen Patienten sich um ihn scharten.
Felicity war auf dem Rückweg von der Betreuung eines schwerkranken Dreijährigen, der gerade ins Pflegesystem aufgenommen worden war. Sie war wild entschlossen, diesen Mann auf Abstand zu halten, doch leichter gesagt als getan. Als Sozialarbeiterin im Anchorage General Hospital hatte sie eine Schwäche für ihre kleinen Schutzbefohlenen.
Kinder saßen in Rollstühlen und auf Bodenmatten. Wie gebannt konzentrierten sie sich auf den Cowboy, der eine Geschichte über ein Zauberpferd vorlas. Seine tiefe Stimme grollte, und das Buch verschwand fast in seinen riesigen Händen. Er hielt es hoch, damit sein Publikum die Aquarellillustrationen sehen konnte. Die Seite, die er aufgeschlagen hatte, zeigte das Pferd.
Ein kleines Mädchen meldete sich, um eine Frage zu stellen. „Was hängt da vom Sattel?“
„Das sind Steigbügel für die Füße des Reiters“, antwortete Conrad und klopfte mit den Stiefeln auf den Boden. Dann fügte er noch weitere Erklärungen an. Er kannte sich eindeutig mit Pferden aus.
Er schaute auf und entdeckte sie, Felicity lehnte an einer Säule. Die Luft knisterte zwischen ihnen. Sie hätte mittlerweile an diese Verbindung gewöhnt sein sollen, aber diese Wucht überrumpelte sie nach wie vor. Von seinem kurzen Blick, der keine drei Herzschläge gedauert hatte, war sie noch immer völlig durcheinander, als Conrad sich schon wieder dem Buch widmete.
Mein Gott, er sieht so gut aus – wie ein kerniger Filmstar. Er hatte ein markantes Kinn und hohe Wangenknochen. Sein dunkles Haar war ordentlich geschnitten. An seinen Schläfen verlockte ein Hauch von Silber sie, ihn zu streicheln. Und diese Augen! Hellblau wie die heißesten Flammen.
Seine breiten Schultern füllten das makellos weiße Hemd aus. Sein Jackett hing über der Stuhllehne. Die rote Seidenkrawatte lenkte ihre Aufmerksamkeit auf seinen kräftigen Hals.
Er war ein Mann, der anderen eine Stütze war.
Sie zwang sich, gleichmäßig ein- und auszuatmen, und versuchte, ihren Herzschlag zu verlangsamen. Der Duft der Blumen mischte sich mit dem Geruch nach Desinfektionsmittel.
Felicity spielte mit dem Namensschild an ihrem silbernen Schlüsselband und wusste, dass sie den Wintergarten verlassen musste. Das würde sie auch tun, bevor er die Geschichte beendete.
Sie konnte jedoch nicht vergessen, wie sie Conrad kennengelernt hatte und wie sehr es ihr geschmeichelt hatte, dass er sie so intensiv umwarb. Als Sozialarbeiterin war sie oft in dieses Krankenhaus gekommen. Eine Freundin von ihr, die ehrenamtlich auf der Neugeborenenintensivstation arbeitete, war damals mit seinem Neffen ausgegangen. Felicity hatte schließlich nachgegeben und sich wider besseres Wissen mehrfach mit Conrad getroffen. Kurz vor Weihnachten dann hatte sie einen Schlussstrich gezogen, bevor sie ihren neuen Job antrat.
Ihr Traum war wahr geworden: Sie war jetzt Krankenhaussozialarbeiterin für Minderjährige. Ein Grund mehr, sich ganz auf ihre Karriere zu konzentrieren, nicht auf eine Liebesgeschichte. Das Scheitern ihrer Ehe hatte ihr das Herz gebrochen. Der Kummer hatte auch im Büro seinen Zoll von ihr gefordert. Sie war nicht bereit, noch so einen Rückschlag im Beruf oder im Privatleben einzustecken.
Nachdem Conrad die letzte Seite vorgelesen hatte, machte er einer Ehrenamtlerin mit Marionetten Platz. Felicity ließ ihr Schlüsselband los. Ihre Finger waren taub. Sie hatte das Band so fest umklammert, dass die Ränder in die Haut einschnitten.
Sie hatte zu lange gewartet und sich in Gedanken an diesen Mann verloren. Wenn sie schnell war, konnte sie noch flüchten …
Aber zögert das nicht nur das Unvermeidliche hinaus?
Sie konnte Conrad nicht einfach zur Rede stellen und fragen, wieso er sie nicht in Ruhe ließ.
Ihr Herz raste.
Conrad zog sein Jackett über und hob seinen Stetson und seinen Wintermantel auf. Er schlängelte sich durchs Publikum, vorbei an Geranien in Terrakottatöpfen, großen Kübeln mit Bäumen und einem murmelnden Springbrunnen aus Stein. Während die Puppenspielerin ihre Bühne aufbaute, reckten sich die Kinder oder zappelten herum. Matten raschelten, Infusionsständer klapperten. Conrad blieb stehen, um die Frage eines kleinen Mädchens zu beantworten, dessen kahler Kopf unter einem Bandana verschwand. Dann setzte er seinen Weg durch den Wintergarten fort.
Seine Augen waren unverwandt auf sie gerichtet.
Felicity atmete aus. Ihr Herz schlug gegen ihren Willen doppelt so schnell wie sonst. Auf langen Beinen kam Conrad direkt auf sie zu. Seine Stiefel trafen dumpf auf die Bodenfliesen.
„Hallo“, sagte er und beugte sich so weit vor, dass sein Atem ihre Wange liebkoste. „Schön, dich zu sehen.“
Sie biss sich auf die Lippen und rang darum, nicht auf seinen Mund zu schauen, sondern auf seine Augen. Erinnerungen an ihre kurze gemeinsame Zeit stürzten auf sie ein. „Wir sollten nach draußen gehen. Ich möchte die Aufführung nicht stören.“
Conrad hielt ihr die Tür auf, die aus dem Wintergarten auf den überfüllten Flur führte. Es wimmelte vor Krankenhausmitarbeitern und Besuchern. Der breite Gang hatte eine Reihe von Fenstern, durch die man einen Schneepflug sah, der den Platz neben dem hoch aufragenden Parkhaus räumte.
Conrad umfasste ihren Ellbogen und führte sie zu einer Nische mit Verkaufsautomaten. Die kleine Berührung setzte ihren Körper in Flammen. Sein Blick war heiß, und sie kam sich plötzlich wie eine Verführerin vor, obwohl sie ganz seriös einen Nadelstreifenrock und eine weiße Rüschenbluse trug.
Er stützte sich mit einer Hand gegen die Wand. Seine Schultern verdeckten die Sicht auf den Korridor, machten den öffentlichen Ort unverhofft intim. „Herzlichen Glückwunsch zu deinem neuen Job.“
Also wusste er Bescheid, wahrscheinlich von ihrer Freundin Tally, die mit seinem Neffen Marshall Steele zusammen war. Das bestätigte ihren Verdacht, Conrad war nicht zufällig hier, sondern auf der Suche nach ihr.
Sie empfand Frust – und ein unerwartet wohliges Prickeln. „Hat Tally dir das erzählt?“
„Es war Marshall“, gestand Conrad. „Sie haben Glück, dich zu haben.“ Seine Hand an der Wand war nah genug bei ihr, um ihr übers Haar zu streichen, aber er tat es nicht.
Die Phantomberührung, die Verheißung, war genauso machtvoll. Es fiel Felicity schwer, sich auf seine Worte zu konzentrieren, weil sein würziger Duft ihr bei jedem Atemzug in die Nase stieg.
Genug höfliches Geplauder. „Warum bist du hier? Ich nehme dir nicht ab, dass du dich plötzlich dafür interessierst, kranken Kindern etwas vorzulesen.“
„Du wolltest unser Date von der Junggesellenauktion letzten Monat ja nicht wahrnehmen, also leiste ich die ersteigerte Zeit hier ab.“
Sie war zornig gewesen, als er bei der Junggesellenversteigerung zu wohltätigen Zwecken in ihrem Namen Geld bezahlt hatte. Es gefiel ihr nicht, manipuliert zu werden. Ein Grund mehr, sich zu ärgern, ihn heute hier zu sehen, obwohl seine Nähe ihre Körpertemperatur in ungeahnte Höhen trieb.
Sie konnte nicht bestreiten, dass er viel für die Patienten tat, die oft lange hier in der pädiatrischen Onkologie blieben. „Das ist sehr uneigennützig von dir. Wie bist du darauf gekommen, vorzulesen, statt zum Beispiel in der Geschenkboutique auszuhelfen?“
„Ich mag Kinder, auch wenn ich selbst keine habe. Ich war immer ein stolzer Onkel. Und die Stiftung meiner Familie startet jetzt einige Projekte hier im Anchorage General Hospital.“
Stimmt das? Wenn ja, hatte sie noch nichts davon gehört. War das vielleicht nur ein Vorwand, um sie weiter zu verfolgen, weil sie es gewagt hatte, einen Steele abzuweisen?
„Was für Projekte?“
„Wir beginnen mit einem Buchspendenprogramm für die Patienten“, antwortete er ohne Zögern.
Sie glaubte ihm. Zumindest, was das betrifft. „Das ist wunderbar. Aber ich will, dass du weißt, dass mein Interesse nicht käuflich ist.“
Sein lässiges Lächeln verschwand. „Meine Ehre auch nicht. Meine Familie hat dieses Krankenhaus immer aus Dankbarkeit unterstützt. Meine Nichten und Neffen sind hier geboren worden. Meine Nichte Naomi hat sich hier ihrer Krebstherapie unterzogen. Die Buchspende ist ein Teil des neuen Pilotprojekts.“
„Neues Pilotprojekt?“, hakte sie nach, allein schon aus professionellem Interesse. So viel dazu, kühl und abweisend zu bleiben wie die alaskische Tundra.
„Die neue Familienstiftung der Steeles und Mikkelsons soll im Krankenhaus noch mehr zum Positiven verändern. Eine Möglichkeit ist, Kinder mit neuen Büchern zu versorgen, die sie behalten dürfen, damit kein Hygienerisiko besteht, wie wenn sich alle die Bände teilen.“
An dem Plan hatte sie nichts auszusetzen. „Das ist wirklich sehr fürsorglich. Die Kinder und Eltern sind sicher dankbar.“
Langzeitaufenthalte im Krankenhaus stellten eine finanzielle Belastung dar, sodass selbst der Kauf von Büchern zum Luxus wurde.
„Das Paket, das die Kinder heute bekommen haben, enthält auch die Geschichte, die sie gerade gehört haben.“ Ein halbes Lächeln umspielte seine Lippen. In seinen einzigartigen Augen lag Verheißung.
Das Buch war fesselnd, besonders, wenn ein überlebensgroßer Cowboy es vorlas.
„Was plant die Stiftung noch?“ Sie war neugierig. Aber zugleich wollte sie wissen, wie sie ihm aus dem Weg gehen konnte.
„Die Abstimmung war gestern, also darf ich es heute wohl schon verraten, auch wenn die Pressemitteilung erst morgen kommt.“
Sein Lächeln wurde breiter, und ihre Entschlossenheit ließ nach. „Na gut, ich gebe es zu. Ich bin neugierig. Natürlich nur in beruflicher Hinsicht.“
Er zog fast unmerklich die Augenbrauen hoch. „Natürlich.“ Sein Lächeln war selbstsicher – und sexy. „Wir spenden zu Ehren meiner Nichte etwas an die Onkologie. Die Abteilung wird dann offiziell bei einem Bankett für die Krankenhausleitung und den Stiftungsrat umbenannt.“
Ihr wurde klar, was er da sagte. Das hier war kein mit der heißen Nadel gestrickter Plan, um sie wiederzutreffen. Er und die Stiftung seiner Familie hatten ein echtes Interesse an diesem Krankenhaus.
Die Erkenntnis war unausweichlich, und sie konnte nicht leugnen, dass ein Schauer der Erregung sie dabei durchlief. „Du bleibst mir erhalten, oder?“
Den Stetson in der Hand sah Conrad zu, wie Felicity eingeschnappt den Krankenhausflur entlangstürmte.
Er ging ihr eindeutig unter die Haut, und das war gut. Oh ja, er würde ihr erhalten bleiben. Er wollte sie schon, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Seitdem versuchte er alles, um sie für sich zu gewinnen. Das war gar nicht so einfach, weil sie immer noch unter ihrer Scheidung litt.
Er behielt sie im Blick und schloss sich dem Strom der Fußgänger im Korridor an. Felicitys glattes braunes Haar war zu einem ordentlichen Knoten hochgesteckt. Die Mittagssonne, die durchs Fenster fiel, verlieh den Strähnen einen honigfarbenen Schimmer.
Ihr Nadelstreifenrock war auf unauffällige Art attraktiv. Er lag eng an, betonte ihre Kurven und endete unmittelbar oberhalb ihrer kniehohen Lederstiefel. Die Rüschen an ihrer Bluse lenkten seinen Blick auf ihren Hals und ihre Handgelenke. Nicht, dass seine Aufmerksamkeit erst eine Einladung brauchte.
Er war wählerisch und ging nur mit Karrierefrauen aus, die es nicht darauf abgesehen hatten, ihn zum Altar zu führen. Er hatte eine kurze Ehe hinter sich. Beim zweiten Versuch war er von seiner Verlobten unmittelbar vor der Trauung sitzen gelassen worden. Seitdem glaubte er nicht mehr an glückliche Enden wie im Märchen.
Als sein älterer Bruder Jack dann seine Frau und seine Tochter Brea bei einem Flugzeugabsturz verlor, war er angesichts Jacks Trauer entschlossener denn je gewesen, Single zu bleiben. Er hatte sich ganz seinen Nichten und Neffen gewidmet. Er liebte Kinder, und so war es ihm nicht schwergefallen, seinem überlasteten großen Bruder zu helfen. Er war fünfzehn Jahre jünger als Jack und hatte viel Zeit und Energie gehabt. Heute fragte er sich allerdings, ob er nun wohl so ruhelos war, weil Jacks Kinder inzwischen erwachsen waren.
Conrad konzentrierte sich wieder auf Felicity, die gerade in einen Fahrstuhl stieg. Sie konnte sich seiner Aufmerksamkeit gewiss sein – und er konnte sich vorstellen, dass es immer so bleiben würde. Er hatte gehofft, alles würde heute etwas glatter laufen, aber er hatte auch seinen Spaß an Herausforderungen.
Er machte sich gerade auf den Weg zum Fahrstuhl, als die automatische Außentür sich öffnete. Ein kalter Windstoß fegte herein. Ein vertrautes Gesicht ließ ihn stutzen. Sein Neffe Marshall, Jacks mittleres Kind. Marshall war ein bisschen eigenbrötlerisch. Er führte die Familienranch und hatte sich nie für das Tagesgeschäft der Ölfirma der Familie interessiert.
Sie hatten sich alle einbringen müssen, als Jack Steele sich mit der verwitweten Matriarchin der Familie Mikkelson verlobte – einer geschäftlichen Konkurrentin. Kurz darauf stürzte Jack vom Pferd und überlebte den Unfall nur knapp. Es dauerte Monate, bis er sich von seiner Wirbelsäulenoperation erholt hatte.
Obwohl Jack inzwischen mit Jeannie Mikkelson verheiratet war, hatten sie die kritische Phase noch nicht hinter sich. Die Ölunternehmen der beiden Familien fusionierten zu Alaska Oil Barons. Infolgedessen schwankten die Aktienkurse. Die Steeles und die Mikkelsons mussten nach außen hin Einigkeit demonstrieren. Hoffentlich half die neue Stiftung, die beiden Familien zu einer zu verschmelzen und die Investoren zu beruhigen.
Marshall kam auf ihn zu und schüttelte sich Schnee von der Hutkrempe. „Was machst du denn hier? Stimmt etwas nicht?“
Nach Jacks Unfall und Shana Mikkelsons Aneurysma wurden alle schnell nervös. Eine größere Familie hieß auch, dass Freud und Leid sich mehrten.
„Ich habe die Bücher in der Kinderabteilung abgegeben und bis eben aus einem vorgelesen.“
„Wirklich? Ich glaube, du hast Hintergedanken.“ Marshall kniff die Augen zusammen. „Felicity arbeitet doch jetzt in Vollzeit hier?“
„Ich weiß noch, wie ich dir immer etwas vorgelesen habe, als du noch ein Kind warst.“ Conrad wich geschickt aus.
Marshall hob die Hand. „Mach dir keine Sorgen, wenn du nicht über Felicity reden willst. Ich bin nur hier, um Tally abzuholen und mit ihr Essen zu gehen. Bringst du mir morgen trotzdem Nanuq und Shila vorbei?“
Conrad hatte ein paar von Marshalls Pferden bei sich untergestellt, seit einer von dessen Ställen abgebrannt war. Er hatte Ausweichquartiere für seine Tiere gebraucht, solange der Wiederaufbau lief, nun standen die neuen Boxen bereit.
„Natürlich. Wir sehen uns.“
Er konnte einen Ritt gebrauchen, um die Anspannung abzubauen, die er nach seiner Konfrontation mit Felicity sicher empfinden würde. Noch vor Ende des Tages würde sie erfahren, wie eng sie künftig zusammenarbeiten mussten.
Auf dem Weg ins Büro wünschte Felicity sich, es wäre leichter, nicht mehr an diese große, sexy Ablenkung mit dem Stetson zu denken.
Ihre Nerven waren überreizt, seit sie Conrad über den Weg gelaufen war. Sie musste sich zusammenreißen. Gleich stand das Meeting mit ihrem neuen Vorgesetzten an. Angeblich sollte es darum gehen, ihr Möglichkeiten zu eröffnen, in ihrem Job wirklich etwas zu bewegen. Ein bisschen kryptisch, aber ihr Interesse war geweckt. Sie konnte nicht schnell genug dorthin kommen. Als sie nach unten sah, um ihre Notizen aus ihrer Aktentasche zu ziehen, rannte sie fast jemanden um.
Tally Benson winkte ihr zu. „Hallo!“, rief ihre Freundin überrascht. „Ich bin gerade mit meiner Schicht fertig. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich heute treffe. Wie läuft der neue Job?“
„Ich freue mich über die große Chance.“ Die Antwort klang selbst in ihren eigenen Ohren hohl. Sie fragte sich, warum sie sich die Mühe machte, ihren Freunden etwas vorzuspielen. Auf der Highschool hatte sie einmal für eine Schulaufführung von „König Lear“ vorgesprochen, weil ihre Pflegemutter Shakespeare liebte. Während der Proben hatte sie erkannt, dass es viel mehr Anstrengung erforderte, ihre Gefühle zu verbergen, als man bei professionellen Schauspielern im Film und auf der Bühne ahnte.
Bei der Arbeit hatte sie seltsamerweise noch nie eine Emotion heucheln müssen, die sie nicht empfand. Ihre tiefe Empathie verlieh ihr die Kraft, die Klippen der Sozialarbeit zu umschiffen.
Heute fühlte sie sich wieder wie die Schülerin, die Textzeilen ablas. Die Worte passten nicht zu ihrer Körpersprache.
„Warum runzelst du dann die Stirn?“ Tally zog die Nase kraus.
Felicity rückte ihr Schlüsselband zurecht. „Wusstest du, dass Conrad den Patienten in der Kinderabteilung etwas vorliest?“
„Ich habe gehört, dass die Stiftung seiner Familie große Pläne für das Krankenhaus hat.“
Einen ganzen Flügel des Krankenhauses umbenennen zu lassen war teuer. Spenden in solcher Höhe konnten nicht einfach nur ein romantischer Trick sein.
Felicity zwang sich zu einem Lächeln. „Das Krankenhaus hat Glück, solch einen großzügigen Wohltäter zu haben.“
„Ehrlich gesagt überwältigt mich die Familie ein bisschen. Es sind so viele!“
Das wusste die rothaarige Tally nur zu gut. Erst vor Kurzem war sie eingestellt worden, um Marshall im Haushalt zu helfen, während er sich von einem gebrochenen Arm erholte. Inzwischen waren sie ein Paar. „Aber die Stiftung ist eine gute Möglichkeit, sie näher kennenzulernen.“
Nachdem der Steele-Patriarch die Witwe seines Konkurrenten geheiratet hatte, hatten ihre Firmen fusioniert. Noch immer stand nicht fest, wer der CEO des neuen Unternehmens Alaska Oil Barons werden sollte. Man munkelte jedoch, dass sich langsam eine Entscheidung abzeichnete.
„Oh!“ Felicity griff in ihre Aktentasche. „Ich habe dein Empfehlungsschreiben fertig.“ Sie hatte Tally überzeugt, sich um ein Stipendium zu bewerben und einen Abschluss als Sozialarbeiterin zu machen. Die Frau war ein Naturtalent.
Tally lächelte strahlend und ihr kamen die Tränen. „Danke.“ Sie nahm den Briefumschlag und schob ihn vorsichtig in ihre Handtasche. „Deine Unterstützung bedeutet mir viel. Ich habe Angst, dass ich mir zu große Hoffnungen mache, den Studienplatz oder gar das Stipendium zu bekommen.“
Hoffnung konnte einem Angst machen, ohne jede Frage. Felicity erinnerte sich nur zu gut, wie schwer es ihr nach der Scheidung gefallen war, auf eine positive Zukunft zu vertrauen. „Ich drücke dir die Daumen. Sag Bescheid, sobald du etwas hörst.“
„Das mache ich“, versprach Tally und umarmte sie rasch. „Du musst jetzt sicher los. Aber treffen wir uns doch bald einmal zum Mittagessen, um in Ruhe zu reden. Ich lade dich ein.“
„Klingt prima. Wir hören voneinander.“ Felicity winkte zum Abschied, bevor sie auf ihr neues Büro zueilte. Sie hob ihre Schlüsselkarte und zog sie durch, um die Tür zu öffnen. Der Raum gehörte ihr allein. Dank des Fensters sah sie die schneebedeckten Berge und konnte das wenige Tageslicht ausnutzen, das es in Alaska im Winter gab. In der Ecke stapelten sich noch Kartons, aber sie hatte inzwischen die wichtigsten Gegenstände ausgepackt, begonnen mit einer Pinnwand voller Dankesbriefe von Eltern und frisch adoptierten Schützlingen und ein paar gerahmten Kinderzeichnungen. Sie bedeuteten ihr mehr als jedes offizielle Lob, weil sie daran sah, dass ihre Arbeit das Leben hilfloser Kinder verbesserte.
Sie wusste selbst noch zu gut, wie es war, in der Situation zu sein.
Sie suchte im Aktenstapel auf ihrem Tisch, bis sie die Mappe, die sie brauchte, unter einem Briefbeschwerer aus Messing fand, einem texanischen Büffel. Nach einem Blick auf die Uhr keuchte sie auf. Ich muss mich beeilen!
Sie schloss die Tür ab und rannte den Flur entlang zu den Fahrstühlen. Ihre Lederstiefel schlitterten über den Boden. Direkt vor ihr glitt eine Fahrstuhltür zu.
„Warten Sie bitte!“, rief sie.
Eine Hand schoss vor, und die Tür ging wieder auf. Sie seufzte erleichtert und schob sich seitwärts in den Fahrstuhl.
„Danke“, sagte sie atemlos. „Ich komme zu spät zu einem Meeting.“
Ein Männerlachen erklang leise auf der anderen Seite der überfüllten Kabine.
Ein vertrautes Männerlachen.
Sie schloss die Augen. „Hallo, Conrad.“
Als sie sich gefasst hatte, sah sie ihn neben einer Krankenschwester stehen, die sich nicht einmal bemühte, zu überspielen, dass sie ihn bewundernd musterte. Er reagierte jedoch nicht auf den Flirtversuch. Felicity war gerührt. Er ging zwar mit vielen Frauen aus, doch sie hatte noch nie von einer ein böses Wort über ihn gehört.
Verdammt. Sie konnte diese Gedanken nicht gebrauchen. „Fünfter Stock, bitte“, sagte sie und sah betont die Liste mit Vorschlägen durch, die sie ihrem Chef überreichen wollte.
Die Fahrstuhltür öffnete sich, und die meisten Mitfahrer stiegen aus. Felicity blieb mit Conrad allein. Eigentlich hatte sie gehofft, dass auch er gehen und es ihr leichter machen würde. Ein anderer Teil von ihr flüsterte, dass seine Gegenwart sie gar nicht stören sollte.
Er stellte sich neben sie. „Hast du Lust, essen zu gehen?“
Sie steckte ihre Papiere ein. „Du bist hartnäckig, das muss man dir lassen.“
„Willst du nicht mehr über die Pläne der Stiftung für das Krankenhaus erfahren?“
Sie schaute scharf auf. Ihr Blick traf seinen. Ein Schauer durchlief sie, als der würzige Duft seines Aftershaves ihr im engen Aufzug in die Nase stieg. Conrad war ganz einfach zum Anbeißen – und er bot ihr Informationen an, auf die sie es abgesehen hatte.
„Ich bin neugierig, doch das Essen muss ich ablehnen.“
Er lachte leise.
„Wenn du mich auslachst, überzeugt mich das ganz bestimmt nicht.“
„Glaub mir, ich lache dich nicht aus. Du amüsierst mich zwar, aber das liegt an deiner Schlagfertigkeit, die ich bewundere und verdammt sexy finde.“ Er grinste sie an. „Mache ich meine Sache jetzt besser?“
Sie seufzte und musterte forschend sein viel zu schönes Gesicht. „Ich verstehe nicht, warum du mir immer noch nachstellst.“
„Du bist einfach unglaublich.“
Er hielt ihrem Blick stand und löste wieder ein Kribbeln bei ihr aus. Sie malte sich aus, wie es sein würde, sich an ihn zu lehnen. Nur ein bisschen …
Die Fahrstuhltür glitt auf. Die Menschen auf der anderen Seite rissen sie aus ihrem Tagtraum. Sie packte ihre Tasche fester und stieg aus. Das Begehren zwischen ihnen war nicht zu leugnen. Sogar jetzt hätte sie schwören können, seine Körperwärme unmittelbar hinter sich zu spüren.
Denn das tat sie.
Er war ihr aus dem Fahrstuhl gefolgt, in das Stockwerk, in dem sie den Termin bei ihrem Chef hatte. Ausgerechnet an dem Tag, an dem Conrad erwähnt hatte, dass die Stiftung seiner Familie große Pläne für das Krankenhaus hatte. Mit den Kindern. Eine Vorahnung regte sich bei ihr.
Conrad lächelte. „Es wird Spaß machen, zusammenzuarbeiten.“
Conrad wusste, dass er es nicht übertreiben durfte.
Nachdem die Sitzung beendet war, hielt er Felicity auf dem Weg aus dem Büro ihres Chefs die Tür auf. Sie hatten Folgetermine vereinbart, um die besten Möglichkeiten auszuloten, die Spenden der Steele-Mikkelson-Stiftung einzusetzen. Sie mussten sich nur noch mit Isabeau Mikkelson absprechen, der offiziellen PR-Chefin der Stiftung.
Das Hauptziel war, bei dem Bankett in einem Monat einen Maßnahmenkatalog zu präsentieren. Die nächsten vier Wochen würden die perfekte Gelegenheit bieten, Felicity doch noch herumzubekommen.
Und wenn sie danach immer noch Nein sagte? Er wollte nicht glauben, dass es so weit kommen würde, aber er war kein Dummkopf. Es war schließlich nicht so, als ob sie sich Hals über Kopf ineinander verliebt hätten.
Dennoch war er sicher, dass sie eine verdammt gute Affäre haben konnten.
Er blieb am Fahrstuhl stehen. Felicitys verkrampfte Schultern verrieten ihm, dass er für heute weit genug gegangen war. Er zückte sein Handy und trat von den Türen weg ans Fenster. Sie warf ihm einen überraschten Blick zu. Er unterdrückte ein Lächeln und scrollte durch seine Mails, bevor er ins Büro zurückkehrte.
Eine Stunde später schritt er die Flure des Hauptsitzes von Alaska Oil Barons entlang. Er saß im Vorstand des Unternehmens seines Bruders, führte aber zusätzlich noch eine eigene Investmentfirma.
Auf ganzer Länge des Korridors gingen Fenster auf den zugefrorenen Hafen hinaus. An der anderen Wand hingen gerahmte Fotos der alaskischen Landschaft. Das Bürogebäude der Steeles bildete seit der Fusion den Hauptsitz der neuen Firma.
Conrad öffnete die Tür zum Konferenzraum. Die Hälfte der Plätze um den langen Tisch war bereits besetzt. Am Kopfende saß sein Bruder Jack und neben ihm Jeannie Mikkelson-Steele, seine Frau.
Jack winkte ihn ins Zimmer. „Wir warten nur noch auf Naomi. Wie ist es im Krankenhaus gelaufen?“
Conrad legte seine Aktentasche auf die polierte Tischplatte. „Die Kinder waren dankbar für die Bücher und fürs Vorlesen.“
Jack lächelte. „Ich meinte eigentlich das Treffen mit Felicity und ihrem Chef.“