Unsere Insel der Liebe

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Sanft umspülen die Wellen des Pazifiks den Strand. Aber Vivian hat keinen Blick für die Schönheit der Insel, auf der Nicholas Thorne sie gefangen hält - der Mann, der ihr vor Jahren Vergeltung schwor. Und seine Rache ist doppelt süß, als Vivian sich in ihn verliebt …


  • Erscheinungstag 11.03.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715908
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Endlich! Der Zeitpunkt war gekommen.

Zehn Jahre …

Zehn lange Jahre hatte er diesem Augenblick mit einer Erwartung entgegengefiebert, die ihn schonungslos angetrieben hatte. Die Rache war zu seinem einzigen Lebensinhalt geworden, alle anderen Ziele waren dahinter verblasst. Er hatte sich mit äußerster Willensanstrengung dazu zwingen müssen aufzupassen, zu warten, Pläne zu schmieden und sein Leben möglichst normal fortzusetzen.

Nach außen hin hatte er selbstverständlich die Gefühle gezeigt, die man von ihm erwartet hatte. Er spielte seine Rolle perfekt, jeder glaubte ihm, dass er ein guter Christ war, der seiner Feindin vergeben hatte. Doch das war nur der äußere Schein. Er lächelte, plauderte, pflegte Bekanntschaften und Beziehungen, nahm Lob für seine geschäftlichen Erfolge an, ließ sich bewundern und beneiden und wurde ein reicher Mann. Doch das bedeutete ihm nichts.

All dies verfolgte nur den Zweck, ihm Einfluss zu verschaffen. Die Macht, die er brauchte, um für Gerechtigkeit zu sorgen, um strafen zu können …

Er presste seine rechte Hand auf die harte hochglanzpolierte Fläche seines Schreibtisches. In dem großen Büro mit den bodentiefen Fenstern war es eiskalt, nur das prasselnde Kaminfeuer, das er gerade angezündet hatte, verlieh dem Raum nach und nach etwas Wärme.

Geistesabwesend nahm er den schweren goldenen Siegelring vom Finger und betrachtete, wie sich der Feuerschein in dem edlen Metall spiegelte. Die eingravierte Rose, um die sich eine Schlange wand, war das Wahrzeichen seiner Familie. Bald würde die Schlange zuschnappen.

Langsam drehte er seine Hand um und starrte auf die deutlichen Lebenslinien, die sich in der Innenfläche eingegraben hatten. Es war, als wollten sie ihn und seine unerfüllten Wünsche und Träume verspotten. Er hatte so große Hoffnungen in die Zukunft gelegt. Doch dann kam sie und zerstörte alles.

Aber jetzt waren die langen, bitteren Jahre des Wartens vorüber. Endlich hatte er sie genau da, wo er sie haben wollte … Sie war gefangen in seiner mächtigen Hand, ohne dass sie auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung hatte. Und der Zeitpunkt passte perfekt. Sie dachte, sie sei in Sicherheit. Sie glaubte, die ganze Welt habe ihr Verbrechen vergessen. Bald, ja sehr bald würde sie eines Besseren belehrt werden. Dafür wollte er sorgen. Denn Mord verjährte nie.

Er ballte die Hand zur Faust. Jetzt musste er seine sorgsam aufgestellte Falle nur noch zuschnappen lassen und ihr bei ihren vergeblichen Befreiungsversuchen zusehen. Sie würde wahrscheinlich in Tränen ausbrechen und ihre Unschuld beteuern, oder sie würde wutentbrannt toben und ihm drohen. Noch besser wäre allerdings, wenn sie am ganzen Leib zittern und ihn anflehen würde, sie zu erlösen. Dann wollte er ihren Stolz brechen, ihr die Selbstachtung nehmen und dabei Zeuge sein, wie all ihre Träume und Hoffnungen vernichtet wurden. Dieses Bild, wie sie, allem beraubt, in sich zusammenfiel, hegte er wie einen Schatz in seiner dunklen, verbitterten Seele.

Er griff nach dem Whiskyglas aus schwerem Kristall und nahm einen großen Schluck der starken, lange gelagerten bernsteinfarbenen Flüssigkeit. In seiner Kehle spürte er die rauchige Schärfe des Getränks. Sie war angenehm, aber sie war nicht mit dem berauschenden Geschmack der Rache zu vergleichen, der all seine Sinne wohltuend betäubte. Zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt fühlte er sich fast wieder zufrieden. Ein teuflisches Lächeln umspielte seine Lippen.

Endlich war es so weit …

2. KAPITEL

Vivian nahm die letzten beiden Stufen mit erleichtertem Schwung. Oben angekommen blieb sie angespannt stehen. Sie holte tief Luft und zwang sich, auf die schmale Treppe zurückzublicken, die aus dem schroffen Abhang herausgemeißelt worden war und deshalb steil nach unten führte. Erschauernd blickte sie auf das von Felsen übersäte, meeresgrüne Nichts zu ihren Füßen. Tief unter ihr am Strand löschten zwei Männer die Fracht aus dem Laderaum des kleinen Fährbootes. Jetzt erst wurde ihr bewusst, wie hoch sie war. Nur ein breites Holzgeländer bewahrte sie vor dem Absturz.

Vivian schluckte hart. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Wankend kämpfte sie gegen das Verlangen an, zu Boden zu sinken, um sich auszuruhen und zu sammeln.

Die eine Hand gegen den Bauch gepresst versuchte sie, ihren aufgewühlten Magen zu beruhigen. Mit zwei hastigen Schritten entfernte sie sich von der Steilkante, wandte sich schnell ab und eilte den steil ansteigenden, steinigen Weg entlang. Niedrige, kümmerliche Bäume säumten den Pfad. Bevor sie an ihrem Ziel ankam, musste sie unbedingt die Kontrolle über sich wiedergewinnen. Sie straffte die Schultern, strich im Gehen ihren eleganten dunkelgrünen Rock glatt und rückte den dazu passenden Blazer zurecht. Nervös wechselte sie ihre Aktentasche aus weichem Leder von einer Hand in die andere. Um ruhiger zu werden, bemühte sie sich, wenigstens den Anschein eines professionellen Auftretens zu erwecken.

Immerhin hatte sie einen guten Ruf zu verteidigen. Als Vertreterin der Immobiliengesellschaft Marvel-Mitchell Realties sollte sie hier ein entscheidendes Grundstücksgeschäft unter Dach und Fach bringen. Von ihrem Erfolg hing eine Menge ab. Es ging nicht nur um Geld. Das künftige Glück der Menschen, die sie liebte, stand auf dem Spiel.

Allerdings hatte es ihre Stimmung nicht verbessert, dass die Überfahrt von der Coromandel-Landzunge auf diese Insel wegen des starken Seegangs doppelt so lange gedauert hatte wie üblich. Nach einer überstürzten dreistündigen Autofahrt von Auckland am vergangenen Abend und einer schlaflosen Nacht in einem unbequemen Motelbett war ihr die stürmische Begegnung mit dem Pazifischen Ozean nicht gut bekommen.

Da ihr Ziel die Privatinsel eines Millionärs war, hatte Vivian – naiv, wie sie jetzt wusste – angenommen, von einer luxuriösen Barkasse oder einem Tragflächenboot abgeholt zu werden. Niemals wäre ihr in den Sinn gekommen, dass diese alte, hässliche Nussschale, zu der man sie in Port Charles geführt hatte, für ihre Beförderung sorgen sollte. Außerdem hatte sie gedacht, die Insel sei ein üppig bewachsener Zufluchtsort mit wunderschönen weißen Sandstränden und einer blühenden Vegetation. Stattdessen handelte es sich um einen windigen, heftig umtosten Felsen mitten im Nichts. Wobei mir der Name ein Hinweis hätte sein müssen, dachte sie trocken.

Nowhere – Nirgendwo. Sie hatte es für originell gehalten. Nun erst erkannte sie, wie aussagekräftig der Name tatsächlich war!

Was für ein Mann war das, der jemanden den ganzen Weg bis hierher auf diese Insel anreisen ließ? Und das nur, um ein Geschäft abzuschließen, das man besser und vor allem sicherer im Büro in der Stadt hätte besiegeln können? Leider kannte sie die Antwort auf diese Frage nur zu genau: Ihr Vertragspartner war darauf aus, für Schwierigkeiten zu sorgen. Ein skrupelloser Mann, dem ein einfacher Sieg nicht reichte. Niemals würde er sich davon in seinem Zorn besänftigen lassen. Wenn sie seine Pläne durchkreuzen wollte, würde sie sein Spiel zuerst mitspielen müssen.

Vivian durchquerte ein vom stetigen, scharf pfeifenden Wind geformtes Wäldchen mit niedrigen, trockenen Sträuchern und blieb wie angewurzelt stehen. Schockiert sah sie sich um.

Jenseits eines schmalen Bergkamms, am Ende einer flachen, felsigen Landzunge, stand ein Leuchtturm. Wenn sie nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre, jämmerlich über der Reling des Bootes zu hängen und mit der Übelkeit zu kämpfen, hätte sie den hohen weißen Turm auf der Fahrt zur Insel sicherlich gesehen.

Entmutigt streifte ihr Blick den breiten Betonsockel und wanderte hinauf, vorbei an den vier winzigen übereinander angebrachten Fenstern bis zu dem offenen Balkon direkt unter den großen, rautenförmig angeordneten Glasscheiben, die das Leuchtfeuer beherbergten. Wie viele Stufen musste man wohl erklimmen, um dort hinaufzukommen?

Entsetzt richtete sie die Augen wieder nach vorne. Ihr Bedarf an ungeahnten Höhen war für heute gedeckt. Doch da entdeckte sie ein niedriges, weiß gestrichenes Gebäude, das an den Turm angrenzte. Das Haus des Leuchtturmwärters. Grenzenlose Erleichterung durchflutete sie mit einem Mal.

Sie riss sich zusammen. Lass nicht deine Fantasie mit dir durchgehen, Vivian, rief sie sich zur Ordnung. Alle neuseeländischen Leuchttürme waren inzwischen automatisiert worden. Vielleicht war er sogar stillgelegt? Es gab keinen Grund hinaufzusteigen. Aber warum machte sie sich darüber überhaupt Gedanken? Leuchttürme gingen sie nichts an. Sie war wegen des Mannes in dem netten, gewöhnlichen und vor allem niedrigen Gebäude hier, das daneben stand.

Der schmale Pfad über den engen Bergkamm war auf beiden Seiten mit einem weißen Palisadenzaun versehen, der ihr zumindest entfernt das Gefühl von Sicherheit vermittelte. Denn links und rechts davon toste das aufgewühlte Meer schäumend an die Felsen. Heftig pfiff der Wind über den steilen, steinigen Abhang hinauf und zerrte ungestüm an ihren Haaren und an ihrer Kleidung.

Vivian fasste sich ein Herz, schulterte ihre Aktentasche und marschierte los. Mit der freien Hand berührte sie jede einzelne Palisade und zählte sie ab. So konnte sie sich davon ablenken, dass zu beiden Seiten des Zauns der Abgrund wartete. Mit jeder Windbö, das war ihr bewusst, löste sich ihr sorgfältig zusammengesteckter Dutt.

Als sie endlich die robuste, verwitterte Holztür des Leuchtturmwärterhäuschens erreichte, hatte sie sich damit abgefunden, vollkommen ramponiert auszusehen. Ein schneller, kontrollierender Blick auf ihr Spiegelbild in einem der Fenster bestätigte das Schlimmste. Ihr schulterlanges Haar, dessen wilde und zerzauste Locken sie mühsam gebändigt hatte, kräuselte sich munter in der feuchten Luft. Leider war keine Zeit mehr, die störrischen rötlich-braunen Strähnen zurück in eine seriöse Frisur zu zwingen. Eilig zog Vivian die wenigen verbliebenen Haarnadeln heraus und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, um ihre Mähne wenigstens etwas zu ordnen.

Mit einem tiefen Atemzug strich sie über ihren Rock und pochte laut an die Tür. Niemand kam.

Einige Augenblicke später klopfte sie erneut. Wieder keine Antwort. Als sich auch auf ihr nächstes Klopfen niemand meldete, drückte sie die Klinke nach unten. Zu ihrer Überraschung ließ sich die Tür öffnen. Zögernd spähte sie in das Haus hinein.

„Hallo? Ist hier jemand? Mr. Rose? Sind Sie da?“ Die Tür fiel mit einem dumpfen Klang hinter ihr ins Schloss. Erschrocken zuckte Vivian zusammen.

Vorsichtig schritt sie die schmale Diele entlang, die in einen großen, spärlich möblierten Raum mündete. Jede Wand war mit deckenhohen Regalen ausgestattet, in denen sich unzählige Bücher stapelten.

Eine breite, abgenutzte braune Ledercouch stand vor dem rußgeschwärzten Kamin und eine große antike Truhe aus glänzendem Wurzelholz diente offensichtlich als Couchtisch. Neben einem Fenster, das einen atemberaubenden Blick auf das Meer freigab, befanden sich ein Rollpult und ein Stuhl. Durch ein Bullauge konnte man die glatte, weiße Oberfläche des nahen Leuchtturms sehen. Einige wenige Teppiche dämpften die Schritte auf dem polierten Parkettboden. Aber es gab keinerlei Accessoires, keine Pflanzen, Gemälde oder Fotografien, die den Raum wohnlich gemacht hätten. Nichts verriet den enormen Reichtum des Eigentümers. Lediglich die Bücher verliehen dem Raum eine persönliche Note.

Wie der Leuchtturm war auch das Cottage augenscheinlich nur dazu ausgelegt, dem ununterbrochenen Zerren von Stürmen zu trotzen: Die Innenwände bestanden aus dem gleichen dicken, unbearbeiteten Zement wie die Außenhülle. Unruhig fragte Vivian sich, ob das Haus auch dazu gedacht war, Stürme, die hier drin tosten, zu ertragen. Der geheimnisvolle und etwas seltsame Mr. Rose, mit dem Marvel-Mitchell Realties in der Vergangenheit erfolgreich und friedlich über einen Anwalt geschäftlich zusammenarbeitet hatte, entwickelte sich mehr und mehr zu einem eiskalten und rücksichtslosen Strategen, der alle Fäden in der Hand halten wollte. Keinen Augenblick zweifelte sie daran, dass diese Wartezeit von ihm geplant war und sie zum Schwitzen bringen sollte.

Oder er hatte beabsichtigt, hier niemals aufzutauchen.

Vivian erschauerte. Sie stellte ihre Aktentasche neben den Schreibtisch und begann auf- und abzugehen, um ihre wachsende Anspannung zu beherrschen. In dem kargen Raum war nicht eine einzige Uhr zu finden. Immer wieder hatte sie während der letzten zehn Minuten auf ihre Armbanduhr geblickt. Der Kapitän hatte ihr mitgeteilt, das Boot werde in einer Stunde wieder ablegen. Wenn Mr. Rose bis dahin nicht aufgetaucht war, würde sie einfach gehen. Wie um ihre Entscheidung zu bestätigen, nickte sie kurz.

Um sich die Zeit zu vertreiben, machte Vivian sich frisch. Sie trug Lippenstift auf und bürstete ihr widerspenstiges Haar. Leise schalt sie sich, dass sie keine weiteren Haarnadeln eingesteckt hatte. In diesem Moment wurden ihre rastlosen Gedanken von einem derart ohrenbetäubenden, rhythmischen Klopfen überdröhnt, dass die Wände zu wackeln schienen. Sie drehte sich zum Fenster und sah einen schnittigen weißen Hubschrauber, der auf einer flachen Schilfinsel unterhalb des Cottages zur Landung ansetzte.

Während der Helikopter zum Stehen kam, öffnete sich die Tür der Hubschrauberkabine und zwei Männer stiegen aus. Geduckt kämpften sie gegen den Auftrieb der langsamer werdenden Rotorblätter. Vivian spürte, wie sie immer wütender wurde.

Nicholas Rose besaß einen Hubschrauber! Anstatt ihr eine Ewigkeit auf dem schwankenden Boot zuzumuten, hätte er sie in wenigen Minuten auf die Insel fliegen können! In der Zeit, die sie auf der aufgewühlten See verbracht hatte, hätte er mit seinem Fluggerät sogar nach Auckland und zurück fliegen können.

Missmutig beobachtete sie den ersten Passagier. Ein blonder Hüne, der Jeans und eine Schaffelljacke trug, trat beiseite und machte respektvoll den Weg frei für einen Herrn im dunkelblauen Anzug.

Vivian betrachtete den dunkelhaarigen Mann genau, für den sie den Weg hierher auf sich genommen hatte. Selbst vornübergebeugt wirkte er groß. Er war schlank und sah sportlich aus. Als er einen Blick zum Haus warf, erkannte sie sein Gesicht, das hart und rau wirkte. Doch plötzlich lachte er über eine Bemerkung seines Begleiters und ihr Herz hüpfte hoffnungsvoll. Von einem Moment zum anderen fiel die Grimmigkeit von ihm ab und er sah vernünftig und zivilisiert aus. Dem muskulösen Blonden, der seine Schritte mit katzenhafter Wachsamkeit platzierte, war seine Funktion als Leibwächter geradezu ins Gesicht geschrieben. Jetzt verschwanden sie hinter dem Haus. Vivian drehte sich zur Tür, die Hände nervös hinter ihrem Rücken ineinander gelegt. Nach einer quälend langen Zeit wurde die schwere Holztür endlich geöffnet.

Vivian verkniff sich eine bissige Bemerkung, als sie sah, dass nur der lässig gekleidete Hüne den Raum betrat. Noch eine minutiös geplante Verzögerung, dachte sie schnippisch. Zweifellos, um sie weiter zu verunsichern. Oder sollte der Bodyguard sie nach versteckten Waffen abtasten?

Blitzschnell sah sie ihm ins Gesicht. Ihr stockte der Atem. Eine dünne Narbe lief von seinem Haaransatz hinab über einen hohen Wangenknochen fast bis zum Nasenflügel. Sein linkes Auge wurde von einer schwarzen Augenklappe verdeckt. Verlegen ließ Vivian den Blick rasch sinken. Er sollte nicht denken, sie starrte ihn an.

Sein Mund war schmal und sein Gesicht kantig und tief gebräunt. Das dichte, dunkelblonde Haar, von sonnengebleichten goldenen Strähnen durchzogen, wirkte so, als habe er es achtlos mit seinen Fingern nach hinten aus der vernarbten Stirn gestrichen und der Wind habe dieser verwegenen Frisur noch etwas nachgeholfen. Er hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen, um sich vor der Kälte zu schützen. Dunklere Schattierungen an Kinn und Wangen verrieten, dass er sich mindestens einen Tag lang nicht rasiert hatte. Die Augenklappe und seine lange Narbe verliehen ihm eine tollkühne Attraktivität.

Ohne ein Wort streifte er die hüftlange dicke Jacke ab und sie erkannte, dass der erste Eindruck täuschte. Er war nicht so kräftig gebaut, wie sie anfänglich angenommen hatte. Wenngleich sein weinroter Rollkragenpullover breite Schultern umspannte, hatte er eine schmale Taille und Hüften, an denen kein überflüssiges Gramm Fett auszumachen war. Seine langen Beine waren so muskulös, dass die ausgeblichenen Jeans eng an den Oberschenkeln lagen. Als er seine schwere Jacke so mühelos durch das halbe Zimmer warf, dass sie auf der Rückenlehne der Couch landete, erhaschte sie einen Blick auf seine Hände. Es waren kräftige und doch sensible Hände. Fähig, jemanden zu verletzen … oder zu heilen, dachte sie, selbst erstaunt über den merkwürdigen Gedanken, der ihr durch den Kopf geschossen war.

Er lehnte sich gegen die Tür, die durch sein Gewicht leise ins Schloss fiel, winkelte sein Bein an und stützte die Sohle seines abgewetzten Lederstiefels an die Wand. Langsam verschränkte er die Arme über der breiten Brust. Vivian zwang sich, ihren Blick zu heben. So konnte sie feststellen, dass nicht nur sie ihr Gegenüber prüfend begutachtet hatte. Mit seinem gesunden Auge studierte er sie, ohne zu blinzeln.

Wieder ein Mann, der auf die gängige Weise über die weibliche Schönheit urteilte, dachte sie. Sie machte sich nichts vor. Sie kannte ihre eigenen Mängel nur zu genau, und es waren nicht wenige. Um sie daran zu erinnern, brauchte sie seine verblüffte Miene sicher nicht. Sie entsprach nicht im Entferntesten dem Ideal der blonden, kühlen Schönheit. Ihr Haar glühte kupferrot, ihre Augen waren von einem intensiven Flaschengrün, das kaum durch die Gläser ihrer runden Brille abgemildert wurde. Und die unzähligen rötlichen Sommersprossen verdeckten beinahe komplett ihre weiche weiße Haut.

Vivian hob die linke Hand, um ihre Lockenmähne zu bändigen. Zögernd lächelte sie ihn an, doch als er nicht reagierte, errötete sie. Eine kleine, mit Sommersprossen übersäte Falte erschien genau über der goldenen Brücke ihrer Brille, die sie unnötigerweise auf ihrer geraden Nase zurecht rückte. Nun, wenn er es so wollte – sie konnte auch anders. Kühl warf sie ihm den knallharten Blick zu, den sie vergangene Nacht im Spiegel des Motels geübt hatte.

„Sieh an, sieh an … die wunderbare Miss Mitchell, nehme ich an?“

Seine Stimme erinnerte an Seide, die über rauen Kies gezogen wurde: Trügerisch sanft mit dem knisternden Hauch eines harten Knirschens.

Es war eine Stimme, die daran gewöhnt war, Befehle zu erteilen. Die gewohnt war, dass man ihr gehorchte. Keinerlei höfliche Rücksicht war darin zu erkennen. Auch keine Arroganz oder Prahlerei. Nur pure Autorität.

Autor

Susan Napier
Passend für eine Romance-Autorin wurde Susan Napier genau an einem Valentinstag, in Auckland, Neuseeland, geboren. Mit 11 Jahren veröffentlichte sie ihre erste Geschichte, und als sie die High School abschloss, wusste sie, dass sie hauptberuflich Autorin werden wollte. Zuerst arbeitete sie für den Auckland Star, und hier traf sie ihren...
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