Wenn Du mich so zärtlich küsst

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Warum stellt sich der vermögende Unternehmer Dez Kerrigan Gina bloß in den Weg? Er will unbedingt dasselbe Grundstück wie sie kaufen, obwohl er sich mit seinen Millionen jedes andere leisten könnte! Aber Gina denkt gar nicht daran aufzugeben. Raffiniert versucht sie ihn auf ihre Seite zu ziehen. Es scheint zu funktionieren. Dez ist von Ginas Einfallsreichtum beeindruckt, von ihrem Temperament hingerissen und ihrem Esprit fasziniert. Und als er sie zärtlich küsst, glaubt Gina, dass sie ihrem Ziel ganz nah ist ...


  • Erscheinungstag 07.06.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733776503
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Als Gina im Restaurant ankam, stellte sie erleichtert fest, dass sie einige Minuten zu früh da war. Es wäre unhöflich gewesen, einen Gast warten zu lassen, in ihrem Fall jedoch schlichtweg leichtsinnig. Ihr bot sich nur eine einzige Chance: Wenn sie es heute nicht schaffte, konnte sie ihre Pläne begraben. Die wenigen Minuten bis dahin würde sie dafür nutzen, ihre Argumente im Geist nochmals durchzugehen.

Der Oberkellner betrachtete sie zweifelnd. „Möchten Sie an der Bar warten, Miss Haskell? Oder lieber am Tisch?“

„Am Tisch. Meine Begleitung müsste jeden Moment erscheinen. Sie kennen Mrs. Garrett doch? Moira Garrett?“

Die Miene des Mannes zeigte keine Regung. Kühl erwiderte er: „Selbstverständlich kenne ich die Herausgeberin unserer Lokalzeitung, Miss Haskell.“ Statt Gina an den Tisch zu führen, schnippte er mit den Fingern, und eine Kellnerin erschien, um sie zu begleiten.

Die dumme Frage hätte ich mir sparen können, dachte Gina. Damit hatte sie nur offenbart, dass sie nicht in diese Kreise gehörte. Beim nächsten Mal konnte sie sich ebenso gut erkundigen, ob der Fisch auch frisch sei.

Wenn es überhaupt ein nächstes Mal gab. Es geschah nicht oft, dass sie in einem Schlemmertempel aß.

Mehr noch, obwohl sie den größten Teil ihres Lebens in La kemont verbracht hatte, war sie noch nie im „Maple Tree“ gewesen. Während die junge Frau sie an ihren Tisch führte, blickte Gina schnell und, wie sie hoffte, unauffällig in die Runde. Das Restaurant war groß, doch die Tische standen so weit voneinander entfernt, dass man nicht hören konnte, was nebenan gesprochen wurde. Das lag auch hauptsächlich an der Ragtimemusik im Hintergrund.

Passend zum Namen des Restaurants schmückten eine Wand kunstvolle Fotos von Bäumen und einzelnen Blättern. Die Wände und der Teppichboden waren in frühlingshaftem Grün gehalten, während die Tischdekoration herbstfarbene Tupfer aufwies – rote Servietten auf goldfarbenen Tischdecken. Ungewöhnlich und erstaunlich wirkungsvoll, dachte Gina.

Weiter hinten im Raum, nahe einer kleinen Tanzfläche, stand ein glänzender Flügel. An einer Seite des Restaurants gab es eine Bar, deren polierte Thekenoberfläche mit dem Glanz der Messingumrandung wetteiferte.

Obwohl Mittagszeit war, schien es an der Bar erstaunlich ruhig zuzugehen. Nur ein Mann saß dort auf einem Hocker in der Nähe von Ginas Tisch. Er tippte mit dem Zeigefinger an sein Glas, und der Barkeeper kam zu ihm und nahm es auf. Dann drehte der Fremde sich zum Raum um und blickte Gina unvermittelt direkt in die Augen.

Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Verrückt, dass sie so reagierte, denn sie hatte den Mann bisher nicht bemerkt. Es war reiner Zufall, dass sie gerade in seine Richtung geblickt hatte, als er sich umdrehte.

Ein Gentleman hätte sofort weggesehen. Aber dieser Typ … Er legte den Kopf leicht zurück und kniff die Augen zusammen. Langsam stützte er einen Ellenbogen auf die Bar, als wappnete er sich gegen etwas, während er sie zufrieden betrachtete.

Am liebsten wäre Gina zu ihm gegangen und hätte ihm klargemacht, dass sie nicht das geringste Interesse an ihm hatte. Doch damit hätte sie in den völlig unwichtigen Zwischenfall viel zu viel hineingelegt. Sie hatte sich einfach nur im Restaurant umgesehen. Was konnte sie dafür, dass dieser Mann zufällig in ihrer Blickrichtung saß?

Ostentativ schlug sie die Speisekarte auf, die der Ober ihr gebracht hatte, doch die Schrift kam ihr seltsam verschwommen vor. Gina faltete ihre Serviette auseinander und nahm sich damit Zeit, sie sich auf den Schoß zu legen. Die letzten ruhigen Minuten sollte sie besser dafür nutzen, ihre Ausführungen nochmals durchzugehen, die sie beim Essen „an die Frau bringen“ wollte.

Doch sie schaffte es einfach nicht. Innerlich war sie angespannt und hellwach, weil der Mann sie weiter beobachtete. Auch ohne aufzublicken, wusste Gina es einfach.

Gut, sagte sie sich gereizt. Das Spielchen beherrsche ich auch, mein Guter.

Sie legte die Speisekarte beiseite. Diesmal nahm sie sich nicht einmal die Mühe, den Blick durch den Raum schweifen zu lassen. Das würde der Typ nur als Schüchternheit deuten. Stattdessen stützte sie das Kinn auf die Ellenbogen und sah dem Mann direkt ins Gesicht.

Eigentlich passte er in diese Umgebung. Und unverschämt gut sah er auch aus. Er war groß, das erkannte sie an der Art, wie er auf dem Hocker saß, einen Fuß locker auf der Querstange, den anderen auf dem Boden. Wie Gina registrierte, hatte er markante Züge, glänzendes dunkles Haar, ein ausgeprägtes Kinn und eine kühn geschwungene Nase. Doch sie hatte keinerlei Bedarf an dunkelhaarigen Playboytypen.

Warum er sie wohl so ansah? Oder tat er das bei jeder Frau, die auf ihn aufmerksam wurde? Vielleicht hatte er gerade nichts Besseres zu tun. Und sicher gab es genug Frauen, die sich für einen attraktiven Typ wie ihn interessierten.

Ohne den Blick von ihr abzuwenden, nahm er sein Glas auf und prostete ihr zu.

Na ja, Haskell, das ist dir wohl danebengegangen, dachte Gina. Was nun?

Der Mann rührte sich und schien aufstehen zu wollen. Unwillkürlich spannte sie sich an. Jetzt kommt er her …

Neben ihr räusperte der Oberkellner sich laut.

Erst in diesem Moment bemerkte Gina die Dame an ihrem Tisch und sprang auf. Ihr Stuhl wankte bedrohlich und wäre fast umgekippt. Die Serviette glitt von ihrem Schoß, und der Zipfel ihrer Kostümjacke streifte die Speisekarte und fegte sie vom Tisch, während Gina das Blut ins Gesicht schoss. Der Mann an der Bar musste sich köstlich amüsieren. Glücklicherweise stand der Tisch so, dass der Typ ihr gerötetes Gesicht jetzt nicht sehen konnte. Besser noch, sie ihn auch nicht mehr.

Der Ober sah aus, als hätte er plötzlich einen Krampf bekommen. Er winkte einen Piccolo heran und bedeutete ihm, die Speisekarte aufzuheben und eine frische Serviette zu bringen, während er selbst dem neu angekommenen Gast einen Stuhl zurechtrückte. „Mrs. Garrett“, begrüßte er die Frau, indem er ihren Namen besonders betonte.

Als würde er sich verpflichtet fühlen, uns bekannt zu machen, dachte Gina pikiert.

Moira Garrett reichte ihr die Hand über den Tisch. „Hallo, Gina. Schön, Sie wiederzusehen.“ Sie blickte den Ober an und setzte trocken hinzu: „Danke, Bruce. Ich denke, jetzt komme ich allein zurecht.“

Taktvoll zog er sich zurück.

„Entschuldigung“, sagte Gina etwas atemlos, „sonst bin ich nicht so ungeschickt.“ Bloß nicht zur Bar blicken, befahl sie sich. Soll der Typ sich doch über mich amüsieren, wenn’s ihn glücklich macht.

„Bruce’ Blick hätte selbst einem Heiligen Schuldgefühle einimpfen können“, bemerkte Moira. „Ich habe mich schon oft gefragt, wie viele von den Kellnern, die er eingestellt hat, eine Woche ohne Nervenzusammenbruch durchstehen.“ Sie schlug die Speisekarte auf. „Tut mir Leid, aber in einer Stunde muss ich in der Redaktion schon wieder an einer dieser endlosen Besprechungen teilnehmen. Bestellen wir also lieber gleich, dann können Sie loslegen.“

Gina war beklommen zu Mute. Eine Stunde reichte längst nicht für ihre Ausführungen. Doch wenn sie es in einer Stunde nicht schaffte, Moira Garrett von ihren Ideen zu überzeugen, würde sie es wohl auch nicht in einer Woche schaffen. Und dann …

Der bloße Gedanke war schrecklich.

Aufs Geratewohl bestellte Gina einen Salat, trank einen Schluck Eistee und begann: „Erst einmal möchte ich mich bedanken, dass Sie bereit waren, sich mit mir zu treffen. Ich gebe sehr viel auf Ihren Rat, denn wer wüsste mehr über Lakemont als Sie.“

Moira wollte Sahne in ihren Kaffee geben und hielt in der Bewegung inne. „So weit würde ich nicht gehen. Ich bin von hier, aber das sind Sie doch auch, oder?“

„Nicht ganz. Und ich verfüge auch längst nicht über so gute Verbindungen wie Sie.“

Gelassen stellte Moira das Sahnekännchen ab und nahm ihren Löffel auf. „Dann verraten Sie mir, was Sie über meine Verbindungen erreichen möchten.“

Wie ungeschickt von mir! dachte Gina. „Es geht um das Museum“, gestand sie seufzend. „Als Sie es vor zwei Wochen besuchten, haben Sie sich dafür interessiert.“

„Natürlich. Es ist ein nettes kleines Museum voller historischer Schätze.“

„Genau.“ Nervös fuhr Gina sich über den prickelnden Nacken. Der Mann an der Bar musste sie immer noch beobachten. „Lakemont und Kerrigan County verdienen mehr als nur ein nettes kleines Museum, in dem so wenig Platz ist, dass man sich kaum umdrehen kann. Erst vorige Woche hat uns die St.-Francis-Kirche ihre bunten Glasfenster gestiftet. In Kürze wird sie vermutlich abgerissen, wie Sie vielleicht schon gehört haben. Wir besitzen jedoch nicht mal einen Schuppen, der groß genug ist, dass wir die Fenster dort lagern, geschweige denn einen Ort, an dem wir sie ausstellen könnten.“

Der Ober erschien mit ihren Salaten. Nachdem er alles gedeckt hatte, tröpfelte Moira Salatsauce über ihre Krabben und stellte fest: „Sie sammeln also Spenden … wofür? Um Ausstellungsraum für die Fenster zu schaffen?“

„Nicht direkt.“ Gina atmete tief ein und wagte den Sprung ins kalte Wasser. „Das wäre sicher ein Anfang, aber ich möchte das ganze Museum umbauen.“

Überrascht zog Moira Garrett die Brauen hoch. „Sie meinen, Sie wollen den gesamten Bau erneuern?“

„Nein … nein, das nicht.“ Die Vorstellung entsetzte Gina. „Ein Neubau für ein Heimatmuseum wäre widersinnig.“

„Das Haus, in dem es zurzeit untergebracht ist, dürfte rund hundertfünfzig Jahre alt sein.“

Gina nickte. „Und das Museum war von Anfang an dort untergebracht. Sehen Sie, ohne Essie Kerrigan würde es gar kein Museum geben. Sie hat die Historische Gesellschaft von Kerrigan County nicht nur gegründet, sondern auch jahrelang ganz allein am Leben erhalten, größtenteils mit ihrem eigenen Geld. Wann immer Mittel fehlten, hat sie das Nötige zugeschossen, ihr eigenes Haus für das Museum zur Verfügung gestellt. Der Aufbau und die Erhaltung des Museums waren ihr Lebenswerk.“

„Aber jetzt ist Essie nicht mehr, und Sie haben die Leitung übernommen. Da können Sie doch tun, was Sie für richtig halten.“

Ironisch lächelte Gina. „Ein moderner Bau käme für mich nicht infrage. Schon mal deswegen, weil das ganz und gar nicht in Essies Sinn wäre. Außerdem würde sich dann das Problem stellen, wo das neue Gebäude stehen sollte. Ein Heimatmuseum muss auf historischem Boden stehen – also mitten in der Stadt.“

„Nahe am See, wo der Boden knapp und teuer ist.“

„Genau.“

„Was schwebt Ihnen denn vor, wenn Sie an einen anderen Bau denken? Ich habe mit meinen Kindern einen netten Nachmittag im Museum verbracht und kann mir eigentlich nur schwer vorstellen, was Sie verändern wollen.“

Einen netten Nachmittag. Gina legte die Gabel nieder und beugte sich vor. „Freut mich, dass der Besuch Ihnen gefallen hat, aber würden Sie wiederkommen? Nein, bitte antworten Sie nicht gleich – ich meine es ernst. In zwei Stunden haben Sie unsere gesamte Ausstellung gesehen. Wenn wir nicht mehr Raum schaffen können, zum Beispiel auch für Wanderausstellungen, kommt keiner mehr als einmal. Und wenn die Besucher nicht regelmäßig wiederkommen, kann das Museum sich nicht selbst tragen. Deshalb frage ich Sie nochmals: Würden Sie wiederkommen?“

Moira seufzte. „Wahrscheinlich nicht so bald.“

„Genau darauf wollte ich hinaus. Im Moment befindet das Museum sich an einem Punkt, wo es wachsen muss, wenn es nicht untergehen soll.“ Bedeutsam spießte Gina ein Stück Tomate auf.

„Was verstehen Sie unter ‚wachsen‘?“, fragte Moira zweifelnd.

Einen Moment lang rang Gina mit sich. Vielleicht war es besser, etwas zurückzustecken. Wer zu viel verlangte, konnte leicht mit leeren Händen dastehen.

Nein, dachte sie. Sicher, es war möglich, dass sie gar nichts bekam, wenn sie zu hoch griff. Doch wenn sie zu wenig verlangte, würde sie sich später Vorwürfe machen. Dann würde das Museum, Essie Kerrigans schwer erkämpftes Lebenswerk, darunter leiden. Und das durfte sie nicht zulassen.

„Ich möchte das gesamte Museum umbauen“, erklärte sie entschlossen. „Seit Jahren haben wir immer nur Reparaturen vorgenommen – am Dach zum Beispiel, das eigentlich völlig erneuert werden müsste. Außerdem möchte ich das Innere umgestalten, um echte Wandelgalerien zu haben statt enger Räume, in denen man kaum eine Ausstellungsvitrine unterbringen kann.“

„Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Essie Ihr Vorhaben gefallen würde.“

„Na ja, begeistert wäre sie wohl nicht“, musste Gina zugeben. „Aber sie würde verstehen, warum es notwendig ist. Sie hat selbst bedauert, dass wir nicht mehr offenen Raum und bessere Beleuchtungsmöglichkeiten haben. Und was die Sicherung der Ausstellungsstücke betrifft, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwierig es ist, jeden einzelnen Besucher im Auge zu behalten.“

Belustigt lächelte Moira. „Und ich fand es so schön, dass uns eine Dame persönlich herumgeführt hat. Eleanor, hieß sie nicht so? Mir ist gar nicht bewusst gewesen, dass sie eigentlich eine Wächterin war, die verhindern sollte, dass wir etwas mitgehen lassen.“

Leicht verlegen erklärte Gina: „Wir betrachten unsere ehrenamtlichen Helfer nicht gern als Wächter. Aber natürlich ist die Sicherheit ein Problem, weil wir nicht genug ehrenamtliche Mitarbeiter haben. Im Übrigen würde ich auch gern zwei neue Flügel anbauen lassen, um zusätzliche Ausstellungsflächen zu gewinnen.“

„Und wo?“, fragte Moira ungläubig. „Für Flügel ist überhaupt kein Platz da.“

„Tja … eigentlich brauchen wir doch gar keinen Hof. Und auch keine Auffahrt.“ Gina beförderte eine schwarze Olivenscheibe an den Salatrand. „Übrigens möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich nicht um Geld bitte.“

„Gott sei Dank“, bemerkte Moira erleichtert.

„Aber wir werden beträchtliche Mittel beschaffen müssen, und ich hatte gehofft, Sie hätten Ideen, wie wir das bewerkstelligen könnten.“

„Und Sie rechnen mit der Unterstützung unserer Zeitung, wenn Sie mit der Kampagne loslegen, stimmt’s?“

„Das auch“, musste Gina zugeben. „Wenn der ‚Chronicle‘ für die Museumserweiterung wirbt, würde es sehr viel leichter werden, Mittel dafür aufzutreiben.“

Nachdenklich geworden, rührte Moira ihren Kaffee um. „Und ich dachte, Sie hätten mich nur zum Essen eingeladen, um mir einen Sitz im Direktorium anzubieten.“

Gina saß ganz still und wagte kaum zu atmen. Moira Garrett musste das Angebot von sich aus machen.

Als das Schweigen anhielt, spürte Gina erneut das merkwürdige Kribbeln im Nacken. Der Typ beobachtete sie immer noch, das spürte sie. Aber sie durfte sich nicht ablenken lassen. Irritiert fuhr sie sich über den Hals, als wollte sie ein lästiges Insekt verscheuchen.

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie musste sich einfach umdrehen. Wenn er sie weiter so ansah …

Doch der Hocker am Ende der Bar war leer und der Mann verschwunden. Also hatte ihr Gefühl sie getrogen.

Dummkopf! schalt Gina sich und wusste selbst nicht, warum sie enttäuscht war. Sie hatte doch gewollt, dass er verschwand. Gina schob den Rest ihres Salats beiseite, der ihr plötzlich zu viel wurde. Unauffällig sah sie sich im Restaurant um, während sie auf Moiras Antwort wartete. Ihr Blick fiel auf zwei Männer an einem Tisch in der Nähe.

Der Typ war doch noch da. Er hatte sich nur umgesetzt. Und natürlich musste er sich genau in dem Moment umdrehen und sie ansehen, als sie ihn entdeckt hatte. Nun konnte Gina sich nicht mehr beherrschen. „Der Mann dort drüben am dritten Tisch vor dem Kamin … wer ist das?“

Moira war sich da nicht sicher. „Dort sitzen zwei Männer. Welchen meinen Sie?“

„Den, der wie ein Adler aussieht.“

„Wie was?“

„Ach, Sie wissen schon, was ich meine“, erwiderte Gina ungeduldig. „Einer, der auf Beutesuche ist.“

Moira zog die Brauen hoch. „Treffender kann man’s kaum ausdrücken. Ich dachte, Sie kennen ihn. Er ist ein Cousin oder Neffe von Essie und heißt Dez Kerrigan.“

Natürlich kannte Gina den Namen. Essie hatte ebenso besessen Ahnen- wie Heimatforschung betrieben, so dass Gina von verschiedenen Verwandtenlinien der Kerrigans gehört hatte. Begegnet war sie Dez Kerrigan jedoch noch nie. Anscheinend besaß er keinen so ausgeprägten Familiensinn wie Essie. Oder er hatte seine Tante oder Cousine Essie nur selten besucht.

Da war doch etwas, das Essie über ihn gesagt hatte … aber es fiel Gina nicht ein. Irgendwie war es eine bissige Bemerkung gewesen, und das passte eigentlich nicht zu Essie. Was war es nur?

„Interessant“, bemerkte Moira leise. „Warum erkundigen Sie sich nach ihm?“

Idiotisch von mir, ausgerechnet eine Journalistin nach einem Mann zu fragen, der mich fasziniert, dachte Gina. „War nur so ‚ne Frage“, winkte sie locker ab. „Aber wieso finden Sie es interessant, dass Essies Neffe hier isst?“

„Nicht dass, sondern mit wem er es tut.“ Moira legte ihre Serviette nieder. „Entschuldigen Sie mich, Gina, aber ich muss in die Redaktion zurück.“

Betroffen hob Gina die Hand. „Ich verstehe natürlich, dass Sie sich nicht gleich festlegen wollen, aber …“

„Trotzdem würden Sie gern jetzt schon hören, wie ich dazu stehe. Also gut. Ich finde, Sie denken in viel zu kleinen Dimensionen.“

„Zu klein?“, wiederholte Gina verständnislos.

Moira nickte und holte eine Visitenkarte hervor, auf deren Rückseite sie etwas kritzelte. „Ich gebe am Sonntagabend eine Cocktailparty. Dort können Sie mögliche Geldgeber auf neutralem Boden treffen und unter die Lupe nehmen, ehe Sie sie offiziell um Spenden bitten. Hier ist meine Adresse. Und jetzt muss ich mich wirklich beeilen. Lesen Sie morgen früh auf jeden Fall die Zeitung, ja?“

Ehe Gina fragen konnte, was die nächste Ausgabe des „Lakemont Chronicle“ mit ihrem Museumsprojekt zu tun habe, war die Herausgeberin gegangen.

Gina stand meist früh auf, doch am nächsten Morgen erwachte sie schon vor Tagesanbruch und wartete auf den Zeitungsausträger, der mit seinem Wagen langsam die Straße entlangrollte und die gefalteten Exemplare auf die vorderen Veranden der Häuser warf.

Obwohl das einst exklusive Wohnviertel inzwischen von Gewerbe- und Industriezonen umgeben war, hatte Gina sich hier immer sicher gefühlt. Sie hatte schon in sehr viel schlimmeren Gegenden gewohnt. Doch sie verstand die Eltern, die ihren Kindern nicht erlaubten, die Morgenzeitung per Fahrrad auszutragen.

Aber warum wartete sie diesmal so ungeduldig auf die Zeitung? Hatte Moira Garretts Aufforderung sie so neugierig gemacht?

Sie brühte sich Pulverkaffee auf und setzte sich im Wohnzimmer ans Fenster, so dass sie den Eingang ihres braunen Backsteinreihenhauses im Auge behalten konnte. Früher hatte hier eine ganze Familie mit ihren Dienstboten gewohnt, doch inzwischen war es in mehrere Mieteinheiten aufgeteilt worden. In Ginas Apartment hatten sich einstmals die Schlafgemächer der Familie befunden.

Sie wohnte gern oben, obwohl es sie manchmal störte, alles mühsam die Treppe hinauftragen zu müssen. Und sie genoss das Gefühl der Großzügigkeit, das die hohen Decken eines alten Hauses vermittelten. Außerdem war ihr Apartment nicht weit von ihrem Arbeitsplatz entfernt. Das „Kerrigan Historical Museum“ lag nur drei Straßen weiter um die Ecke, so dass Gina keinen Wagen brauchte. Und das war gut so, denn es gab dort keinen Parkplatz, außer auf der Auffahrt des Museums – die bald einer neuen Galerie weichen würde, wenn alles wie erhofft verlief.

„Sie denken in viel zu kleinen Dimensionen“, hatte Moira Garrett gesagt. Die Herausgeberin hatte gut reden. Sie hatte die Möglichkeiten und Mittel des „Chronicle“ hinter sich.

Doch in einem musste Gina ihr Recht geben: Der lange, schmale Betonstreifen neben Essie Kerrigans Haus war nicht groß genug für die weitläufigen, lichten Galerien, die ihr vorschwebten. Wenn sie den rückwärtigen Teil des Baus jedoch ebenfalls versetzten, den größten Teil des Gartens überdachten …

Dennoch würden sie nicht genug Platz für Ausstellungsstücke wie die Fenster der St.-Francis-Kirche haben. Ich muss eben, so gut es geht, mit den Gegebenheiten auskommen, dachte Gina.

Natürlich würden sie die Frontfassade so belassen, wie Essies Großvater Desmond Kerrigan sie gebaut hatte – jedenfalls weit gehend. Es wäre ein Jammer, die breite, offene Veranda und den Eckturm zu zerstören. Wenn der Anbau an der Auffahrtseite so weit zurückgesetzt wurde, dass er die Vorderfront nicht erdrückte, müsste das Ganze trotzdem gut aussehen.

Desmond war nicht der erste Kerrigan in Lakemont gewesen, und der Verwaltungskreis war auch nicht nach ihm benannt worden. Doch er hatte als Erster aus der Familie das große Geld verdient. Als er sein Haus schließlich in der exklusivsten Gegend Lakemonts errichten konnte, hatte er nicht geknausert und solide und aufwendig gebaut. Dennoch hatten eineinhalb Jahrhunderte dem Haus und der Wohngegend im Lauf der Zeit arg zugesetzt. Rauch und Industrieabgase hatten die roten Backsteine geschwärzt, Hagelstürme Risse und brüchige Dachpfannen hinterlassen.

In ihren letzten Lebensjahren hatte Essie Kerrigan nicht mehr die Energie besessen, sich um diese Dinge zu kümmern. Daher gehörten Reparaturen zu den wichtigsten Aufgaben, die Gina zugefallen waren, als sie Essies Posten als Museumskuratorin übernommen hatte.

Und falls genug Geld für Reparaturen zusammenkommen sollte … warum nicht auch gleich anbauen?

Essie hatte eingesehen, dass das Museum erweitert werden musste, obwohl sie bei der Vorstellung geseufzt hatte, ihren geliebten alten Bau mit modernen Flügeln zu verunstalten. Jetzt fragte Gina sich, was Dez Kerrigan wohl von ihrem Plan halten würde.

Aber natürlich besaß er kein Mitspracherecht im Direktorium. Das Haus hatte Essie gehört, und in ihrem Testament hatte sie alles unmissverständlich festgelegt. Dennoch nahm Gina an, dass andere Familienmitglieder sich einschalten würden. Und der Mann, der vermutlich nach dem Erbauer des Hauses benannt worden war, hatte da sicher fest umrissene Vorstellungen.

Ob Dez Kerrigan gestern gewusst hat, wer ich bin? dachte Gina. Hatte er sie deshalb so angesehen … nicht als Frau, sondern als neue Kuratorin des Museums? Doch von ihren Anbauplänen konnte er noch gar nichts wissen. Darüber hatte sie nur mit Mitgliedern des Direktoriums und Moira Garrett gesprochen.

Was nur hatte Essie über ihn gesagt?

Auf der vorderen Veranda hörte Gina plötzlich ein dumpfes Geräusch – ihre Zeitung und die ihrer Mitbewohner. Gina eilte nach unten, um ihr Exemplar zu holen. Vorsichtig breitete sie es auf der alten Truhe aus, die ihr als Couchtisch diente, und blätterte die Zeitung durch. Dann gönnte sie sich einen zweiten Becher Kaffee und setzte sich, um die einzelnen Artikel genauer unter die Lupe zu nehmen.

Millionen-Dollar-Urteil in Zivilprozess … unwahrscheinlich, dass der Gewinner Geld für ein Heimatmuseum spendete. Stadtratsmitglied fordert Bürgermeister heraus … auch nichts Ungewöhnliches. Tyler-Royale beabsichtigt, Zentrumskaufhaus zu schließen – fünfhundert Arbeitsplätze gefährdet – Bekanntgabe heute erwartet … dieser Schlag für die Gemeinde würde es nicht leichter machen, Spenden für das Museum flüssig zu machen.

Nachdenklich betrachtete Gina ein Doppelfoto des Kaufhauses Tyler-Royale. Die erste Aufnahme zeigte eine Gruppe von Angestellten neben einer altmodischen Registrierkasse bei der Eröffnung des Warenhauses vor hundert Jahren, die zweite war ein Schnappschuss vom Vortag von Kunden vor dem Haupteingang.

„Sie denken in viel zu kleinen Dimensionen“, hatte Moira Garrett gesagt. Und dann: „Lesen Sie morgen früh auf jeden Fall die Zeitung.“

Hatte sie dabei an das Gebäude von Tyler-Royale als neuen Standort für das Heimatmuseum gedacht? Aber warum war die Herausgeberin nicht direkt mit der Sprache herausgerückt? Vielleicht, weil die Sache erst heute offiziell bekannt gegeben werden sollte.

Gina schloss die Augen und versuchte, sich das Kaufhaus vorzustellen. Ja, sie konnte sich die Räumlichkeiten sehr gut als Museum vorstellen. Die Abteilungen eigneten sich gut für Ausstellungsstücke, und der Innenhof des Baus versorgte die Räumlichkeiten in den einzelnen Geschossen großzügig mit natürlichem, aber indirektem Licht. Das Kaufhaus war so groß, dass dort auch alle derzeitig gelagerten Stücke ausgestellt werden könnten. Die bunten Glasfenster der St.-Francis-Kirche würden sogar problemlos eine eigene Galerie bekommen.

Außerdem befand der Bau sich mitten im Stadtzentrum – eine sehr viel vorteilhaftere Lage für ein Museum als Essie Kerrigans Haus. Gleich nebenan gab es sogar eine Parkrampe.

Und niemand bei klarem Verstand würde viel Geld für das Gebäude hinlegen. Wenn Tyler-Royale im Zentrum von Lakemont nicht Gewinn bringend arbeiten konnte, schaffte es keiner. Warum sollte Tyler-Royale es also nicht für eine gute Sache hergeben und so gleichzeitig einen Haufen Steuern sparen?

Und warum konnte diese gute Sache nicht die Historische Gesellschaft von Kerrigan County sein?

Laut Zeitungsmeldung wollte der Geschäftsführer von Tyler-Royale aus Chicago herüberkommen, um das Schicksal des Kaufhauses vormittags um zehn in einer Pressekonferenz bekannt zu geben. Da Gina nicht wusste, wie lange Ross Clayton in der Stadt bleiben würde, war es sicher am günstigsten, ihn bei der Pressekonferenz auf ihr Vorhaben anzusprechen. Dafür brauchte sie nur wenige Minuten.

Natürlich erwartete sie nicht, dass der Mann sofort zusagte. Ohne Rücksprache mit dem Vorstand konnte er eine solche Schenkung nicht einfach vornehmen.

Doch wenige Minuten mit dem Geschäftsführer von Tyler-Royale würden möglicherweise genügen, um das Projekt ins Rollen zu bringen.

Autor

Leigh Michaels
Leigh Michaels ist die Autorin von über 70 Romanen für Harlequin. Mehr als 27 Millionen Kopien ihrer Bücher sind weltweit gedruckt und in 20 Sprachen übersetzt worden. Fünf ihrer Bücher waren Finalisten bei den RITA® - Verleihungen. Sie hat den “Reviewers Choice award” für Family Secrets, den Robert Bliss Award...
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