Wer ist diese Frau?

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Bei Stones Anblick stockt Jenna der Atem. Erkennt er sie? Nach einem Unfall und vielen Operationen sieht sie der Frau, die ihn einst verlassen musste, kaum noch ähnlich. Verzweifelt sehnt sie sich nach ihm und dem Traum vom Familienglück. Ob sich ihre Wünsche erfüllen?


  • Erscheinungstag 07.10.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753450
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Er kam jedes Jahr – am gleichen Tag, zur gleichen Zeit. Und er fragte sich jedes Mal, ob Jenna es wohl wusste. Ließ die Vergangenheit auch sie nicht mehr los?

Unsinn, wenn es so wäre, hätte sie sich längst bei ihm gemeldet.

Stone Cameron ärgerte sich über sich selbst. Seit zehn Jahren kam er hierher. Und immer hatte er sich hinterher geschworen, dass es heute das letzte Mal sein würde!

Sein Blick fiel auf ein kleines zerzaustes Eichhörnchen, das ein paar Meter von ihm entfernt im Sand saß und erwartungsvoll zu ihm herüberschaute. Schwungvoll warf Stone eine Handvoll Studentenfutter vor die Nase des Tierchens, das sich sogleich gierig über das unerwartete Festmahl hermachte. Trotz seiner niedergeschlagenen Stimmung musste Stone lachen.

„Das kann doch nicht wahr sein …“

Er drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Es war eine leise Stimme, die im Tosen der Meeresbrandung beinahe unterging. Zuerst war Stone nicht einmal sicher, ob er sie wirklich gehört hatte, oder ob es nur eine Halluzination gewesen war. Doch die Frau, die nur wenige Schritte von ihm entfernt stand, war zweifellos echt.

Fassungslos starrte sie ihn an. Von den Stiefeln bis zu dem Wollmantel mit Kapuze, Hose und Handschuhen war sie ganz in Schwarz gekleidet.

Für einen Augenblick stockte Stone der Atem. Irgendetwas an der zierlichen Erscheinung war ihm seltsam vertraut. Sie erinnerte ihn an … Jenna! Dieser Gedanke versetzte ihm einen schmerzhaften Stich ins Herz. Sekundenlang hatte er geglaubt, sie sei zurückgekommen. Dabei war es vollkommen unmöglich. Jenna Loggins gab es nicht mehr. Sie hatte sich vor langer Zeit auf und davon gemacht. Und das war gut so.

Immer noch stand die Person reglos da und blickte in seine Richtung. Obwohl Stone von ihrem Gesicht nur die Nasenspitze erkennen konnte, sah er an ihrer Haltung, dass die Frau nicht besonders glücklich war.

Er erhob sich von dem Felsen, auf dem er gesessen hatte. Um Leute mit Problemen sollte man möglichst einen großen Bogen machen. Das hatte er in den vergangenen Jahren gelernt. Also nichts wie weg hier!

Doch irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Wankte sie etwa?

„Fehlt Ihnen etwas?“, fragte er notgedrungen und unfreundlicher, als es seine Absicht war. Aber hier an diesem Ort wollte er einfach nicht gestört werden.

Als hätte er sie bei etwas Verbotenem ertappt, legte die Frau rasch eine Hand vors Gesicht und schüttelte den Kopf. Trotz ihrer dunklen Sonnenbrille spürte Stone deutlich, dass sie ihn beobachtete, und erwiderte ihren Blick.

„Wollen Sie sich hinsetzen?“, fragte er und deutete auf den Felsen neben sich. Sie sah wirklich nicht gut aus. Ihr Teint wirkte so weiß und durchscheinend wie dünnes Porzellan, ein Eindruck, der durch die sorgfältig geschminkten roten Lippen noch verstärkt wurde.

Zögernd kam sie näher. Immer noch sagte sie kein Wort.

Allmählich wurde es Stone richtig mulmig zumute. Irgendwie rührte ihn diese Frau in seinem tiefsten Innern. Es lag nicht an ihrem Körper oder ihrem Gesicht, das sie offensichtlich zu verbergen suchte. Nein, Stone war sich ihrer Weiblichkeit auf eine Art und Weise bewusst, die er sich nicht erklären konnte.

„Ich … ich kann es nicht glauben“, flüsterte sie.

Also ging es ihr genauso wie ihm. Es war, als gäbe es eine geheime Verbindung zwischen ihnen.

„Sind Sie sicher, dass Ihnen nichts fehlt?“ In dem Augenblick, als Stone die Worte ausgesprochen hatte, bereute er sie bereits. Warum fragte er überhaupt? Was ging ihn diese Frau an?

„Sie … Sie kennen mich nicht“, stellte sie beinahe verblüfft fest. Der Wind hatte ihr die Kapuze vom Kopf geweht und das hellbraune Haar darunter entblößt. Es umspielte ihr schmales Gesicht in weichen Locken. Soweit er erkennen konnte, war es ein hübsches Gesicht, auch wenn die untere Hälfte immer noch von einem leichten schwarzen Seidenschal verdeckt war.

„Sollte ich Sie denn kennen? Leiden Sie zufällig an Gedächtnisschwund und wollen von mir Ihren Namen wissen?“, fragte er in der Hoffnung, die Spannung, die zwischen ihnen herrschte, ein wenig aufzulockern.

„Nein, ich leide nicht an Gedächtnisschwund. Aber …“ Sie hielt mitten im Satz inne, zog die Kapuze wieder in die Stirn, als bereute sie bereits, zu viel von sich enthüllt zu haben, und ließ sich neben Stone auf dem Felsen nieder. „Sie können mich nicht kennen. Ich bin vollkommen fremd hier.“

„Das lässt sich leicht ändern. Ich bin Stone Cameron. Und Sie?“

„Ich heiße …“ Die Frau zögerte und sah ihn an, als wartete sie darauf, dass er ihren Namen aussprach. Doch dann setzte sie erneut an: „Ich heiße Cindy … Cindy Beatty.“

Das war eindeutig eine Lüge. Und von Frauen, die logen, hatte er ein für alle Mal die Nase voll. Er stand abrupt auf und wandte sich zur Treppe, die vom Strand zum Parkplatz führte, wo sein Wagen stand.

„Sie gehen schon?“, fragte die Frau, und es klang so etwas wie Bedauern in ihrer Stimme mit.

„Ja. Guten Tag“, verabschiedete sich Stone. Trotz ihrer offensichtlichen Lüge gab es ja keinen Grund, unhöflich zu sein. Sein plötzlicher Aufbruch war sowieso eine Überreaktion. Aber er konnte nichts dafür.

Heute war eben alles anders als sonst.

Sie hatte gelogen, und dafür hasste sie sich. Sie fühlte sich mit einem Mal in die Vergangenheit zurückversetzt. Sehnsüchtig schaute sie Stone hinterher. Er war schon damals der aufrichtigste und gerechteste Mensch gewesen, der ihr jemals begegnet war. Offenbar hatte sich nichts daran geändert. Es war klar, dass gemerkt hatte, dass sie die Unwahrheit gesagt hatte.

Jenna konnte den Blick nicht von dem großen, breitschultrigen Mann abwenden. Äußerlich hatte er sich kaum verändert. Nun, er war vielleicht nicht mehr so schlaksig wie vor zehn Jahren. Auch der Ausdruck seiner Augen war abgeklärter, und die Lachfalten um die Mundpartie hatten sich vertieft. Doch die Sinnlichkeit, die er ausstrahlte und die sie damals schon fasziniert hatte, war so gegenwärtig, dass sie erschauerte.

Wieso nur hatte sie sich ihm als Cindy Beatty vorgestellt? Sie war doch zurückgekommen, um für ihre Fehler von einst um Verzeihung zu bitten. Und nun verdarb sie alles, indem sie Stone gleich wieder eine Lüge auftischte! Möglicherweise war das, was die junge Jenna getan hatte, verzeihlich, aber dass die erwachsene Jenna nicht den Mut gehabt hatte, ihm die Wahrheit zu sagen …

„Ich bin Jenna“, hätte sie sagen sollen. „Ich hatte einen Autounfall, bei dem ich beinahe ums Leben gekommen wäre. Und du erkennst mich nur deshalb nicht wieder, weil mein Gesicht durch die vielen Operationen völlig verändert ist. Ich bin heute, an meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag, zurückgekehrt, um das neue Leben zu beginnen, das mir geschenkt wurde. Aber dazu brauche ich deine Vergebung und deine Einwilligung, dass meine Tochter ein Teil dieses Lebens werden darf.“

Jenna hatte sich alles viel leichter vorgestellt. Doch jetzt, während sie auf diesem Felsen saß, der ihnen beiden einst Zuflucht gewährt hatte, konnte sie an nichts anderes denken, als daran, wie sie sich leidenschaftlich geliebt hatten, sich gegenseitig Mut und Kraft spendeten und alles um sich herum vergessen hatten …

Sie musste völlig verrückt sein. Sie hatte wahrhaftig andere Sorgen, als von der Vergangenheit zu träumen!

Oder hatte Stone sie vielleicht erkannt? Hatte er deshalb so überstürzt den Rückzug angetreten? Nachdenklich schaute sie in die Richtung, in die er verschwunden war. Durch einen Privatdetektiv hatte sie einiges über Stone erfahren: wo er lebte, welches Auto er fuhr, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente, dass er mit seiner Tochter – ihrer Tochter – allein lebte. Aber das war nicht genug. Jenna wollte mehr. Sie konnte es kaum erwarten, ihr Kind zu sehen!

Um das zu erreichen, musste Stone ihr allerdings erst einmal verzeihen. Stone … Ja, sie brauchte auch Stone, sie fühlte sich immer noch zu ihm hingezogen. Aber diese Chance hatte sie vor zehn Jahren vertan, als sie ohne ein Wort des Abschieds weggelaufen war.

Jenna seufzte. Er hatte sie vorhin ja nicht einmal richtig zur Kenntnis genommen!

Allerdings war das nicht weiter verwunderlich. Jenna war wirklich nicht wieder zu erkennen. Abgesehen von dem völlig veränderten Gesicht, war auch das früher helle Haar dunkler nachgewachsen, und die ein wenig heisere Stimme, die auf eine Kehlkopfverletzung zurückzuführen war, wirkte jetzt ausgesprochen sexy.

Aber letztendlich spielte es überhaupt keine Rolle, wie sie aussah. Entscheidend war nur, dass sie ihre kleine Heimatstadt an der kalifornischen Küste und die Menschen, denen Jenna etwas bedeutet hatte, einfach im Stich gelassen hatte.

„Es wird schon alles gut gehen“, flüsterte sie, während ihr heiße Tränen die Wangen hinunterliefen. Stone war zwar ein Ausbund an Kraft und Willensstärke, aber er hatte ein weiches Herz. Und er war großmütig. Vielleicht würde er deshalb auch einen Fehler verzeihen, den ein anderer ehrlich bereute.

Am späten Nachmittag schlug Stone den Kalender auf und starrte auf das Datum. Jenna würde heute siebenundzwanzig Jahre alt werden …

Zehn Jahre war es her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Wie schon so oft, versuchte er sich vorzustellen, was sie wohl gerade machte. Mit Sicherheit lebte sie nicht in einer Kleinstadt wie San Paso Bay. Jenna fühlte sich damals hier immer eingeengt. Sie hatte stets die verrücktesten Ideen gehabt, Ideen, für die die hiesigen Bürger nur wenig Verständnis aufgebracht hatten. Möglicherweise bestieg sie gerade den Mount Everest oder übte sich im Bungeejumping von der Golden Gate Bridge.

Ärgerlich schob Stone den Kalender zur Seite. Es war immer dasselbe: Jedes Jahr an Jennas Geburtstag stieg eine unbändige Wut in ihm auf, und er hatte das Gefühl, jemand hätte ihm in den Magen geboxt. An allen anderen Tagen war er sehr wohl in der Lage, seine Vergangenheit zu bewältigen – nur an ihrem Geburtstag …

Und doch konnte ihn das nicht davon abhalten, jedes Jahr wieder an den Strand zu gehen – an ihren Strand. Jedes Jahr setzte er sich auf ihren Felsen und erinnerte sich an diesen einen Tag, den er niemals würde vergessen können.

Verdammt! Warum hörte er nicht endlich auf, sich selbst zu quälen?

Er war einfach nicht mehr er selbst. Wenn er nur an heute Morgen dachte … Wie hatte er auf diese geheimnisvolle Frau reagiert, die sich Cindy Beatty nannte? Es war geradezu lächerlich gewesen! Und jetzt, Stunden später, dachte er immer noch an sie.

Stone atmete tief durch und schaute sich in seiner Werkstatt um. Die vertraute Umgebung machte ihn sofort ruhiger, und nach einer Weile fand er seine Gelassenheit wieder. Der Anblick der Holzspielzeuge, die er seit Jahren für überdurchschnittlich begabte Kinder herstellte, erfüllte ihn mit Stolz und Zufriedenheit. Er liebte diese Arbeit, auch wenn viele seiner Freunde nicht verstanden, warum er dafür auf eine Karriere als Architekt verzichtete hatte. Aber Stone liebte nicht nur seinen Beruf, sondern auch …

Sara. Seine kleine Tochter, die gerade mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen in die Werkstatt stürzte. Ja, er liebte Sara!

„Hast du sie bekommen, Daddy?“ Sie hüpfte wie ein Pingpong-Ball auf und ab. „Hast du? Hast du?“ Ihre Stimme überschlug sich förmlich.

„Was soll ich haben?“ Er grinste.

„Daddy!“

Da gab er ihr lächelnd einen Umschlag mit frisch entwickelten Fotos.

„Cool!“ Die Zehnjährige konnte es kaum erwarten, die Bilder auszupacken. Beim Betrachten verzog sie manchmal das Gesicht, dann wiederum kicherte sie vor Begeisterung. „Schau sie dir an! Ich werde immer besser!“

Stone bewunderte die Arbeiten seiner Tochter und nickte zustimmend. Wenn auch einige Fotos ein wenig verwackelt waren oder gelegentlich ein Teil des Zeigefingers vor der Linse erschien, so war es doch ganz allein Saras Werk. „Tatsächlich“, entgegnete er ernst und wandte sich wieder seiner Hobelbank zu. „Wieso hattest du es denn vorhin so eilig mit den Fotos?“

„Ich brauche sie für mein Album, hast du das denn ganz vergessen?“ Bei Saras vorwurfsvollem Tonfall blickte er in ihre Richtung. „Ich möchte, dass das Album voll ist, wenn Mommy zu uns zurückkommt.“

„Liebling …“ Wieder stieg Zorn in ihm hoch, sodass ihm das Reden schwerfiel. „Sara …“

„Sie hat heute Geburtstag“, wurde er unterbrochen.

„Ja, ich weiß“, entgegnete er gequält.

„Ich habe nicht vergessen, was du mir erzählt hast“, flüsterte sie. „Ich weiß, dass du glaubst, sie wird nie mehr zurückkommen.“

„Es tut mir so leid, Sara …“

„Ich weiß auch, dass du nicht möchtest, dass ich an sie denke. Aber ich kann nicht anders. Ich wünsche mir so sehr, dass sie wiederkommt.“

„Oh Baby.“ Stone nahm seine Tochter zärtlich in die Arme. „Warum hast du mir das nie gesagt?“

„Weil ich weiß, dass es dir wehtut“, erwiderte sie leise mit Tränen in den Augen. „Und ich will dir doch nicht wehtun.“

Zu Stones Erleichterung hatte Sara ihre Mutter lange Zeit nicht erwähnt. Es fiel ihm auch nach zehn Jahren noch schwer, über Jenna zu reden, und er hatte gehofft, Sara würde sie nach und nach vergessen. Wie hatte er nur so blind sein können? Dieses Kind hatte seinen eigenen Kummer für sich behalten, um ihn nicht zu verletzen!

Stone legte ihr die Hand unters Kinn und küsste sie zärtlich auf die Nasenspitze. „Sara, du musst mir eines versprechen: Du darfst deine Sorgen nie mehr allein mit dir herumschleppen, auch wenn du glaubst, dass du mir damit eventuell wehtust.“

Unglücklich sah sie ihn an. „Und warum reden wir dann nie über sie?“

Wie sollte er ihr das erklären? Wie sollte er ihr verständlich machen, dass Jenna gleich nach Saras Geburt weggelaufen war? Sicher, Jenna war damals mit ihren siebzehn Jahren selbst noch ein halbes Kind und ihr Leben ein einziges Chaos gewesen. Die neue Rolle als Mutter hatte sie völlig überfordert.

Aber war es ihm anders ergangen? Mit zwanzig Jahren die Verantwortung für einen Säugling zu übernehmen, den Pflichten eines alleinerziehenden Vaters nachzukommen, war auch nicht gerade ein Zuckerschlecken gewesen. Trotzdem wollte Stone Jenna vor ihrer Tochter nicht bloßstellen. Da Sara ein Recht darauf hatte zu erfahren, was sich damals abgespielt hatte, musste er jedoch äußerst behutsam vorgehen.

„Warum ist sie fortgegangen, bevor ich aus dem Krankenhaus kam?“

„Sie konnte nicht anders.“ Es fiel ihm schwer, die Frau zu verteidigen, die beinahe sein Leben zerstört hatte. Doch er wollte nicht, dass seine Tochter schlecht über Jenna dachte. „Es blieb ihr keine andere Wahl. Sie hatte einfach das Gefühl, dass niemand sie liebte. Deshalb ist sie weggelaufen.“

Riesengroße Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Jennas Augen. Sie waren von einem strahlenderen Blau als seine eigenen und von langen, dunklen Wimpern umrahmt. „Ich würde sie sehr lieb haben“, sagte sie feierlich.

Stone brachte kein Wort heraus, sondern drückte nur fest ihre Hand. Nach einer Weile hatte er sich wieder etwas im Griff. „Es gab da jemanden, der deiner Mutter sehr weh getan hat. Damals ist etwas geschehen, was sie so unglücklich gemacht hat, dass sie keinen anderen Ausweg wusste.“ Das war tatsächlich die Wahrheit. Die Menschen, von denen sie Liebe und Verständnis erhofft hatte, hatten sie verraten. Aber warum ist sie nicht zu mir gekommen? fragte er sich immer wieder.

„Aber sie hatte doch dich“, sagte Sara prompt.

„Ja, das stimmt. Nur war ich auch noch sehr jung.“

„Trotzdem hast du dich um mich gekümmert. Obwohl deine Eltern böse auf dich waren und dir kein Geld mehr gegeben haben. Du musstest meinetwegen sogar auf ein anderes College gehen.“

„Du hast recht“, entgegnete Stone und streichelte ihr übers Haar. Seine Eltern hatten ihn sogar enterbt, als er bekannt gab, dass er die Absicht hatte, sich um sein Kind zu kümmern. „Aber es hat mir nichts ausgemacht. Ich war glücklich, dich bei mir zu haben.“

Tatsächlich konnte Stone sehr gut ohne seine Familie auskommen. Wenn seine Eltern und sein Bruder Richard nichts mit ihm zu tun haben wollten, konnte er es nicht ändern. Aber um Sara machte er sich Sorgen. In letzter Zeit dachte er immer öfter daran, was aus ihr werden würde, wenn ihm etwas zustieße. Sie hatte keinen Menschen – außer ihm. Diese Vorstellung wurde allmählich zum Albtraum für ihn.

„Es wäre schön, Verwandte zu haben“, sagte Sara so beiläufig wie möglich. Doch Stone wusste genau, dass ihre Worte nicht nur so dahergesagt waren. Sie dachte wahrscheinlich sehr oft an ihre Großeltern und an ihren Onkel – Menschen, die sie niemals kennengelernt hatte.

„Sie verstehen das alles nicht, Sara, und sind unglaublich stur. Solche Leute werden niemals über ihren eigenen Schatten springen. Aber ich werde dich immer lieben. Reicht das nicht?“

„Natürlich.“ Sie lächelte Stone zärtlich an, wurde dann aber wieder nachdenklich. „Ist Mommy jemals zurückgekommen?“

„Dann hätte ich es dir erzählt. Das habe ich dir doch versprochen.“ Dass er im Laufe der Jahre ein kleines Vermögen ausgegeben hatte, um Jenna aufzustöbern, erwähnte er jedoch nicht. „Ich fürchte, sie wird nicht mehr zu uns zurückkommen“, meinte er, weil er keine falschen Hoffnungen in Sara wecken wollte.

„Sie kommt zu uns zurück“, flüsterte sie und schaute auf das Fotoalbum, in dem nur noch wenige Seiten frei waren. „Ich weiß es ganz genau.“

Wortlos drückte Stone seine Tochter an sich.

Jenna saß auf der Tribüne in der Sporthalle und verfolgte mit größtem Interesse ein Basketballspiel. Ein zierliches Mädchen mit dunklen Locken hatte es ihr besonders angetan. Instinktiv spürte sie, dass es Sara sein musste – ihre Tochter, die sie zuletzt als Säugling gesehen hatte.

Jenna rutschte ungeduldig auf ihrem Platz hin und her. Sie wusste ja nicht einmal, ob ihre Tochter tatsächlich Sara hieß. Jenna hatte sich damals diesen Namen so sehr gewünscht, und sie insgeheim immer so genannt.

Die kleine Dunkelhaarige war offensichtlich mit ganzem Herzen bei der Sache. Gekonnt drippelte sie mit dem großen Ball durch die Halle, die Zungenspitze zwischen den Zähnen. Dann warf sie auf den Korb – und brachte ihre Mannschaft zum wiederholten Mal in Führung.

„Sara! Sara!“, feuerte eine kleine Gruppe von Leuten das Mädchen begeistert an.

Sie hieß also tatsächlich Sara! Stone hatte sein Versprechen gehalten.

Mit ihrem langen dunklen Haar, den strahlend blauen Augen und dem ansteckenden Lachen wirkte sie wie eine Miniaturausgabe ihres Vaters. Jennas Herz machte einen Satz. Ach, was würde sie darum geben, wenn sie dieses wundervolle Kind einfach in die Arme schließen könnte.

„Das ist dein Ball, Sara! Los, lauf, lauf!“ Diese ihr so unendlich vertraute Stimme riss Jenna aus ihren Gedanken. Stone stand am Spielfeldrand, die Hände wie einen Trichter an den Mund gelegt, und gab der Mannschaft Anweisungen. Er sah immer noch verflixt gut aus. Als Jenna ihn gestern am Strand getroffen hatte, war sie nicht auf die körperliche Anziehungskraft vorbereitet gewesen, die er immer noch auf sie ausübte.

Stone war ständig in Bewegung. Er dirigierte sein Team mit Händen und Füßen und war voller Begeisterung bei der Sache. Das gab Jenna Gelegenheit, ihn ungestört zu beobachten. Seinem athletischen Körperbau nach zu urteilen, musste er viel Sport getrieben haben. Seine Schultern waren so breit, als wären sie dafür gemacht, Lasten zu tragen, die andere Leute ihm aufgebürdet hatten – oder sich an sie zu schmiegen! Er wirkte nicht nur sehr vertrauenswürdig, sondern hatte gleichzeitig etwas Unbezähmbares an sich, was ihn außerdem unglaublich sexy machte.

Schließlich war das Spiel der beiden Parallelklassen um die Schulmeisterschaft zu Ende. Eltern und Geschwister, die die Ereignisse auf dem Spielfeld angespannt verfolgt hatten, atmeten auf. Freude und Stolz überwältigten Jenna geradezu. Ihre Tochter!

Die Mädchen jubelten und umringten strahlend ihren Trainer. Jede wollte ihn umarmen, und er ließ es lachend geschehen.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als Stones Lächeln Jenna beinahe um den Verstand gebracht hatte. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sich daran nicht das Geringste geändert hatte.

Aber sie hatte es sich verscherzt. Sie hatte kein Anrecht mehr auf seine Zuneigung. Was konnte sie jetzt noch erwarten? Wie würde er reagieren, wenn sie nach so langer Zeit wieder auf der Bildfläche erschien?

Plötzlich tauchten die unerfreulichen Bilder der Vergangenheit wieder vor ihr auf.

Ihr Vater hatte die Familie verlassen. Das Leben mit einer nörgelnden Mutter, der sie es nie recht machen konnte, war so unerträglich, dass Jenna sich bald schon keine Mühe mehr gab. Stattdessen machte sie die größten Dummheiten. Sie rebellierte und spielte die Rolle des bösen Mädchens. Erschwert wurde die ganze Situation durch ihre große Schwester Kristen, die ihr ständig als leuchtendes Vorbild vor die Nase gehalten wurde.

An dem Tag, als Stone Cameron in ihr Leben trat, lag alles um Jenna herum in Schutt und Asche. Stone war schon immer der Liebling aller Mädchen in der Stadt gewesen. Er war wahrscheinlich der begehrteste Junge der ganzen Schule. Seine Eltern besaßen eine tolle Villa in der teuersten Wohngegend. Jenna konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein schöneres Haus gesehen zu haben. Und er hatte es gut, denn seine Eltern und sein Bruder liebten ihn.

Sein Leben war geradezu perfekt.

Allein deshalb hasste Jenna ihn.

Als sie sich eines Tages verzweifelt auf ihren Lieblingsbaum am Strand verkrochen hatte, in dessen Geäst sie schon so oft Zuflucht gefunden hatte, entdeckte Stone sie. Ohne zu zögern, kletterte er zu ihr hinauf und setzte sich neben sie. Da Jenna wegen eines erbitterten Streits mit ihrer Mutter ziemlich am Ende war, wollte sie allein sein. Sie versuchte Stone hinunterzuschubsen. Doch ihre Bemühungen waren vergebens, und zu guter Letzt war es diesem jungen Mann, den alle Mädchen umschwärmten, gelungen, ihr Herz zu gewinnen.

Seine offensichtliche Zuneigung zu ihr und seine Sorge um sie waren eine ganz neue Erfahrung. Endlich hatte Jenna jemanden gefunden, dem sie sich anvertrauen konnte. Doch dann geschah das Schreckliche, das endgültig ihr Leben zerstörte.

Der Liebhaber ihrer Mutter, ein verheirateter Mann von hohem Ansehen in der kleinen Stadt, machte sich an Jenna heran. Anstatt ihrer Tochter in dieser Situation beizustehen, sie zu trösten, glaubte sie ihrem Freund, der nicht nur behauptete, Jenna habe ihn verführen wollen, sondern die Angelegenheit auch noch an die große Glocke hängte. Das gab Jenna den Rest.

Stone war der Einzige gewesen, der ihr geglaubt hatte. Aber seine Liebe und sein Vertrauen hatten nicht ausgereicht, Jennas Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken.

Die schrecklichen Erinnerungen hatten sie immer wieder eingeholt.

Sie schaute zum Spielfeld hinunter und bemerkte erst jetzt, dass er sie beobachtete. Sie hatte den Menschen, der ihr das Liebste auf der Welt gewesen war, mit Füßen getreten. Wenn sie sich ihm jetzt zu erkennen gab, konnte er gar nicht anders, als sich von ihr abwenden. Oder hatte er sie vielleicht schon wieder erkannt?

Mit einem Mal hoffte Jenna es beinahe. Doch sie konnte nicht davon ausgehen, dass ihr der Zufall half, sondern musste die Sache selbst in die Hand nehmen. Wenn sie tatsächlich wollte, dass Stone die Wahrheit erfuhr, dann blieb ihr nichts anderes übrig, als sie ihm zu erzählen.

Allerdings war es vielleicht keine gute Idee, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Wenn sie sich sofort zu erkennen gab, würde er sie unter Umständen abweisen. Als Jenna Loggins hatte sie in dieser Stadt, in der sie niemals willkommen gewesen war, kaum eine Chance. Als Cindy Beatty hingegen, die niemand kannte, eröffneten sich ihr ganz andere Möglichkeiten.

Jenna hielt Stones intensivem Blick stand. Sie hatte sich damals zu ihm hingezogen gefühlt, und daran hatte sich nichts geändert. Es war nur seltsam, dass er offenbar Ähnliches empfand. Denn im Gegensatz zu ihr hatte er nicht die geringste Ahnung, wer sie war.

Er betrachtete sie nachdenklich. Sein sinnlicher Mund, der so wunderbar lächeln konnte, blieb ernst. Jenna wurde von Panik ergriffen. Was geschah da mit ihr? Sie war schließlich nicht mehr siebzehn. Nein, du bist siebenundzwanzig, schalt sie sich selbst. Und du bist zurückgekommen, um deine Fehler wieder gutzumachen. Fang endlich damit an. Und zwar sofort!

Sara sagte etwas zu Stone, und er nickte, allerdings ohne den Blickkontakt zu Jenna zu unterbrechen. Auch Sara hatte es gemerkt. So kam es, dass Jenna sich mit einem Mal von zwei blauen Augenpaaren beobachtet fühlte. Sie bemühte sich um ein Lächeln, spürte aber selbst, dass es ziemlich verkrampft ausfiel.

Sag es ihnen, befahl sie sich selbst. Geh runter und sag es ihnen. Sie haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Wie von einer inneren Antriebskraft geschoben, stieg Jenna die Treppe zum Spielfeld hinab.

„Hi“, grüßte Stone, und sein warmer Bariton ließ ihr genau wie früher einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen. Jahrelang hatte sie von dieser Stimme geträumt. Erinnerungen wurden wach und trieben ihr die Röte in die Wangen. Seine Liebe, seine Berührungen waren genauso zärtlich und erregend gewesen wie diese Stimme. Ein Glück, dass er von diesen erotischen Gedanken keine Ahnung hatte.

„Hi“, erwiderte Jenna, nachdem sie sich geräuspert hatte.

„Sie sind doch Cindy, nicht wahr?“

Er erinnerte sich tatsächlich an den Namen – an diesen schrecklichen Namen, den sie sich am Strand einfach ausgedacht hatte. Lächerlich! Und doch war ihr eher nach Weinen zumute.

Sag ihm die Wahrheit, meldete sich wieder diese innere Stimme.

„Ja“, murmelte Jenna und besiegelte ihr Schicksal mit einer weiteren Lüge. „Ich bin Cindy.“

2. KAPITEL

Feigling, schalt sich Jenna wütend, aber da war es schon zu spät.

„Gut, dass ich Sie treffe“, sagte Stone freundlich. Seine Stimme hatte Jenna schon immer an Samt erinnert, und jetzt zehrte der vertraute Klang an ihren Nerven. „Ich möchte mich im Nachhinein für mein Benehmen …“

Autor

Jill Shalvis
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