Zwei einsame Herzen in Irland

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Als Anne ein abgelegenes Cottage in Irland mietet, um ihre Furcht vor der Einsamkeit zu besiegen, staunt sie nicht schlecht: Der Besitzer ist Aidan Gillespie, ein echter Lord! Allerdings hält der attraktive Adlige sie für eine Hausbesetzerin und will sie hinauswerfen …


  • Erscheinungstag 27.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737979
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Und zum Schluss noch ein Blick aufs Wetter: Tief Helena fegt mit heftigen Sturmböen und starken Regenfällen über die Grafschaften Galway und Clare hinweg. Allen Autofahrern wird geraten, ihren Wagen möglichst stehen zu lassen oder zumindest auf größere Fahrten zu verzichten. Aufgrund der zu erwartenden Niederschlagsmengen ist mit Überflutungen von Straßen und Wegen zu rechnen. Die …“

Anne bedachte das Autoradio mit einem wütenden Blick, ehe sie es abschaltete. In was für einen Schlamassel war sie da bloß hineingeraten?

Sie beugte sich über das Lenkrad und wischte mit dem Handrücken die leicht beschlagene Windschutzscheibe so gut es ging frei. Nicht dass das besonders viel brachte. Draußen goss es in Strömen. Die Scheinwerfer ihres Mietwagens schafften es kaum, mehr als ein paar Meter aus der brodelnden Dunkelheit zu reißen.

Seit gut einer halben Stunde ging das nun schon so. Und entgegen ihrer Hoffnung war es nicht besser, sondern im Gegenteil sogar noch um einiges schlimmer geworden.

Sie unterdrückte ein frustriertes Aufstöhnen. Die Wirtin der Pension, in der sie für eine Nacht untergekommen war, hatte sie ja gewarnt. Doch Anne hatte noch nie zu den Menschen gehört, die wohlmeinenden Ratschlägen gegenüber besonders aufgeschlossen waren.

Zu ihrer Verteidigung ließ sich nur sagen, dass bei ihrem Aufbruch in Galway noch schönstes Frühherbstwetter geherrscht hatte. Es war mild, ja fast warm gewesen. Und hinter den Grenzen der Stadt hatte sie zum ersten Mal einen Blick auf das echte Irland werfen können.

Das Irland, das man auf kitschigen Postkarten und in Reiseführern zu sehen bekam. Die grüne Insel mit weiten Wiesen, auf denen Schafe und Kühe grasten. Malerische Dörfer und winzige Cottages, die sich in die leicht hügelige Landschaft schmiegten.

Ein herrliches Fleckchen Erde – objektiv betrachtet. Doch je weiter Anne nach Westen gelangte, umso einsamer wurde es. Und sie hatte mehr und mehr das Gefühl gehabt, sich in ihrem ganz persönlichen Albtraum zu befinden.

Denn wenn es eines in ihrem Leben gab, das ihr wirklich Angst bereitete, dann war es die Einsamkeit. Das war schon seit Kindheitstagen so. Genauer gesagt seit …

Sie schüttelte den Gedanken daran ab und konzentrierte sich weiter auf die Fahrbahn vor ihr. Mittlerweile regnete es so heftig, dass die Scheibenwischer die Wassermassen, die aus den Wolken herabstürzten, kaum mehr bewältigen konnten. Ich hätte die Autovermietung lieber um ein Motorboot bitten sollen, dachte sie in einem Anflug von Galgenhumor.

Ein Blitz zuckte vom Himmel herab und tauchte die Landschaft für einen winzigen Augenblick in grelles Licht. Kurz darauf folgte ein grollender Donner, der es Anne kalt den Rücken hinunterrieseln ließ.

Wenn sie doch nur endlich diese verflixte Abzweigung finden würde!

Weit konnte die Hütte, die sie von Bristol aus angemietet hatte, nicht mehr entfernt sein. Der E-Mail zufolge, der auch eine Wegbeschreibung beigefügt gewesen war, befand sich ihre Unterkunft für die kommenden vier Wochen nur etwas mehr als zwanzig Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt. Anne seufzte. Sie musste sich also ganz in der Nähe befinden. Oder war sie am Ende vielleicht schon daran vorbeigefahren?

Sie atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Es brachte überhaupt nichts, jetzt in Panik auszubrechen. Es war wichtig, dass sie gelassen und besonnen blieb, so schwer es ihr auch fallen mochte.

Sicherheitshalber verringerte sie ihr Tempo noch weiter, als der Regen immer stärker wurde. Trotzdem drohte der Wagen auf der nassen Fahrbahn mehrmals ins Schlingern zu geraten. Der heftige Wind, der von Westen her über das Land fegte, machte es ihr nicht leichter, die Kontrolle zu bewahren.

Ihr stockte der Atem, als eine erneute Böe sie von der Straße zu schieben drohte. Hastig lenkte sie gegen und trat gleichzeitig auf die Bremse. Einen Moment lang schlitterten die Reifen über den Asphalt. Dann kam der Wagen unmittelbar neben dem Straßengraben zum Stehen.

Anne gönnte sich ein paar Sekunden, um durchzuatmen. Ihr war ganz schwindelig vor Erleichterung. Nicht auszudenken, wenn sie bei diesem Sturm auch noch einen Unfall gebaut hätte!

Bei meinem Glück wäre das nicht mal besonders verwunderlich …

Sie wartete, bis ihr rasender Puls sich ein wenig beruhigt hatte, ehe sie das Auto zurück auf die Fahrbahn lenkte. Dabei fiel ihr bei kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit im schwachen Licht der Scheinwerfer ein schmaler Weg auf, der nach links von der Straße abzweigte und in einen dichten Wald hineinführte.

War das etwa …?

Sie knipste die Innenraumbeleuchtung an und nahm noch einmal den Ausdruck der Anfahrtsskizze zur Hand, der neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Das Navi ihres Mietwagens war hier draußen nutzlos, denn kleine Privatwege waren dort gar nicht verzeichnet. Aber es sah tatsächlich ganz so aus, als wäre dies der Weg, der zu ihrer Hütte führte. Sollte sie tatsächlich einmal Glück im Unglück haben?

Untypisch – aber wie heißt es so schön? Ausnahmen bestätigen die Regel.

Der Wagen rumpelte über den unebenen Boden. Rechts und links reichte der Wald bis dicht an den Weg heran, und die Kronen der Bäume schirmten den Regen ein wenig ab. Trotzdem fühlte Anne sich keineswegs besser. Ganz im Gegenteil sogar. Jetzt wurde ihr vielleicht zum ersten Mal wirklich klar, worauf sie sich eingelassen hatte. Hier draußen gab es nichts. Nur Bäume, Bäume und noch mehr Bäume. Und dahinter erstreckten sich meilenweit Wiesen und Felder. Sonst – nichts.

Absolut gar nichts.

Ihr Herz fing an wie verrückt zu hämmern, und ihr brach der kalte Schweiß aus. Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Es fühlte sich an, als würde ihr ein Felsbrocken auf der Brust liegen.

Endlich öffnete sich der Wald zu einer Lichtung hin, auf der auch die Hütte stand, die sie gemietet hatte. Es handelte sich um ein einfaches einstöckiges Holzhaus mit einer schmalen Veranda. Hinter den kleinen Fenstern war es dunkel. Natürlich. Trotzdem wirkte das Gebäude – oder das, was sie durch den Regenschleier davon sehen konnte – wenig einladend, beinahe schon abweisend.

Das redest du dir nur ein, Anne. Mit der Hütte ist alles in bester Ordnung. Du kannst einfach nur nicht damit umgehen, so vom Rest der Zivilisation abgeschnitten zu sein, das ist alles.

Sie stellte den Wagen neben der Hütte ab und atmete noch einmal tief durch, ehe sie die Fahrertür öffnete. Von ihrem Parkplatz bis zur Veranda waren es nur ein paar Schritte. Dennoch war sie bis auf die Haut durchnässt, als sie ihre Reisetasche aus dem Kofferraum geholt und das Gebäude erreicht hatte.

Den Schlüssel zur Hütte hatte sie, wie in der E-Mail des Vermieters angekündigt, unter einem Blumenkübel versteckt vorgefunden. Wobei ohnehin zu bezweifeln war, dass hier jemand einbrechen würde. Dazu musste man diese abgelegene Hütte erst mal finden!

Das Schloss klemmte ein bisschen, als sie versuchte, die Tür zu öffnen. Anne musste sich mit der Schulter dagegenstemmen, um sie aufzustoßen. Dunkelheit umfing sie. Erneut holte sie tief Luft. Der Vermieter hatte ihr erklärt, dass die Hütte nicht ans Elektrizitätsnetz angeschlossen war. Sie verfügte stattdessen über einen Generator, der sich in einem Schuppen auf der Rückseite befand. Und neben der Tür sollte eine Taschenlampe liegen.

Anne kniete sich hin und tastete den Boden ab. Ein triumphierendes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als ihre Finger eine Röhre aus Metall ertasteten. Kurz darauf erhellte ein Lichtkegel die Dunkelheit.

Im Grunde bestand die Hütte nur aus einem großen Raum, in dem sich sowohl der Wohn- als auch der Schlafbereich befanden. Außer der Eingangstür gab es nur noch eine einzige weitere, die offen stand und den Blick auf ein winziges Badezimmer freigab.

Es war der Kamin auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, der Annes Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie verspürte kein gesteigertes Verlangen danach, sich durch das Unwetter bis zum Generator durchzuschlagen. Ein prasselndes Feuer war da doch eine durchaus verlockende Alternative.

Vor dem Kamin lagen ein Stapel mit Holzscheiten und eine Schachtel Streichhölzer. Anne durchquerte die Hütte und schichtete das Holz auf der Feuerstelle zu einem kleinen Turm auf, stopfte etwas Zeitungspapier dazwischen und riss dann eines der Streichhölzer an. Als kurz darauf die ersten Flammen züngelten und den Raum in ein orangerotes Glühen tauchten, rieb sie sich selbstzufrieden die Hände.

Sie blickte sich im Raum um und nickte. Es wirkte alles gleich schon sehr viel gemütlicher. Fast schon heimelig. Die meisten Menschen würden sich hier sicherlich wohlfühlen.

Die meisten Menschen – aber nicht du.

Allein der Gedanke, dass sie die nächste Zeit hier auf sich selbst gestellt sein würde, verursachte ihr ein flaues Gefühl im Magen. Wie sollte das funktionieren? Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie allein gewesen. Nicht einen einzigen Tag. Zumindest nicht seit …

Sie seufzte.

Sie brauchte andere Personen um sich herum. In der Stadt war das nie ein Problem gewesen. Wenn ihr die Decke auf den Kopf fiel, musste sie einfach nur vor die Tür gehen. Dort war immer etwas los.

Hier hingegen …

Hör auf, dir den Kopf darüber zu zerbrechen! Abgesehen vom Wetter ist es doch eigentlich ganz hübsch hier. Und was die Einsamkeit betrifft – du wirst dich schon daran gewöhnen. Alles eine Frage der Disziplin.

Sie dachte an Callum und verzog das Gesicht. Er würde sich köstlich über ihre Lage amüsieren. Aber auf der anderen Seite hatte er sie ohnehin immer nur kritisiert. Es schien nichts zu geben, was sie in seinen Augen richtig machen konnte.

Du solltest froh sein, dass du ihn los bist.

Selbst wenn technisch gesehen er es gewesen war, der sie verlassen hatte.

Sie war froh darüber.

Eigentlich.

Aber mit ihm an ihrer Seite war sie wenigstens nie einsam gewesen.

Ihre Stimmung war auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt. Vielleicht war es am besten, wenn sie einfach ins Bett ging, sich die Decke über den Kopf zog und versuchte, diesen grauenvollen Tag zu vergessen.

Gesagt, getan. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, ihre Reisetasche auszupacken, holte nur rasch ihre Bettwäsche, ein Handtuch und ihren Kulturbeutel heraus. Fünfzehn Minuten und eine rasche Katzenwäsche später hatte sie sich umgezogen und lag auf der Matratze. Doch an Schlaf war gar nicht zu denken. Der Regen trommelte unablässig auf das Dach der Hütte, und in regelmäßigen Abständen erklang tiefes Donnergrollen. Wie man bei dieser Geräuschkulisse schlafen sollte, war ihr wirklich ein Rätsel. Davon abgesehen war es gerade einmal kurz nach sechs, und Anne war viel zu aufgewühlt, um wirklich zur Ruhe zu kommen.

Sie starrte zur Decke hinauf, die von den letzten flackernden Flammen im Kamin in ein ständig wechselndes Spiel aus Licht und Schatten getaucht wurde, und ließ ihre Gedanken treiben. Wenn sie ehrlich zu sich selbst sein wollte, dann tat sie sich ziemlich leid. Es war eine ganz schlechte Idee gewesen, diese Reise nach Irland anzutreten. Und wäre es nicht der letzte Wunsch ihrer Tante Tilly gewesen, hätte sie nie auch nur in Erwägung gezogen, Bristol zu verlassen.

Irgendwann im Laufe des Abends musste sie schließlich doch eingeschlafen sein, denn als ein ohrenbetäubendes Krachen sie aufschreckte, war das Feuer im Kamin längst erloschen.

Anne blinzelte. Was war denn das gewesen? Ein besonders lauter Donner?

Im ersten Moment war sie versucht, sich einfach umzudrehen und weiterzuschlafen. Doch irgendwie blieb ein nagender Zweifel und ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Das Geräusch hatte ganz und gar nicht wie ein Donner geklungen. Auf der anderen Seite war sie nicht einmal sicher, ob sie es nicht nur geträumt hatte.

Am Ende war es die Neugier, die siegte. Anne griff zu ihrer Taschenlampe, die sie neben das Kopfkissen gelegt hatte, und schaltete sie ein. Dann stand sie auf, zog sich ihre Jacke über und schlüpfte in ihre Schuhe. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr eisiger Wind entgegen. Es regnete immer noch in Strömen, und es war stockfinster. Vermutlich bemerkte sie nur deshalb das Licht des Autoscheinwerfers, das in einem merkwürdigen Winkel gen Himmel strahlte.

Sie runzelte die Stirn. Was zum Teufel …?

Sie stellte den Kragen ihrer Jacke gegen den Wind hoch und trat in den Sturm hinaus. Das Wasser drang sofort in ihre Schuhe ein, und sie fluchte leise.

Schon kurz vor der nächsten Straßenbiegung entdeckte sie die Quelle des Scheinwerferlichts. Ein Wagen steckte mit dem Heck im Straßengraben, und quer über das Dach drapiert lag ein umgestürzter Baum.

Anne atmete scharf ein und lief los. Wer immer in diesem Auto saß – er musste schon verdammtes Glück gehabt haben, um unverletzt geblieben zu sein.

Sie eilte näher. Die Seitenscheibe auf der Fahrerseite war beschlagen, sodass man nichts dahinter erkennen konnte. Sie versuchte, die Tür zu öffnen, doch die war verkeilt, und Anne musste sich mit ihrem ganzen Körpergewicht nach hinten lehnen, bis sie schließlich mit einem metallischen Kreischen aufsprang.

Hinter dem Steuer saß – oder vielmehr hing – ein Mann. Viel mehr konnte sie im schwachen Schein der Taschenlampe nicht erkennen. Außer dass er der einzige Insasse des Wagens zu sein schien.

„Hey“, sagte sie, packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn leicht. „Können Sie mich hören? Sind Sie in Ordnung?“

Er stöhnte leise, seine Lider flatterten und hoben sich schließlich. Darunter zum Vorschein kamen ein paar verwirrt dreinblickende blaue Augen. Anne wusste nicht, warum – aber irgendetwas an seinem Anblick zog sie magisch an.

Bist du verrückt? Das ist wohl kaum der richtige Augenblick, ihn abzuchecken, oder?

Sie riss sich zusammen und versuchte, sich daran zu erinnern, was sie bei ihrem Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Dummerweise lag dieser ziemlich lange zurück, und sie konnte sich kaum noch an etwas entsinnen.

„Glauben Sie, dass Sie aufstehen können?“, fragte sie schließlich.

Seine Augen, die immer noch leicht glasig wirkten, klärten sich ein wenig. Er blinzelte erneut. „Ich … ich weiß nicht“, stieß er heiser hervor. „Was ist passiert?“

Dass er sich nicht erinnern konnte, war vermutlich kein sonderlich gutes Zeichen. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn er einfach ruhig sitzen blieb und sie den Notruf alarmierte. Doch ihr Handy war in der Hütte, und sie wollte ihn nicht allein lassen.

Sie atmete tief durch. Denk nach, Anne. Denk nach!

Äußerliche Verletzungen schien er nicht zu haben, und sie konnte ihn schlecht in seinem Wagen sitzen lassen. Der Sturm wütete weiterhin mit unverminderter Heftigkeit. Es war nicht abzusehen, was noch alles passieren würde. Nein, sie musste den Mann irgendwie ins Trockene schaffen.

Entschlossen straffte sie die Schultern. „Hören Sie zu“, sagte sie. „Ich wohne in einer Hütte ganz in der Nähe. Und dort müssen wir hin, verstanden? Ich werde Ihnen jetzt meinen Arm unter die Achseln legen und dann so gut wie möglich versuchen, Ihnen beim Aussteigen zu helfen. Aber ich werde Ihre Unterstützung brauchen. Glauben Sie, Sie können ein wenig mithelfen?“

Er erwiderte nichts, und Anne befürchtete bereits, dass er das Bewusstsein verloren haben könnte. Doch dann nickte er benommen.

Sie stöhnte vor Anstrengung, als er sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen sie lehnte. Das alles war nicht so leicht, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber ihr blieb keine andere Wahl, sie durfte jetzt nicht aufgeben. Bis zur Hütte waren es vielleicht hundert Meter. Das würde doch wohl zu schaffen sein!

Es dauerte trotzdem knapp eine halbe Stunde, bis sie die unterste Verandastufe erreichten. Mittlerweile hing der Verletzte nur noch wie ein Klotz an ihr, und sie konnte ihn kaum noch aufrecht halten.

„Kommen Sie schon, nur noch ein kleines Stückchen“, stieß sie mühsam hervor und stolperte die erste Stufe hinauf. „Halten Sie nur noch ein bisschen durch, gleich ist es geschafft!“

Obwohl es furchtbar anstrengend war, ihn zu stützen – er war immerhin zwei Köpfe größer als sie und sicher doppelt so schwer –, klapperten ihr die Zähne vor Kälte. Jetzt war sie wirklich bis auf die Knochen durchnässt. Das schwarze Haar hing ihr in triefenden Strähnen ins Gesicht, und ihre Kleidung klebte ihr am Körper.

Der Mann schien zu spüren, dass sie vollkommen am Ende war, denn er mobilisierte seine letzten Kräfte, sodass er die beiden Stufen zur Veranda und die Schritte bis zur Tür beinahe ohne ihre Hilfe schaffte.

Gemeinsam taumelten sie über die Schwelle. Das Kaminfeuer war zwar längst heruntergebrannt, aber die Wärme hing noch im Raum. Irgendwie brachten sie noch die letzten paar Meter bis zum Bett hinter sich, dann ließ Anne ihn darauf sinken – oder vielmehr fallen, denn es glich mehr einem kontrollierten Sturz.

Schwer atmend beugte sie sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Sie brauchte ein paar Minuten, bis ihr rasender Puls sich einigermaßen beruhigt hatte. Anschließend ging sie zum Kamin und machte sich daran, das Feuer wieder zu entfachen. Ihr unerwarteter Besucher mochte nicht verletzt sein, aber eines war er ganz sicher: nass und völlig durchgefroren, so wie sie auch.

Zum Glück waren noch genug trockenes Holz und Papier vorhanden. Als die Flammen wenig später züngelten, atmete Anne erleichtert auf. Doch sie wusste auch, dass die Arbeit damit noch längst nicht getan war. Und was ihr als Nächstes bevorstand, machte sie ein bisschen nervös: Sie musste diesen ihr völlig fremden Mann von seiner nassen Kleidung befreien, ehe er sich noch den Tod holte.

Komm schon, Anne. Es ist nicht das erste Mal, dass du einen nackten Mann siehst. Und außerdem handelt es sich sozusagen um einen medizinischen Notfall.

Sie atmete tief durch und machte sich an die Arbeit.

Schnell bemerkte sie, dass ihr Vorhaben komplizierter war, als ursprünglich angenommen. Seine Sachen klebten praktisch an seiner klammen Haut, und da ihn offenbar der Schlaf übermannt hatte, war er ihr auch keine besonders große Hilfe. Zumindest deuteten seine inzwischen ruhige Atmung und sein gut fühlbarer Puls darauf hin, dass er sich keine schwerwiegenderen Verletzungen zugezogen hatte. Anne mochte gar nicht daran denken, was andernfalls gewesen wäre.

Ihre Finger zitterten, als sie unbeholfen seinen Gürtel öffnete. Das lag, so ungern sie es sich auch eingestand, keineswegs an der Kälte. Nach der Sache mit Callum war sie keinem Mann mehr so nahe gekommen. Und auch wenn dieser hier ziemlich mitgenommen aussah – sie konnte nicht bestreiten, dass er trotzdem ungemein attraktiv war.

Er war gebaut wie ein griechischer Gott. Der Bauch flach und muskulös, die Brust, die unter dem Hemd zum Vorschein gekommen war, wie in Stein gemeißelt. Er besaß breite Schultern und Oberarme, für die so mancher Mann gemordet hätte.

Sein Gesicht wirkte im Schlaf entspannt. Der Mund war leicht geöffnet, die Lippen schimmerten verheißungsvoll. Anne musste sich zusammenreißen, um die unangemessenen Gedanken zu verdrängen, die unwillkürlich in ihr aufstiegen.

Hör sofort auf damit! Du kennst diesen Mann nicht, und außerdem hatte er gerade einen Unfall. Ihn jetzt so schamlos anzustarren, ist wirklich nicht die feine englische Art …

Seufzend massierte sie sich die Schläfen, ehe sie sich daranmachte, ihr Werk zu vollenden. Sie öffnete den Knopf seiner schwarzen Jeans und zog danach mit heftig klopfendem Herzen den Reißverschluss hinunter.

Sosehr sie sich auch bemühte, kühl und professionell zu bleiben – es wollte ihr einfach nicht gelingen. Verflixt, sie war nun mal keine Krankenschwester! Für sie gehörte es nicht zum täglichen Brot, attraktive Fremde auszuziehen. War es denn wirklich ein Wunder, dass ihr beim Anblick dieses Sinnbilds der Männlichkeit heiß und kalt zugleich wurde?

Sie hakte ihre Daumen rechts und links unterhalb seiner Hüftknochen in die Gürtelschlaufen und fing an zu ziehen.

Nichts.

Da konnte sie ebenso gut versuchen, einen leblosen Baumstamm zu entkleiden. Ohne seine Hilfe würde sie es niemals schaffen, ihn aus seinen nassen Sachen zu befreien.

„Hey!“ Sie umfasste seine Schultern und schüttelte ihn leicht. „Hey, können Sie mich hören? Das ist jetzt ein ganz schlechter Zeitpunkt, sich auszuruhen.“

Er stöhnte leise und fing an, sich zu regen. Sie bemerkte, wie seine Augen sich unter den geschlossenen Lidern ruckartig bewegten. Seine Hand zuckte nach oben und schloss sich wie ein Schraubstock um einen ihrer Unterarme.

Erschrocken keuchte sie auf. Instinktiv versuchte sie sich loszureißen, doch er war viel stärker als sie.

Da schlug er plötzlich die Augen auf, und Anne erstarrte zur Salzsäule.

Vorhin im Dunkeln hatte sie seine Augenfarbe irrtümlich für Blau gehalten. Sie hatte irgendwann einmal davon gelesen, dass es Menschen gab, bei denen die Iris zwei verschiedene Farben hatten. Doch sie war noch nie jemandem mit einer solchen Anomalie begegnet.

Bis heute.

Auf den ersten Blick fiel der Unterschied vermutlich gar nicht so sehr auf. Doch Anne war ihm so nah, dass sie es sofort bemerkte. Rechts türkisgrün, links blaugrau.

Unglaublich!

Sie konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Es war schrecklich unhöflich und absolut nicht angebracht. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, ihr Puls raste. Dennoch war sie einfach nicht in der Lage, wegzusehen.

Er runzelte die Stirn. „Wer sind Sie? Wo bin ich? Was ist passiert?“

Angestrengt räusperte sie sich, doch ihre Stimme versagte. Was war bloß los mit ihr? Sie ließ sich doch sonst nicht so leicht aus der Ruhe bringen!

Autor

Penny Roberts
<p>Hinter Penny Roberts steht eigentlich ein Ehepaar, das eines ganz gewiss gemeinsam hat: die Liebe zum Schreiben. Schon früh hatten beide immer nur Bücher im Kopf, und daran hat sich auch bis heute nichts geändert. Und auch wenn der Pfad nicht immer ohne Stolpersteine und Hindernisse war – bereut haben...
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