Zweite Chance für Dr. West

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Mit ihm wäre Thea bis ans Ende der Welt gegangen - doch Dr. Lucas West ist vor sieben Jahren ohne ein Wort aus ihrem Leben verschwunden. Jetzt muss sie mit ihm in Indien arbeiten - und weiß nicht, ob sie seinen Beteuerungen, dass er sie immer noch liebt, glauben kann …


  • Erscheinungstag 12.02.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729806
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Er war nicht da.

Thea Coleman blickte suchend über die vielen Köpfe vor ihr. Kein Grund zur Panik. Es gab ja auch noch Gänge, Cafés und Warteräume, wo sie Ausschau halten konnte. Es war eine schöne Fantasie gewesen, aus dem Taxi auszusteigen und dann sofort Lucas über den Weg zu laufen. Zu sehen, wie sein Gesicht aufleuchtete, wenn er sie sah. Hand in den Hand ins Flughafengebäude zu gehen, um miteinander das größte Abenteuer ihres Lebens zu wagen. Aber vielleicht würde sie ihn ja auch erst in letzter Minute entdecken, wenn er gerade an Bord gehen wollte. Dann würde sie sich durch die Menge drängen, sich ihm in die Arme werfen und zusammen mit ihm in den Sonnenuntergang fliegen.

Sie gab ihr Gepäck auf, ging durch die Passkontrolle und suchte beunruhigt die Passagier-Lounge ab. Offenbar musste wohl Fantasie Nummer drei zum Einsatz kommen, bei der sie ihn direkt im Flugzeug fand. Bis dahin hätte Lucas sicher schon alle Hoffnungen aufgegeben, dass sie es sich anders überlegen und doch noch mitkommen würde. Entschlossen ging sie an Bord.

Dies war sein Flug, das wusste sie genau. Die Tickets dafür hatten über einen Monat lang an dem Spiegel in seinem Schlafzimmer gelehnt. Jeden Abend hatte sie inständig gehofft, er würde seine Meinung ändern und sie bitten, ihn zu begleiten. Oder dass er seinen Traum, als Arzt in Bangladesch zu arbeiten, so lange aufschieben würde, bis sie ihre zweijährige Assistenzzeit abgeschlossen hatte, damit sie mit ihm zusammen arbeiten konnte.

Es wäre das Vernünftigste gewesen, ihn ziehen zu lassen und ihr Leben weiterzuleben. Nur leider wollte die Liebe der Vernunft nicht gehorchen.

Die Maschine hob ab, und sobald sie nach dem Start aufstehen durfte, löste Thea den Sicherheitsgurt, quetschte sich an ihrem Sitznachbarn vorbei und ging durch die Flugzeuggänge auf und ab. Sie warf sogar einen Blick in die Business Class, für den Fall, dass Lucas ein Upgrade erhalten hatte. Sie konnte sich gerade noch davon überzeugen, dass er auch dort nicht war, bevor sie von einer Flugbegleiterin höflich gebeten wurde, wieder zu gehen. Als die Maschine in Dhaka landete, blieben keine Fantasien mehr übrig.

Während der Passkontrolle und bei der Gepäckausgabe unterdrückte Thea mit Mühe ihre Tränen. Dann bedeckte sie ihr langes blondes Haar mit einem Schal und verließ den Flughafen, allein in der unerbittlichen Hitze einer unbekannten Stadt.

1. KAPITEL

Sieben Jahre später – erster Tag

Nicht viele Leute riefen am Montagmorgen um sieben Uhr an. Sie war früh in die Klinik gegangen, in der Hoffnung auf zwei ruhige Stunden, ehe die offizielle Sprechstunde begann.

Thea nahm ab. „Dr. Coleman.“

„Gut, dass du da bist.“

„Was ist los, Jake?“, fragte sie.

„Ich habe hier einen Vierunddreißigjährigen, bei dem ich eine zweite Meinung brauche. Kannst du mal runterkommen?“

„Bin gleich da.“ Der Papierkram musste eben warten. Lächelnd legte Thea auf.

„Wo sind denn hier alle?“

Jake Turner war ein netter Kerl und ein guter Arzt, hatte aber offenbar keinen Sinn für Tageszeiten. Nach einer anstrengenden Schicht in der Notaufnahme konnte das schon mal vorkommen.

„Es ist sieben Uhr morgens, Jake“, erwiderte Thea. „Jeder vernünftige Mensch denkt gerade erst noch darüber nach, ob er jetzt allmählich aufstehen sollte.“

„Ah. Kein Wunder, dass ich überall rumtelefonieren musste.“

„Soll das heißen, du hast mich nicht als Erste angerufen? Ich bin geschockt“, gab sie zurück.

Jake lachte. „Vorher habe ich es bei Michael Freeman probiert, weil ich dachte, er würde es wissen wollen.“

Michael war der Leiter der Abteilung für Atemwegserkrankungen hier im Krankenhaus.

„Was hast du denn, dass es der Aufmerksamkeit unseres verehrten Chefs bedarf?“

„Ein vierunddreißigjähriger Mann, anhaltender Husten, Stauungslunge und Gewichtsverlust“, erklärte er. „Ich habe ihn röntgen lassen und vermute eine Tuberkulose.“

„Wie ist seine Krankengeschichte?“

„Er ist schon eine ganze Weile krank“, antwortete Jake. „Sein Hausarzt hat ihm Antibiotika verschrieben, was zu einer kurzzeitigen Besserung führte. Aber als er sie abgesetzt hat, wurde es wieder schlimmer. Er ist gestern Abend mit Brustschmerzen und Atemproblemen zu uns gekommen.“

Thea blätterte die Patientenakte durch, die Jake ihr gegeben hatte. „Irgendwelche Auslandsreisen in letzter Zeit?“

„Nein, nichts. Und er ist Lehrer, an der großen Sekundarschule oben an der Straße.“

Ihr stellten sich die Nackenhaare auf. Etwa zweitausend Schüler zwischen elf und achtzehn in einer überfüllten Schule in der Nähe der Innenstadt, und dazu ein Tuberkulose-Fall.

„Na, ist ja toll. Hoffentlich irrst du dich, Jake.“

„Ja, hoffentlich.“

Dr. Michael Freeman, Chefarzt der Abteilung für Atemwegserkrankungen, lehnte sich in seinem Lederstuhl zurück und rieb sich den Nacken. „Bist du sicher?“

„Ziemlich. Ich habe einen Dringlichkeitsvermerk auf die Untersuchungsproben gemacht, sodass wir die Ergebnisse innerhalb von vierundzwanzig Stunden haben sollten. Aber der Patient zeigt alle Anzeichen einer aktiven Lungentuberkulose.“ Thea klemmte die Röntgenbilder in den Leuchtkasten.

Michael betrachtete sie aufmerksam. „Stimmt. Du willst ihn stationär aufnehmen?“

„Ja. Ich möchte ihn ein paar Tage unter Beobachtung halten.“ Sie wies auf die Stellen des Röntgenbildes, wo Flüssigkeitsansammlungen in der Pleurahöhle des Patienten zu erkennen waren. „Der Pleuraerguss kann sich durch die Medikation durchaus auflösen. Aber wenn er sich verschlimmert, muss ich eine Punktion vornehmen.“

„Richtig. Ich möchte, dass du die Isolationsmaßnahmen persönlich überwachst und auch die notwendigen Informationen herausgibst“, sagte er. „Du wirst dich darum kümmern, falls die Infektion sich bereits weiter verbreitet hat.“

„Hoffentlich ist das nicht eingetreten.“

Michael setzte sich wieder. „Allerdings. Aber was glaubst du? Im schlimmsten Fall?“ Auch wenn er als Chefarzt die Entscheidungen treffen musste, hörte er sich immer die Meinung seiner Mitarbeiter an.

Thea seufzte. „Im schlimmsten Fall haben wir eine unbekannte Zahl an infizierten Schülern. Der Patient ist in den vergangenen fünf Jahren nicht im Ausland gewesen. Die Infektionsquelle befindet sich also vermutlich in unserer Gegend. Alle seine Kontakte zu überprüfen wird eine große Aufgabe, und wir müssen vorsichtig vorgehen. Wir wollen keine Panik auslösen, müssen aber bei Bedarf schnelle Untersuchungen durchführen können.“

Michael nickte. „Ja, genau. Und was schlägst du zur Bereitstellung von Mitteln vor?“

„Wir schaffen das nicht alles allein. Wir brauchen einen Berater von der Gesundheitsbehörde und wahrscheinlich ein paar zusätzliche TB-Pflegekräfte, um unser Pflegepersonal zu unterstützen“, antwortete sie.

„Irgendwelche Vorschläge, wer das Krankenhaus-Team leiten soll?“

„Ich dachte, du würdest das übernehmen.“

Michael lächelte. „In deiner Personalakte steht, dass du zwei Jahre lang in Bangladesch in einer TB-Klinik gearbeitet hast.“

„Das ist schon mehrere Jahre her.“ Thea sprach nie über Bangladesch.

„Soll das heißen, dass du alles vergessen hast, was du dort gelernt hast?“

Sie würde es niemals vergessen. Das Elend, das sie auf ihrer ersten kurzen Reise in der TB-Klinik gesehen hatte, hatte den Kummer ihres gebrochenen Herzens verdrängt. Der Traum von Lucas war zu ihrem geworden, und sie wusste, dass sie zurückkommen musste. Zwei Jahre später hatte sie diesen Traum wahr gemacht und war nach Bangladesch gegangen, um dort zu arbeiten. Und dann dieses traumatische, unvergessliche Erlebnis, das alles zerstört hatte. Doch das war längst Vergangenheit.

„Falls du jemand anderem die Leitung des Teams übertragen willst, könntest du mich dafür in Erwägung ziehen“, meinte Thea. „Ich denke, ich bin ausreichend qualifiziert.“

Michael nickte befriedigt. „Das freut mich, denn ich wollte dir die Position anbieten. Allerdings unter einer Bedingung.“

„Welche?“

„Der Kongress, von dem ich letzte Woche gesprochen habe und an dem du kein Interesse hattest“, erwiderte er.

Thea sank der Mut. „Der in Mumbai, wo du einen Vortrag über die Ausbreitung von TB in London halten sollst?“

„Genau der. Die Anfrage betraf jedoch lediglich einen Vertreter aus unserer Abteilung. Mein Name wurde dabei nicht erwähnt.“ Ruhig sah Michael sie an. „Die meisten Leute wären begeistert über eine solche Chance.“

Aber sie war nicht wie die meisten. „Ich dachte, es wäre selbstverständlich, dass du den Vortrag hältst. Du repräsentierst die Abteilung.“

„Ich leite die Abteilung. Es ist also mein Job, dafür zu sorgen, dass meine Mitarbeiter ihr Potenzial voll ausschöpfen.“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Es ist deine Entscheidung. Wenn du das Team leiten willst, musst du bereit sein, deine Erfahrungen anderen mitzuteilen. Und dieser Kongress wäre eine gute Erfahrung für dich. Es liegt bei dir.“

Eine solche Chance würde sie nie wieder bekommen. Es gab viele Gründe, Ja zu sagen. Dennoch konnte sie die Angst nicht verdrängen, die sie bei dem Gedanken überfiel, vor einem Saal voller Zuhörer zu stehen.

„Ich mache es.“ Thea blieben die Worte fast im Hals stecken.

„Gut. Wenn das so ist, erwarte ich, dass du mich immer auf dem Laufenden hältst und darüber informierst, welche Mittel du benötigst“, erklärte Michael.

„Danke.“ Sie sah ihn an. „Mit den Tests in der Schule können wir vermutlich schon in wenigen Wochen beginnen.“

„Wieso das?“ Er wusste ebenso gut wie sie, dass man am besten die zehnwöchige Inkubationszeit für TB abwarten sollte.

„Unser Patient ist bereits eine ganze Weile krankgeschrieben“, erwiderte sie. „Er hatte die Diagnose Lungenentzündung und war vor Ostern drei Wochen lang zu Hause. Sein Hausarzt hat ihm Antibiotika verschrieben, die bei ihm auch anschlugen. Wegen der Ferien ist er trotzdem nicht gleich wieder zur Arbeit gegangen. Nach Ostern hat sich sein Zustand erneut verschlechtert, und seitdem hat er überhaupt nicht mehr gearbeitet.“

„Wie lange ist das jetzt her?“

„Seit sieben Wochen kein Kontakt mit seinen Schülern.“

Michael nickte. „In gewisser Weise ein Segen. Wir werden also nicht von besorgten Eltern belagert, die wissen wollen, warum ihre Kinder nicht sofort getestet werden.“

Thea lachte. „Ja, aber ich habe sicher genug damit zu tun, alle Kontakte zu informieren und die Untersuchungen vorzubereiten.“

„Dann nutzt du am besten jede Unterstützung, die du von außerhalb kriegen kannst. Brauchst du noch Hilfe bei deinen anderen Fällen?“, erkundigte er sich.

„Momentan nicht, aber später würde ich vielleicht auf das Angebot zurückkommen“, antwortete sie. „Außerdem muss ich mir überlegen, wo wir das Team unterbringen und die Untersuchungen durchführen können. Ich möchte dafür gerne eine eigene Sprechstunde einrichten.“

Michael nickte zustimmend. „In Ordnung. Sag mir Bescheid, wenn du so weit bist. Dann kümmere ich mich um die Bürokratie.“

Thea hatte schon eine Idee, musste vorher jedoch zu ihrem Patienten. „Danke. Hättest du nach dem Mittagessen Zeit?“

„Ja, um eins, falls dir das früh genug ist.“ Er warf ihr einen belustigten Blick zu, den sie einfach ignorierte.

Er hatte ihr diese Aufgabe gegeben, und sie war fest entschlossen, ihm zu beweisen, dass er die richtige Wahl getroffen hatte.

Dr. Lucas West fuhr durch den Haupteingang des Krankenhauses hinunter in die Tiefgarage. Eigentlich sollte er erst morgen früh hier anfangen, aber seine Besprechung am Nachmittag war früh zu Ende gewesen. Und seiner Erfahrung nach konnte man viel über einen Ort erfahren, indem man unangekündigt am Ende eines Arbeitstages vorbeikam. Er wollte wissen, wie Michael Freemans Abteilung funktionierte, wenn niemand einen Besuch erwartete.

Das Fax, das er heute Vormittag erhalten hatte, beunruhigte ihn. Ein Tuberkulose-Fall war immer ein Problem, aber da es einen Lehrer an einer großen innerstädtischen Schule betraf, musste er sich sofort darum kümmern.

Das fünfzig Jahre alte Krankenhaus war mit dem unerschütterlichen Optimismus der Sechzigerjahre erbaut worden. Seitdem hatte es offensichtlich einige schwierige Zeiten erlebt. Obwohl Lucas bemerkte, dass hier überall ein hoher Hygienestandard herrschte, fiel ihm doch auf, dass das Krankenhaus in mancherlei Hinsicht veraltet war und eine viel zu hohe Anzahl an Patienten zu verkraften hatte.

Als er sich an der Anmeldung der Abteilung für Atemwegserkrankungen als Facharzt der Gesundheitsbehörde zu erkennen gab, wurde er wieder ins Erdgeschoss zurückgeschickt. Schließlich fand er den gesuchten Raum am Ende eines langen, schäbigen Korridors.

Lucas ignorierte das Schild mit der Aufschrift ‚Bitte klopfen und warten‘, das an der Tür klebte. Stattdessen drückte er die Klinke energisch hinunter, trat ein und hielt gleich darauf die Türklinke in der Hand.

Sie hatte sich die Haare abgeschnitten.

Plötzlich war in seinem Kopf alles wie ausgelöscht, bis auf diese eine zusammenhanglose Feststellung, dass Thea ihr wunderschönes Haar abgeschnitten hatte.

Im ersten Moment erkannte sie ihn nicht. Das tat Lucas noch mehr weh als die zerstörte Erinnerung an ihr langes hellblondes Haar, ausgebreitet wie flüssiger Sonnenschein.

„Thea.“ Mehr brachte er nicht hervor.

„Lucas.“

Für sie war er wahrscheinlich nichts weiter als eine ferne Erinnerung. Sie kam auf ihn zu und streckte die Hand aus, ihre Haltung wesentlich selbstsicherer als vor sieben Jahren. Offenbar hatte sie gelernt, ihre Gefühle zu verbergen. Noch eine Veränderung. Damals wäre sie entweder auf ihn zugestürzt, um ihn zu umarmen, oder sie hätte ihm eine Ohrfeige verpasst. Beides wäre besser gewesen als eine solche kühle Distanziertheit.

„Ach nein. Schon wieder die Klinke.“

„Oh … Ja.“ Er ließ die Türklinke in ihre Hand fallen, wobei er darauf achtete, ihre Finger nicht zu berühren.

„Danke.“ Sie wandte sich ab, um einen Schraubenzieher vom Fensterbrett zu holen.

Lucas erinnerte sich wieder daran, weshalb er gekommen war. „Ich bin hier, um Michael Freeman zu sprechen. Er leitet das medizinische TB-Team.“

Thea ging an ihm vorbei und kniete sich vor die offene Tür. „Nein, das tue ich. Stell bitte mal deinen Fuß hierhin.“

Lucas stellte seinen Fuß gegen die Tür, um sie festzuhalten, während Thea die Klinke wieder anschraubte.

„Ich bin der Facharzt der Gesundheitsbehörde.“ Normalerweise hatte dieser Satz eine gewisse Wirkung auf andere Leute, doch sie nickte nur kurz und zerrte energisch an der Türklinke, um zu prüfen, ob sie jetzt wirklich fest saß.

„Gibt es niemand anderes, der das machen kann?“, meinte er gereizt. „Wir haben schließlich Wichtigeres zu tun.“

Eine Sekunde lang schaute sie zu ihm auf. Ihre Augen waren so dunkel und nachdenklich wie früher. Augen, in denen Lucas sich so oft verloren hatte. Jetzt schien ein funkelndes Blitzen das Braun in Gold zu verwandeln.

„Ich könnte nach oben gehen, ein Antragsformular ausfüllen und zwei Tage darauf warten, bis ein Hausmeister kommt und die Klinke repariert. Außerdem, wenn du schon unangemeldet vorbeikommst, hättest du wenigstens auf das Schild an der Tür achten können!“ Thea stand auf und wandte sich wieder von ihm ab.

Ärger flammte in ihm auf. Sie hatte sich nie einfach so von ihm abgewendet. Seine heftige Reaktion darauf überraschte ihn. Rasch unterdrückte Lucas den Impuls, sie zu sich herumzudrehen, sie einfach zu überrumpeln und zu küssen.

Doch gleich darauf hatte er sich wieder unter Kontrolle. Dies war nur eine Situation von vielen, die er in den Griff bekommen musste. Es war ihm schon immer gelungen, Menschen für sich zu gewinnen, wenn nötig. Er stellte den Aktenkoffer neben sich ab und klopfte leise an die Tür. Auch wenn es einen Moment lang dauerte, bis Thea sich zu ihm umwandte, umspielte ein kleines Lächeln ihren Mund.

„Dr. Lucas West. Ich suche den Leiter des TB-Teams.“

„Dr. Thea Coleman. Hier sind Sie genau richtig.“

„Du siehst gut aus, Thea.“ Es war eher eine höfliche Bemerkung als ein Kompliment. Tatsächlich wirkte sie blasser als damals, und Grau stand ihr längst nicht so gut wie die lebhaften bunten Farben, die sie früher immer getragen hatte. „Hast du Zeit zum Reden?“

Sie nickte. „Natürlich. Was hältst du davon, wenn wir zusammen einen Kaffee trinken gehen?“

Er lächelte. „Klingt gut.“

Thea konnte es nicht fassen und hätte am liebsten laut geschrien. Neiiiin!

Es hatte sie all ihre Willenskraft gekostet, nicht aus dem Zimmer zu flüchten. Lucas hatte sie gelehrt zu lieben und sie dann verlassen. Sieben Jahre und mehrere Ozeane später stand er jetzt vor ihr. Sein dunkles Haar war etwas kürzer und ordentlicher geschnitten, und er trug sogar einen Anzug.

Eine kühle innere Distanz, als wäre sie von der Welt um sich herum abgeschnitten, kam ihr glücklicherweise zu Hilfe.

„Wie ist es dir ergangen?“ Er folgte ihr durch die Cafeteria in den dahinterliegenden Garten und stellte seinen Kaffee zwischen ihnen auf die Bank.

„Gut, und dir?“

Lucas nickte. „Mir auch.“

„Du hast Auslandserfahrung im Umgang mit TB?“, meinte Thea.

Seine Miene wurde plötzlich verschlossen, fast wie eine Maske. „Ich bin nicht ins Ausland gegangen. Es sind Dinge passiert …“ Ohne weiter darauf einzugehen, fuhr er fort: „Ich habe eine Zeit lang in einer TB-Klinik in England gearbeitet und bin jetzt als Berater tätig. Bessere Arbeitszeiten.“

Er unterbrach sich, als Thea sich beinahe an ihrem Kaffee verschluckte. Der Lucas, den sie kannte, hatte weder einen Anzug besessen noch auf regelmäßige Arbeitszeiten geachtet.

„Alles in Ordnung?“ Er sah aus, als wollte er ihr auf den Rücken klopfen.

„Ja, alles gut.“ Thea wehrte ihn ab. „Wo war diese TB-Klinik?“

„Im Süden von London.“ Schnell wechselte er das Thema. „Und du arbeitest hier, seit du dein Examen gemacht hast?“

„Nein, seit drei Jahren.“ Die anderen vier gingen ihn nichts an. Thea merkte, wie sie sich hinter die Schutzmauer zurückzog, die sie in den harten Wochen vor ihrer Rückkehr aus Bangladesch um sich herum errichtet hatte. Der Lucas, den sie gekannt hatte, war charmant und unkonventionell gewesen. Ein Idealist, der sich mit ganzer Kraft für seine Ziele einsetzte. Von diesem Mann schien nichts mehr übrig geblieben zu sein.

Thea blickte auf ein paar Gänseblümchen im Gras. „Ich gebe dir die Krankenakte des Patienten, den wir hier in der Klinik haben. Vielleicht willst du ihn dir mal anschauen?“

Er nickte. Offenbar verstand er, dass sie nichts Persönliches mehr zu sagen hatte. „Das wäre gut. Du willst von dem Raum unten im Erdgeschoss aus arbeiten?“

„Ja.“

„Der ist leider nicht besonders gut ausgeschildert und weit weg von der Abteilung. Vielleicht müssen wir bei unserem ersten Team-Meeting morgen früh noch mal darüber diskutieren. Gibt es irgendwelche Alternativen, oder soll ich das lieber mit eurem Chefarzt besprechen?“, fragte Lucas.

Ganz sicher nicht. „Du kannst mit mir reden. Ich bin die zuständige Ärztin.“

Er nickte knapp. „Wenn das so ist, würde ich mir gerne einige Alternativen ansehen. Vorzugsweise innerhalb der Abteilung und mit einem gut ausgeschilderten Zugang. Es sieht so aus, als müssten wir sehr viele Kontaktpersonen untersuchen. Und ich möchte nicht, dass die Leute so herumirren wie ich.“

„Ich habe die Abteilung im Erdgeschoss gewählt, weil sie einen eigenen, separaten Zugang von außen hat, der nur hundert Meter von der Bushaltestelle entfernt ist.“

„Aber wenn man zum Haupteingang hereinkommt …“

„Das betrifft nur die Autofahrer. Der Hintereingang ist fünf Minuten von der Schule entfernt“, erklärte Thea. „Die Abteilungssekretärin bereitet eine Wegbeschreibung vor, die wir allen Untersuchungseinladungen beilegen können. Und sie wird auch für eine entsprechende Beschilderung sorgen.“

„Und der Zugang zur Abteilung?“, wollte Lucas wissen.

„Zwischen uns und der Abteilung gibt es eine Treppe. Wir haben einen schnellen Zugang zur Radiologie, und gleich nebenan sind Beratungsräume, die wir bei Bedarf ebenfalls benutzen können“, erwiderte sie.

„Du scheinst auf alles eine Antwort parat zu haben.“

Noch lange nicht. Aber zumindest kannte sie ihr Krankenhaus besser als er. „Dann sind wir uns also einig?“

Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. „Ja, sind wir.“

2. KAPITEL

Zweiter Tag

Bei dem Meeting, das am nächsten Morgen um acht Uhr stattfand, saß Lucas wie selbstverständlich am Kopfende des Tisches. Er war unbestreitbar der Chef und ging mit äußerster Effektivität alle Punkte der langen Themenliste durch. Das war ganz typisch für ihn.

Michael schob seine Papiere zusammen. „In mein Büro“, murmelte er leise, während er mit Thea zur Tür ging.

Sie hatte einmal etwas zu scharf auf einen Scherz von Lucas reagiert, was ihm offensichtlich nicht entgangen war.

Er schloss die Tür hinter ihnen und bedeutete Thea, Platz zu nehmen. „Irgendwelche Bedenken?“

„Nein, ich glaube nicht. Es ist so, wie ich erwartet hatte“, antwortete sie.

„Du kennst Dr. West?“

„Ja“, gab sie zu. „Er hat in meinem Lehrkrankenhaus gearbeitet.“

Michael nickte nur.

„Wir waren zwei Jahre zusammen, aber seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen“, ergänzte sie.

„Hm.“ Er überlegte. „Ihr habt euch auseinandergelebt?“

„Er wollte im Ausland arbeiten. Ich dagegen hatte gerade erst mein Studium beendet und noch meine Assistenzzeit vor mir. Ich musste an meine Karriere denken.“

Michael wirkte wenig überzeugt, sagte jedoch: „Okay, ich werde nicht weiter nachbohren. Geht mich ja auch nichts an. Für mich ist eigentlich nur wichtig zu wissen, ob du gut mit ihm zusammenarbeiten kannst.“

Auf keinen Fall wollte Thea diesen Job wegen etwas verlieren, das schon sieben Jahre zurücklag. „Ich hatte stets großen Respekt vor Lucas’ Fähigkeiten, das ist immer noch so. Ich will diesen Job gut machen, und ich denke, dasselbe gilt auch für ihn.“

„In Ordnung.“ Michael lehnte sich zurück und zeigte mit einer Handbewegung, dass die Sache damit für ihn erledigt war. „Dann tu das. Meine Tür steht dir immer offen, das weißt du ja.“

Lucas hatte mitbekommen, dass Thea mit ihrem Chef den Raum verlassen hatte. Seit zehn Minuten waren sie nun schon verschwunden, und er erriet, dass sie über ihn sprachen.

Über einen externen Berater wurde verständlicherweise immer geredet, doch diesmal war es etwas anderes. Halb rechnete Lucas damit, von Michael Freeman in dessen Büro gerufen und von ihm darüber informiert zu werden, dass Thea Coleman nicht mehr direkt mit ihm zusammenarbeiten würde.

Doch er wartete ab.

Schließlich ging die Tür zum Konferenzraum wieder auf, und Thea erschien. „Ich habe mit Michaels Sekretärin gesprochen. Die mikrobiologischen Ergebnisse sind da.“

Offenbar war die Entscheidung zu seinen Gunsten ausgefallen.

Als Reaktion auf ein Vibriersignal schaute sie auf ihren Pager. „Tut mir leid, ich muss gehen. Ich werde oben auf der Station gebraucht.“

„Der TB-Fall?“ Als sie nickte, steckte Lucas seine Unterlagen ein und stand auf. „Dann komme ich mit.“

Thea ging so schnell durch die langen Flure, dass er seine Schritte beschleunigen musste, um mitzuhalten.

„Wie lautet denn jetzt der mikrobiologische Befund?“, erinnerte er sie.

„Ach ja. Die TB wurde bestätigt. Es ist ein teilweise medikamentenresistenter Stamm, der einige Marker mit einem anderen Stamm gemeinsam hat, der letztes Jahr in der Gegend von Birmingham aufgetreten ist.“

„Ich besorge die Unterlagen darüber, welche Medikamente dort am besten geholfen haben“, erklärte Lucas. „Hat dein Patient Kontakte nach Birmingham?“

„Nicht dass ich wüsste. Wir haben einige Details von seiner Frau erhalten, aber ich wollte sie noch ausführlicher befragen, nachdem wir uns mit dir abgestimmt haben.“ Sie lächelte, und da war dann wieder die Thea, die er von früher kannte. Gespannt auf die bevorstehende Aufgabe und bereit, sich den damit verbundenen Herausforderungen zu stellen.

Nach den überfüllten Krankenhausfluren wirkte die Isolationsstation wie eine Oase der Ruhe. Von einem Schwesterntresen aus gab es Zugang zu vier verschiedenen Zimmern, von denen jedes durch einen kleinen Vorraum betreten werden konnte. An jeder Tür gab es Spender für Schutzmasken, Handschuhe und Schürzen.

Automatisch ging Lucas’ Blick zu dem Luftdruckmessgerät neben der Tür. Um die Ausbreitung von Tuberkulose-Erregern, die durch die Luft übertragen wurden, zu vermeiden, sollte in dem Raum ein Negativdruck herrschen.

So war es auch. Die gesamte Station schien tadellos geführt zu sein, als wollte man ihm vermitteln, dass hier alles genau nach Vorschrift geschah. Ruhig und effizient, auch wenn die Masken und Schürzen der Pflegekräfte dem Ganzen eine etwas unpersönliche Ausstrahlung verliehen.

Thea ging auf den Patienten zu, der schmerzverzerrt hustete und aufrecht sitzend von einem Krankenpfleger gestützt wurde.

„Hallo, Derek.“ Trotz ihrer Maske konnte Lucas erkennen, dass Thea lächelte. Es lag in ihrer Haltung, in der Art, wie sie die Hand des Mannes berührte, und in ihren Augen. Lucas dachte, wenn ihre Augen so voller Wärme und Mitgefühl das Letzte wären, was er jemals erblicken würde, wäre er ein glücklicher Mensch.

„Wie ich sehe, geht es Ihnen heute nicht so gut.“ Da Derek mühsam nach Atem rang, meinte Thea: „Dann möchte ich erst mal Ihre Brust abhorchen.“

Gemeinsam mit dem Pfleger schob sie das Krankenhemd zur Seite. Eine gründliche Untersuchung bestätigte das Offensichtliche. Über Nacht hatte sich Dereks Zustand verschlechtert, und durch die Flüssigkeit in seiner Lunge fiel ihm das Atmen schwer.

„Gut. Sie machen das wunderbar.“ Mithilfe des Pflegers bettete Thea ihren Patienten wieder in die Kissen. „Aber ich denke, wir können Ihnen noch ein bisschen mehr Erleichterung verschaffen.“

Wieder lächelte sie. Auf einmal schien Derek den Schmerz abzuschütteln. Er war nicht nur ein Patient. Er war ein Mann Mitte dreißig mit hellbraunem Haar und blauen Augen. Er hatte eine Frau und auch ein Leben außerhalb dieser Krankenhausmauern.

Autor

Annie Claydon
<p>Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...
Mehr erfahren