Julia Sommer Spezial Band 3

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LASS DIE SONNE IN DEIN HERZ von GORDON, LUCY
Eine Affäre mit einem jüngeren Mann? Warum nicht, sagt sich Della und genießt die romantischen Stunden mit dem Archäologen Carlo Rinucci. Doch als Carlo ihr einen überraschenden Heiratsantrag macht, ist die erfolgreiche TV-Produzentin plötzlich unsicher. Kann das gut gehen?

IN NEAPEL VERLOR ICH MEIN HERZ von GORDON, LUCY
Eine dringende Familienangelegenheit führt die Engländerin Polly Hanson nach Neapel. Als sie dort den attraktiven Ruggiero Rinucci trifft, glaubt sie sich am Ziel ihrer Träume. In seiner sinnlichen Nähe fühlt sie sich geborgen. Doch Ruggieros Herz scheint für immer ihrer bildschönen Cousine Freda zu gehören, seiner verstorbenen Frau …

NEAPEL SEHEN - UND SICH VERLIEBEN von GORDON, LUCY
Wie in einem goldenen Käfig fühlt Celia sich an der Seite von Francesco Rinucci. Dabei möchte Celia doch nur ihr neues, aufregendes Leben am Golf von Neapel genießen. Und auch wenn sie den erfolgreichen Unternehmer begehrt wie noch keinen Mann zuvor, steht sie vor einer schweren Entscheidung …


  • Erscheinungstag 30.06.2017
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783733709761
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Gordon

JULIA SOMMER SPEZIAL BAND 3

1. KAPITEL

Das Foto auf dem Bildschirm zeigte einen ungemein gut aussehenden jungen Mann mit blondem Haar und strahlenden dunkelblauen Augen, der mit seinem unbekümmerten Lächeln im ganzen Raum gute Laune und Fröhlichkeit zu verbreiten schien.

„Oh“, seufzte Jackie, „den musst du dir ansehen!“

Della Hadley lächelte nachsichtig. Ihre Sekretärin war noch sehr jung und leicht zu beeindrucken. Sie selbst hingegen sah das alles etwas gelassener und distanzierter.

„Er sieht wirklich nicht schlecht aus“, gab sie zu.

„Nicht schlecht?“, wiederholte Jackie geradezu empört. „Er ist ein Traum von einem Mann!“

„Dazu gehört für mich mehr als nur ein attraktives Äußeres. Ich brauche einen Moderator, der die Materie kennt und sich nach Möglichkeit schon selbst einen Namen gemacht hat.“

„Della, du willst eine Fernsehserie produzieren, und deshalb ist es ungeheuer wichtig, wie er aussieht.“

„Er braucht kein schöner Jüngling zu sein, sondern sollte wie ein erfahrener und reifer Mann aussehen. Carlo Rinucci ist höchstens fünfundzwanzig.“

„Laut seinem Lebenslauf ist er dreißig“, entgegnete Jackie. „Er ist ein bekannter und bedeutender Archäologe.“

„Aber als Italiener taugt er nicht zum Moderator in einer englischen Dokumentarserie.“

„Die Serie spielt doch teilweise in Italien“, wandte Jackie ein. „Außerdem steht hier, dass er perfekt Englisch spricht. Du hast selbst gesagt, du müsstest die Serie weltweit verkaufen, wenn sie sich finanziell lohnen soll.“

Das stimmte. Als Produzentin von Dokumentarserien für das Fernsehen hatte Della sich mit ihrer eigenen Produktionsfirma einen ausgezeichneten Ruf erworben. Man riss sich geradezu um ihre Produktionen.

Sie betrachtete Carlo Rinuccis Gesicht genauer und gestand sich ein, dass viel dafür sprach, ihn zu engagieren. Er war nicht nur ungemein attraktiv, sondern wirkte auch durch sein Lächeln seltsam geheimnisvoll.

„Ich wette, wenn dieser Mann sein verführerisches Lächeln aufsetzt, kann ihm keine Frau widerstehen.“

Insgeheim gab Della ihrer Sekretärin recht, hütete sich jedoch, es laut auszusprechen. Sie war vorsichtig geworden und hielt sich bedeckt.

Aber auch sein Lebenslauf war beeindruckend. Ihr Assistent George Franklin hatte ihr die persönlichen Daten des jungen Mannes per E-Mail übermittelt und hinzugefügt:

„Lass Dich von seinem Alter nicht täuschen. Carlo Rinucci hat auf seinem Gebiet beachtliche Erfolge erzielt und zwei Bücher geschrieben, die in Fachkreisen Aufmerksamkeit erregt haben. Seine Meinungen klingen manchmal recht unorthodox, aber er leistet hervorragende Arbeit. Du solltest ihn kennenlernen und mit ihm reden, es lohnt sich.“

„Es lohnt sich, mit ihm zu reden“, sagte Della leise vor sich hin.

„Ich springe gern für dich ein, wenn du gerade keine Zeit hast“, schlug Jackie eifrig vor. „Ich könnte mit der nächsten Maschine nach Neapel fliegen und ein Vorgespräch mit ihm führen.“

„Wie nett von dir“, erwiderte Della belustigt.

„Heißt das, du hast ihn schon für dich reserviert?“

„Es heißt, dass ich die Sache ernsthaft prüfen werde“, erklärte Della ruhig und sachlich. „Erst dann entscheide ich, was meiner Meinung nach das Beste ist.“

„Ja, genau wie ich gesagt habe. Du hast ihn für dich reserviert.“

Della musste lachen. „Na ja, es muss ja auch Vorteile haben, die Chefin zu sein.“

„Im Ernst, wenn er die Serie moderiert, werden die Einschaltquoten in die Höhe schnellen. Alle ausländischen Fernsehsender werden sich um die Serie reißen. Du wirst noch bekannter und kannst dich vor Aufträgen dann nicht mehr retten.“

„Dann meinst du also, dass ich mit ihm zusammenarbeiten soll, um mein Ansehen zu erhöhen? Nein, vielen Dank, dazu brauche ich weder seine noch die Hilfe irgendeines anderen attraktiven Mannes, der die Frauen mit seinem Charme um den Verstand bringt, aber sonst nichts zu bieten hat.“

„Du weißt doch gar nicht, ob er …“

„Hast du vergessen, wie viel Uhr es ist?“, unterbrach Della sie. „Du solltest längst auf dem Nachhauseweg sein.“

Ehe Jackie das Büro verließ, warf sie noch einen sehnsüchtigen Blick auf den Bildschirm.

„Nimm dich zusammen“, forderte Della sie scherzhaft auf. „So wunderbar, wie du tust, ist er wirklich nicht.“

„Oh doch, das ist er.“ Jackie seufzte theatralisch, während sie hinausging und die Tür hinter sich zumachte.

Da Della ihre Firma von zu Hause aus leitete, sparte sie sich lange Wege. Sie genoss das Leben auf ihrem Hausboot, das auf der Themse in der Nähe von Chelsea lag. Es erinnerte sie daran, wie viel sie schon erreicht hatte, seit sie mit beinahe nichts angefangen hatte.

Obwohl es bereits sechs Uhr war, war ihr Arbeitstag noch lange nicht zu Ende. Wegen der Zeitverschiebung konnte sie erst jetzt ihre Geschäftsfreunde in Übersee erreichen. Sie streifte die Schuhe ab und machte es sich bequem.

Carlo Rinuccis Lächeln strahlte ihr immer noch vom Bildschirm entgegen, aber sie weigerte sich, sich davon ablenken zu lassen. Kurz entschlossen griff sie nach der Maus, um das Foto wegzuklicken, doch plötzlich zögerte sie.

Der Moderator, der die verschiedenen Schauplätze der Serie präsentieren und die geschichtlichen Hintergründe erläutern sollte, musste genau wissen, wovon er sprach. Von Vorteil wäre, wenn er sich bereits einen Namen auf seinem Gebiet gemacht hatte.

„Ich kann niemanden gebrauchen, der nur gut aussieht, sich aber als dumm und unwissend erweist, sobald er vom Manuskript abweichen muss“, hatte sie erklärt. „Ich erwarte von ihm sogar, dass er die Manuskripte selbst schreibt.“

An Bewerbern und Bewerberinnen für diese Aufgabe hatte es nicht gemangelt. Unter den Frauen und Männern, die Della zum Gespräch und zu Probeaufnahmen eingeladen hatte, waren viele mit beeindruckendem Lebenslauf. Doch bis jetzt hatte niemand sie restlos überzeugt.

„Ich wette, du bist nie um Worte verlegen“, sagte sie zu dem Foto auf dem Bildschirm. „Du kannst wahrscheinlich das Blaue vom Himmel herunterlügen, und alle glauben dir. Vielleicht hast du deshalb so beeindruckende Referenzen.“

Auf einmal verstummte sie. Sie hätte schwören können, dass er ihr zugeblinzelt hatte.

„Jetzt reicht es“, fuhr sie ihn mit finsterer Miene an. „Männer wie dich kenne ich zur Genüge. Mein Mann war auch so einer: Hinreißend charmant, aber es steckte nichts dahinter.“ Sie schenkte sich einen Kaffee ein und lehnte sich in dem Schreibtischsessel zurück, während sie Carlo Rinuccis Gesicht mit verhaltenem Wohlwollen betrachtete.

Bin ich unvernünftig?, überlegte sie. Lehnte sie diesen Mann ab, weil andere so begeistert von ihm waren? Man sagte ihr nach, ziemlich schwierig, unbequem und eigensinnig zu sein. War sie das wirklich? Sie hatte ein gutes Leben, ein Einkommen, das es ihr ermöglichte, sich alles zu erlauben, was sie sich wünschte, und sie fiel auf charmante Männer nicht mehr herein. Nein, Carlo Rinucci konnte sie nicht aus der Ruhe bringen.

Er schien jedoch anderer Meinung zu sein, wie sein Gesichtsausdruck verriet. Während sie das Foto aufmerksam betrachtete, fasste sie einen Entschluss. Weshalb sollte sie nicht nach Neapel fliegen und den Mann kennenlernen?

„Hier sieht es aus wie nach einem Orkan“, stellte Hope Rinucci fest.

Sie inspizierte den großen Wohnraum, das Esszimmer und schließlich die Terrasse mit Blick auf die Bucht von Neapel und den Vesuv in der Ferne.

„Oder noch schlimmer“, fügte sie hinzu, während sie das Chaos betrachtete.

Ihre Stimme klang jedoch nicht missbilligend, sondern eher zufrieden. Die Party am Abend zuvor war ein voller Erfolg gewesen.

Ruggiero, einer ihrer jüngeren Söhne, kam herein und ließ sich in einen Sessel sinken. „Ich habe mich köstlich amüsiert gestern Abend“, sagte er leise.

„Ja, es war eine gelungene Party“, stimmte Hope ihm zu. „Wir hatten ja auch viel zu feiern. Francesco hat einen neuen Job, Primo und Olympia und Luke und Minnie erwarten ein Baby, und …“

„Mom, weißt du denn, welche der drei jungen Frauen, die Carlo eingeladen hatte, seine Freundin ist?“, unterbrach er sie.

„Nein“, erwiderte seine Mutter und reichte ihm eine Tasse Espresso, die er dankbar entgegennahm. „Sie sind kurz hintereinander angekommen. Schade, dass Justin und Evie nicht dabei sein konnten. Die Geburt der Zwillinge steht jedoch kurz bevor, und deshalb sind sie lieber zu Hause in England geblieben. Evie hat versprochen, uns mit den Kindern so bald wie möglich zu besuchen.“

„Gut, dann kann die nächste Party starten“, meinte Ruggiero.

„Wen hat Carlo mit nach Hause genommen?“

„Vielleicht alle drei, aber ich habe es nicht mitbekommen“, antwortete Ruggiero und seufzte so, als beneidete er seinen Zwillingsbruder. „Meine Güte, er hat Mut.“

In dem Moment kam Francesco herein. „Wer hat Mut?“

Hope sah ihn lächelnd an und schenkte ihm auch einen Kaffee ein.

„Carlo“, erwiderte sie. „Ist dir nicht aufgefallen, dass er gleich drei Freundinnen eingeladen hatte?“

„Ihm ist überhaupt nichts aufgefallen, er hatte nur Augen für die exotische rothaarige Schönheit“, erklärte Ruggiero. „Wo hast du sie aufgegabelt?“

Francesco dachte kurz nach, ehe er antwortete: „Sie hat mich aufgegabelt, glaube ich.“

„Ah ja. Wir sprachen gerade darüber, welche seiner drei Freundinnen Carlo mit nach Hause genommen hat“, klärte Ruggiero ihn auf.

„Er war gar nicht zu Hause“, entgegnete Francesco.

„Woher willst du das wissen?“ Hope sah ihn an.

„Weil er hier ist.“ Francesco wies auf das breite Sofa, das am Fenster stand.

Alle drei beugten sich über die Rückenlehne und entdeckten Carlo, der tief und fest auf dem Sofa schlief. Er hatte noch den Anzug an, den er am Abend zuvor getragen hatte, und die obersten Knöpfe seines weißen Seidenhemds waren geöffnet.

„He!“ Ruggiero schüttelte ihn grob.

„Oh, hallo.“ Carlo öffnete die Augen und richtete sich auf.

Immer wieder verblüffte es seine Brüder, dass er nicht wie normale Menschen verschlafen und mit verquollenen Augen aufwachte. Sogar nach einer durchfeierten Nacht und nur wenigen Stunden Schlaf war er sogleich hellwach, hatte einen klaren Blick und einen klaren Verstand.

„Was machst du hier?“, fragte Ruggiero ungehalten.

„Was soll die Frage? Ich habe hier geschlafen. Ah, Kaffee. Das ist fein. Danke, Mom.“

„Am besten ignorierst du deine Brüder“, riet Hope ihm. „Sie sind nur eifersüchtig.“

„Drei Freundinnen hat er und schläft hier auf dem Sofa. Es ist nicht zu glauben“, stellte Ruggiero fest.

„Das ist das Problem, drei sind zu viel“, antwortete Carlo gelassen. „Eine Freundin ist ideal, zwei Freundinnen kann man gerade noch verkraften, wenn man unternehmungslustig ist. Alles, was darüber hinausgeht, bringt Probleme. Außerdem war ich gestern Abend nicht in bester Verfassung. Deshalb wollte ich auf Nummer sicher gehen, habe ein Taxi für die drei bestellt und mich schlafen gelegt.“

„Hoffentlich hast du die Fahrtkosten im Voraus bezahlt“, sagte Hope.

„Natürlich“, entgegnete Carlo gespielt empört. „Du hast mich doch gut erzogen. Ich weiß, was sich gehört.“

„Ausgerechnet du musst so große Töne spucken“, bemerkte Francesco trocken. „So ein rückgratloser, schwacher …“

„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach Carlo ihn und seufzte. „Ich schäme mich sehr.“

„Und du hältst dich immer noch für einen Rinucci?“, fragte Ruggiero.

„Schluss jetzt“, mischte Hope sich ein. „Carlo hat sich wie ein Gentleman verhalten.“

„Nein, wie ein Feigling“, murrte Francesco.

„Da hast du recht“, stimmte Carlo ihm zu. „Es hat Vorteile, ein Feigling zu sein. Die Frauen halten einen für einen Gentleman, und beim nächsten Mal …“ Er trank den Espresso, küsste seine Mutter auf die Wange und verschwand, ehe seine Brüder ihrem Unmut weiterhin Luft machen konnten.

Das Vallini war eins der besten Hotels in ganz Neapel. Es lag auf einer Anhöhe, von der aus man einen herrlichen Blick auf die Stadt und über die Bucht hatte.

Della stand reglos auf dem Balkon ihres Zimmers und betrachtete den Vesuv, der die Dunstglocke überragte, die bei der Hitze über der Stadt hing. Der Vulkan, bei dessen Ausbruch vor beinahe zweitausend Jahren Pompeji zerstört worden war, wirkte bedrohlich und geheimnisvoll. Er war so bekannt und legendär, dass Della sich entschlossen hatte, ihre Dokumentarserie damit zu eröffnen.

Nach dem dreistündigen Flug war sie ziemlich erschöpft gewesen. Doch nach der kalten Dusche fühlte sie sich erfrischt. Das Outfit, das sie gewählt hatte, wirkte unauffällig und beinahe etwas streng. Sie war sich jedoch bewusst, wie vorteilhaft die elegante schwarze Designerhose aus Leinen und die weiße Seidenbluse ihre große, schlanke Gestalt, ihre Brüste und die schmale Taille betonten.

Das volle hellbraune Haar, das sie normalerweise streng zurückbürstete und im Nacken zusammenband, umrahmte ihr schönes Gesicht in weichen Wellen. Mit den vollen Lippen und den ausdrucksvollen Augen wirkte sie sinnlich und verführerisch, was so gar nicht zu der dezenten Kleidung zu passen schien.

Da sie ihre Nachforschungen lieber im Verborgenen anstellte, ahnte niemand, dass sie nach Neapel geflogen war. Natürlich wusste sie nicht, ob Carlo Rinucci sich an diesem Tag überhaupt in Pompeji aufhielt. Ihr war nur bekannt, dass er an einem Projekt im Zusammenhang mit dieser historischen Stätte arbeitete.

Um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, ehe sie am nächsten Tag in Aktion trat, verließ sie schließlich das Hotel, fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof und nahm dann den Nahverkehrszug nach Pompeji. Während der halbstündigen Fahrt blickte sie die meiste Zeit aus dem Fenster und betrachtete den Vesuv, der die ganze Umgebung zu dominieren schien und immer näher kam.

Vom Bahnhof erreichte sie in wenigen Minuten den Eingang zu der Ruinenstadt, kaufte eine Eintrittskarte und ging durch die Absperrung.

Langsam blickte Della sich um und ließ alles auf sich wirken. Wohltuende Stille umgab sie.

„Komm sofort zurück!“, durchbrach plötzlich eine schrille Stimme die Stille.

Und dann merkte Della, was los war: Ein etwa zwölfjähriger Junge lief zwischen den Ruinen umher und sprang geschickt über die Mauern. Ihm folgte eine Frau mittleren Alters, die keine Chance hatte, ihn einzuholen.

„Komm zurück!“, rief sie noch einmal.

In dem Moment machte der Junge den Fehler, sich umzudrehen. Das lenkte ihn ab, und Della hatte Zeit genug einzugreifen und ihn festzuhalten.

„Lassen Sie mich los!“, forderte er sie auf und versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien.

„Nein, ich denke gar nicht daran“, erwiderte sie freundlich, aber bestimmt.

„Vielen Dank.“ Die Frau kam keuchend näher und packte den Jungen am Arm. „Mickey, lass den Unsinn sein, bleib bei deinen Klassenkameraden.“

„Das ist mir viel zu langweilig“, beklagte sich der Junge. „Ich hasse Geschichte.“

„Vielleicht ist das deine einzige Chance, diese historische Stätte zu besichtigen“, versuchte die Lehrerin ihn zur Vernunft zu bringen. „Ich in deinem Alter wäre glücklich gewesen, eine Klassenfahrt nach Italien machen zu können. Aber ihr Kinder seid heutzutage alle gleich, ihr seid undankbar und uninteressiert.“

„Ich finde es langweilig“, wiederholte der Junge mürrisch.

Della und die Lehrerin tauschten einen vielsagenden Blick und lächelten sich verständnisvoll an. Das nutzte der Junge aus, blitzartig schoss er davon und verschwand um die nächste Ecke.

„Oh nein! Ich kann doch die anderen Schüler nicht so lange allein lassen.“

„Bleiben Sie hier, ich bringe Mickey zurück“, versprach Della ihr.

Das war leichter gesagt als getan. Der Junge war wie vom Erdboden verschluckt. Sie lief immer weiter, konnte ihn jedoch nirgends entdecken.

Auf einmal erblickte sie die beiden Männer, die am Rand einer Ausgrabung in ein Gespräch vertieft waren.

„Haben Sie einen Jungen in einem roten T-Shirt gesehen?“, wandte sie sich verzweifelt an die beiden. „Seine Lehrerin ist schon ganz außer sich.“

„Nein, ich habe niemanden bemerkt“, antwortete der Ältere der beiden. „Und du, Carlo?“

Lächelnd drehte sich der jüngere Mann zu Della um – und in dem Moment wusste sie, wen sie vor sich hatte. Dieses attraktive Gesicht und das strahlende Lächeln kannte sie.

„Nein, ich habe auch …“, begann er und rief dann aus: „Da drüben!“

Der Junge lief gerade durch einen Torbogen über die Straße, die durch die Ruinenstadt führte. Ohne zu zögern, folgte Carlo Rinucci ihm. Schon bald verschwand die finstere Miene des Jungen, und er warf Carlo über die Schulter Blicke der Belustigung zu. Die Sache machte ihm offenbar Spaß.

Wenig später erschienen auch die anderen Kinder, zwölf an der Zahl, und beteiligten sich begeistert an dem Spiel.

„Du meine Güte“, seufzte die Lehrerin resigniert.

„Ach, kein Grund zur Aufregung“, meinte Della. „Übrigens, ich bin Della Hadley.“

„Hilda Preston. Ich bin für die Kinder verantwortlich. Was soll ich jetzt machen?“

„Gar nichts“, erwiderte Della belustigt. „Der junge Mann hat alles unter Kontrolle.“

Was auch stimmte, denn die Kinder standen jetzt im Kreis um Carlo Rinucci herum.

„Okay, ihr hattet euren Spaß, doch jetzt ist Schluss damit“, erklärte er und brachte sie zurück.

„Was habt ihr euch dabei gedacht?“, fragte Hilda Preston vorwurfsvoll. „Ihr wisst genau, dass ihr in meiner Nähe bleiben sollt.“

„Aber es war so schrecklich langweilig“, wiederholte der Junge, der als Erster weggelaufen war.

„Das interessiert mich nicht“, fuhr die Lehrerin ihn an. „Ihr sollt etwas über antike Kultur lernen, deshalb seid ihr hier.“

Della hörte, dass Carlo sich räusperte, und drehte sich zu ihm um. Sie wechselten einen verständnisvollen Blick und hatten Mühe, sich das Lachen zu verbeißen.

Antike Kultur, der Hinweis ließ die Kinder aufstöhnen, und einige verdrehten die Augen.

„Sie hat bei ihnen verspielt“, flüsterte Carlo Della zu. „Das eine Wort hätte sie nicht sagen dürfen.“

„Welches?“

Er sah sich nach allen Seiten um, ehe er leise antwortete: „Kultur.“

„Ah ja, ich verstehe.“ Sie nickte.

„So ungeschickt sollten Lehrer und Lehrerinnen nicht sein. Passiert ihr das oft?“

Offenbar hielt er sie für eine Kollegin dieser Frau. „Keine Ahnung, ich …“

„Ach, das ist ja auch egal“, unterbrach er Della. „Man sollte retten, was noch zu retten ist.“ Er wandte sich an die Kinder. „Ich kann euch etwas verraten: Ihr sollt sicher nichts über antike Kultur lernen, sondern vor allem etwas über die vielen Menschen erfahren, die hier vor beinahe zweitausend Jahren ums Leben gekommen sind. Es war eine furchtbare Tragödie“, erklärte er mit lauter Stimme.

„Wie kann er so etwas sagen? Das verkraften die Kinder doch gar nicht.“ Hilda Preston war entsetzt.

„Kinder lieben Schauergeschichten“, entgegnete Della.

„Es war eine der größten Katastrophen, die die Menschheit damals erlebt hat“, fuhr Carlo fort. „Tausende von Menschen wurden innerhalb weniger Minuten mitten aus ihrem ganz normalen Alltag herausgerissen. Ehe der Vesuv ausbrach und die Stadt unter der Asche begrub, war in der Ferne ein seltsames Dröhnen und Grollen zu hören. Doch niemand wusste es zu deuten, und so ergriffen sie nicht die Flucht. Die Menschen wurden vom Tod überrascht.“

Er hatte erreicht, was er wollte, die Kinder hörten ihm aufmerksam zu.

„Stimmt es, dass die Leichen im Museum ausgestellt sind?“, fragte eines der Kinder neugierig.

„Nein, die kann man dort nicht sehen“, antwortete Carlo zur allgemeinen Enttäuschung. „Die Menschen wurden von der Lava eingeschlossen und sind darin erstickt“, fuhr er fort. „Als man Jahrhunderte später mit den Ausgrabungen begann, hatten sich die Körper aufgelöst und in der Lava naturgetreue Abdrücke hinterlassen, sodass man die Körper nachbilden konnte.“

„Aber die Nachbildungen können wir uns ansehen, oder?“

„Ja, das könnt ihr.“

Das zufriedene Seufzen von allen Seiten bewies, dass er es verstand, seine Zuhörer zu fesseln. Er war ein guter Redner, sprach flüssig und beinahe akzentfrei Englisch, und er hatte ein gutes Gespür für eine gewisse Dramatik. Während seiner plastischen Schilderung der damaligen Ereignisse hatte Della plötzlich das Gefühl, die Menschen durch die Straßen wandern zu sehen, ehe sie um ihr Leben rannten.

Sie beobachtete Carlo aufmerksam und gestand sich widerwillig ein, dass er seine Sache gut machte. Er erfüllte ihre Erwartungen und war der richtige Moderator für ihre Dokumentarserie. Das etwas zu lange gelockte dunkelblonde Haar, das ihm in die Stirn fiel, machte ihn sogar noch attraktiver, als er auf dem Foto wirkte.

Er wirkte so jugendlich und unbekümmert, als interessiere ihn nur das nächste Bier und die nächste junge Frau, mit der er die Nacht verbringen konnte. Dass er mehrere akademische Grade erworben hatte, vermutete man nicht.

„Geschichtliche Tatsachen haben nichts mit Kultur zu tun“, versicherte er schließlich den Schülern, „sondern nur etwas mit den Menschen, die damals gelebt haben. So, geht jetzt wieder zu euren Lehrerinnen, und benehmt euch, sonst stecke ich euch in die Lava“, drohte er ihnen zur allgemeinen Erheiterung.

„Vielen Dank“, sagte Hilda Preston an ihn gewandt. „Sie können gut mit Kindern umgehen.“

Als er lächelte, blitzten seine weißen Zähne auf. „Ich bin der geborene Angeber“, scherzte er.

Ja, das ist er, und er ist der richtige Mann für meine Serie, überlegte Della.

Die Lehrerin bedankte sich noch einmal, ehe sie mit den Schülern weiterging.

„Gehören Sie nicht dazu?“, fragte Carlo überrascht, als Della neben ihm stehen blieb.

„Nein, ich war nur zufällig in der Nähe“, erwiderte sie.

„Ach so. Und plötzlich steckten Sie mitten in der Sache drin, oder?“, stellte er lachend fest.

Della lachte auch. „Die arme Frau“, sagte sie dann. „Wer auch immer sie auf diese Klassenfahrt in Sachen Kultur geschickt hat, hat einen Fehler gemacht.“

Er streckte die Hand aus. „Ich bin Carlo Rinucci.“

„Ja, ich …“ Sie verstummte. Beinahe hätte sie verraten, dass sie wusste, wer er war. „Ich bin Della Hadley.“

„Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Signorina. Oder sollte ich Signora sagen?“

„Eigentlich ja, aber ich bin geschieden.“

Er hielt ihre Hand fest. Sein unbekümmertes Lächeln hatte etwas Entwaffnendes. „Das freut mich sehr.“

Ich muss aufpassen, er beherrscht dieses Spiel perfekt, mahnte sie sich.

„Carlo, willst du der Signora nicht endlich die Hand zurückgeben, oder willst du sie als Ausstellungsstück ins Museum mitnehmen?“, rief ihm in dem Moment der andere Mann zu.

Verlegen und peinlich berührt, entzog Della ihm die Hand. Carlo hingegen schien die Sache überhaupt nicht peinlich zu sein. Er lächelte nur und war offenbar davon überzeugt, dass er damit alles erreichte.

„Dich hatte ich ganz vergessen, Antonio“, gab er zu.

„Das wundert mich nicht“, antwortete Antonio gutmütig. „Ich habe die Arbeit erledigt, während du den Charmeur gespielt hast.“

„Lass uns für heute Schluss machen“, schlug Carlo vor. „Es ist schon spät, und Signora Hadley möchte einen Kaffee trinken.“

„Ja, den könnte ich wirklich gebrauchen“, gab Della zu.

„Dann lassen Sie uns gehen.“ Er blickte ihr bedeutungsvoll in die Augen und sagte: „Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren.“

2. KAPITEL

Innerhalb weniger Minuten hatte Carlo geduscht und sich umgezogen. In dem Freizeitoutfit, einer hellen Hose und einem weißen Baumwollhemd, sah er umwerfend gut aus. Er wirkte muskulös und kräftig, bewegte sich jedoch sehr geschmeidig.

„So, jetzt können wir endlich Kaffee trinken“, verkündete er und nahm Dellas Hand. Doch vor dem Selbstbedienungscafé blieb er unvermittelt stehen, und sie warfen einen Blick hinein. Es war voller fröhlicher, ausgelassener und lärmender Touristen.

„Nein, wir gehen woandershin, es gibt gemütlichere Orte.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, führte er Della in die andere Richtung. „Wo bleiben meine Manieren? Ich habe Sie gar nicht gefragt, ob es Ihnen recht ist“, stellte er plötzlich fest und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Kehren wir um?“

„Bloß nicht“, erwiderte sie, und sie gingen lachend weiter.

Ein anderes Auto würde auch gar nicht zu ihm passen, dachte sie, als er ihr wenig später die Beifahrertür seines schnittigen Sportwagens aufhielt.

Kaum waren sie eingestiegen, ließ Carlo den Motor aufheulen und fuhr los. Während Della seine Hände auf dem Lenkrad betrachtete, wirbelten ihre Gedanken durcheinander. Er war genau der Mann, den sie brauchte – natürlich nur für die Dokumentarserie, wie sie sich sogleich einredete. Attraktiv, charmant, nie um Worte verlegen, würde er vor der Kamera garantiert nicht anfangen zu stottern und auch nicht gehemmt wirken. Er war der perfekte … ja, was eigentlich?, überlegte sie und versuchte, sich daran zu erinnern, dass sie eigentlich nur einen Moderator für ihre neue Serie suchte. Also, er ist der perfekte Mitarbeiter für mein Projekt, sagte sie sich dann.

Nachdem das geklärt war, fühlte sie sich besser.

„Wohnen Sie hier in der Gegend?“, fragte Carlo.

„Nein, ich bin zu Besuch hier und wohne im Hotel Vallini in Neapel.“

„Bleiben Sie lange?“

„Das steht noch nicht fest“, erwiderte sie ausweichend.

Er bog auf die Küstenstraße ein, und sie fuhren am Meer entlang, das in der Nachmittagssonne glitzerte und funkelte. In einem Fischerdorf abseits der Hauptstraße stellte Carlo den Wagen ab und dirigierte Della zielstrebig auf ein kleines Restaurant zu, das in einer schmalen Straße zwischen alten Häusern lag.

„Hallo, Carlo!“, begrüßte ihn der Mann hinter dem Tresen fröhlich.

„Hallo, Berto!“, rief Carlo genauso fröhlich zurück und führte Della an einen Tisch am Fenster.

Berto servierte ihnen sogleich Kaffee und betrachtete Della bewundernd, während er kurz mit Carlo plauderte.

Ich wette, er kreuzt hier immer wieder mit einer anderen Begleiterin auf, überlegte Della belustigt und trank einen Schluck Kaffee.

„Hm, der schmeckt gut“, sagte sie dann und entspannte sich etwas.

„Sie sind Engländerin, oder?“

„Weil ich Englisch spreche?“

„Nicht nur deshalb. Meine Mutter ist auch Engländerin, und irgendetwas in Ihrer Stimme erinnert mich an sie“, antwortete Carlo.

„Ah ja, das erklärt einiges.“

„Was denn?“ Er sah sie neugierig an.

„Dass Sie beinahe akzentfrei Englisch sprechen.“

Carlo lachte. „Dafür ist meine Mutter verantwortlich. Sie hat dafür gesorgt, dass wir alle ihre Sprache perfekt beherrschen.“

„Haben Sie viele Geschwister?“

„Wir sind sechs Brüder und alle auf die eine oder andere Art miteinander verwandt.“

„Das klingt kompliziert.“ Della runzelte die Stirn.

„Ich kann es Ihnen erklären. In die Ehe mit meinem Vater hat meine Mutter zwei Söhne, einen Stiefsohn und einen Adoptivsohn mitgebracht, und dann kamen noch mein Bruder und ich. Wir sind übrigens Zwillinge.“

„Sechs Rinucci-Brüder“, überlegte Della laut.

„Eine schreckliche Vorstellung, oder?“ Seine feierliche Miene und seine unbekümmerte Art brachten Della zum Lachen. „Sogar diejenigen von uns, die am ehesten als Italiener gelten könnten, haben etwas Englisches an sich. Aber was soll’s? Mein Vater wirft uns sowieso alle in einen Topf und meint, wir seien eine Teufelsbrut.“

„Das hört sich nach einer großen, glücklichen Familie an.“

„Das sind wir wahrscheinlich auch“, antwortete er nach kurzem Nachdenken. „Es gibt oft Streit, aber dann vertragen wir uns auch wieder.“

„Und Sie sind immer füreinander da, das ist das Beste daran.“

„Offenbar waren Sie ein Einzelkind“, stellte er fest und sah Della interessiert an.

„Merkt man das so deutlich?“

„Vielleicht nur dann, wenn man so viele Geschwister hat wie ich.“

„Ich muss gestehen, ich beneide Sie darum. Erzählen Sie mir doch ein bisschen mehr über Ihre Brüder“, bat sie ihn.

„Der erste Mann meiner Mutter war Engländer und seine erste Frau Italienerin, eine Rinucci. Ihr Sohn Primo ist also halb Engländer, halb Italiener. Luke, der Adoptivsohn meiner Mutter und ihres ersten Mannes, ist ein richtiger Engländer. Können Sie mir folgen?“

„Gerade noch.“

„Also, Primo und Luke haben sich schon immer gestritten und gegenseitig beleidigt, aber das ist ihre ganz besondere Art, miteinander umzugehen. Sie waren sogar einmal in dieselbe Frau verliebt.“

„Oh!“

„Glücklicherweise hat das nicht lange gedauert. Primo hat sie geheiratet, und Luke hat eine andere Frau gefunden. Jetzt sorgen die beiden Frauen für Ordnung, so wie es sich für gute Ehefrauen gehört.“

„Ach, tut es das?“, fragte Della spöttisch. „Werden Sie sich auch eine Frau suchen, die in Ihrem Leben für Ordnung sorgt?“

„Das erledigt meine Mutter für mich“, versicherte er mit ernster Miene. „Zu ihrem Leidwesen hat sie erst drei Schwiegertöchter. Also müssen noch drei weitere gefunden werden. Wenn sie die richtige Frau für mich entdeckt hat, wird sie mir sagen, was ich zu tun habe.“

„Und Sie gehorchen natürlich“, neckte Della ihn.

Sein Lächeln wirkte ansteckend. „So weit ist es noch lange nicht. Ich habe es nicht eilig.“

„Warum sollten Sie sich auch den Spaß und die Freude am Leben durch eine Ehefrau verderben lassen?“

„So würde ich es nicht ausdrücken“, erwiderte er.

„Doch, das würden Sie“, entgegnete Della. „Sie sprechen es natürlich nicht laut aus, aber insgeheim geben Sie mir recht, das spüre ich.“

Seine Antwort überraschte sie. „Okay, vielleicht haben Sie mich wirklich durchschaut.“ Plötzlich schien er sich unbehaglich zu fühlen und lächelte leicht verlegen, sodass Della sich seltsam berührt fühlte.

In dem Moment kam Berto wieder an den Tisch und fragte, was sie essen wollten. Die frischen Muscheln seien sehr zu empfehlen, fügte er hinzu.

Carlo redete kurz mit ihm, erklärte dann Della, was er bestellt hatte, und erkundigte sich, ob es ihr recht sei.

„Ich bin mit allem einverstanden und verlasse mich ganz auf Sie“, erwiderte sie. „Ich wüsste sowieso nicht, wie ich mich verständigen sollte.“

In seinen Augen blitzte es belustigt auf. „Das sagen Sie nur aus Höflichkeit, stimmt’s?“

„Nein. Sie kennen sich hier besser aus, deshalb höre ich gern auf Ihre Meinung.“

Berto kam mit einer Flasche Wein zurück und schenkte ihnen ein.

„Sie glauben also, Sie hätten mich durchschaut“, stellte Carlo fest, nachdem Berto wieder verschwunden war.

„Das haben Sie gesagt, nicht ich.“

„Na ja, ich muss zugeben, Sie haben teilweise recht.“

„Dann warten wir doch ab, ob es mir gelingt, Sie nicht nur teilweise, sondern ganz zu durchschauen. Fangen wir gleich damit an. Ich vermute, Sie haben eine Junggesellenwohnung, wohin Sie die jungen Frauen mitnehmen, die Sie Ihrer Mutter lieber nicht vorstellen, weil sie ihren Vorstellungen nicht entsprechen, und …“

„Hören Sie auf“, bat er. „Es reicht. Woher wissen Sie das?“

„Das war nicht schwer zu erraten.“

„Offenbar bleibt Ihnen nichts verborgen“, entgegnete er. „Meiner Mutter übrigens auch nicht.“

Della musste lachen. „Dann betrachten Sie mich als so etwas wie eine Ersatzmutter.“

„Nicht in einer Million Jahren“, antwortete er sanft, während er sie bewundernd anschaute, wobei sein Blick verriet, was er nicht zu sagen wagte.

Sie war sich bewusst, dass sie mit ihrer schlanken Gestalt, der feinen makellosen Haut und den ausdrucksvollen, strahlenden Augen jünger aussah als siebenunddreißig. Ihre perfekte Figur brachte ihr viele bewundernde Blicke ein, und darüber freute sie sich in diesem Moment ganz besonders. Es machte Spaß, mit Carlo Rinucci zu flirten.

Als Berto die bestellten Speisen servierte, löste sich zu Dellas Erleichterung die sinnliche Atmosphäre auf. Sie hatte sich noch nicht entschieden, wie weit sie gehen wollte. Aber was war geschehen? Weshalb musste sie sich überhaupt entscheiden?

Carlo beobachtete sie während des Essens. „Schmeckt es Ihnen?“

„Sehr gut. Ich liebe italienische Gerichte, allerdings habe ich nur selten Gelegenheit, sie zu essen.“

„Sind Sie das erste Mal hier?“, fragte er.

„Einmal habe ich hier Urlaub gemacht, doch mit der italienischen Küche kenne ich mich nicht aus, obwohl ich gern in dem italienischen Restaurant bei mir in der Nähe esse.“

„Wo wohnen Sie?“

„In London – auf der Themse in einem Hausboot.“

„Sie leben auf dem Wasser? Wie wunderbar und außergewöhnlich! Wie ist das so?“

Das war eine gute Gelegenheit, ihre Arbeit und ihren fast erwachsenen Sohn zu erwähnen. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund tat sie es jedoch nicht, sondern beschrieb die Abendstimmung auf dem Fluss, wenn die Lichter angingen und sich im Wasser spiegelten, und das andere Ufer wie ein Schattenriss dalag.

„Manchmal ist es seltsam unwirklich“, erzählte sie. „Ich befinde mich mitten in der Stadt, dennoch ist es völlig still um mich herum, ehe das Nachtleben beginnt. In solchen Augenblicken habe ich das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Diese Momente sind jedoch rasch wieder vorbei, die zauberhafte Stimmung löst sich auf, und alles ist plötzlich hell erleuchtet.“

„Solche Momente kenne ich auch“, sagte er leise.

„Sie machen mich neugierig.“

„Ich erkläre es Ihnen später. Erst möchte ich noch mehr über Sie erfahren. Was machen Sie beruflich?“

„Ich habe mit dem Fernsehen zu tun“, erwiderte sie ein wenig ausweichend.

„Lassen Sie mich raten: Jeden Abend kann man Ihr Gesicht auf irgendeinem Sender sehen, stimmt’s?“

„Nein. Ich arbeite hinter den Kulissen.“

„Ah, dann sind Sie eine der schrecklich tüchtigen Produktionsassistentinnen, die die Mitarbeiter antreiben.“

„Man hat mir schon vorgeworfen, ich sei schrecklich“, gab sie zu. „Und es stimmt, manchmal treibe ich die Leute an.“

„Vielleicht habe ich Sie deshalb für eine Lehrerin gehalten.“

„Sie können mit Kindern mindestens genauso gut umgehen wie ich, wenn nicht noch besser.“

Er machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich wäre kein guter Lehrer und könnte mich auf Dauer nicht durchsetzen. Die Kinder würden meine Gutmütigkeit ausnutzen.“

„Aber die Schüler hingen an Ihren Lippen.“

„Es war mein Thema, und ich wünsche mir immer, alle anderen würden sich dafür genauso begeistern. Doch viele langweilen sich mit mir.“

„Oh ja, ich schlafe fast ein vor Langeweile. Erzählen Sie mir etwas über Ihr Thema, wie Sie es nennen.“

„Also über Archäologie – und sparen Sie sich den Kommentar.“ Er sah sie lächelnd an. „Ich weiß selbst, dass ich nicht so aussehe, wie man sich einen Archäologen vorstellt, sondern eher wie ein Hippie …“

„Ich hätte Sie beinahe für einen Landstreicher gehalten“, scherzte sie. „Jedenfalls nicht für eine Respektsperson.“

„Vielen Dank. Das betrachte ich als Kompliment. Wer braucht schon Respektspersonen?“

„Niemand, solange Sie genau wissen, wovon Sie reden. Und das wissen Sie offenbar.“

Carlo verzog die Lippen. „Wie kommen Sie darauf? Nur weil die Schüler mir eine Zeit lang aufmerksam zugehört haben? Es ist relativ leicht, die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen. Darauf kommt es jedoch letztlich nicht an.“

Della erinnerte sich an seinen beeindruckenden Lebenslauf. „Worauf kommt es denn an?“

„Auf Sachverstand und Kompetenz.“ Und dann war er nicht mehr zu bremsen, die Worte sprudelten ihm nur so über die Lippen. So viel war Della völlig klar: Seine ganze Liebe galt den Kulturen des Altertums.

Carlo hatte sich immer gewünscht, etwas zu tun, das seine Fantasie beflügelte. „Ich habe oft die Schule geschwänzt, und meine Lehrer haben mir prophezeit, es würde ein schlimmes Ende mit mir nehmen, ich würde keine einzige Prüfung bestehen. Ich habe aber allen bewiesen, dass sie unrecht hatten.“ Er seufzte bei der Erinnerung. „Ich habe alle Prüfungen, alle Examen glänzend bestanden, und das hat alle immer wieder von Neuem verblüfft.“

Sie konnte sich gut vorstellen, was für ein rebellischer Schüler er gewesen war, und musste lachen.

„Täglich von neun Uhr morgens bis nachmittags um fünf eingesperrt zu sein, egal, ob in der Schule oder im Büro, fand ich schon immer unerträglich“, fuhr er fort. „Das Schöne an meinem Beruf ist, dass ich immer wieder an einem anderen Ort bin. Ich könnte nicht Lehrer, Museumsdirektor oder dergleichen sein.“

Della nickte verständnisvoll. „Ist es aber nicht bedrückend, von Tod und Vergänglichkeit umgeben zu sein, so wie in Pompeji, wo die Menschen vor beinahe zweitausend Jahren ums Leben kamen?“

„Für mich sind die Menschen nicht tot“, entgegnete er nachdrücklich. „Auf ihre Art reden sie mit mir, und ich höre ihnen zu, weil sie so viel zu erzählen haben.“

„Was gibt es denn jetzt noch zu entdecken? In Pompeji sind die Ausgrabungen doch längst beendet.“

„Nein, das stimmt nicht“, widersprach er hitzig. „Sie haben kaum angefangen. Ich arbeite da, wo noch niemand gegraben hat.“ Sekundenlang schwieg er und beruhigte sich wieder. „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie langweile.“

„Das tun Sie überhaupt nicht“, erwiderte Della wahrheitsgemäß. Sie fand ihn faszinierend, weil er sich leidenschaftlich für das engagierte, wovon er überzeugt war, und sie wollte mehr über ihn erfahren. „Reden Sie weiter“, bat sie ihn deshalb.

Carlo ließ sich nicht zweimal bitten und erzählte begeistert von den Ausgrabungen und den Stätten, die er erforscht hatte. Sie meinte alles genau vor sich zu sehen, was er ihr so plastisch schilderte, und fand es ungemein aufregend, dass er ihr einen Einblick in seine Welt gab.

„Ihr Essen wird kalt“, stellte er plötzlich fest.

Della war so fasziniert und gefesselt gewesen, dass sie alles um sich herum vergessen hatte.

„Das habe ich völlig vergessen“, sagte sie und war selbst erstaunt darüber.

„Ich auch“, gab er zu.

In diesem Moment raunte ihr eine kleine innere Stimme, auf die sie sonst immer hörte, zu: „Sei vorsichtig, er ist ein Charmeur und weiß genau, wie er Frauen behandeln muss.“ Doch dieses Mal schlug Della die Warnung in den Wind. Natürlich wäre es vernünftig gewesen, sich so schnell wie möglich zu verabschieden und sich diesem ganz besonderen Zauber, der von Carlo ausging, zu entziehen.

Irgendetwas Unerklärliches war mit ihr geschehen, denn sie wollte nicht vernünftig sein, sondern die Zeit mit ihm genießen.

Als Carlo plötzlich einen Bekannten hereinkommen sah, der auf ihren Tisch zusteuerte, fluchte er insgeheim. Wenn der Bursche einmal anfing zu reden, hörte er nicht mehr auf. Ich muss handeln, sonst verdirbt er uns den Abend, sagte er sich und stand auf.

„Ich bin gleich wieder da“, entschuldigte er sich und eilte auf den Mann zu. Nachdem er ihn höflich abgewimmelt hatte, kehrte er an den Tisch zurück, wo Della ihr Handy ans Ohr hielt. Sie lächelte glücklich, und er hörte sie liebevoll sagen: „Es war schön, mit dir zu reden, mein Liebling.“

Carlo gab es einen Stich. Du liebe Zeit, ich kenne sie doch erst wenige Stunden, mahnte er sich sogleich. Weshalb störte es ihn, dass sie jemanden mit „mein Liebling“, ansprach?

„Ich muss jetzt Schluss machen. Bis später, mein Liebling“, beendete sie das Gespräch rasch.

„Gehen wir?“, fragte Carlo freundlich, ohne sich anmerken zu lassen, dass er ihre letzten Worte gehört hatte.

Della nickte. Sie hatte die kleine Szene interessiert beobachtet. Offenbar hatte er verhindern wollen, dass sein Bekannter sich zu ihnen an den Tisch setzte.

Draußen nahm Carlo ihre Hand, und sie gingen zu seinem Auto zurück. Doch plötzlich blieb er stehen.

„Nein, ich weiß etwas viel Besseres. Es ist genau der richtige Zeitpunkt.“

„Wofür?“

„Lassen Sie sich überraschen“, antwortete er. Dann drehte er sich um und führte sie in die entgegengesetzte Richtung. Sie ließen die Häuser hinter sich, überquerten die Küstenstraße und liefen zum Strand.

„Sehen Sie sich das an“, forderte er Della auf.

Es herrschte Ebbe, die Fischerboote lagen auf dem feuchten Sand, und die untergehende Sonne spiegelte sich im Wasser, das tiefrot schimmerte.

Geradezu ehrfürchtig stand Della da und beobachtete das atemberaubend schöne Naturschauspiel. „Man fühlt sich wie verzaubert“, flüsterte sie.

„Es freut mich, dass Sie das sagen. Als Sie über die Abendstimmung auf der Themse sprachen, war mir klar, dass Sie ein Gespür für so etwas haben. Die meisten Menschen würden hier nur den nassen Sand und die Fischerboote sehen, die bei genauem Hinschauen alt und schäbig wirken. Aber so wie jetzt …“ Er verstummte, als hoffte er, Della würde den Gedanken zu Ende führen.

„Man kommt sich vor wie in einer anderen Welt“, sagte sie. „In einer ganz besonderen Welt, die sich einem nur für wenige Augenblicke öffnet.“

„Ja, für sehr kurze Zeit“, stimmte er ihr zu. „Sobald die Dunkelheit hereinbricht, ist alles vorbei.“

„Aber morgen kann man es wieder erleben.“

„Nicht unbedingt, es muss einfach alles zusammenpassen. Und man muss Glück haben, den richtigen Augenblick zu erwischen“, meinte er und führte sie weiter ans Wasser.

„Warten Sie“, bat sie ihn. „Ich ziehe rasch die Schuhe aus, damit sie nicht nass werden.“

„Gute Idee.“

Beide streiften die Schuhe ab und verstauten sie in Dellas großer Tasche. Dann wanderten sie schweigend Hand in Hand dem Horizont entgegen, bis das Wasser ihre Füße umspülte.

„Es ist immer wieder von Neuem ein erhebendes Gefühl, so etwas zu erleben“, sagte er ruhig.

Die untergehende Sonne hüllte den Strand und das Meer in ein rötliches Licht, das schon bald ins Violette wechselte und eine geheimnisvolle Atmosphäre zauberte.

Als Carlo sie lächelnd anblickte, dachte Della: Das ist für einen Charmeur wie ihn genau der richtige Moment, mich zu küssen. Zweifellos wusste er genau, wie er eine Frau für sich gewinnen konnte, und sie bezweifelte nicht, dass er immer nach derselben Methode vorging. Aber sie hatte sich getäuscht. Er lächelte sie beinahe scheu an, hob ihre Hand und rieb sie an seiner Wange.

Sprachlos sah sie ihn an. Sie hätte damit umgehen können, wenn er sie jetzt geküsst hätte. Die zarte Geste verwirrte sie jedoch.

In dem Moment veränderte sich das Farbenspiel um sie herum, und die zauberhafte Stimmung löste sich auf.

„Es ist vorbei“, stellte Della enttäuscht fest.

„Ja, für heute“, antwortete er. „Lassen Sie uns gehen.“

Während sie wenig später in der Dämmerung nach Neapel fuhren, fragte Carlo auf einmal: „Soll ich Sie ins Hotel bringen?“

„Ja, gern. Ich möchte noch mit Ihnen reden.“ Zwischen ihnen bahnte sich etwas an, und wenn mehr daraus werden sollte, musste sie zuerst klare Verhältnisse schaffen und ihm die Wahrheit sagen.

Kurz darauf durchquerten sie die Hotelhalle. Im Aufzug überlegte Della, wie sie ihm erklären sollte, dass ihre Begegnung kein Zufall war. Dann betraten sie ihr Zimmer und machten die Tür hinter sich zu.

Della wollte das Licht anknipsen, doch dazu kam sie nicht, denn genau in dem Moment nahm Carlo sie in die Arme, zog sie an sich und drückte ihren Kopf an seine Schulter. Es war nicht ihr Stil, sich so leicht verführen zu lassen, und sie hätte es verhindern können, denn sie hatte es kommen sehen. Aber sie hatte es gar nicht verhindern wollen; im Gegenteil, sie hatte es sich die ganze Zeit gewünscht, und es fühlte sich wunderbar an.

Carlo verhielt sich jedoch anders, als sie erwartet hatte. Statt zielstrebig und selbstbewusst auf sein Ziel zuzugehen und sich zu nehmen, was er haben wollte, zögerte er und wirkte seltsam unsicher. Und das brachte sie aus dem Konzept.

Oh nein, warum ausgerechnet jetzt?, schoss es ihr durch den Kopf, als ihr Handy läutete. Seufzend löste sich Carlo von ihr und machte das Licht an, während Della zum Fenster ging, um die Kurznachricht zu lesen.

„Trinken wir ein Glas Champagner?“, fragte er dicht hinter ihr.

Della zuckte zusammen, denn sie hatte nicht gemerkt, dass er ihr gefolgt war. Sie wirbelte herum und ließ prompt das Handy fallen.

„Ich wollte Sie nicht erschrecken“, entschuldigte er sich. „Es ist unter den Sessel gerutscht.“

Er bückte sich, hob es auf und warf einen Blick darauf, woraufhin sein Lächeln schlagartig verschwand.

Hast Du Rinucci schon aufspüren können? George, las Della auf dem Display ihres Handys, das Carlo ihr gereicht hatte. Sekundenlang stand sie wie erstarrt da.

Dann sah sie auf. Carlo blickte sie scheinbar unbekümmert an, aber sie spürte deutlich seine innere Distanz.

„Sie sind also hier, um mich aufzuspüren?“, fragte er kühl.

„Ja, ich wollte mit Ihnen reden“, gab sie seufzend zu.

„Was verschafft mir die Ehre?“

„Ich brauche einen Moderator für meine neue Serie, man hat Sie mir empfohlen. Sie sind die ideale Besetzung, wie ich jetzt weiß. Ich produziere Dokumentarserien für das Fernsehen und habe eine eigene Produktionsfirma. Momentan plane ich eine Serie über historische Stätten.“

„Dann wollten Sie mich auf meine Eignung testen?“

„Nein, eigentlich nicht“, erwiderte sie mit sichtlichem Unbehagen.

„Sondern?“

„Ich wollte Sie kennenlernen und …“ Sie verstummte.

„Sie wollten herausfinden, ob ich Ihren Ansprüchen genüge, und ich habe mitgespielt. So war es doch, oder?“

„Carlo, bitte … Okay, ich hätte Ihnen von Anfang an reinen Wein einschenken müssen.“

„Ja, zum Teufel, das hätten Sie!“

„Ich habe einiges falsch gemacht“, gab sie zu. „Als ich sah, wie leicht es Ihnen fiel, die Aufmerksamkeit der Schüler zu fesseln, wusste ich, dass Sie der perfekte Moderator für meine Serie sind. Ich konnte mein Glück kaum fassen.“

„Der perfekte Moderator Ihrer Serie?“, wiederholte er gefährlich ruhig. „Nur darum ist es Ihnen die ganze Zeit gegangen? Sie haben mich benutzt und wie eine Marionette tanzen lassen.“

„Ist es wirklich so schlimm, dass ich Ihnen einen Job anbieten wollte?“

„Wenn Sie von Anfang an ehrlich gewesen wären, hätte ich gar nichts dagegen gehabt. Mich stört es jedoch, dass Sie mir etwas vorgespielt und sich verstellt haben. Die ganze Zeit habe ich gedacht, wir beide … Ach, vergessen Sie es. Verraten Sie mir bitte noch eins: Hatten Sie das alles bis ins kleinste Detail geplant?“

„Natürlich nicht! Ihnen müsste klar sein, dass das Auftauchen der Schulklasse keine Inszenierung war.“

„So? Ich weiß nur, dass Sie sehr intelligent und geschickt sind. Ich traue Ihnen jetzt alles Mögliche zu. Zu der perfekten Vorstellung kann ich Ihnen nur gratulieren.“

„Es war keine Vorstellung“, protestierte Della.

„Ehrlich gesagt, ich glaube lieber an eine Inszenierung. Das macht es mir leichter. Ich bin darauf hereingefallen, habe aber glücklicherweise die Wahrheit gerade noch rechtzeitig erfahren.“

„Carlo, bitte, hören Sie mir doch zu …“

„Das habe ich lange genug getan“, unterbrach er sie betont liebenswürdig. „Beenden wir die Farce. Sie können Ihrem George antworten, dass Sie mich aufgespürt haben, ich jedoch nicht interessiert sei. Guten Tag.“ Dann eilte er aus dem Zimmer und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Della war frustriert und wütend, sie hätte am liebsten geschrien und das Handy hinter ihm hergeworfen. Sie beherrschte sich jedoch, löschte das Licht und stellte sich auf den Balkon. Wenig später sah sie Carlo das Hotel verlassen und zu seinem Wagen laufen.

Rasch trat sie zurück, damit er sie nicht bemerkte, falls er aufsah. Sie beobachtete, wie er einstieg und sekundenlang reglos dasaß, ehe er mit der Faust so heftig auf das Lernkrad einschlug, dass die Hupe ertönte. Della war bestürzt. Er hatte kühl und beherrscht gewirkt, und sein Wutausbruch passte so gar nicht zu den ironischen Bemerkungen, mit denen er sich verabschiedet hatte.

Schließlich ließ er den Motor aufheulen und fuhr weg, ohne auch nur ein einziges Mal zu ihrem Fenster aufzublicken.

3. KAPITEL

Es gelang Della, einige Stunden zu schlafen, obwohl sie unendlich traurig war und noch lange wach lag. Am nächsten Morgen kehrten die Erinnerungen zurück, und sie überließ sich den trüben Gedanken.

Sie hätte wissen müssen, dass es nichts brachte, die Wahrheit zu verschleiern. Aber sie hatte in Carlos Gegenwart nicht mehr klar denken können, wie sie sich mit wehmütigem Lächeln eingestand. Sie hatte sich gewünscht, noch länger mit ihm zusammen zu sein und die Zeit mit ihm unbeschwert genießen zu können. Doch sie hatte alles verdorben.

Was sollte sie jetzt machen? Sollte sie nach Pompeji fahren und ihn suchen? Immerhin wäre er die ideale Besetzung für ihre neue Serie.

Weshalb belüge ich mich eigentlich?, überlegte sie. Sie wollte ihn wiedersehen, das war alles. Er war viel zu schnell wieder aus ihrem Leben verschwunden, und sie war um eine bittere Erfahrung reicher. Am besten würde sie noch heute zurückfliegen.

Ja, das mache ich, nahm sie sich dann vor. Rasch stand sie auf und ging ins Badezimmer, um kalt zu duschen, damit sie wieder zur Vernunft kam.

Während sie sich abtrocknete, klopfte es plötzlich. „Wer ist da?“, rief sie.

„Der Zimmerservice.“

Sie wunderte sich etwas, denn sie hatte nichts bestellt, zog sich jedoch das seidene Negligé über und öffnete die Tür.

Der große Mann, der wie ein Kellner gekleidet war, balancierte das Tablett auf einer Hand und hielt es vor sein Gesicht.

„Entschuldigen Sie, Signora“, sagte er und eilte an ihr vorbei in den Raum. Dann stellte er das Tablett auf den niedrigen Tisch am Fenster.

Della betrachtete ihn genauer – und bekam Herzklopfen. Das volle schimmernde Haar verriet ihn, daran hätte sie ihn überall erkannt. Unwillkürlich zog sie das Negligé fester um ihren Körper, war sie sich doch allzu sehr bewusst, dass sie darunter völlig nackt war.

„Ihr Frühstück“, verkündete Carlo und drehte sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihr um.

„Sind Sie mir nicht mehr böse?“, fragte sie erleichtert.

„Nein, mein Zorn ist verraucht. Verzeihen Sie mir?“

Della war so glücklich, dass sie ihm alles verziehen hätte. Sie breitete die Arme aus, und mit zwei großen Schritten war er bei ihr und zog sie so fest an sich, dass sie keine Luft mehr bekam.

„Ich hatte schon befürchtet, du hättest noch gestern Abend deine Sachen gepackt und wärst zurückgeflogen“, sagte er schließlich.

„Und ich habe befürchtet, ich würde dich nie wiedersehen. Es tut mir leid. Ich hatte das alles nicht geplant, es ist einfach …“

„Ach, es ist doch gar nicht so schlimm“, unterbrach er sie. „Ich habe überreagiert, das ist alles.“

„Schon durch das Auftauchen der Schüler bekam die ganze Sache eine Eigendynamik, und irgendwann wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte.“

„Ja, mir ging es nicht anders.“ Wieder küsste er sie und presste sie so fest an sich, dass sie seinen muskulösen Körper an ihrem spürte. Es war ein herrliches und ungemein erregendes Gefühl.

Einerseits wünschte sie sich, in Carlos Armen zu liegen und seinen nackten Körper an ihrem zu spüren, andererseits war sie sich jedoch bewusst, wie gefährlich das Ganze war. Dennoch wollte sie mit ihm zusammen sein, und die Heftigkeit ihres Verlangens machte ihr Angst. Vor vierundzwanzig Stunden hatte sie den Mann noch gar nicht gekannt, und trotzdem war sie bereit, sich ihm hinzugeben. Ich muss es beenden, ehe es zu spät ist, mahnte sie sich plötzlich und versteifte sich in seinen Armen. Dann löste sie sich von seinen Lippen und schüttelte den Kopf.

„Nein, Carlo, bitte …“

„Della …“ Seine Stimme klang rau vor Verlangen. Nach kurzem Zögern ließ er sie jedoch los.

Wahrscheinlich glaubt er jetzt, ich würde mit ihm spielen, dachte sie und sah ihn an. Zu ihrer Überraschung spiegelte sich Verständnis in seinem Gesicht.

„Du hast recht, wir sollten uns Zeit nehmen“, sagte er leise und beherrscht.

Della wünschte, sie hätte sich auch schon wieder unter Kontrolle, aber ihr Körper dachte gar nicht daran, sich zu beruhigen. Hastig zog sie einige Sachen aus dem Schrank und eilte ins Badezimmer.

Als sie fertig angezogen zurückkam, saß Carlo an dem Tisch am Fenster und schenkte ihr Kaffee ein. Er hatte sich perfekt im Griff, und es war kaum zu glauben, dass er vor wenigen Minuten noch erregt und aufgewühlt gewesen war.

„Dein Frühstück“, erklärte er. „Reichen dir Honigbrötchen, oder möchtest du lieber etwas Kräftigeres essen, ehe wir nach Pompeji fahren?“

„Wir fahren nach Pompeji?“

„Nur für eine Stunde. Ich muss meinen Leuten erklären, was sie machen sollen, und dass ich mir heute freinehme. Den Rest des Tages haben wir für uns.“

Er verhielt sich so, als hätte es die leidenschaftliche Umarmung gar nicht gegeben. Doch als Della aufsah, merkte sie, dass er sie beobachtete. In seinem Blick glaubte sie Entschlossenheit und so etwas wie Vorfreude zu erkennen.

„Es tut mir leid, was passiert ist“, entschuldigte sie sich noch einmal. „Ich wollte dir gestern Abend alles erklären, aber dann …“ Sie verstummte.

„Es war meine Schuld“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Ich habe die ganze Zeit nur von mir geredet. Ich sollte wirklich den Rat meiner Mutter beherzigen und ab und zu den Mund halten und zuhören.“

„Du nimmst ihren Rat wahrscheinlich nicht ernst genug, sonst wüsstest du längst, dass sie recht hat“, erwiderte Della lachend.

Carlo verzog die Lippen. „Du hörst dich beinahe genauso an wie sie. Ich weiß natürlich, dass sie recht hat. Heute bist du an der Reihe, du erzählst, und ich höre dir schweigend zu.“

„Schweigend? Da bin ich gespannt.“

„Du kennst mich schon viel zu gut“, stellte er beunruhigt fest.

„Dann gibt es ja nichts mehr zu sagen.“

„Wieso nicht?“

„Ist es nicht das Schlimmste, was einem Mann passieren kann? Eine Frau, die ihn zu gut kennt?“

„Ehrlich gesagt, ich fürchte mich von Minute zu Minute mehr vor dir.“

„Du musst dich von mir fernhalten, ich bin eine Gefahr für dich. Am besten buche ich sogleich den Rückflug.“

Er legte die Hand auf ihre und drückte sie sanft, aber fest. „Ich gehe keiner Gefahr aus dem Weg“, versicherte er feierlich. „Und du?“

Sekundenlang zögerte Della. Sollte sie ihm verraten, dass sie noch nie zuvor in einer so großen Gefahr gewesen war wie jetzt, seit sie ihn kannte? „Ich auch nicht“, antwortete sie jedoch nur.

„Gut, dann …“, begann er und machte eine bedeutungsvolle Pause.

„Was wolltest du sagen?“

„Dann sollten wir uns beeilen.“

Lachend trank sie einen Schluck Kaffee.

In Pompeji wartete sein Team schon auf ihn, und die Mienen der Frauen in der Gruppe hellten sich bei seinem Anblick auf. Sie schenkten ihm ein strahlendes Lächeln.

Wahrscheinlich ist es eine ganz normale Reaktion, einen so charmanten und liebenswerten jungen Mann anzulächeln, dachte Della verständnisvoll.

Während er mit seinen Leuten redete, schlenderte sie auf das Museum zu und fand hier, was sie gesucht hatte: die Gipsabdrücke der Menschen, die beim Ausbruch des Vesuvs vor beinahe zweitausend Jahren unter dem Lavastrom begraben worden waren. Ihr besonderes Interesse galt einem Liebespaar. Es war herzergreifend zu sehen, wie der Mann und die Frau vergeblich die Hände nacheinander ausstreckten, um sich im Tod zu umarmen.

„Sie waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt“, flüsterte sie.

„Ja, sie hätten es beinahe geschafft“, sagte Carlo neben ihr.

Sie hatte ihn nicht kommen gehört und fragte sich, ob er sie beobachtet hatte, während sie zwischen den Gipsfiguren umherwanderte.

Sie seufzte. „Es ist so unendlich traurig, wenn man bedenkt, dass die Menschen von einer Minute auf die andere mitten aus ihrem alltäglichen Leben gerissen wurden. Alles blieb unvollendet.“

„Ja“, stimmte er ihr zu. „Deshalb ziehe ich das hier vor.“ Er führte sie zu einem anderen Schaukasten, wo die Nachbildungen eines Mannes und einer Frau zu sehen waren, die in inniger Umarmung das Ende erwarteten.

„Sie haben gewusst, dass sie sterben mussten“, erklärte Carlo. „Aber sie hatten keine Angst, denn sie waren zusammen.“

„Meinst du? Niemand kann genau wissen, ob sie Angst hatten oder nicht.“

„Nein? Sieh sie dir doch an.“

Della kam näher und betrachtete die beiden Figuren genauer. Es stimmte, die beiden Menschen waren so ineinander versunken, dass sie die ihnen entgegenströmende Lava gar nicht zu beachten schienen. Sie wirkten völlig entspannt, beinahe zufrieden.

„Du hast recht“, gab sie zu. „Sie brauchten den Tod nicht zu fürchten, sie waren zusammen, und das machte sie glücklich.“

Nach unglücklichen Erfahrungen mit Männern hatte sie es aufgegeben, an die ganz große Liebe zu glauben. Doch plötzlich wurde ihr bewusst, dass in ihrem Leben etwas fehlte.

Später fuhren sie in dasselbe Fischerdorf wie am Tag zuvor. Dieses Mal herrschte Flut, und die Fischer waren in ihren Booten aufs Meer hinausgefahren. Carlo führte Della über den Markt mit dem bunten Treiben und den vielen Ständen, an denen frisches Fleisch, Käse, Gemüse und Blumen verkauft wurde. Auch die Stände mit den hübschen Blusen und Schals aus Seide fielen ihr auf.

„Ich brauche einen Espresso“, erklärte Carlo schließlich und dirigierte Della in eine kleine Kaffeebar in einer Seitenstraße, wo er für sie beide bestellte.

„So, nachdem ich dich gestern nicht habe zu Wort kommen lassen, erzählst du mir heute alles über dich. Ich weiß, dass du verheiratet warst …“

„Ich habe mit sechzehn geheiratet, weil ich schwanger war“, unterbrach sie ihn. „Wir waren beide viel zu jung. Dass mein Exmann nach wenigen Monaten die Flucht ergriff, ist verständlich.“

„Nein, da bin ich anderer Meinung“, widersprach er. „Wenn man so einen wichtigen Schritt tut, muss man auch bereit sein, die Verantwortung zu übernehmen.“

„Das klingt so abgeklärt, aber hättest du mit siebzehn auch so geredet?“, fragte sie.

„Okay, vielleicht sollten wir das Thema nicht vertiefen“, antwortete er lächelnd. „Aber der junge Mann hätte dich mit dem Kind nicht einfach allein lassen dürfen.“

„Du brauchst kein Mitleid mit mir zu haben, ich war nicht allein. Ich habe bei meinen Eltern gewohnt, und sie haben sich liebevoll um mich gekümmert. Ich hatte alles, was ich brauchte, und noch mehr. Meine Eltern waren nicht traurig darüber, dass der junge Mann aus meinem Leben verschwand.“

„Haben sie nachgeholfen?“

„Das hat er behauptet, ich weiß es jedoch nicht genau. Früher oder später hätten wir uns sowieso getrennt. Es war am besten so, wenn man sieht, was aus ihm geworden ist.“

„Ist er ein verantwortungsloser Schuft?“

„Er ist schwerfällig und träge.“

„Ah ja. Hast du noch Kontakt zu ihm?“

„Er lebt in Schottland. Unser Sohn Solomon, kurz Sol genannt, besucht ihn manchmal. Momentan ist er auch bei ihm.“

Auf einmal dämmerte es ihm. „War das dein Sohn, mit dem du gestern Abend gesprochen hast?“

„Ja.“

Dann gibt es also doch keinen anderen Mann in ihrem Leben, dachte Carlo erleichtert. Wie alt mochte ihr Sohn sein? Zwölf? Vierzehn?

„Wie bist du zum Fernsehen gekommen?“, fragte er.

„Durch meinen zweiten Mann und seinen Bruder.“

„Heißt das, du bist verheiratet?“ Er war schockiert.

„Nein, auch die zweite Ehe hat nicht funktioniert, wir haben uns scheiden lassen. Offenbar gerate ich immer an die falschen Männer. Mein Exmann Gerry hat mir einen Berg Schulden hinterlassen, die ich abbezahlen musste. Das einzig Gute war, dass ich seinen Bruder Brian kennengelernt habe, der Fernsehfilme produziert. Er hat mich als seine Sekretärin eingestellt, und ich habe viel von ihm gelernt. Die Arbeit hat mir Spaß gemacht, und schließlich hat Brian mir das Geld geliehen, damit ich mich selbstständig machen konnte. Und er hat mich einigen wichtigen Leuten vorgestellt.“

„Und jetzt bist du als Produzentin unübertroffen“, sagte er. „Du führst die Liste der besten Produzenten an und hast alle möglichen Auszeichnungen erhalten …“

„Hör auf“, fiel sie ihm ins Wort und legte ihm die Hand auf den Arm.

„Du willst doch sicher nicht behaupten, du hättest noch nie eine Auszeichnung verliehen bekommen.“ Sein Blick verriet, dass Carlo mehr über sie wusste, als er zugab.

„Okay, ich habe die eine oder andere Auszeichnung erhalten, das ist richtig“, erwiderte sie.

„Du bist nicht die Einzige, die das Internet benutzt.“

„Ah ja, du hast also Erkundigungen eingezogen.“

„Klar. Und vergiss nicht, ich kann auch mit dem Telefon umgehen.“

„Wirklich?“

„Gestern Abend habe ich herumtelefoniert und mit jemandem gesprochen, der deine Dokumentarfilme kennt und deine Arbeit bewundert.“

Dass sein Bekannter zu seiner Enttäuschung nichts über ihr Privatleben wusste, verriet er ihr natürlich nicht.

„Er hat dein neues Projekt erwähnt, kannte aber keine Einzelheiten.“

„Du hast wirklich gut recherchiert“, sagte sie lachend.

„Ja. Jetzt sind wir quitt, denn du wusstest auch viel über mich, ehe du mich persönlich unter die Lupe genommen hast.“

„Du wurdest mir von so vielen Leuten so wärmstens empfohlen, dass ich schon anfing, mich über dich zu ärgern. Ich habe sogar irgendwie gehofft, einen Reinfall zu erleben. Doch das Gegenteil ist der Fall, und darüber habe ich mich noch mehr geärgert“, gab sie zu.

„Dann hast du dich nur widerwillig dazu entschlossen, mir den Job anzubieten, oder? Soll ich dir die Sache erleichtern und ablehnen?“

„Sei nicht so voreilig, du weißt ja noch nicht alles. Ich will eine Serie produzieren, die an verschiedenen historischen Stätten gedreht wird. Deshalb stelle ich hohe Anforderungen an den Moderator. Er sollte nach Möglichkeit Archäologe und Historiker sein, er muss Autorität ausstrahlen und über ein fundiertes Wissen verfügen.“

„Heißt das, du willst an Schauplätzen wie Pompeji drehen?“

„Ja, außerdem wird eine Folge der Serie unter Wasser gedreht.“

Zu ihrer Überraschung wurde Carlo ganz blass. „Heißt das, ich müsste auf dem Meeresboden moderieren? Vergiss es, das ist nichts für mich.“

„Nein, natürlich nicht. Ich werde Berufstaucher engagieren. Wenn du es möchtest, kannst du sie gern begleiten.“

„Bestimmt nicht, vielen Dank“, lehnte er ab.

„Warum nicht?“

„Weil ich ein Feigling bin“, gab er unumwunden zu. „Ich besteige die höchsten Berge, wenn es sein muss, und erforsche jede Höhle. Doch was das Tauchen angeht, bin ich ein hoffnungsloser Fall. Das ist für mich der reinste Horror.“

„Ich finde es erstaunlich, dass du so offen darüber redest“, erwiderte sie, überrascht von seiner Ehrlichkeit.

„Weshalb sollte ich es nicht zugeben? Das wär’s dann. Du musst dir einen anderen Moderator suchen.“

„Sei doch nicht so dumm. Natürlich moderierst du alle Folgen der Serie vom Land aus. Versprochen.“

„Okay. Ich möchte nur Missverständnisse vermeiden. Glaub mir, ich bin ein ausgemachter Feigling, das solltest du nie vergessen.“

„Jeder Mensch hat Schwächen und ist manchmal feige“, erklärte Della ernst.

„Ja, das stimmt wahrscheinlich. Was hast du denn für Schwächen?“

Damit hatte sie nicht gerechnet. „Oh … mehrere“, begann sie zögernd.

„Aber du bist nicht wirklich bereit, mit mir darüber zu reden, oder?“

„Mein Selbsterhaltungstrieb hindert mich daran.“

„Hast du das Gefühl, ich sei eine Gefahr, gegen die du dich schützen musst?“ Er sah sie liebevoll lächelnd an.

Nachdenklich betrachtete Della ihn. Die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster hereinfielen, ließen sein Haar golden schimmern. Er ist die größte Gefahr, der ich jemals ausgesetzt war, dachte sie. Doch sie würde sich nicht dagegen schützen, es wäre sowieso sinnlos.

„Wenn du darauf eine Antwort erwartest, kannst du lange warten“, erwiderte sie in scherzhaftem Ton.

„Würde ich mich durch die Antwort geschmeichelt fühlen?“

„Kein Kommentar.“

Sekundenlang sah er ihr in die Augen, ehe er sich zu ihr hinüberbeugte und sie sanft auf die Lippen küsste.

Es war nur ein flüchtiger Kuss, der schon vorüber war, bevor er richtig angefangen hatte. Dann stand Carlo auf, ging zum Tresen und ließ Della aufgewühlt zurück. Immer noch glaubte sie, die federleichte Berührung seiner Lippen auf ihren zu spüren.

Als er mit zwei Tassen Cappuccino zurückkam, erwähnte er den Kuss mit keiner Silbe. „Worüber willst du sonst noch berichten?“, wechselte er das Thema.

„Vielleicht drehe ich eine Folge über die Schlacht von Waterloo. Ich habe viele Ideen, doch es ist alles nicht ganz das, was mir vorschwebt.“

„Du musst dir selbst ein Bild machen. Ich kenne einige historische Stätten, über die es sich zu berichten lohnt. Ich zeige sie dir gern. Wir können morgen losfahren in den Süden Italiens und vielleicht anschließend noch nach Sizilien.“

Sie sah ihn an. „Meinst du …?“

„Wir wären ungefähr eine Woche unterwegs. Hast du so viel Zeit?“

„Kannst du denn solange deine Arbeit in Pompeji ruhen lassen?“

„Sie geht ja auch ohne mich weiter, denn meine Leute wissen, was zu tun ist. Einige Tage kommen sie gut ohne mich zurecht. Außerdem telefoniere ich täglich mit ihnen.“

Die Versuchung, das Angebot anzunehmen, war groß. Welch ein verlockender Gedanke, mit Carlo allein zu sein.

„Ich müsste meine Sekretärin anrufen und ihr sagen, dass ich noch etwas länger geschäftlich unterwegs bin“, sagte sie langsam.

„Also abgemacht. Trink den Cappuccino, und lass uns zurückfahren“, forderte er sie auf.

Auf der Fahrt zum Hotel saß Della glücklich und zufrieden neben Carlo. Sie musste verrückt sein, mit einem Mann wegzufahren, den sie gerade erst kennengelernt hatte; dennoch kam es ihr richtig vor.

Als er vor ihrem Hotel anhielt, rechnete sie damit, dass er sie auf ihr Zimmer begleiten und dort in die Arme nehmen würde. Sie würde sich nicht wehren. Aber dann verabschiedete er sich schon in der Hotelhalle so liebevoll und zärtlich von ihr, dass sie zutiefst berührt war.

„Hier laufen mir zu viele Bekannte herum“, meinte er. „Ich komme mir vor wie im Rampenlicht, und das gefällt mir nicht.“

„Das würde mir auch nicht gefallen“, stimmte sie ihm zu.

„Heute Abend muss ich noch meine Mutter besuchen und ihr sagen, dass ich einige Tage weg bin. Wir sehen uns morgen früh.“ Er drückte Della die Hand, nickte einigen Leuten im Vorbeigehen freundlich zu und verschwand.

4. KAPITEL

Della frühstückte gerade, als Carlo am nächsten Morgen erschien, um sie abzuholen. Er breitete eine Straßenkarte vor ihr aus.

„Hier, zuerst fahren wir nach Kalabrien. Dort gibt es viele historische Stätten, die dir bestimmt gefallen werden. Ob wir anschließend noch nach Sizilien fahren, können wir später entscheiden, oder?“

„Okay“, stimmte sie zu.

Eine halbe Stunde später fuhren sie an der Küste entlang in Richtung Süden. Unterwegs unterhielten sie sich über alles Mögliche. Die schmale Straße führte immer höher hinauf, und Della wagte kaum noch, hinunter in das Tal zu blicken. Angesichts der Berge, der Wildnis um sie herum und der mittelalterlichen Städte und Dörfer kam sie sich vor wie in einer anderen Welt. Und dann waren sie endlich am Ziel. Carlo stellte den Wagen vor dem einzigen Gasthaus eines kleinen Dorfes ab, drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an.

Della nickte. „Wie heißt der Ort?“

„Keine Ahnung, ich habe kein Ortsschild gesehen. Vielleicht hat er gar keinen Namen“, scherzte er.

Das trifft sich gut. In einem namenlosen Ort fernab vom Rest der Welt finden wir zusammen. Wie romantisch, dachte Della.

Als sie den Gasthof betraten, wurden sie von dem Besitzer freundlich begrüßt. Er bestätigte, dass er zwei freie Zimmer habe, ein kleines und ein großes.

„Gut, ich nehme das kleine, und meine Begleiterin bekommt das große“, entschied Carlo.

Er ist ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, sagte sie sich erfreut, als sie ihm folgte.

Die beiden Zimmer lagen einander gegenüber, getrennt nur von einem schmalen Flur. Della konnte einen flüchtigen Blick in den kleineren Raum mit dem schmalen Bett werfen, der sehr viel bescheidener war als ihr Zimmer mit dem breiten Bett.

Zurück in der Schankstube, stellten sie fest, dass sie die einzigen Gäste waren. Donato, der Besitzer, ließ ihnen von seiner Frau ein köstliches Abendessen zubereiten, und dazu tranken sie einen der vollmundigen kalabrischen Weine. Die beiden hübschen Töchter des Wirts kamen alle paar Minuten unter irgendeinem Vorwand herein und warfen Carlo sehnsüchtige Blicke zu.

Della musste sich das Lachen verbeißen. „Du bist daran gewöhnt, dass die Frauen dich anhimmeln, oder?“

„Wenn ich Ja sage, hältst du mich für einen eingebildeten Kerl.“

„Und wenn du Nein sagst, würdest du lügen.“

„Können wir bitte das Thema wechseln?“

„Ich weiß doch längst, wie interessiert die Frauen dich mustern, wo immer wir auftauchen. Du kannst deine Affären sicher kaum noch zählen.“

Sekundenlang schwieg er. „Das ist Vergangenheit“, erwiderte er dann. „Es waren flüchtige Bekanntschaften, die mir nichts bedeutet haben.“ Er schenkte ihr noch ein Glas Wein ein. „Und was ist mit dir?“

„Wie ich dir schon erzählt habe, war ich zweimal verheiratet und habe einen Sohn“, erinnerte sie ihn. „Im Übrigen konzentriere ich mich auf meine Karriere und habe keine Zeit für Männerbekanntschaften.“

„Das freut mich“, antwortete er ruhig.

Was er damit meinte, war ihr klar. Sie blickte ihm in die Augen und nickte.

Wenig später standen sie auf und gingen langsam die Treppe hinauf. Vor seiner Zimmertür blieb Carlo stehen, drehte sich halb um und wartete darauf, dass sie den nächsten Schritt tat.

Della reichte ihm die Hand. „Komm“, flüsterte sie.

Langsam und so, als könnte er nicht glauben, was geschah, nahm er ihre Hand und folgte ihr. Dann machte er die Tür hinter sich zu, ohne das Licht anzuknipsen. Da die Vorhänge nicht zugezogen waren, schien der Mond durch die hohen Fenster und verbreitete eine geheimnisvolle Atmosphäre in dem Raum.

Mit den Fingerspitzen streichelte Carlo sanft ihre Wange, und Della fühlte sich wie verzaubert. Es war ein so wunderbares Gefühl, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie begehrte ihn, alles in ihr sehnte sich nach ihm, und sie konnte es kaum erwarten, von ihm leidenschaftlich umarmt und geküsst zu werden – eins mit ihm zu werden …

Doch trotz ihrer Ungeduld und ihrer Sehnsucht wollte sie den Zauber des Augenblicks noch länger genießen und voll und ganz auskosten, ehe er heftigem Verlangen wich. Carlo schien genauso zu empfinden, denn er küsste sie so federleicht auf die Lippen, als hätte er es nicht eilig. Sie schmiegte sich an ihn und spürte seine Finger in ihrem Haar, während er anfing, ihren Mund zu erforschen.

Sie entspannte sich und gab sich ganz dem Genuss hin, während sie seine Küsse erwiderte und seinen Körper mit den Händen erforschte. Er war so muskulös und kräftig, wie sie ihn sich vorgestellt hatte – und er war bereit, den nächsten Schritt mit ihr zu gehen.

Schließlich zogen sie sich gegenseitig aus. Wer damit angefangen hatte, konnten sie später nicht mehr sagen. Della öffnete die Knöpfe seines Hemdes, Carlo die ihrer Bluse. Sie nahmen sich Zeit, erforschten gegenseitig langsam ihre Körper, ihre nackte Haut, bis sie sich plötzlich nicht mehr beherrschen konnten. Sie ließen sich auf das Bett sinken und gaben sich ganz ihren leidenschaftlichen Gefühlen hin. Erst jetzt wurde Della bewusst, mit welcher Heftigkeit er sie begehrte. Ihr zuliebe hatte er sich lange Zeit beherrscht und zurückgehalten, aber jetzt verlor er die Kontrolle. Er presste sie an sich und nahm sie ganz in Besitz.

Es kam ihr vor wie eine ganz neue Erfahrung, vielleicht weil sie schon lange allein lebte. Aber noch nie zuvor hatte ein Mann sie so glühend und innig geliebt, dessen war sie sich ganz sicher. Sie spürte, dass er sie verehrte und sie für ihn etwas Besonderes war. Ein nie gekanntes Glücksgefühl durchströmte sie, und sie wusste, dass nur er sie so glücklich machen konnte.

Als sie den Höhepunkt erreichten, blickte er ihr in die Augen. Sie waren vereint und würden nie wieder dieselben sein wie zuvor. Sie gehörten zusammen, und nichts und niemand konnte das ändern.

Carlo schlief als Erster ein, während Della noch eine Weile wach lag und es genoss, seinen Kopf zwischen ihren Brüsten und seinen warmen Atem auf ihrer Haut zu spüren und die Hände durch sein Haar gleiten zu lassen.

Sie war so unsagbar glücklich, dass es kaum zu ertragen war. Schließlich rückte sie vorsichtig von ihm ab und stand auf. Wenn sie seinen warmen Körper an ihrem spürte, konnte sie nicht klar denken.

Leise durchquerte sie den Raum, stellte sich ans Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit. Nachdem sie einige Minuten lang die Gedanken hatte vorbeiziehen lassen, gelang es ihr, sie zu ordnen.

Ich muss verrückt sein, aber ich liebe ihn und werde ihn immer lieben, sagte sie sich. Ihr war klar, dass es für sie und Carlo keine gemeinsame Zukunft gab, doch sie wollte die Zeit mit ihm genießen. Früher oder später wäre er ihrer überdrüssig, und sie war bereit, es zu akzeptieren. Dass es ihr das Herz brechen würde, musste sie in Kauf nehmen.

Als Della am nächsten Morgen aufwachte, begegnete sie seinem Blick. Carlo hatte sich auf die Ellbogen gestützt und betrachtete sie seltsam besorgt.

In der Nacht war er ein wunderbarer und selbstbewusster Liebhaber gewesen, er hatte sie geschickt verführt. Jetzt wirkte er jedoch unsicher.

Langsam hob sie die Hand und streichelte seine Wange. „Hallo“, flüsterte sie lächelnd.

Seine Miene hellte sich auf, er verstand die Botschaft. Erleichtert und ohne zu zögern nahm er Della in die Arme und presste sie an sich. „Tut es dir wirklich nicht leid?“, fragte er leise.

„Nein, bestimmt nicht.“

„Möchtest du es nicht ungeschehen machen?“

Wohin der Weg auch führte, sie war bereit mitzugehen. Spätestens nach dieser wunderbaren Nacht gab es kein Zurück mehr.

Als sie den Gasthof verließen, erklärte sie mit einem Blick auf seinen Sportwagen: „Ein Gentleman würde mich auch einmal ans Steuer lassen.“

In Sekundenschnelle wurde aus dem glühenden Liebhaber ein Mann, der seinen kostbarsten Schatz wie ein Löwe verteidigte. „Du willst einen Sportwagen hier in Italien fahren?“

„Mein Führerschein ist europaweit gültig, und ich bin daran gewöhnt, auf der falschen Straßenseite zu fahren.“

Er runzelte die Stirn. „In England fährt man auf der falschen Straßenseite, nicht bei uns. Vergiss es, es ist ein neuer Wagen. Außerdem bin ich in der Hinsicht kein Gentleman.“

„Das habe ich befürchtet“, erwiderte sie gespielt traurig.

„Steig ein – auf der Beifahrerseite“, forderte er sie auf.

„Zu Befehl“, scherzte sie. Er musste lachen, war jedoch immer noch nicht bereit nachzugeben.

Nachdem sie eine Stunde gefahren waren, hielt er auf einer einsamen Landstraße an und ließ sich Dellas Führerschein zeigen. „Er ist in Ordnung“, stellte er schließlich fest. „Aber man kann natürlich nicht erkennen, ob du irgendwelche Einträge, Verwarnungen und dergleichen hast.“

„Wie ungalant!“

„Kein Mann ist galant, wenn es um sein Auto geht. Der Führerschein ist kein Beweis dafür, dass du eine gute Autofahrerin bist. In England bekommt man ihn beinahe nachgeworfen.“

„Ich könnte ihn auch gefälscht haben“, schlug sie hilfsbereit vor.

Carlo warf ihr einen finsteren Blick zu und stieg aus. „Nur fünf Minuten, länger nicht“, sagte er schließlich.

Er erklärte ihr alles, was sie wissen musste, und dann fuhr Della los. Aus den fünf Minuten wurden zehn, und daraus wurde eine halbe Stunde. Sie kam auf Anhieb mit dem schnittigen Wagen zurecht. Da sie im Zentrum von London wohnte, war sie nicht auf das Auto angewiesen und besaß auch keins. Deshalb hatte sie selten Gelegenheit, selbst zu fahren. Umso mehr genoss sie es jetzt, am Steuer dieses Sportwagens zu sitzen.

Insgeheim gestand Carlo sich ein, dass sie eine gute Fahrerin war. „Du machst das gar nicht so schlecht“, stellte er fest.

„Vielen Dank.“ Sie verzog das Gesicht.

„Okay, ich gebe zu, du fährst besser, als ich erwartet habe. Es tut mir leid, dass ich dich unterschätzt habe.“ Doch dann verdarb er alles wieder, indem er hinzufügte: „Aber lass uns bald anhalten, ehe meine Nerven völlig ruiniert sind. Ich möchte etwas essen.“

Nach der Pause setzte er sich wieder selbst ans Steuer, und sie fuhren weiter in Richtung Badolato.

„Der Ort liegt am Meer“, erklärte er. „Ich habe dort nach Spuren des Heiligen Grals gesucht.“

„Hier? Aber der Gral ist doch …“ Sie verstummte.

„Eben, das ist es. Niemand weiß genau, wo er sich befindet. Vermutlich haben die Ritter des Templerordens Badolato als Stützpunkt benutzt und den Gral angeblich eine Zeit lang dort aufbewahrt. Einige behaupten sogar, er sei dort immer noch versteckt.“

„Glaubst du das?“

„Na ja, Badolato ist zumindest ein interessanter Ort“, antwortete er. „Für die dreieinhalbtausend Einwohner gibt es dreizehn Kirchen, und das Quellwasser ist so klar und rein wie sonst nirgendwo. Die Menschen kommen von weit her, um davon zu trinken und es mitzunehmen. Außerdem verfügt die Stadt über einen eigenen Strand. Wir sind gleich da, da drüben kannst du sie schon sehen.“

Interessiert betrachtete Della die mittelalterliche Stadt, die sich an einen Hügel schmiegte.

„Ich habe in dem Hotel, in dem ich früher schon übernachtet habe, Zimmer reservieren lassen.“

„Hoffentlich nur eins.“ Sie sah ihn an.

„Natürlich“, antwortete er lächelnd.

In dem Moment kam der Strand in Sicht. „Oh, so weißen Sand und so blaues Wasser habe ich noch nie gesehen. Nein, es ist eher violett.“

„Das kommt auf die Lichtverhältnisse an. Besonders jetzt, am späten Nachmittag, schimmert das Wasser violett. Sollen wir anhalten?“

„Ja, bitte. Ich kann es kaum erwarten, mich ins Wasser zu stürzen.“ Nach der Fahrt brauchte sie eine Abkühlung.

Wenig später zogen sie sich in einer Umkleidekabine um und liefen über den weißen Sand ins Wasser. Während sie sich von den Wellen tragen ließen, fielen alle Sorgen von Della ab, so als hätte das Meer sie mit sich genommen und in Vergessenheit geraten lassen.

Autor

Lucy Gordon
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