Berühre meine Seele

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Kaylee ist eine Banshee, die mit ihrem Schrei den Tod besiegen kann. Aber auch den eigenen?

In der Highschool ist der Teufel los. Alle Mädchen stehen auf den neuen Mathelehrer Mr Beck. Alle außer Kaylee. Denn sie erkennt, was hinter der starken Anziehungskraft des Lehrers steckt: Beck ist ein Inkubus, der sich von der Lust und Leidenschaft ihrer Mitschülerinnen nährt. Kaylee muss ihre ahnungslosen Freundinnen retten - bevor Beck hinter ihr Geheimnis kommt. Doch da entdeckt Todd ihren Namen auf der Todesliste der Reaper... Selbst wenn es Kaylee gelingt, Beck loszuwerden, gibt es scheinbar nichts, was ihren Tod verhindern kann.


  • Erscheinungstag 10.09.2013
  • Bandnummer 7
  • ISBN / Artikelnummer 9783862788958
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rachel Viincent:

Soul Screamers 5 – Berühre meine Seele

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sonja Sajlo-Lucich und Michaela Grünberg

WIDMUNG

Dieses Buch ist für alle, die mir geschrieben und mich gefragt haben, wie es weitergeht.
Bitteschön ;-)
Ihr könnt mich jetzt wieder fragen!

1. KAPITEL

Ich hatte immer gedacht, der Tod wäre das Schlimmste, was jemandem zustoßen könnte. Außerdem war ich immer davon ausgegangen, es wäre auch das Letzte, was demjenigen passieren könnte. Doch wenn ich etwas begriffen hatte, seitdem ich mit Reapern, lebendigen Albträumen und anderen Banshees rumzuhängen pflegte, dann dies: Ich lag mit beiden Annahmen daneben, und zwar auf ganzer Linie …

„Was tust du denn schon hier?“, fragte ich, während ich mich vier Minuten vor Beginn der ersten Stunde auf meinen Platz setzte. „Überpünktliches Erscheinen zur Mathestunde. Also wenn das kein sicheres Anzeichen für eine dramatische Verschiebung des Raum-Zeit-Gefüges ist. Wie viel Zeit bleibt uns noch bis zum Weltuntergang?“

„Keine Ahnung. Aber falls die Welt untergeht, dann bitte jetzt. Mit dieser herrlichen Aussicht stirbt es sich bestimmt leichter.“ Emma seufzte und zog ihr Übungsbuch aus der Tasche auf ihrem Schoß.

Ich folgte dem verklärten Blick meiner besten Freundin zum vorderen Teil des Klassenraums, wo Mr Beck – der neu eingestellte Ersatz für unseren erst kürzlich verstorbenen Lehrer Mr Wesner – gerade dabei war, verschiedene mathematische Fragestellungen an die Tafel zu schreiben. Die Zahlen waren absolut perfekt nebeneinander angeordnet, wie mit einem Lineal ausgemessen. Dieser Mann besaß unter allen Lehrern an der Eastlake High eindeutig die sauberste Handschrift, die ich je gesehen hatte. Emmas Aufmerksamkeit orientierte sich jedoch einen halben Meter unterhalb der Zahlenreihen auf die Rückseite von Mr Becks Jeans, die dank einer als „lockerer Freitag“ bezeichneten Änderung der sonst strengen Kleidervorschriften neuerdings erlaubt war. Zweifelsohne schien Mr. Beck überdies auch sehr viel mehr Wert auf körperliche Fitness zu legen als der durchschnittliche Lehrer an unserer Schule.

„Und dein plötzlich entbranntes Interesse an Mathematik ist natürlich rein wissenschaftlicher Natur, richtig?“

Emmas Lächeln wurde zu einem verschmitzten Grinsen, während sie das Buch vor sich auf den Tisch legte und es an der mit einem lilafarbenen Lesezeichen markierten Seite aufklappte. „Ich weiß nicht, ob ‚rein‘ der treffende Ausdruck ist. Sagen wir mal so: Mir ist leider noch keine Möglichkeit eingefallen, mich dem akademischen Teil in diesem auf Wissensvermittlung fixierten Umfeld komplett zu entziehen. Und das Beste, worauf wir armen Schüler hoffen können, ist etwas Hübsches zum Anschauen, das uns ein bisschen über den Schmerz des alltäglichen Lernprozesses hinwegtröstet.“

Ich lachte. „Bravo. Gesprochen wie ein Lernmuffel aus Überzeugung.“

Emma hätte eine glatte Einserschülerin sein können, würde sie mit etwas mehr Elan an die Sache herangehen. Aber sie war völlig zufrieden mit ihrem Zweierdurchschnitt, für den sie nicht viel tun musste. Abgesehen von Französisch und Mathematik. Die beiden einzigen Fächer, in denen sie nicht einfach alles aus dem Ärmel schüttelte. Und die Anwesenheit des scharfen neuen Mathelehrers hatte bisher auch nicht dabei geholfen, ihre Noten zu verbessern. Im Gegenteil. Dank der Ablenkung in Person war ihre Begeisterung für das, was an der Tafel und im Buch stand, an einem neuen Tiefpunkt angelangt.

Nicht, dass ich es ihr verübeln konnte. Mr Beck gehörte eindeutig zu den Leckerbissen der Männerwelt; mit seinen dunklen, leicht verwuschelten Haaren, den strahlenden grünen Augen und ausgelatschten Turnschuhen, die er immer trug, sogar zu ordentlich gebügelten schwarzen Hosen.

„Er ist erst zweiundzwanzig“, informierte Em mich, als sie meinen unbeabsichtigt schmachtenden Blick bemerkte. „Frisch vom College. Ich wette, das hier ist seine erste richtige Anstellung als Lehrer.“

„Woher weißt du, wie alt er ist?“, tuschelte ich, während Mr Beck den Stift absetzte, die Schublade seines Schreibtisches aufzog und suchend darin herumkramte.

„Hat mir ein Vögelchen gezwitschert. Danica Sussman. Irgendwie ist sie in den Genuss gekommen, Einzelnachhilfe bei ihm zu haben, damit sie in Mathe nicht durchfällt und im Softball-Team bleiben kann.“

„Wo ist sie überhaupt?“, fragte ich über den gerade verhallenden letzten Ton der Glocke hinweg, die den Beginn der ersten Stunde ankündigte. Danica hatte in den vergangenen paar Tagen wegen Krankheit gefehlt, was so weit nichts Außergewöhnliches war. Aber dass sie auch heute zu Hause blieb, wunderte mich. Wenn ein Spiel stattfand, zu dem sie aufgestellt war, kroch sie normalerweise sogar noch auf dem Zahnfleisch in die Schule.

„Liegt anscheinend noch flach“, vermutete Em, als Mr Beck die Anwesenheitsliste aus der Schublade hervorzog und anfing, sie durchzugehen. Emma faltete ein nur zur Hälfte beschriebenes Blatt Papier auseinander und sah mich hoffnungsvoll an. „Hast du zufällig die Hausaufgaben gemacht?“

Ich verdrehte die Augen und holte mein Heft aus der Tasche. „Wie war das gleich noch mit deiner brennenden Leidenschaft für die wunderbare Welt der Zahlen?“

„Das ist echt eigenartig, weißt du? Die erlischt einfach, sobald ich durch das Schultor gehe und den süßen Duft der Freiheit einatme. Puff, weg.“

„Kaylee Cavanaugh?“, hörte ich Mr Beck meinen Namen sagen. Erschrocken blickte ich hoch, davon überzeugt, wir seien beim Schummeln erwischt worden. Doch er stand einfach nur neben seinem Tisch, die Anwesenheitsliste in der Hand, und wartete auf meine Antwort.

„Oh. Hier“, meldete ich mich hastig, und er war bereits drei Namen weiter, als plötzlich die Tür aufging und Danica Sussman den Klassenraum betrat. Sie sah elend aus, das Gesicht ganz blass, bis auf die dunklen Ringe unter ihren Augen, die sie nicht einmal versucht hatte zu kaschieren.

„Danica, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Mr Beck besorgt, doch sie nickte tapfer und ging mit einem blauen Entschuldigungszettel zu ihm nach vorn.

„Mir geht’s gut.“ Sie gab ihm den Zettel, woraufhin Mr. Beck ihn zusammenknüllte und die Papierkugel in den Mülleimer warf.

„Ich habe dich noch gar nicht aufgerufen, also kommst du rein technisch gesehen auch nicht zu spät“, erklärte er, wobei sein Stirnrunzeln verriet, dass er Danicas Beteuerung, sie sei okay, nicht so recht glaubte.

„Danke, Mr B.“, sagte sie lächelnd. Sobald sie sich jedoch umgedreht hatte und zu ihrem Platz ging, presste sie mit schmerzerfülltem Gesicht heimlich die Hand auf den Bauch.

Ungefähr eine halbe Stunde später, während Emma die letzten Sätze ihrer Hausaufgaben hinkritzelte, ohne dabei auch nur für eine Sekunde ihre Augen von Mr Beck loszureißen, spürte ich auf einmal einen bekannten, stechenden Schmerz tief in meinem Hals aufkommen.

Nein! Mein Herz begann so heftig zu pochen, dass ich das Gefühl hatte, mein ganzer Körper würde vibrieren. Das konnte nicht wahr sein! Nicht hier, nicht jetzt. Nicht, nachdem vor gerade mal sechs Wochen drei Lehrer dieser Schule innerhalb von zwei Tagen aus dem Leben geschieden waren. Der vergangene Winter war für mich wie eine nahtlose Aneinanderkettung schrecklicher Todesfälle gewesen, die ich aufgrund meiner Gabe als Einzige voraussah, kurz bevor sie eintraten. Ich fand, ich hätte wirklich eine kleine Frühlings-Auszeit verdient gehabt.

Doch der Schrei einer Banshee entstand niemals grundlos, blinden Alarm gab es da leider nicht. Wann immer jemand in meiner Nähe kurz davor war zu sterben, stieg dieser unwiderstehliche Drang zu schreien in mir auf. Genau genommen bedeutete es, dass ich für die Seele des Sterbenden sang, was sich für Menschen aber leider wie schrilles Gekreische anhörte. Und der gellende Schrei, der sich in diesem Augenblick einen Weg die Kehle emporbahnte, konnte nur eines bedeuten.

Angestrengt biss ich die Zähne aufeinander, um den Schrei nicht nach außen dringen zu lassen. Mit den Fingern krallte ich mich rechts und links an den Ecken meines Tisches fest. So krampfhaft, dass ich ihn ungewollt ein Stück nach hinten zog und Emma verwundert hochsah, als sie das Quietschen hörte.

Sie warf einen kurzen Blick auf mein verkniffenes Gesicht und runzelte die Stirn. Schon wieder?, fragte sie lautlos, und ich antwortete ebenso still mit einem knappen Nicken. Zu mehr wäre ich in diesem Moment auch nicht fähig gewesen. Emmas Gesichtsausdruck wurde ernst. Sie hatte mich oft genug dabei beobachtet, wie ich den Drang niederkämpfte, für die Seele eines Sterbenden zu singen, und kannte die Anzeichen dafür. Zuerst war das Ganze ziemlich erschreckend für sie gewesen, was sich meiner Ansicht nach nicht hätte ändern müssen. Es gefiel mir nicht, dass sie diesen unsichtbaren Kokon des Todes, der mich und alles in meiner Nähe zu umgeben schien, mehr und mehr als Normalität empfand.

Und doch musste ich gestehen, dass es natürlich durchaus Vorteile hatte, wenn die beste Freundin Bescheid wusste. Wie zum Beispiel der Umstand, dass sie nicht in Panik geriet, während sie meinem nervösen Blick folgte, der über die Tischreihen huschte, auf der Suche nach der dunklen Aura, die sich um einen meiner Mitschüler formen und mir zeigen würde, wer in Kürze das Zeitliche segnete. Aber es geschah nichts dergleichen. Der Schrei verweilte im Stadium eines gleichmäßigen, schmerzhaften Drucks im Inneren meines Halses, gerade oberhalb des Kehlkopfes – wo ich ihn verhältnismäßig leicht stoppen konnte, seit ich gelernt hatte, wie das ging. Kurz gesagt, es fühlte sich an, als wäre der unglückliche Todeskandidat ein ganzes Stück weit entfernt, jedenfalls nicht mit mir im selben Raum. Nach dieser Feststellung schaffte ich es immerhin, mich genügend zu entspannen, um die Hand zu heben und mich zu entschuldigen.

Mr Beck sah mich an und wollte mir durch ein Nicken die Erlaubnis geben, den Raum zu verlassen. Doch in diesem Augenblick kippte Danica Sussman ohne jede Vorwarnung seitlich von ihrem Stuhl und fiel bewusstlos auf den Linoleumboden.

Die gesamte Klasse schien für eine Sekunde kollektiv die Luft anzuhalten. Dann scharrten Stühle, als mehrere Leute nacheinander aufstanden und neugierig die Köpfe reckten. Ich war so überrascht, dass mir beinahe der Mund aufklappte, was zum Glück nicht geschah. Denn meine fest zusammengepressten Lippen waren das Einzige, das mich davon abhielt, den durchdringenden Schrei auf die Menschheit loszulassen, der in meiner Kehle steckte.

Mr Beck starrte Danica an und konnte nur schockiert und verwirrt blinzeln, während er stocksteif neben seinem Tisch verharrte.

War sie es? War es Danica, deren Ende unmittelbar bevorstand? Aber wenn ja, weshalb wurde mein Bedürfnis zu schreien dann nicht stärker?

Endlich hatte Mr Beck sich von dem Schreck erholt und eilte durch den Gang zwischen den Tischreihen auf Danica zu. Ehe er bei ihr angekommen war, hatte sich jedoch schon Chelsea Simms neben sie gekniet und hielt ihr die flache Hand vors Gesicht, wenige Zentimeter über der Nase. „Sie atmet noch …“ Chelsea richtete sich wieder auf und betrachtete den reglosen Körper unserer ohnmächtigen Klassenkameradin eingehend, offenbar auf der Suche nach irgendwelchen durch den Sturz verursachten Verletzungen. Sie kniff die Augen zusammen, dann keuchte sie mit einem Mal entsetzt auf. „Scheiße, da ist überall Blut!“ Chelsea taumelte auf den Knien rückwärts und stieß mit der Schulter gegen den nächsten Tisch, doch das leise Krachen wurde von dem aufgeregten Tuscheln und Raunen übertönt, das durch die Menge ging.

Mr Beck kniete sich nun ebenfalls neben Danica, sichtbar alarmiert. „Chelsea, gib im Büro Bescheid. Kurzwahltaste neun.“ Als Chelsea aufstand, zum Lehrerpult lief und sich das Telefon darauf schnappte, sah ich, was allen anderen bereits den nächsten Schreck eingejagt hatte: die immer größer werdende Blutlache, die sich unter Danicas Hüften ausbreitete.

Und da schwoll der Schrei zu seiner vollen Stärke an. Es kam so plötzlich und mit einer Wucht, wie ich es noch nie erlebt hatte. Während sich die übrigen Anwesenden weiter um Danica scharten, flüsterten und sie anstarrten, bis Mr Beck sie wegscheuchte, saß ich wie angekettet auf meinem Stuhl. Mit beiden Händen umklammerte ich erneut die Seiten meines Tisches und schluckte hart, um das schrille Kreischen zurückzudrängen, das in meinem Inneren wie ein loderndes Feuer wütete und mich zu verbrennen drohte.

Aber Danica atmete noch. Ich konnte sie durch die Lücke zwischen den beiden Jungs aus dem Basketballteam sehen und wie sich ihre Brust langsam hob und senkte. Ihre Atemzüge waren nicht einmal stockend oder besonders flach. Doch die Intensität des Schreis, der sich zunehmend schwerer unterdrücken ließ, signalisierte mir, dass jemand im Sterben lag und jede Minute sein Leben aushauchen würde. Nur, wenn es nicht Danica war, wer dann?

„Alles okay?“, fragte Emma, die sich dicht zu mir gebeugt hatte, mit großen sorgenvollen Augen. „Ist es etwa sie?“

Ich konnte als Antwort nur ratlos mit den Schultern zucken. Die einzige Möglichkeit, die ich kannte, um es herauszufinden, war …

Ich erlaubte einem winzigen Fragment des Schreis, durch meine Lippen zu entweichen; ein Geräusch, so leise, dass es niemand außer mir und Emma im Stimmengewirr hörte, das den Raum erfüllte. Aber es genügte. Durch diesen Ton, der die sich vom Körper lösende Seele anzog wie ein Magnet, würde sie für mich sichtbar werden.

Und tatsächlich erschien über Danica eine substanzlose Kontur. Allerdings ähnelte sie nicht einmal im Entferntesten den Seelen – oder besser gesagt deren für mich wahrnehmbarem Abbild –, die ich bisher gesehen hatte. Normalerweise entsprach die Größe des Gebildes zumindest ungefähr der seiner physischen Hülle. Dieses dagegen war kaum größer als meine Faust und irgendwie unförmig, ohne fest umrissene Ränder. Außerdem ging Danicas Atem nach wie vor ruhig und gleichmäßig.

Und da verstand ich. Nicht Danica lag im Sterben. Sie verlor gerade ihr ungeborenes Baby.

„Ich glaube nicht, dass ich heute was essen kann.“ Emma rührte verdrossen mit dem Plastiklöffel in ihrer Schüssel Tomatensuppe herum. „Ehrlich, das ist doch echt total geschmacklos.“

Ich konzentrierte mich darauf, meine Coladose zu öffnen und dabei jeglichen Blick auf Emmas Mittagessen zu vermeiden, aus Angst, mir könnte vom bloßen Hinschauen schlecht werden. „Die machen den Speiseplan bestimmt Monate im Voraus. Damit konnte ja niemand rechnen.“ Was allerdings auch kein großer Trost war, angesichts dessen, was wir an diesem Morgen hatten miterleben müssen. Obwohl dies nicht der erste Todesfall war, den ich sowohl vorausgeahnt als auch aus nächster Nähe beobachtet hatte, wäre mir im Traum nicht eingefallen, dass auch eine Fehlgeburt meinen Instinkt auslösen könnte, für die sterbende Seele zu singen – eine Seele, die diese Welt verließ, noch ehe sie überhaupt in ihr angekommen war. Die Hilflosigkeit, Frustration und Fassungslosigkeit, die mich jedes Mal überkamen, wenn vor meinen Augen jemand starb, waren nichts im Vergleich zu dem, was ich in diesem Moment empfunden hatte. Ich meine, es handelte sich hier schließlich um ein Baby. Ein kleines Leben, das niemals existieren würde. Und ich wusste einfach nicht, wie ich damit umgehen sollte.

„Na ja, aber es sieht so oder so verdammt eklig aus, das musst du zugeben“, bemerkte Sabine vom gegenüberliegenden Ende des Tisches aus, ohne ihrem eigenen Tablett irgendwelche Beachtung zu schenken, während eine laue Frühlingsbrise ihre langen schwarzen Haare flattern und ihr ins Gesicht wehen ließ. Sie strich die losen Strähnen mit den Fingern zurück und entblößte dabei ein paar glitzernde, unterschiedlich große Silberringe am oberen Teil ihres Ohrs. „Ist es also wahr? Dass Danica Sussman heute früh den ganzen Fußboden vollgeblutet hat?“

„Ebenso wahr wie grauenhaft“, bestätigte Emma, legte ihren Löffel beiseite und schob den Teller von sich weg. „Ich hoffe, es geht ihr einigermaßen gut.“

Nash, der sich in diesem Augenblick mit einer Pappschachtel Nachos in der Hand neben mich auf die Bank setzte, nickte ernst.

Danica war mit einem Krankenwagen abtransportiert worden und mein Drang zu schreien bereits vorüber, als man sie auf eine Trage gehoben hatte. Zu diesem Zeitpunkt wusste wahrscheinlich niemand außer mir mit Sicherheit, dass sie überleben würde – ein winziger, verborgener Teil von ihr jedoch den Kampf bereits verloren hatte.

„Ja, das hoffe ich auch.“ Nash legte den Arm um meine Hüfte und drückte mich sanft an sich. Dann klappte er den Deckel der Schachtel hoch, und während er hineingriff und sich einen Nacho herausangelte, fragte ich mich plötzlich, ob wir Danicas Kind hätten retten können, wenn wir beide dort gewesen wären. Ein männlicher Banshee wie Nash sang nicht für die Seelen der Sterbenden, verfügte dafür aber über andere Fähigkeiten. Zum Beispiel die Gabe, jemanden nur durch den Klang seiner Stimme so zu beeinflussen, dass derjenige tat, was er wollte. Und natürlich die Macht, eine losgelöste Seele zu lenken. Wir beide zusammen konnten sie sogar zurück in ihren Körper führen und ihren Besitzer damit vor dem Tod bewahren – allerdings hatte so ein Eingriff in die Pläne des Schicksals seinen Preis. Jemand anders musste anstelle des ursprünglichen Opfers sterben. Ein Leben für ein Leben. So lief das.

Aber wer wusste, ob es bei einem ungeborenen Baby funktionierte, das ja noch nicht mal einen voll ausgebildeten Körper hatte, in den die Seele zurückgeschickt werden könnte. Oder, selbst wenn, ob der Erfolg von Dauer wäre. Denn schließlich hatten Fehlgeburten für gewöhnlich einen Grund und passierten nicht einfach nur so. Entweder, weil mit dem Kind etwas nicht stimmte, oder weil die Mutter krank und der Schwangerschaft nicht gewachsen war. Irgend so was in der Art, richtig? Das hatte die Natur sicher nicht umsonst so eingerichtet, sondern um Schlimmeres zu verhindern.

Vielleicht suchte ich aber auch nur verzweifelt nach dem Silberstreif am Horizont eines schwarzen Himmels, der von einer finsteren Wolke des Todes verdunkelt wurde, die alles Licht verschluckte und mir eine Heidenangst einjagte.

„Es heißt, sie hätte eine Fehlgeburt gehabt“, sagte Emma leise, und ich zuckte innerlich zusammen, als sich daraufhin ein junger Mann in grün-weißem T-Shirt auf der Bank hinter ihr umdrehte und ich seine verweinten Augen sah, in denen gleichzeitig Wut und Trauer standen. Max Kramer. Er und Danica waren seit fast einem Jahr ein Paar und sein Schmerz so schonungslos offenkundig, dass ich das Gefühl hatte, mit meiner bloßen Anwesenheit seine Privatsphäre zu verletzen.

„Die Leute sollten besser mal nachdenken, bevor sie so einen Scheiß über jemanden erzählen“, blaffte er. Emma erstarrte für einen Moment beschämt, wie ein Kind, das beim Klauen erwischt worden war, dann drehte sie sich langsam zu Max um.

„Max … ich … entschuldige, ich wollte nicht …“

Er stand auf, ohne sie ausreden zu lassen, und sein kräftiger Oberkörper warf einen langen, schwarzen Schatten auf unseren Tisch. „Nur, damit ihr’s wisst, das ist alles dummes Gesülze.“ Er schrie nicht, bemühte sich aber auch nicht direkt, leise zu sprechen, sodass ihn vermutlich der halbe Schulhof hören konnte. „Danica kann gar nicht schwanger gewesen sein, denn wir waren noch nicht zusammen im Bett, okay? Also sucht euch jemand anderen, über den ihr tratschen könnt. Oder noch besser, haltet doch gleich ganz eure Klappe.“

Wir sahen ihm nach, wie er auf die Tür zur Cafeteria zustapfte, und ein Blick auf Emmas geknickten Gesichtsausdruck genügte, um zu wissen, dass Max ihr genauso leidtat wie mir.

„Armer Trottel“, sagte Sabine, die gerade dabei war, sich einen von Nashs Käsenachos in den Mund zu schieben. „Er glaubt anscheinend wirklich, was er sich da einredet.“ Als Mara hatte Sabine die Gabe, die in Menschen tief verborgenen Ängste zu lesen, um daraus Albträume zu konstruieren, von denen sie sich ernährte, während ihre Opfer schliefen. Doch ihre Mara-Fähigkeiten hatten nichts damit zu tun, dass sie allein aufgrund von jemandes Körpersprache und Gesichtsausdrücken erstaunlich treffsicher erahnen konnte, was in einer Person vor sich ging. Zu meinem permanenten Leidwesen.

„Natürlich tut er das“, schnappte Emma, die entgegen ihrer sonst so friedliebenden Natur jede kleinste sich bietende Gelegenheit beim Schopf packte, um mit Sabine Streit anzufangen. Doch man konnte es ihr nicht zum Vorwurf machen. Schließlich war Emma von Sabine vor nicht ganz sechs Wochen in die Unterwelt verschleppt und um ein Haar einem Hellion ausgeliefert worden, und zwar mit Leib und Seele. Aber dieses Mal steckte offenbar mehr als das hinter ihrem Verhalten; Em war sauer auf sich selbst. Aus dem Grund, dass sie Max, dem es auch so schon schlecht genug ging, verletzt hatte. Und das allein deswegen, weil sie einfach nicht widerstehen konnte, immer alles brühwarm weiterzuerzählen, was sie aufschnappte. „Dadurch, dass irgendjemand wilde Vermutungen anstellt, werden sie nicht automatisch zur Wahrheit. Meine Tante hatte letztes Jahr eine Fehlgeburt, und die ist völlig anders verlaufen als das heute Morgen bei Danica. Bauchkrämpfe, klar, aber Blutungen hatte sie fast gar keine, geschweige denn so heftige.“

Sabine zuckte ungerührt mit den Schultern. „Ich bin zwar kein Medizinmann, aber wenn du mich fragst, sie war hundertprozentig schwanger, nur eben nicht vom guten alten Max. Doch das Licht ist ihm noch nicht aufgegangen, wie man gerade gesehen hat.“

„Tja, zu dumm, dich hat nämlich niemand gefragt“, stellte Emma schnippisch fest. „Also wieso kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Kram?“

Stirnrunzelnd blickte Sabine sie an. „Hey, schon gut, reg dich ab. Die böse Mara rennt nicht gleich los und bindet dem armen Jungen auf die Nase, dass seine Freundin zweigleisig gefahren ist.“

„Sabine …“ In Nashs Stimme lag ein unverkennbar warnender Unterton, der normalerweise Musik in meinen Ohren war, wenn er sich gegen Sabine richtete. Die Exfreundin meines Freundes. Welche keinen Hehl daraus machte, dass sie den „Ex“-Teil nach wie vor nur allzu gern streichen würde, Waffenstillstand hin oder her.

„Sie hat recht“, flüsterte ich hinter vorgehaltener Hand, damit mich außer den anderen an unserem Tisch niemand sonst auf dem Schulhof hörte.

„Woher willst du …?“ Emma sah mich verwundert an, und ich begegnete nur zögerlich ihrem Blick.

„Weil ich spüren konnte, wie das Baby gestorben ist.“

Betretene Stille machte sich plötzlich breit, die mit jeder Minute schwerer und drückender wurde. Dann, nach einer gefühlten halben Ewigkeit, wurde sie endlich von Emmas leisem „Ohh“ gebrochen. „Deshalb dein Drang zu schreien. Und ich dachte, Danica wäre der Grund dafür gewesen, auch wenn sie noch gelebt hat, als der Notarzt kam. Dass sie auf dem Weg ins Krankenhaus …“

„Nein, sie wird durchkommen, soweit ich das im Moment sagen kann“, beruhigte ich Em. Wenigstens eine gute Nachricht, die ich zu vermelden hatte. „Aber das Kind hat sie definitiv verloren. Und Max ist offenbar nicht der Vater, wenn es stimmt, dass er und Danica noch nie miteinander geschlafen haben.“

„Mich würde ja wirklich mal interessieren, wer sie dann flachgelegt hat.“ Sabine biss krachend in einen weiteren Käsenacho und starrte gedankenverloren zu den Wolken am Himmel hinauf, als erwartete sie, dort einen Hinweis auf die Identität des geheimnisvollen Dritten zu entdecken.

Nash brachte schnell den Rest seines Mittagessens vor ihr in Sicherheit, indem er sein Tablett wegzog. „Das geht uns nichts an.“

„Vielleicht doch“, widersprach sie. „Ich wette, es war Mr Becks Ableger.“

„Du bist so was von krank!“, fuhr Emma sie an, jetzt erst recht wütend, dass die ihr am wenigsten sympathische Person auf der Welt sich auch noch anmaßte, ihren Lieblingslehrer in den Dreck zu ziehen.

Sabine verdrehte genervt die dunklen Augen. „Es ist nur eine Vermutung, okay? Und gar nicht so weit hergeholt, wenn man mal drüber nachdenkt. Ich meine, er verschleiert immerhin seine Spezies, wer weiß, was er außerdem noch für Geheimnisse hat.“

Der Löffel fiel mir aus der Hand und direkt in meine ebenfalls unberührte Suppenschüssel. „Beck ist kein Mensch?“, fragte ich ungläubig, während es Emma neben mir anscheinend die Sprache verschlagen hatte. Selbst Nash sah überrascht aus.

Sabine zog die Augenbrauen hoch. „Ich dachte, ihr wüsstet das.“

„Nein, wir hatten keinen Schimmer“, gab Nash zu. „Bist du dir da auch wirklich sicher?“

„So sicher, wie ich mir bin, dass unsere liebe Kaylee nachts sehr interessante Dinge zusammenträumt, an die sie im wachen Zustand nicht mal zu denken wagen würde.“

Nash schob sein Tablett zur Seite, beugte sich zu ihr vor und fragte mit gesenkter Stimme: „Und woher weißt du das so genau?“

Die Mara fixierte mich eingehend. Ich bemerkte, dass ihre schwarzen Augen für einen kurzen Moment noch dunkler wurden, als wäre eine düstere Gewitterwolke vorbeigezogen und hätte die Sonne verdeckt. Dabei war heute ein richtig schöner, für Mitte März schon sehr warmer Tag mit stahlblauem Himmel. „Ich hab vor ein paar Monaten eine kleine Sightseeing-Tour durch ihr Unterbewusstsein gemacht, falls du dich erinnerst. Und kaum zu glauben, aber wahr, da sind ihre ganzen Hemmungen und Zweifel wie weggewischt, wie’s aussieht.“

„Ich rede von Beck“, stellte Nash klar, während ich versuchte, die brennende Hitze in meinen Wangen zu einem Todesstrahl zu bündeln und diesen auf Sabine zu richten.

Sie runzelte verständnislos die Stirn, als würde sie sich über Nashs Frage wundern, wo die Antwort doch offensichtlich war. „Seine Ängste schwelen ziemlich dicht unter der Oberfläche, leicht zu lesen. Er weiß, dass dieser Ort kürzlich zu einer Art Knotenpunkt auf der Unterweltautobahn geworden ist. Deshalb muss er ständig damit rechnen, von einem der größeren Fische gefressen zu werden, bevor er sein Ziel erreicht hat, weswegen er überhaupt nur hier ist.“

„Und das wäre?“, fragte Emma, sichtlich verblüfft.

„Woher zum Geier soll ich das wissen?“ Sabine stibitzte sich schnell noch einen Nacho, als Nash gerade nicht hinsah. „Ich bin eine Mara, keine Telepathin. Würde aber auch nicht viel nützen, Gedanken lesen zu können. Es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass einer rumläuft und denkt: ‚Ich bin ein Monster aus einer anderen Welt, ein Gesandter der Hölle, der Elend und Verderben über die Menschen bringen will. Oh Mann, hoffentlich hat mich jetzt nicht irgend so ein Hellseher gehört …‘ Oder?“

„Du hättest auch einfach sagen können: ‚Ich weiß es nicht‘“, bemerkte ich herablassend.

Sabine hob eine Augenbraue, was ich als indirekte Herausforderung verstand. „Ich weiß es nicht“, sagte sie und schaffte es tatsächlich, diese plumpe Retourkutsche schlagfertig klingen zu lassen. „Aber ich habe, wie üblich, trotzdem immer noch mehr Durchblick als du.“

Ihr letzter Kommentar überraschte mich nicht, solche Seitenhiebe waren typisch für sie. Und Becks Nicht-Menschlichkeit hätte mich genauso wenig überraschen sollen. Besonders, wenn man bedachte, dass seit Kurzem in der Unterwelt – ein infernalisches Abbild unserer eigenen Welt und Ursprung alles Bösen – ausgerechnet unsere Schule als die neue Szene-Location der VIP-Monster galt, wo sich alles traf, was Rang und Namen hatte.

Nach einer Vier-bis-acht-Uhr-Freitagabend-Schicht im Cineplex, wo das monotone Abfüllen von Popcorn in Tüten und Softdrinks in Pappbecher nicht geholfen hatte, die Erinnerung an Danica, wie sie da blutend auf dem Boden lag, aus meinem Kopf zu vertreiben, lenkte ich mein Auto in unsere Einfahrt. Erschöpft, aber bereit für den angenehmen Teil des Abends: Nash würde gegen neun Uhr zum DVD-Schauen vorbeikommen, und mein Vater hatte versprochen, sich den Abend über in seinem Schlafzimmer aufzuhalten, damit wir ungestört waren. Doch bevor ich es mir mit meinem Freund gemütlich machen konnte, wollte ich erst noch schnell unter die Dusche springen, um den hartnäckigen Kinoduft von Popcorn und Nachos aus meinen Haaren zu waschen. Außerdem sollte ich meinen Dad wohl besser darüber informieren, dass mein neuer Mathelehrer nicht menschlich war – solche Dinge erfuhr er normalerweise gern, und zwar möglichst umgehend.

Wie sonst auch warf ich meine Schlüssel in die leere Süßigkeitenschale auf der halbhohen Trennwand zwischen Küche und Wohnzimmer, als die plötzliche Stille mir bewusst machte, dass mein Dad gerade noch mit jemandem geredet hatte, als ich hereingekommen war. Bis ich hereingekommen war.

Hmm …

„Dad?“ Ich streifte meine Schuhe ab und kickte sie mit dem Fuß auf den Boden des offenen Garderobenschranks neben der Tür. Dann ging ich in Socken zum Zimmer meines Vaters. „Alles okay?“

„Ja, Spatz, wieso?“

Die Tür war nur angelehnt, also öffnete ich sie und sah Dad zu meiner Überraschung in der Mitte des Raums stehen, die Hände in den Taschen vergraben. Ich hatte eigentlich erwartet, ihn am Telefon vorzufinden – er hatte doch eben noch mit irgendwem gesprochen, oder?

„Was ist los?“ Ich runzelte die Stirn, als er zögerte. „Dad …?“

Und plötzlich materialisierte sich Todd nur wenige Meter von mir entfernt und blickte mich direkt an.

„Okay … das ist sogar noch gruseliger als dieses verdächtige Schweigen.“

Ich erwartete, dass wenigstens einer von beiden lachen und dann eine der logischen Erklärungen folgen würde, die mein Vater für alles und jeden stets in petto zu haben schien. Doch beide schwiegen beharrlich weiter. „Gut, wenn ihr mich erschrecken wolltet, ist euch das gelungen. Ihr könnt jetzt damit aufhören.“

Todd gab sich normalerweise nur mit meinem Dad ab, sofern sich eine Gelegenheit bot, ihm den letzten Nerv zu rauben. Und umgekehrt war auch dessen Interesse an Nashs Bruder nicht sonderlich groß, es sei denn, er brauchte Informationen, die nur ein Reaper ihm beschaffen konnte. Was auch immer es also war, das die beiden veranlasst hatte, diese private Krisensitzung abzuhalten, es musste wichtig sein.

„Leute? Ich kann hier noch ungefähr zwei Sekunden ruhig stehen bleiben, bevor ich ausraste und einem von euch an den Hals springe. Fünf … vier …“

„Es ist nichts, Kleines“, wollte mein Vater mich beruhigen, aber Todds Gesichtsausdruck machte den Versuch zunichte, noch bevor Dad zu Ende gesprochen hatte.

„Wenn du es ihr nicht sagst, tue ich es“, drohte Todd.

„Todd, ich brauche deine Hilfe nicht. Sie ist meine Tochter …“

Der Reaper drehte ihm den Rücken zu und wandte sich an mich. Er war ungewohnt ernst, was meine Skepsis nur noch verstärkte. „Kaylee, die neue Liste ist heute rausgekommen.“ Womit die Reaper-Liste gemeint war, die sämtliche Todesfälle der nächsten sieben Tage umfasste, die sich in seinem Zuständigkeitsbereich ereignen würden.

Verdammt. Jemand stand also kurz davor zu sterben. Jemand, der mir nahestand. Ich atmete tief durch, aber meine Hände fingen trotzdem an zu zittern. Bitte, lass es nicht Emma sein. Oder Dad. Ihn konnte ich nicht auch noch verlieren.

Ich wollte nachfragen und versuchte wirklich, genug Kraft dafür aufzubringen, aber letztlich musste ich mir eingestehen, dass ich sie nicht hatte. Allein der Gedanke, dass mir bald schon wieder jemand aus meiner direkten Umgebung entrissen werden würde, war einfach zu viel für mich.

Nach einer langen Pause antwortete Todd mir schließlich von allein auf die Frage, die ich nicht zu stellen wagte.

„Es geht um dich, Kaylee. Dein Name steht auf der Liste.“

2. KAPITEL

„Wo ist Styx?“ Ich drehte Todd und meinem Vater den Rücken zu und ging wie in Trance in Richtung meines Zimmers, die Augen fest geschlossen. Sie sollten nicht sehen, wie schockiert ich innerlich war. Sicherlich würde ich bald von quälender Todesangst erfasst werden, sobald die ganze Tragweite von Todds Aussage bis zu meinem Verstand vorgedrungen wäre. Aber im Moment fühlte ich mich wie betäubt und es fröstelte mich, so als hätte ich gerade einen Kopfsprung in kaltes Wasser gemacht, anstatt langsam hineinzuwaten und meinem Körper die Möglichkeit zu geben, sich an den Temperaturunterschied zu gewöhnen.

„Kaylee?“ Hinter mir hörte ich die Schritte meines Vaters, als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete und hineinging, während tausend Gedanken und Fragen mit einer Geschwindigkeit durch meinen Kopf schwirrten, dass mir davon übel wurde. „Hast du verstanden, was Todd gerade gesagt hat?“

„Natürlich, ich bin ja nicht taub.“ Obwohl das zugegebenermaßen keine Garantie dafür war, alles mitzubekommen, was Todd erzählte. Reaper konnten filtern, von wem sie gehört und gesehen werden wollten, und das ganz nach Belieben. Leider hatte Todd die schlechte Angewohnheit, sich meistens nur einer der anwesenden Personen in einem Raum zu zeigen – normalerweise mir.

„Ich glaube, sie befindet sich in einer Art Schockzustand“, sagte Todd, während ich unbeirrt den Boden, mein ungemachtes Bett und den Haufen dreckiger Wäsche auf meinem Schreibtischstuhl nach einem atmenden Fellknäuel absuchte.

„Styx?“, rief ich, doch nirgends rührte sich etwas. Todd erschien plötzlich vor dem Fußende des Bettes, gespannt auf meine Reaktion, und schien zufrieden, als ich erschrocken zusammenzuckte. „Ich bin nicht in einem Schockzustand, okay? Jedenfalls noch nicht. Also lass das gefälligst.“

Auf den ersten Blick hatten er und Nash nicht viel gemeinsam, abgesehen von ihrem athletischen Körperbau. Todds Augen waren blau, die lockigen Haare hellblond, wie bei seiner Mutter. Nash dagegen kam scheinbar nach seinem Vater, der leider gestorben war, lange bevor ich die beiden Hudson-Brüder kennengelernt hatte.

„Im Moment befinde ich mich im Stadium der Verleugnung, welches mir – ganz ehrlich – von allen Phasen, die man in so einem Fall durchläuft, am liebsten ist. Und ich wäre euch wirklich dankbar, wenn ihr mich einfach noch ein Weilchen in Ruhe vor mich hin verleugnen lassen könntet, okay?“

Ich drängelte mich an meinem Vater vorbei, zurück in den Flur, und ging dann in Richtung Küche. „Styx, wo steckst du?“

„Ich habe sie vorhin in den Garten gelassen“, sagte mein Vater, während er mir in die Küche folgte. „Du weißt doch, sie mag Todd nicht besonders.“

„Muss wohl daran liegen, dass er nie was anderes mitbringt als schlechte Nachrichten und noch schlechtere Ratschläge“, giftete ich, mir vollkommen bewusst darüber, wie unfair ich mich ihm gegenüber verhielt. Natürlich konnte Todd nichts dafür, dass bald meine Nummer aufgerufen wurde.

„Das stimmt so ja nun auch nicht ganz.“ Todd versuchte zu lächeln, und insgeheim zollte ich ihm großen Respekt für seine tapfere Bemühung, die Stimmung aufzulockern, auch wenn ich es nicht zeigte. „Manchmal bringe ich auch leckere, ofenwarme Pizza mit, oder?“

Da die Tätigkeit eines Reapers – er löschte den letzten Lebensfunken der Sterbenden im örtlichen Krankenhaus und sammelte anschließend ihre Seelen ein – nicht in weltlicher Währung bezahlt wurde, hatte Todd sich einen Nebenjob als Pizzabote gesucht, um seine Finanzen aufzubessern. Womit er meinem Vorschlag gefolgt war, den ich vor ein paar Wochen im Scherz gemacht hatte, weil mir diese Arbeit für jemanden, der sich innerhalb eines Sekundenbruchteils von einem Ort zum anderen teleportieren konnte, ideal erschien.

Anfangs hatte die Tatsache, dass ein und dieselbe Person gleichzeitig Bote des Todes sowie frischer Peperonipizza sein konnte, mich irgendwie amüsiert. Aber jetzt, nach Danicas Fehlgeburt und mit der Aussicht auf mein eigenes baldiges Ableben, war mir das Lachen gründlich vergangen. „Styx ist wahrscheinlich schon halb am Verhungern“, brummelte ich und öffnete die Kühlschranktür. Doch mein Vater legte sanft aber, bestimmt seine warme Hand auf meine und drückte die Tür wieder zu.

„Kaylee, bitte setz dich hin. Wir müssen reden.“

„Ich weiß.“ Das Problem war nur, dass ich nicht anders konnte, als mich irgendwie abzulenken. Ich hatte panische Angst davor, dass der dichte Nebel, der sich schützend um meinen Verstand gelegt hatte, ansonsten sofort verschwinden würde und ich der hässlichen Wahrheit ins Gesicht sehen müsste.

Dabei hatte ich mich für meinen Geschmack mit meinen fast siebzehn Jahren bereits mit mehr als genug grausamen Wahrheiten auseinandersetzen müssen.

Schließlich nickte ich widerwillig. Mir war es nie vergönnt gewesen, unangenehmen Dingen lange aus dem Weg gehen zu können. Warum sollte es also dieses Mal anders sein? Ich zog die Kühlschranktür erneut auf, holte eine Dose Cola heraus, dann trottete ich hinter meinem Vater ins Wohnzimmer. Dort wartete Todd schon auf uns, wie üblich in Dads Lieblingssessel gelümmelt. Erstaunlicherweise kassierte er jedoch heute keinen Rüffel dafür. Anstatt Todd mit einer Tracht Prügel zu drohen, wenn er nicht sofort das Feld räumte, setzte mein Dad sich wortlos mit mir auf die Couch, und ich konnte ihm ansehen, dass er mich am liebsten in den Arm genommen und getröstet hätte. Aber er tat es nicht. Er schien zu spüren, wie sehr sich alles in mir dagegen wehrte, so eine Geste der Trauer zuzulassen. Denn wenn ich das täte, würde mir endgültig bewusst werden, dass dies alles hier kein Traum war, es passierte tatsächlich. Und egal, wie wenig Zeit mir noch blieb, ich wollte diese unumgängliche Erkenntnis so lange wie möglich hinausschieben. Nur noch ein paar Minuten. Oder Stunden.

Also beschloss ich, mich stur auf die Fakten zu konzentrieren und die Wahrheit auszublenden. Auch wenn das absurd erschien, zwischen diesen beiden Dingen herrschte ein großer Unterschied.

„Hast du ganz sicher meinen Namen gelesen?“, fragte ich und umklammerte die Dose mit beiden Händen, obwohl sie eiskalt war und meine Finger anfingen, sich steif anzufühlen. Gut so. Solange ich das noch spüren konnte, war ich zweifelsohne am Leben.

Todd nickte geknickt. „Normalerweise bekomme ich die Namen der nächsten Kandidaten höchstens zwei Tage im Voraus zu Gesicht, aber du stehst auf der Spezialliste.“

Spezialliste.

Für die Sonderfälle – wie mich –, die eigentlich schon hätten gestorben sein müssen, dank geborgter Zeit aber trotzdem weiterlebten. Meine eigene Zeit wäre unter normalen Umständen abgelaufen gewesen, als ich drei war. Viel zu jung, um mich zu erinnern, daher wusste ich nur, was man mir über jene Nacht später erzählt hatte. Ich sollte am Rand einer vereisten Straße umkommen, durch einen Autounfall. Meine Eltern aber konnten den Gedanken, ihr einziges Kind zu verlieren, nicht ertragen. Darum feilschte mein Vater mit dem Reaper, der meine Seele holen sollte, und bat ihn, mich zu verschonen und stattdessen ihn zu töten. Der Bastard ging auf den Handel ein, nur brachte er nicht wie vereinbart meinen Vater um, sondern meine Mutter.

Und so hatte ich – wortwörtlich – ihr Leben gelebt, dreizehn Jahre lang. Jetzt aber neigte sich ihre natürliche Lebensspanne dem Ende zu, und das bedeutete, ich würde sterben.

Zum zweiten Mal.

„Du bist doch noch gar nicht so lange dabei“, sagte mein Vater skeptisch. „Wie kommt es, dass du schon Zugang zur Spezialliste hast?“ Dad brachte Todd gewohnheitsmäßig ein gewisses Misstrauen entgegen, weil er ihn schlichtweg nicht mochte, aber hinter diesem Fall von Argwohn steckte ein anderer Grund. Einer, den ich nachvollziehen konnte.

Wenn Todd sich irrte oder sogar log, warum auch immer er das tun sollte, würde ich diese Welt vielleicht doch noch nicht verlassen. Dann wäre meine geborgte Zeit nicht schon bald um und würde mir schneller durch die Finger rinnen als eine Handvoll Sand.

„Ja, und das ist das Merkwürdige an der Sache“, stimmte Todd meinem Vater zu. „Offiziell habe ich keinen Zugriff darauf, obwohl ich mit ein bisschen Tricksen an die Datei kommen könnte, wenn ich wollte. Aber dazu hätte ich natürlich erst mal wissen müssen, dass die neue Liste fertig war, und da liegt der Hase im Pfeffer. Ich wusste es nicht.“ Todd verfügte über die Passwörter seines Vorgesetzten, denn er war derjenige, der sie für ihn eingerichtet hatte. Das allerdings nur aus dem Grund, weil es außer ihm nur noch einen anderen Reaper gab, der genauso jung und mit Computern aufgewachsen war, sodass er sich mit solchen Dingen auskannte. „Heute brauchte ich mir aber gar nicht erst die Mühe machen zu spionieren. Als ich vorhin in die Zentrale kam und meine eigene Liste abholen wollte, hat Levi mich unter einem äußerst seltsamen Vorwand in sein Büro geschickt. Und dreimal dürft ihr raten, was da ganz offen auf seinem Schreibtisch rumlag.“

„Und du hast natürlich einen Blick drauf geworfen“, fügte mein Vater hinzu.

„Ich bin ein Reaper, kein Heiliger. Ist auch egal, ich glaube, er hat die Liste absichtlich liegen lassen, und zwar so, dass ich sie gar nicht übersehen konnte.“

„Wieso sollte er das tun?“ Nicht einmal die dunkle Wolke des Unheils, die über mir schwebte wie ein Damoklesschwert, schaffte es, meine Neugierde komplett auszuschalten.

Todd zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht kann er mich gut leiden. Oder dich.“ Ich hatte Levi, Todds Boss, nur ein einziges Mal getroffen, und bei diesem kurzen Kennenlernen war er recht beeindruckt von meinem Scharfsinn gewesen. Aber so beeindruckt, dass er mir eine heimliche Warnung wegen meines eigenen bevorstehenden Todes zukommen ließ? Möglich, nur …

„Weshalb?“ Ich forschte in Todds Augen nach einer ehrlichen Antwort. Wäre er Nash, hätte mir allein das Flirren der Farben in seiner Iris verraten, was er empfand. Todd dagegen war, genau wie mein Vater, zu gut darin, seine Gefühle zu verbergen. Und das tat er so gut wie ständig, nur selten ließ er eine Emotion nach außen durchschimmern.

„Weshalb er dich mögen sollte?“ Todd hielt meinem Blick unbeeindruckt stand.

„Na ja, du ziehst die unschönen Aspekte des Lebens und alles, was damit zu tun hat, an wie ein Magnet. Levi gehört als Reaper eindeutig in diese Kategorie, würde ich sagen.“

Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie alt Levi sein mochte, wahrscheinlich irgendwo im dreistelligen Bereich. Äußerlich wirkte er allerdings extrem jung, wie ein pickliger Achtjähriger, dazu einen ganzen Kopf kleiner als ich. Das, zusammen mit der Tatsache, dass jeder in seiner Branche technisch gesehen tot war, machte ihn für mich zu einem der unheimlichsten Reaper überhaupt. Leider hatte ich ja in letzter Zeit diverse Kontakte mit anderen seiner Art gehabt, was mir einen direkten Vergleich erlaubte.

Aber Todd hatte meine Frage missverstanden.

„Nein, ich meinte, welchen Grund könnte er haben, es mich wissen zu lassen? Und welchen hast du? Nash hat gesagt, wir sollten niemanden vorwarnen, wenn er bald sterben wird, weil derjenige, sobald er es weiß, kaum noch die Chance hat, wenigstens ein paar schöne Momente zu erleben, ehe es vorbei ist. Und ich muss sagen, das leuchtet mir jetzt noch mehr ein als vorher.“ Ich kannte nicht mal das genaue Datum meines Todes, aber allein zu wissen, dass er unmittelbar vor der Tür stand, ließ meinen Magen beim bloßen Gedanken an Essen revoltieren.

„Grundsätzlich ist das richtig …“, sagte mein Vater, verstummte dann jedoch mitten im Satz, als Todd ihn mit einem typisch finsteren Lächeln bedachte.

„Du bist die große Ausnahme bei so vielen Regeln. Wieso sollte es gerade in diesem Fall anders sein?“

„Willst du damit sagen, ich wäre so etwas Besonderes, dass ich zumindest den Luxus der Vorfreude verdiene?“, fragte ich bissig und hoffte inständig, seine Bemerkung nur in den falschen Hals bekommen zu haben.

„Nein, absolut nicht.“ Mein Vater schüttelte den Kopf. „Aber du kennst das Sprichwort ‚Gefahr erkannt, Gefahr gebannt‘. Ein Unheil, das man nicht kommen sieht, kann man nicht verhindern.“

„Ihr habt vor, es zu verhindern?“ Diese Möglichkeit war mir seltsamerweise noch gar nicht in den Sinn gekommen. Ich meine, es hatte schon einmal jemand diesen Kampf für mich geführt – und immerhin einen Teilsieg davongetragen. Aber so sehr ich auch weiterleben wollte, es schien mir nicht fair zu sein, dem Tod noch mal einen Strich durch die Rechnung zu machen. Niemand, den ich kannte, hatte auch nur ein einziges Mal eine solche Chance bekommen, geschweige denn zwei.

Und außerdem gab es da noch ein anderes Problem. Ein gewaltiges: Um meine Zeit zu verlängern – schon wieder –, müsste jemand an meiner Stelle sterben. Schon wieder. Damit könnte ich nicht leben. Unmöglich.

„Natürlich werden wir alles versuchen!“, beharrte mein Vater. „Es gibt Wege, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, wenigstens für eine gewisse Zeit. Wir wissen das besser als jeder andere, immerhin ist es uns schon mal gelungen.“

„Und das ist der Haken“, sagte Todd leise, während sein Blick auffallend abwesend war. „Einer davon jedenfalls.“

Mein Vater sah ihn finster an. „Was soll das heißen?“

„Die Regeln sind ziemlich eindeutig, was zweite Aufschübe betrifft.“ Er zögerte, und ich wusste, was er gleich sagen würde, noch bevor er weitersprach. „Es gibt keine.“

Für einen langen Moment herrschte Stille. Währenddessen breitete sich der kalte Schock in meiner Brust aus, und es fühlte sich an, als würden eisige Hände mein Herz zusammendrücken. Trotz meiner Entschlossenheit, niemand anderen den Preis bezahlen zu lassen, damit ich weiterleben konnte, erzeugte das plötzliche und endgültige Aus dieser Möglichkeit ein Echo der Hoffnungslosigkeit im Universum, das nur ich hörte. Noch nie hatte ich so eine tiefe, alles verschlingende Angst empfunden.

„Es muss Ausnahmen geben“, sagte mein Dad. Er war wie immer der Erste, der nach einem uns alle bis in die Grundfesten erschütternden Tiefschlag seine Stimme wiederfand. „Es gibt immer welche.“

Todd schüttelte langsam den Kopf, und eine einzelne widerspenstige blonde Locke fiel ihm in die Stirn. „Nicht in dieser Sache. Ich hab schon überall rumgefragt, und … na ja, das läuft einfach nicht. Keine Chance.“

„Aber du bist ein Reaper!“ Mein Vater stand abrupt auf, seine Worte donnerten wie ein Gewitter durch den Raum. Ich hatte das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Ihn dazu zu bringen, nicht so zu schreien, oder ihn wenigstens ein kleines bisschen zu beruhigen. „Wozu bist du überhaupt zu gebrauchen, wenn du nicht mal einem Freund aus der Klemme helfen kannst?“

„Dad …“, versuchte ich, mich einzumischen, wobei mir gleichzeitig bewusst wurde, dass er Todd bis heute nie als Freund bezeichnet hatte. Aber das war wohl damit gemeint, wenn die Leute sagten, der Zweck heilige die Mittel …

„Kaylee, wir sprechen hier nicht über eine Kleinigkeit. Es geht um dein Leben“, sagte mein Vater, und mir lief es kalt den Rücken runter, als ich sah, dass meinem sonst so unerschütterlichen Dad die Hände zitterten. „Du bist viel zu jung zum Sterben, und wir werden das nicht zulassen, hast du verstanden? Wir tun alles, was nötig ist. Ich tue alles, was nötig ist.“

Und da begriff ich, wovon er redete. Er hatte schon einmal versucht, sein eigenes Leben für meines zu geben, und er würde es ein zweites Mal tun, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

„Nein, Dad …“, flüsterte ich. Angst und Fassungslosigkeit verwandelten meine Stimme in ein dünnes Wispern.

Er ignorierte mich und wandte sich Todd zu. „Aber ich brauche Hilfe.“ Das Blau in den Augen meines Vaters wirbelte in Verzweiflung auf. Es war die stärkste Emotion, die ich jemals sich hatte darin widerspiegeln sehen, und ich konnte es nur deshalb, weil mein Dad gerade nicht in der Lage war zu verbergen, was in ihm vorging. Er hatte die Kontrolle verloren, und das erschreckte mich mehr als alles andere. „Bitte, Todd.“ Resigniert ließ er sich auf das gegenüberliegende Ende der Couch sinken, stützte die Ellbogen auf die Knie und rieb sich das Gesicht. „Ich flehe dich an. Ich tue alles, was du willst. Aber mach eine Ausnahme für meine Tochter.“

Todd sah fast so erstaunt aus, wie ich es war. Ich hatte meinen Vater noch nie um irgendetwas betteln hören. Nicht einmal um sein eigenes Leben, als Avari ihn in die Unterwelt gerissen hatte, weil er durch ihn an mich herankommen wollte.

„Mr Cavanaugh, ich würde es auf der Stelle tun.“ Todd wirkte so frustriert und hilflos, dass ich am liebsten ihn getröstet hätte. Besonders, als er mich auch noch mit diesen traurigen blauen Augen ansah, die mich still anflehten, ihm zu glauben. „Kaylee, ich würde es machen, wenn ich könnte. Das weißt du. Aber es liegt nicht in meinen Händen. Ich bin nicht dein Reaper.“

Für einen Moment, der mir seltsam unwirklich vorkam, wusste ich nicht so richtig, ob ich über Todds Erklärung entsetzt oder erleichtert sein sollte.

„Die Spezialfälle überlassen sie keinem Neuling. Dafür wird ein Experte eingesetzt. Ich weiß nicht mal, in welcher Zone du dich befinden wirst, wenn … wenn es passiert“, beendete er niedergeschlagen den Satz.

Ich atmete einmal tief ein und versuchte, all das sacken zu lassen, was ich gerade erfahren hatte. Versuchte, mich durch ein verworrenes Knäuel sinnloser Wörter zu graben und daraus ein paar brauchbare Teile zusammenzusuchen. „Wer?“, fragte ich schließlich. „Wen haben sie auf mich angesetzt? Libby?“

Libitina war die dunkle Reaperin – eine der ältesten ihrer Gattung –, die Addisons Tod vollendet und ihr den Dämonenatem entzogen hatte, der sie anstelle ihrer verkauften Seele am Leben erhielt. Libby hatte getan, was sie konnte, um uns zu helfen, Addys Seele zurückzuholen, aber am Ende war sie ihrer Pflicht nachgekommen. Sie hatte Addisons Leben ausgehaucht und damit ihre körperlose Seele zu ewiger Folter verdammt.

Bei Libitina stünden meine Chancen auf Ermessensspielraum eher gering.

„Weiß ich nicht“, antwortete Todd. „Wenn schon einer ausgewählt wurde, habe ich nichts davon gehört.“

Zumindest musste ich mir keine Sorgen darüber machen, von Todd ins Jenseits geschickt zu werden. Irgendwie komisch, für welche Dinge man schon dankbar war, wenn einem das Wasser bis zum Hals stand.

„Wie?“ Ich stellte die feuchte Coladose auf den Tisch und klemmte beide Hände fest zwischen die Knie, damit sie aufhörten zu zittern. „Weißt du, wie es passieren wird?“, fragte ich, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich es wirklich wissen wollte. Zu viel Wissen führte leicht dazu, dass man Verfolgungswahn entwickelte. Am Ende würde ich noch ständig nach oben schielend durch die Gegend laufen, weil ich damit rechnete, es könnte plötzlich ein Amboss vom Himmel fallen und mich erschlagen.

Doch Todd schüttelte den Kopf. „Das ist nie so genau festgelegt, es kommt immer drauf an. Wenn’s geht, wird der Hergang einfach dem Offensichtlichen angepasst, zum Beispiel bei einem alten Menschen, der ein schwaches Herz hat. Dann lässt der Reaper es seinen letzten Schlag tun, und das war’s, Herzinfarkt. Bei jungen Leuten ist es meistens ein Unfall, eine Überdosis oder so was in der Art, falls sie keine potenziell tödliche Krankheit haben. Wir arbeiten mit dem, was wir haben. Es ist leichter für die Familien und Ärzte, wenn sie irgendeine plausible Erklärung finden können.“

„Wow. Bei dir klingt der Tod wie eine ganz sachliche Angelegenheit.“

Todd seufzte. „Du weißt genauso gut wie ich, dass er das nicht ist.“

Ja, richtig. Wusste ich.

„Tja …“ Ich starrte auf den Boden zwischen meinen Füßen und brachte es nicht fertig, mein linkes Bein ruhig zu halten, während ich mich zu der Frage durchrang, um die ich mich jetzt lange genug gedrückt hatte. „Und wann? Steht auf dieser blöden Liste wenigstens, wie viel Zeit mir noch bleibt?“

Ich wich dem Blick meines Vaters aus – meine eigene Angst war im Moment schwer genug zu ertragen –, aber ich konnte aus dem Augenwinkel sehen, dass er nicht mich, sondern Todd ansah und ebenso angespannt auf die Antwort wartete wie ich.

Todd räusperte sich. Und schwieg.

„Todd …?“ Die Stimme meines Vaters war kaum hörbar, ein beinahe tonloses Flüstern.

„Nächsten Donnerstag“, rückte Todd schließlich widerwillig mit der Wahrheit heraus, wobei er mir direkt in die Augen sah. In seinen tobte ein wilder Sturm aus Schmerz und Kummer, und ich war mir ziemlich sicher, dass er in meinen gerade dasselbe chaotische Tosen sah. „In sechs Tagen.“

3. KAPITEL

Ich stand so schnell auf, dass sich alles um mich herum zu drehen begann und ich das Gefühl hatte, mein Kopf müsste jeden Moment explodieren.

Ist das etwa der Auslöser meines Abtretens? Ein Schlaganfall mitten in unserem Wohnzimmer, weil der Stress um das Wissen meines baldigen Endes zu viel für mich wurde? Konnte die Kenntnis darüber womöglich genau dazu führen? Zu meinem Tod? Und falls ja, wäre es dann Levis Schuld? Oder Todds? Oder die meines Vaters, der zugelassen hatte, dass Todd es mir erzählte?

In Wahrheit war niemand dafür verantwortlich, keinen traf irgendeine Schuld. Ich hatte schlicht und einfach die Gastfreundschaft des Lebens überstrapaziert, und jetzt kam der Tod mit dreizehn Jahren Verspätung, um mich endlich abzuholen. Es war der völlig natürliche, notwendige und einzige Weg, wie all dies enden konnte. Aber das machte es nicht leichter, dies zu akzeptieren. Im Gegenteil, etwas in mir wollte wütend mit den Füßen aufstampfen, die Fäuste ballen und schreien, so ohrenbetäubend laut, wie es mit meinen Banshee-Lungen nur ging: Das ist nicht fair!

„Kaylee …?“ Todd musterte mich besorgt.

Sechs Tage …

Ich lief den Flur hinunter und in mein Zimmer, wo ich mir den Pullover über den Kopf zog, ohne daran zu denken, hinter mir die Tür zu schließen. Mein Vater und Todd kamen mir hinterher. Doch als Dad sah, dass ich mich gerade umzog, schob er geistesgegenwärtig einen sehr körperlichen Todd vor sich her an meiner Zimmertür vorbei.

„Kaylee, sag doch was“, rief der mir über die Schulter meines Dads zu, doch ich konnte nicht. Seine Stimme drang kaum bis in mein Bewusstsein vor. Alles, was ich hörte, war dieses panische Kreischen in meinem eigenen Kopf, das mir befahl, etwas zu unternehmen – irgendetwas –, um mich abzulenken. Davon, dass ich nicht mal mehr eine Woche zu leben hatte.

Ade, Abschlussjahr.

Ich knöpfte meine Arbeitshose auf, ließ sie bis zu meinen Knöcheln runterrutschen, nahm meine Jeans, die quer über dem Bett lag, und schlüpfte hinein.

Ade, Highschool-Abschluss.

Danach öffnete ich die mittlere Schublade meiner Kommode und wühlte mich durch den Inhalt, bis ich mein Lieblings-T-Shirt gefunden hatte.

Kein College.

Nachdem ich es auseinandergefaltet hatte. streifte ich das Shirt über, zog meine Haare aus dem Kragen und schlüpfte dann in meine Turnschuhe.

Keine Karriere. Keine Familie. Kein gar nichts. Zumindest nicht mehr nach … was auch immer für eine Katastrophe darauf wartete, mir nächsten Donnerstag den Garaus zu machen.

„Kaylee, wo willst du hin?“, wollte mein Vater wissen, als ich an ihm und Todd vorbei auf die Haustür zuging.

„Weg.“ Ich drehte mich zu den beiden um, während ich meine Autoschlüssel aus der Süßigkeitenschale angelte, und die Angst, die ich in den Augen meines Dads sah, hätte ein exaktes Spiegelbild meiner eigenen sein können. „Tut mir leid. Ich muss einfach. Ich kann darüber jetzt nicht nachdenken, sonst drehe ich durch, okay? Und ich habe nicht vor, meine letzten Tage auf Erden in einer Zwangsjacke zu verbringen. Ich komme zurück, versprochen. Würdest du bitte Styx für mich füttern?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete ich die Tür und lief zu meinem Auto. Einen Moment später fuhr ich rückwärts aus der Auffahrt und warf von der Straße aus einen kurzen Blick durch die Seitenscheibe zu unserem Haus, wo mein Vater und Todd auf der Veranda standen und mir verwirrt hinterherblickten.

Wie sich herausstellte, konnte man dem Tod weder davonlaufen noch -fahren. Egal, wie stark man aufs Gaspedal trat, nicht einmal die Gedanken an ihn ließen sich abhängen, wenn man erst mal wusste, dass er einem auf den Fersen war. Hatte Addy sich auch so gefühlt? War für sie auch jeder Atemzug plötzlich eine Qual gewesen, weil sie wusste, dass sie schon bald ihren letzten tun würde?

Ich fuhr fast vierzig Minuten ziellos durch die Gegend, das Radio voll aufgedreht, in der Hoffnung, auf diese Weise meine trüben Gedanken loszuwerden oder wenigstens zu übertönen. Aber nichts davon funktionierte. Als ich schließlich wieder in heimische Gefilde zurückkam, war mir jedoch zumindest klar geworden, dass es nur einen Weg gab, mich von meinen Problemen abzulenken. Ich musste mich mit denen von jemand anderem beschäftigen.

Als ich mich umblickte, wurde mir bewusst, dass ich mich nur wenige Blocks vom Krankenhaus befand, als hätte mein Unterbewusstsein mich dorthin geführt.

Ich fand problemlos einen Parkplatz in vorderster Reihe, denn die normale Besuchszeit war schon um. Die Dame an der Rezeption nannte mir zwar Danica Sussmans Zimmernummer, erklärte mir aber, dass ich heute nicht mehr zu ihr könne, es sei zu spät am Abend. Ich bedankte mich bei ihr und ging zurück zum Parkplatz – wo ich einen Haken schlug und nach einem Nebeneingang Ausschau hielt. Es dauerte nicht lange, bis ich einen entdeckt hatte, uns es gab sogar einen Fahrstuhl, der mich ungesehen in den dritten Stock brachte.

Die Station war nur mit einer Schwester besetzt, an der ich mich leicht vorbeischmuggeln konnte, als sie aufstand, um sich einen frischen Kaffee zu holen. Das Zimmer Nummer 324 befand sich hinter der nächsten Ecke, die vierte Tür auf der rechten Seite eines ziemlich langen Flurs. Ich blieb davor stehen und zögerte einige Minuten, während ich versuchte, meinen Mut zusammenzunehmen und mir etwas einfallen zu lassen, das ich Danica sagen könnte. Sie sollte meinen Besuch nicht falsch verstehen und womöglich denken, dass ich nur neugierig oder sensationsgeil wäre. Doch dann riss mich das näher kommende Geräusch von quietschenden Schuhen aus meinen Überlegungen, und ich zog hastig die Tür auf und schlüpfte hindurch.

Was konnte mir denn auch im schlimmsten Fall passieren? Ich quasselte mich um Kopf und Kragen und wurde achtkantig rausgeworfen. Tja, selbst wenn, dieses peinliche Erlebnis würde mir kaum länger als sechs Tage nachhängen, nicht wahr? Und danach wäre sowieso alles egal.

Im Krankenhauszimmer war es kühl, und ein steriler Geruch lag in der Luft. Die einzige Beleuchtung bestand aus einer Leuchtstoffröhre über dem Bett. Danica lag schlafend auf der rechten Seite, mir zugewandt. Sie sah blass und unheimlich zerbrechlich aus unter der dünnen Decke. Viel zu jung, um Mutter zu werden. Nicht, dass es jetzt noch eine Rolle spielte.

Ich beobachtete sie mehrere Minuten lang, wie sie da so lag und schlief, und dachte darüber nach, was für unterschiedliche Leben wir doch führten. Sie war mir offensichtlich um mindestens eine Erfahrung voraus, die letztendlich zu einer Schwangerschaft geführt hatte – noch etwas, das ich niemals erleben würde – und einem Verlust, den ich nie wirklich nachempfinden könnte.

Aber Danica würde weiterleben. Sollte sie eines Tages ein Kind bekommen wollen, stünde es ihr jederzeit frei, es noch einmal zu versuchen, wann immer sie sich bereit dazu fühlte.

Mir nicht. Mir blieb keine Zeit für irgendetwas. Keine ersten Male mehr, nur ein einziges letztes. Meine Zeit war fast abgelaufen, die Uhr tickte.

Was in aller Welt machte ich eigentlich hier? Ich konnte Danica nicht helfen. Und es ging mich überhaupt nichts an, wer nun der Vater des Kindes war, selbst wenn Sabine mit ihrem Verdacht richtiglag und es tatsächlich ein Lehrer sein sollte. Ich benutzte Danica bloß als Ausrede, um mich vor meinen eigenen Problemen zu drücken, und das war nicht fair. Weder ihr noch mir selbst gegenüber.

Zum einen beschämt, andererseits auf irrationale Weise wütend, beschloss ich, schnell wieder zu verschwinden. Ich hatte schon eine Hand auf den Türdrücker gelegt, als hinter mir eine Bettfeder quietschte.

„Sie sind nicht die Nachtschwester.“

Ich drehte mich langsam um, überrascht und nervös zugleich. Was sollte ich denn jetzt machen? Wie meine Anwesenheit hier erklären? Danica und ich waren nicht befreundet. Ich hatte weder etwas Ähnliches wie sie durchgemacht noch kluge Ratschläge in dieser Sache zu geben. Ich steckte einfach meine Nase in fremde Angelegenheiten und war dabei erwischt worden.

„Kaylee Cavanaugh?“ Danica blinzelte in die Schatten, die ihr Bett umgaben, und ich nickte.

„Ja. Hi.“

„Was willst du hier?“

„Ich habe … jemanden besucht. Und dann ist mir eingefallen, dass du ja auch im Krankenhaus bist, und ich dachte, ich schau mal vorbei.“

Sie lächelte nicht oder winkte mich zu sich heran. Aber sie rief auch nicht nach der Schwester, damit die mich vor die Tür setzte. „Ist es nicht ein bisschen spät für Besuche?“

Ich zuckte mit den Schultern und ging auf sie zu, die Hände in den Taschen. „Den Krankenhausvorschriften nach bestimmt, aber ich kann gern noch ein Weilchen bleiben, wenn du willst. Na ja, bis ich geschnappt werde.“

Danica starrte verbissen auf ihre Hände, die sie ineinander verschränkt hatte, und ich konnte ihr ansehen, dass sie kurz davor war, mir zu sagen, ich sollte die Kurve kratzen. Doch dann sah sie hoch, und in ihren Augen glitzerten Tränen. Da wurde mir bewusst, dass ihre Probleme vielleicht doch gar nicht so viel anders oder weniger schlimm waren als meine. Vielleicht war es für sie sogar noch schlimmer – immerhin wäre mein Leid in ein paar Tagen vorbei. „Ja, klingt gut. Wenn’s dir nichts ausmacht.“

Ich setzte mich auf den Stuhl am Fenster. Wir vermieden es, einander in die Augen zu sehen, unsicher, worüber wir reden sollten. Schließlich fuhr Danica mit einem Knopfdruck das Kopfteil ihres Bettes hoch, lehnte sich in ihr Kissen und drehte sich zu mir. „Tja, ich vermute mal, in der Schule wird fleißig über mich getratscht, nicht?“

„Ich will’s mal so ausdrücken … die üble Niederlage des Mädchenbasketballteams im Viertelfinale ist nicht mehr das Thema Nummer eins.“

Danica nickte langsam. „Und, was erzählen die Leute so?“

„Die krasseste Theorie, die ich bis jetzt gehört habe, ist, dass du Darmkrebs hast und es nicht mehr lange machst.“ Ich zuckte erneut mit den Achseln. „Aber die meisten sind der Meinung, du hättest eine Fehlgeburt gehabt.“ Was ich mit absoluter Sicherheit wusste.

Danica wischte sich mit beiden Handrücken die Tränen ab. „Mist, die ganze Lage ist so was von verkorkst. Echt, ich komme mir vor wie in einem Albtraum, aus dem ich einfach nicht aufwache.“

„Da bist du nicht allein. Verkorkst scheint mein normaler Zustand zu sein. Aber vielleicht tröstet es dich ja ein bisschen, dass Max voll hinter dir steht und den Lästermäulern sagt, dass du gar nicht schwanger gewesen sein kannst, weil ihr zwei noch nie …“ Ich ließ meinen Satz unbeendet, denn es war ja klar, was ich meinte, und Danicas Augen füllten sich erneut mit Tränen.

Ich fühlte mich schlecht dabei, ihr etwas vorzumachen. Das tat ich wirklich. Aber ich konnte ihr doch nicht sagen, was ich wusste. Dass die Gerüchte stimmten. Denn dann würde sie wissen wollen, woher ich es wusste. Also musste ich sie dazu bringen, es mir selbst zu erzählen.

„Zwischen Max und mir ist es aus.“ Sie schniefte. „Er hat mich nach der Schule besucht und … was hätte ich denn machen sollen … mir blieb ja nichts weiter übrig, als ihm die Wahrheit zu sagen.“ Noch ein Schniefen, und dieses Mal fummelte sie ein Taschentuch aus der Box auf dem Nachttisch und schnäuzte sich die Nase.

„Die Wahrheit?“ Ich hielt den Atem an. Sie würde es mir nicht erzählen. Ich meine, ich selbst hätte es mir nicht erzählt, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre. Schließlich war ich die letzte Person, der sie eine Erklärung schuldete, wir kannten uns ja kaum.

„Ich war schwanger, ja. Aber das Baby war nicht von ihm.“

Diese Offenheit war so überraschend, dass ich mich verstohlen im Zimmer umblickte, auf der Suche nach etwaigen Beweisen für eine schlampig arbeitende Krankenschwester, die Danica versehentlich mit starken, bewusstseinsverändernden Schmerzmitteln vollgepumpt hatte. Doch dann bemerkte ich, wie Danica mich beobachtete. Und ihr Gesichtsausdruck sagte mir, dass sie keinesfalls unter dem Einfluss irgendwelcher Tabletten stand. Sie brauchte einfach bloß einen Freund, irgendjemanden, mit dem sie reden konnte.

„Oh Mann.“ Das war alles, was mir als Antwort einfiel. Plötzlich fühlte ich mich furchtbar schuldig dafür, sie so gedankenlos ausgefragt zu haben, nur um mich von meinem unaufhaltsam näher rückenden Verfallsdatum abzulenken, während sie nur jemanden zum Zuhören brauchte. „Und … wie hat er es aufgenommen?“

Ruhig bleiben, Kaylee, du kriegst das schon hin. Eigentlich musste ich mich ja gar nicht für eine Taktik entscheiden, richtig? Ich konnte ihr einerseits mein Ohr leihen, wie eine Freundin, und dabei trotzdem versuchen, ein paar Antworten zu bekommen, wie … ähm … ein vom Schicksal gebeutelter Amateurdetektiv, der seinen letzten Fall lösen will, bevor er ins sprichwörtliche Gras beißt. Das müsste doch gehen, nicht?

Danica zerknüllte das Taschentuch in ihrer Hand und ließ es in den Schoß fallen. „Zuerst hat er mich nur angesehen, als ob er sich verhört hätte. Aber eine Sekunde später bekam er diesen Ausdruck in den Augen, als wäre er plötzlich völlig am Boden zerstört. Er hat mich angestarrt, als hätte ich ihm gesagt, dass ich seinen Hund umgebracht habe. Dann hat er sich umgedreht und ist gegangen. Ohne ein Wort.“ Sie seufzte und warf das Taschentuchknäuel in Richtung des Mülleimers in der gegenüberliegenden Zimmerecke, verfehlte ihn aber um gut fünfzig Zentimeter. „Er war der einzige Besuch, den ich außer dir bis jetzt hatte, und er stürmte gleich wieder raus und hasst mich jetzt wahrscheinlich. Aber na ja, das habe ich wohl auch verdient.“

Ihr einziger Besuch? „Sind deine Eltern denn heute nicht hier gewesen?“

„Meine Mom ist … krank. Und mein Vater will mich nicht mehr sehen. Als der Arzt ihm erzählt hat, was passiert ist, ist er gar nicht erst in mein Zimmer gekommen, um wenigstens Hallo zu sagen oder so. Schande ist nämlich hoch ansteckend, weißt du. Nicht, dass er sich noch was einfängt.“ Für einen Augenblick überdeckte ihr beißender Sarkasmus die offenkundige Verletztheit in ihrer Stimme, und ich ertappte mich dabei, wie ich ihren Vater innerlich als mieses Arschloch abstempelte. Einen Mann, den ich überhaupt nicht kannte. „Und jetzt will Max auch nichts mehr mit mir zu tun haben. Dabei weiß ich nicht mal, wie das überhaupt passieren konnte!“

„Du weißt nicht …?“, begann ich und zog fragend die Augenbrauen hoch.

Doch Danica verdrehte sofort ihre vom Weinen rot geränderten Augen. „Doch, natürlich. Ich meine, ich weiß, wie es passiert ist. Ich kann mir bloß nicht erklären, weshalb. An meinen Ausrutscher erinnere ich mich leider sogar noch ziemlich genau, aber nicht daran, was ich mir dabei gedacht habe. Ich bin keine, die fremdgeht, ich liebe Max. Wieso sollte ich also unsere Beziehung aufs Spiel setzen, nur für eine Nacht Spaß mit einem anderen?“

„Es war nur ein One-Night-Stand?“, fragte ich, erschüttert darüber, wie leicht ein einziger kleiner Fehler das Leben eines Menschen von heute auf morgen in einen Scherbenhaufen verwandeln konnte.

Danica nickte niedergeschlagen. „Im Grunde sogar nicht mal das. Ich war eine oder zwei Stunden mit ihm zusammen, vor ungefähr einem Monat. Danach habe ich versucht, die Sache einfach zu vergessen und mich auf die Zukunft zu konzentrieren. Aber immer, wenn ich ihn sehe, will ich über ihn herfallen und ihn ins Bett zerren, obwohl ich mich dafür hasse, was ich Max schon mit dem einen Mal angetan habe. Ich meine, wie ticke ich denn bitte? Das ist doch nicht normal.“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Warum kann ich ihn nicht aus meinem Kopf kriegen?“

Autor

Rachel Vincent
New York Times-Bestsellerautorin Rachel Vincent lebt in San Antonio, Texas. Als Älteste von vier Geschwistern ist sie selten um Worte verlegen - was sicher auch dazu geführt hat, dass sie Schriftstellerin geworden ist. Vincent teilt sich ein Büro mit zwei schwarzen Katzen und ihrem Fan der ersten Stunde. Wenn sie...
Mehr erfahren