Besessen

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Seit zwei Jahren lebt Carrie glücklich mit dem Vampir Nathan zusammen, als er plötzlich eine dunkle, bösartige Seite entwickelt. Von Albträumen gequält, scheint er nicht mehr Herr seiner selbst zu sein. Schließlich fällt er sie wie rasend an, ehe er hinaus in die Nacht flieht. Carrie muss ihn finden, ehe er zur tödlichen Gefahr oder gar selbst umgebracht wird. Denn sie hat erfahren, dass Nathan ausgerechnet von einem der mächtigsten und bösesten Vampire besessen ist - dem Soul Eater ...


  • Erscheinungstag 01.11.2008
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783862784509
  • Seitenanzahl 480
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Willkommen zurück

Er wusste nicht, wie lange er schon tot war. Es gab keine Tage, keine Jahreszeiten, keine Veränderung, nur Ewigkeit.

Auf der anderen Seite des Schleiers wankten Schatten um ihn herum. Zwei fielen ihm besonders ins Auge. Er wusste, was sie waren. Früher war er einer von ihnen gewesen.

Sie hatten Zugang zu dem Leben, nach dem er sich verzehrte. Wie damals, als er ein lebendiger Toter gewesen war, wollte er die Sterblichen aussaugen, die sich nicht schützen konnten. Wenn er dieses untote Paar beneiden könnte, würde er es tun, aber für derartige Gefühle hatte er keine Zeit. Sie besaßen kein Leben, also waren sie irrelevant für ihn.

Für die Wesen auf der anderen Seite war er unsichtbar. Als er nicht mehr lebendig, aber noch Teil der Welt gewesen war, hatte er diejenigen, die vor ihm gestorben waren, auch nicht sehen können. Doch obwohl sie blind waren, schienen sie ihm zu folgen. Er entfernte sich von ihnen, denn er suchte nach Leben.

Seine endlose Suche nach dieser sterblichen Energie machte ihn zum Narren. Das Leben pochte in Menschen und Tieren, die er jeden Tag sah, aber nicht berühren konnte. Auch wenn der Schleier hauchdünn war, trennte er ihn doch von dem, was er so sehr begehrte. Er konnte danach greifen, es sogar für einen kurzen Moment in seinen Händen halten, aber der Schattenvorhang ließ ihn nie wirklich herankommen.

Farbe war unbekannt in seiner Form der Existenz, sie würde seine Sinne überfordern, wenn er welche hätte. Zwischen den beiden Leblosen öffnete sich etwas, das furchterregend schimmerte wie das flammende Schwert des Engels an den Toren von Eden. Dieses Etwas zog die Schatten an wie die Motten das Licht. Eigentlich hasste er solche Klischees. Aber noch mehr hasste er, dass das Ding auch ihn anzog. Der leuchtende Riss wurde breiter, und eine Hand, die zwar nicht lebendig, aber dennoch real war, fuhr hindurch.

Die anderen Schatten stürzten laut schreiend darauf zu, glitten darüber. Wie Wasser auf einem Ölfilm perlten sie an seiner Haut ab. Als würde er nur nach ihm suchen, schob der Eindringling die anderen zur Seite, packte ihn und blieb an ihm hängen.

Seit seinem Tod war Angst ein Fremdwort für ihn. Verzweiflung hatte er zum letzten Mal gespürt, als sie ihn verraten hatte. Doch während ihn jetzt die rauen Finger durch den Riss hinauszogen empfand er eine schreckliche Panik.

Vergessen geglaubte Gefühle brachen mit einem Mal stark und intensiv über ihn herein. Ungreifbare, heiße Empfindungen, die er als angenehm in Erinnerung hatte, erfassten ihn. Seine körperlose Existenz wurde in eine Form gepresst, die ihm bekannt war und gleichzeitig entsetzlich fremd.

Zu hell. Zu kalt. Zu wirklich.

Und zu laut.

Das Lachen der einen Person klang wie zersplittertes Glas. „Wir haben’s verdammt noch mal geschafft! Ich kann’s nicht fassen, wir haben ihn wieder!“

Das Licht brannte in seinen Augen. Er blinzelte, konnte aber seine Umgebung nur verschwommen wahrnehmen. In seiner Brust schlug ein menschliches Herz, obwohl er doch seit Jahrhunderten ohne eines ausgekommen war.

Leben. Er war am Leben.

Entsetzt fiel er zu Boden, schrie und griff verzweifelt nach dem sterblichen Gefängnis seines neuen Körpers.

Derjenige, der ihm das angetan hatte, beugte sich über ihn und klopfte ihm auf den Rücken. Die Berührung war wie ein Nadelstich, der sein Fleisch bis zu den Knochen durchbohrte.

„Willkommen zurück, Cyrus.“

1. KAPITEL

Albtraum

„Du hast heute Morgen von ihm geträumt, Carrie.“

Als ich Nathans Stimme hörte, erstarrten meine Finger auf der Tastatur. „Beobachtest du mich wieder, wenn ich schlafe?“

Ich war beunruhigt. Zum einen war es wahnsinnig unheimlich. Zum anderen regte sich die Gewohnheit meines Erschaffers, meine Albträume auszuspionieren, für gewöhnlich dann, wenn es Ärger gab. Vor zwei Monaten, vor unserem großen Streit mit ihm, war ich oft aufgewacht, weil Nathan im Bett neben mir lag und mich anstarrte, als würde ich verschwinden, wenn er mich aus den Augen ließ. Nur drei Wochen später, als unser neuer Blutspender in der Absicht bei uns eingebrochen war, uns im Bett zu pfählen, hatte Nathan in meinem Schreibtischstuhl gesessen und mich im Schlaf bewacht, während er darauf wartete, dass irgendetwas, was auch immer, geschah.

Damit er nicht länger wie eine Erscheinung in der Tür stand, kam er herein und setzte sich auf mein Bett – einen anderen Platz gab es nicht, denn das Zimmer war sehr klein –, er setzte sich also ungefragt, als hätte ich ihm den Platz angeboten. Mir machte das nichts aus. Immerhin war es seine Wohnung, und Ziggys altes Zimmer fühlte sich nicht wirklich wie mein Zuhause an.

Ich musterte ihn, während er mich beobachtete. Wahrscheinlich wollte er meine Stimmung abschätzen. Nathan hasst es, mit mir zu streiten, und offensichtlich hegte er andere Hoffnungen, in welche Richtung diese Unterhaltung gehen sollte.

Pech.

„Na gut, ich mach mir Sorgen.“ Fragend zog ich eine Augenbraue hoch, und er räumte ein: „Okay, ich bin aus völlig irrationalen Gründen sauer auf dich.“

Verflucht sei er für seine Schönheit. Die Zeit tut einem nichts mehr an, wenn man ein Vampir geworden ist, und Nathans Erscheinung war im Alter von zweiunddreißig Jahren eingefroren. Ungeachtet der Blässe, die siebzig Jahre ohne Sonnenlicht mit sich bringen, war er so jung und gut aussehend wie auf den Fotos seines vor-vampirischen Daseins. Im Moment eigentlich noch besser, denn er befand sich leibhaftig in meinem Schlafzimmer. Dunkle Haare, umwerfende graue Augen und ein Körper, so grazil und kräftig, als wäre er in einem früheren Leben die Statue eines griechischen Gottes gewesen. Aber es waren seine Augen, denen ich verfallen war. Obwohl er mit Härte gehandelt und mein Leben bedroht hatte, als wir uns zum ersten Mal begegneten, entdeckte ich Liebenswürdigkeit und Leid in ihnen. Seine Augen waren nicht nur Fenster seiner Seele, sie waren Türen, die durchließen, was er nicht vor mir verbergen konnte, auch wenn es das Blutsband zwischen uns nicht geben würde.

Ich wandte mich wieder meinem Computer zu, wo meine aktuelle Dissertation über die Physiologie der Vampire mit ungeduldig blinkendem Cursor wartete. Man kann einer Ärztin das Menschsein nehmen, aber man kriegt die Ärztin nicht aus dem Vampir. Oder so ähnlich. Ich arbeitete an Eine Fallstudie von Bluttypenkompatibilität und ihre Wirkung auf den Stoffwechsel, um die Zeit totzuschlagen und mich vom Wahnsinn der letzten zwei Monate abzulenken. Doch der holte mich unweigerlich ein, und so saß ich, als Nathan mein Zimmer betrat, stumpf da und tippte immer wieder die Worte „verrückte gelbe Röhrensocken“ in die Tastatur. „Du hast von irrational geredet, nicht ich.“

„Ich kann nichts dafür.“ Seine Verlegenheit teilte sich mir durch das Blutsband deutlich mit, aber sie konnte meinen Ärger nicht dämpfen. „Was ist los?“

„Gut, also erstens, ich habe dieses blöde Forschungsprojekt satt –“

Du hast es satt? Ich bin diejenige, die während der ganzen verdammten Woche AB negativ getrunken hat.“ Obwohl er leise lachte, war ein müder Unterton zu hören.

„Und du hast mich im Schlaf beobachtet, was normalerweise heißt, dass etwas Schlimmes passieren wird. Und – ich habe diese Albträume.“ Erschöpft bedeckte ich mein Gesicht mit den Händen und massierte meine Stirn. „Ich bin sicher, es ist gar nichts los.“

„Es klingt nicht nach nichts.“ Die Bettfedern quietschten, als er aufstand.

Resigniert ließ ich die Hände sinken und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ach, er lauscht auch noch, statt nur zu spannen.“

Der Hauch eines sarkastischen Lächelns huschte über sein Gesicht, während er neben meinem Stuhl niederkniete. „So wie du es sagst, klingt es direkt unanständig.“

Ich wusste, dass er machtlos war gegen die Welle verspielter Lust, die mich durch das Blutsband erreichte, denn unsere Gehirne waren in einem seltsamen Gemeinschaftsanschluss miteinander verbunden. Solange er mich nicht abblockte oder ich ihn, hörten wir die Gedanken des anderen oder fühlten seine Emotionen. Verspürte einer von uns auch nur die leichteste Neigung in sexueller Richtung, erfuhr es der andere – und reagierte gewöhnlich sofort darauf.

Leider filterte das Blutsband die negativen Emotionen nicht heraus, sodass ich regelmäßig jede Menge postsexueller Schuldgefühle abbekam. Gedanken an Marianne, seine tote Frau, wichen nie ganz aus seinem Bewusstsein, und gewöhnlich setzte schon wenige Minuten nach dem kleinen Tod die Geißelung ein. Sobald ich seine Gewissensbisse fühlte, regte sich mein eigener Schuldkomplex, da ich für seine Seelenqualen mitverantwortlich war. Der dann folgende Schneeballeffekt war Grund genug, jeden Sex mit ihm für immer aufzugeben.

Abgesehen von gelegentlichen Anfällen, wenn es einfach sein musste. Die aufzugeben, wäre einem Heroinentzug von einer Minute auf die andere gleichgekommen.

Der Gedanke deprimierte mich, also schob ich ihn beiseite. Ich schwang mich auf dem Drehstuhl herum und lehnte mich zurück. „Mal im Ernst, warum beobachtest du mich?“

„Die Albträume.“

Ich zuckte mit den Achseln und hoffte, meine Gleichgültigkeit würde ihn überzeugen, die erschreckenden Träume als etwas ganz Normales anzusehen. „Ich habe oft Albträume.“

„Du hast seinen Namen gesagt.“

Nathan war nicht mein erster Schöpfer. Cyrus, den ich nur als namenlosen Toten kannte, als er mich in der Leichenkammer des Krankenhauses angriff, hatte aus mir einen Vampir gemacht. Er hatte mich auch fast umgebracht, da ich mich weigerte, seine perversen Bedürfnisse zu befriedigen. Als ich mich an Nathan und die Voluntary Vampire Extinction Movement, die freiwillige Bewegung zur Ausrottung der Vampire, um Hilfe wandte, riss Cyrus mir eins meiner beiden Herzen – ein befremdliches, nur Vampiren eigenes, körperliches Merkmal – heraus und ließ mich zum Verbluten in der Gasse hinter Nathans Haus liegen. Als Nathan mich fand, lag ich im Sterben. Er reanimierte mich, indem er mir sein Blut gab. Es hatte den ersehnten Effekt – ich überlebte. Nur hatte er sich nicht klargemacht, dass er mich auch als Vampir wieder neu erschaffen würde.

Nathan hatte Cyrus schon immer aus tiefstem Herzen gehasst. Nun, als mein neuer Schöpfer, hasste er ihn zehnmal stärker. Ihm war es zuwider, wenn ich meinen ersten Erschaffer nur beiläufig erwähnte. Meine böse, antagonistische Seite konnte nicht anders, und zwang mich, über Cyrus zu sprechen: „Vielleicht setzt mein Unterbewusstsein die Träume von Cyrus nur ein, um dich auf die Palme zu bringen?“

Abschätzend runzelte er die Stirn. „Das ist dieselbe Entschuldigung, die du für die offene Zahnpastatube benutzt.“

Nathan hatte recht, wie immer. Verdammte Schöpferintuition. Ich schaltete meinen Monitor aus und lehnte mich wieder im Stuhl zurück. „Ich vermute, du hast schon eine Theorie.“

„Noch nicht. Ich habe gehofft, dass mir etwas einfällt, während du mir – in allen Einzelheiten – von diesen Träumen erzählst. Dann wollte ich dich mit einem monumentalen, dramatischen Ausruf unterbrechen, so etwas wie ‚Aha!‘, woraufhin du tief beeindruckt von meiner Genialität und leicht erregt sein solltest.“ Er zuckte die Achseln. „Aber fürs Erste begnüge ich mich auch mit den Einzelheiten.“

Amüsiert rollte ich die Augen, wurde jedoch schnell ernst und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich sehe nie sein Gesicht, aber ich weiß, dass er es ist.“

Nathan nickte und bedeutete mir fortzufahren.

„Es existieren keine Farben außer Blau.“ Ich biss mir auf die Lippe. „Dieses an Wasserfarben erinnernde Blau aus der Zeit, als ich … tot war.“

Eine tiefe Falte zeigte sich plötzlich auf Nathans Stirn, ein sicheres Zeichen dafür, dass mein Bericht sein Interesse geweckt hatte. „Bist du sicher, dass du nicht nur diese eine Nacht verarbeitest?“

Wenn ich diese Träume hatte, sah ich immer dieselben Dinge. Die leuchtend orangefarbene Katze, die an meinem hingestreckten Körper vorbeistrich. Die unförmigen Konturen der Schattenmenschen, die kamen, um mich zu holen. Mit diesen Erinnerungen wollte ich Nathan nicht belästigen. Mein kurzer Tod – der zweite – hatte ihn schon genug traumatisiert. „Vergiss die Psychoscheiße. Du glaubst, ich habe diese Träume aus einem bestimmten Grund, so ist es doch?“

Nathan holte tief Luft, während er offensichtlich nach einer ausweichenden Antwort suchte. „Ich vermute, es könnte sich um Überbleibsel eurer früheren Blutsbande handeln.“

„Aber warum jetzt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Es ist zwei Monate her. Was soll passiert sein, dass das Band auf einmal reaktiviert wird?“

Er stand auf und versuchte – vergeblich – unbesorgt auszusehen. „Es könnte alles Mögliche sein. Ich habe Max gebeten, mal im Archiv der Bewegung zu stöbern.“

Die Bewegung zur freiwilligen Ausrottung der Vampire war eine strenge, totalitäre Organisation und forderte den Tod aller Vampire, die nicht nach einem strikten Kodex lebten. Nathan war seit siebzig Jahren auf Bewährung in dieser Bewegung, weil er seine Frau getötet hatte, obwohl ihr Tod nicht allein seine Schuld gewesen war. Aber mich zu erschaffen, verstieß gegen eine Kardinalregel, nämlich, nie den absehbaren Tod eines verwundeten Vampirs zu verhindern. Nathan hatte sich entschieden, lieber unterzutauchen, als zu warten, bis sie es herausfanden und ihn umbrachten. Aber er hielt Verbindung mit Max Harrison, dem einzigen Vampir, der über Nathan und mich Bescheid wusste.

Ich lächelte. „Ich bin sicher, dass diese Aufgabe ihn entzückt hat.“

„Max hat keine Wahl“, sagte Nathan vergnügt. Er machte keinen Hehl mehr daraus, dass er es genoss, Max das Leben zur Hölle zu machen. „So, die Sonne ist längst untergegangen, ich geh besser nach unten und verdiene mein Brot. Kommst du heute Nacht arbeiten? Es sind neue Bücher gekommen, die aufgenommen werden müssen.“

„So verführerisch es klingt, nein.“ Ich hatte in Nathans Esoterik-Buchladen schon genug unbezahlte Stunden abgedient, um mehrere Leben damit zu füllen. Ich konnte gut darauf verzichten, schon wieder das neueste Buch der Schatten oder irgendwelche Kräuterbündel einzusortieren. Ich deutete auf den Computer. „Ich muss das fertig machen, bevor es mich in den Wahnsinn treibt.“

„Und mich erst.“ Nathan zog eine Grimasse. „Wenn du mal wieder verrückte Experimente machen willst, such dir jemand anderen als Laborratte.“

Ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, als er ging. Gewöhnlich schloss er ab, aber ich hörte kein Schlüsselgeräusch.

Vampire nehmen das Band zwischen dem Schöpfer und seinem Zögling genauso ernst wie Menschen das Verhältnis zwischen Eltern und ihrem Kind. Nathan war normalerweise ängstlich und übervorsichtig um meinen Schutz besorgt. Ich versuchte, das Gefühl abzuschütteln, dass etwas nicht stimmte. Solche Gedanken sind wie Spinnenbisse: Hast du erst einmal gekratzt, infiziert sich die Stelle und die Vergiftung breitet sich aus. Ich brauchte keine Nacht auf heißen Nadeln, in der ich beim kleinsten Geräusch immer wieder aufsprang.

Ich knipste den Monitor an und hoffte, die medizinische Fachsprache würde mich auf andere Gedanken bringen, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Mein Unbehagen wuchs, meine Handflächen wurden feucht und ich spürte ein Kribbeln in meinem Magen. Ich hakte die Symptome im Kopf ab und erkannte erst dann die körperlichen Anzeichen des Flight-or-Fight-Syndroms.

Kämpfe oder flieh.

Diese uralte Reaktion auf Angst hatte sich langsam in mir aufgebaut, aber ich war nicht in unmittelbarer Gefahr. Mein Herz hämmerte panisch in meiner Brust, während ich in mein Spiegelbild hinter den Worten auf dem Bildschirm starrte. Meine Pupillen waren erweitert. Mein Gesicht fing an, sich zur Monsterfratze zu verziehen. Ich stand auf und zwang mich zur Ruhe. Es gab keinen Grund, sich so zu fühlen.

Es sei denn, die Ursache war das Blutsband.

Nathan.

Wie von der Tarantel gestochen, rannte ich aus dem Zimmer und riss dabei den Bürostuhl um. Unsere Wohnung lag im obersten Stock von Nathans Haus. Der Buchladen befand sich im Keller. Ich raste die Stufen hinab, so schnell ich konnte, fing mich am Geländer, als meine Füße sich verhedderten. Die Tür im Parterre schien Lichtjahre entfernt. Ich stürzte hindurch und auf die Straße. Die kühle Luft der Frühlingsnacht verschlug mir den Atem.

Dann kam der Schmerz, und ich vergaß das Atmen.

Das Blutsband war verschwunden. Es war nicht so, als ob Nathan seine Gedanken vor mir abschirmte. Das hatte sich immer wie eine Mauer angefühlt. Doch dies hier war … absolute Leere. Normalerweise war das Blutsband wie eine straff gespannte Leine zwischen uns gespannt, doch jetzt hing ein Ende einfach schlaff herab.

Nathan war tot.

Ich packte das schmiedeeiserne Geländer und bewegte mich langsam auf das obere Ende der Treppe zu, die vom Bürgersteig hinab in den Laden führte. Mondlicht beschien zersplittertes Glas am Boden. Was immer Nathan erwischt hatte, es war durch ein zerbrochenes Fenster hineingekommen.

Besorg dir eine Waffe. Hol Hilfe. Doch mein Herz war stärker als mein Verstand. Ich musste zu meinem Schöpfer.

Außer mir vor Angst stürzte ich hinunter, nahm zwei Stufen auf einmal. Im hinteren Bereich des Ladens flackerte noch ein Licht wie im Todeskampf. Fluoreszierende Reste der pulverisierten Leuchtröhren waren über den Boden verteilt. Hier und da sprühten aus durchgebrannten Kabeln Funken von der Decke wie Schneeflocken.

Die Tische, auf denen normalerweise stilvoll Kristalle, Tarotkarten und ähnlicher New-Age-Kram präsentiert wurden, waren völlig zerstört. Zersplittert lagen sie am Boden und begruben die Waren, die sie getragen hatten. Rechts von mir war die Vitrine im Tresen eingeschlagen. Ich wusste, dass Nathan im Regal dahinter eine Axt aufbewahrte. So leise wie möglich bewegte ich mich in diese Richtung, aber all das Glas knirschte unter meinen Schuhen. Im Labyrinth der Bücherregale hinter mir scharrte etwas.

Das Geräusch ließ mich für einen Moment erstarren. Ich wog die Entfernung zur Tür gegen meine Chancen, mich erfolgreich mit einer Axt zu verteidigen. Dann ließ ich jeden Gedanken an Flucht fahren. Ich konnte Nathan nicht im Stich lassen, nicht, wenn es auch nur die leiseste Hoffnung gab, ihn zu retten.

Die letzten paar Schritte sprintete ich zum Regal und schnappte mir die Axt, packte sie fest am Stiel und versuchte Mut in meine steifen Finger zu pumpen. Was immer hier eingebrochen war, es war noch im Laden.

Meine Nackenhaare richteten sich auf. Das Ding, das sich im Schatten verbarg, knurrte.

Die Uhr hinter dem Ladentisch schlug. Ich fuhr zusammen. Die Kreatur stürzte sich auf mich.

Mein Kopf schlug hart auf den Boden, als das Ding mich niederwarf und ein Feuerwerk aus Schmerz in meinem Bewusstsein explodierte. Der Geruch von Nathans Blut, sonst ein willkommener, vertrauter Duft, füllte meine Nase mit saurem Dunst, und ich würgte. Mit zusammengekniffenen Augen spannte ich alle meine Muskeln an und versuchte, mich nicht zu übergeben.

Das Gewicht des Dings, das mich niederdrückte, verschwand. Ich machte die Augen auf und sah es gerade noch über den Tresen springen. Sein rasselnder Atem übertönte beinah die immer noch schlagende Uhr.

„Nathan?“, kreischte ich und erkannte meine Stimme in ihrer Panik kaum wieder. Erneut schrie ich seinen Namen und bekam keine Antwort.

Mit glasklarer Bestürzung erkannte ich, dass Nathan mir nicht zu Hilfe kommen konnte. Ich war allein mit dieser Kreatur und elendig schlecht für meine Verteidigung ausgerüstet.

Ein lautes Fauchen war hinter dem Tresen zu hören, und in nacktem Entsetzen schleuderte ich die Axt danach. Sie traf die Registrierkasse, fiel zu Boden und lag nun außerhalb meiner Reichweite.

Ich war allein. Unbewaffnet. Und dann auch noch unverzeihlich dumm.

Mir blieb keine Zeit für Selbstvorwürfe. Die Kreatur sprang mich über die Tresenplatte an. Mein Atem entwich mit lautem Zischen, und durch einen Schleier aus Schmerz sah ich über mir das Ding, das mich niederdrückte.

Ein Mann. Ein nackter, blutender Mann.

Die Kreatur hatte Nathan nicht umgebracht. Die Kreatur war Nathan.

Sein Gesicht hatte sich zur Raubtierfratze verzerrt. Seine Augen waren kalt, und er erkannte mich nicht. Mit einer Faust umklammerte er eine bluttriefende Glasscherbe. Blutige Symbole verunstalteten seine Arme und seine Brust, und mir wurde aufs Neue übel, als ich begriff, dass er sie sich selbst ins Fleisch geschnitten hatte.

Er neigte den Kopf in meine Richtung, und ich wandte mich ab. Er beugte sich herunter, bis sein Atem die Haare an meiner Schläfe bewegte, und schnupperte an mir. Mit deutlichem Knurren hob er die Scherbe hoch über seinen Kopf.

„Nathan, bitte nicht“, flüsterte ich, aber ich wusste, er konnte mich nicht hören. Dieses Ding war nicht Nathan. Es war ein Monster mit dem Gesicht meines Schöpfers.

Die Scherbe stieß herab, und ich zuckte zusammen, als sie auf dem Boden neben meinem Kopf zersprang. Aus seiner zerschnittenen Handfläche sprühte warmes, frisches Blut über mein Gesicht. Er ergriff mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. Dann krächzte er etwas in einer Sprache, die sich gefährlich anhörte, doch ich verstand kein Wort. Abrupt stand er auf und bewegte sich von mir weg.

Obwohl ich mich in Sekundenschnelle aufsetzte, war er verschwunden, bevor ich ihn hinausgehen sah. Der einzige Beweis für seine Anwesenheit waren die blutigen Fußabdrücke auf der Treppe zur Straße.

Zitternd hob ich eine Hand, als wollte ich nach ihm greifen. Sie war nass von seinem verunreinigten Blut. Normalerweise tröstete mich der Geruch von Nathans Blut. Jetzt aber war es von irgendetwas verdorben, und mir wurde schlecht von dem Gestank. Ich zog mir das T-Shirt über die Nase und kroch zur Tür. Glasscherben stachen in meine Arme, doch ich fühlte sie kaum.

Wie ein Zombie stolperte ich die Treppen zur Wohnung hinauf. Das Blut, das aus meinen zerschnittenen Händen tropfte, nahm ich kaum wahr. Meine Geistesgegenwart kehrte so weit zurück, dass ich die Tür aufschließen konnte und den Riegel hinter mir vorlegte. Dann ging ich in Nathans Zimmer, setzte mich auf die Bettkante und packte das schnurlose Telefon. Ich wählte mechanisch und fixierte eine Teppichfalte nahe der Kante des Läufers.

„Harrison.“ Max am anderen Ende der Leitung klang unbeschwert. Ich wollte sein, wo er war, und nichts von dem wissen, was ich eben gesehen hatte.

„Hier ist Carrie.“ Ich schluckte, die Zunge in meinem Mund fühlte sich geschwollen an. „Ich brauche dich.“

2. KAPITEL

Vertrautes Gelände

Der Boden war kalt, dafür war die Luft zu heiß und zu hell. Instinktiv schreckte Cyrus vor dem Sonnenlicht zurück, das sein Fleisch berührte.

Sein nacktes, menschliches Fleisch.

Wie demütigend. Er hatte nicht die Energie, gegen diese Würdelosigkeit aufzubegehren. Müdigkeit quälte seine Knochen, Hunger nagte an seinen Nerven. Als Vampir war der Durst nach Blut dasselbe gewesen wie Hunger, aber doch weit mehr als ein körperliches Bedürfnis. Den Blutdurst zu stillen, war ein Akt emotionaler Erfüllung, der Drang, dem Grundtrieb seiner Art zu folgen. Töten. Beherrschen. Menschlicher Hunger war dagegen sadistisch und so simpel. Den einfachen Todeskampf des Organismus hatte er seit Jahrhunderten nicht mehr gefühlt.

Was war mit ihm passiert?

Stöhnend setzte er sich auf. Seine Muskeln protestierten schmerzhaft, und er brach wieder zusammen. Höhlenartige Dunkelheit umgab ihn. Über ihm strömte ein Kegel Sonnenlicht herab und legte, wie Dahlia es genannt hätte, einen Schutzkreis um ihn. Dahlia. Wenn sie hier ihre Finger mit im Spiel hatte, würde er ihren kleinen, süßen Kopf von ihren fetten Schultern schlitzen, Hexe hin oder her. Wenn er sich erst einmal erholt hatte, würde seine Wut ihm genug Stärke verleihen, um es mit einer ganzen Armee Vampirhexen aufzunehmen. Da war er sicher.

In der Dunkelheit hörte er Stimmen, konnte aber nicht erkennen, aus welcher Richtung sie kamen. Sein Blick war nicht besonders scharf, auch wenn er mehr erkennen konnte als zu Zeiten seines Todes.

Tot. Carrie. Der Schmerz über ihren Verrat kehrte mit überraschender Grausamkeit zurück. Sie hatte seine Liebe zurückgewiesen und sein Blut. Dann hatte sie ohne eine Spur von Gewissensbissen eine Klinge durch sein Herz getrieben. Fast hätte er die Tat bewundern können, wenn er nicht das Opfer gewesen wäre.

Er schloss die Augen und streckte sich auf dem kalten, harten Boden aus. Marmor, dachte er. Seltsam, wie ihm nach und nach wieder alles einfiel. Vielleicht war das der Beweis für die Existenz der Seele – Erinnerungen aus den vergangenen Leben. Dahlia hatte immer darauf bestanden, dass ihre Seele schon andere Leben gelebt hatte, in den Körpern von berühmten und berüchtigten historischen Persönlichkeiten. Nein, er würde jetzt nicht anfangen, an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben. Das würde die Situation hier noch lächerlicher machen.

Genau wie dieses unangenehm drückende Gefühl in seinem Unterleib. Das hatte er lange nicht mehr gespürt, aber die Bedeutung kam mühelos zurück.

„Hallo?“, rief er den Stimmen in der Dunkelheit zu, obwohl ein barsches „Hey!“ wohl angebrachter gewesen wäre, wenn er bedachte, was man ihm angetan hatte. „Ich muss zur Toilette!“

Die Stimmen tuschelten leise untereinander, wurden dann immer lauter, bis jemand die Spannung brach und schrie: „Na schön, geh und hol sie!“

„Wen?“, rief Cyrus, aber der Lärm in der Dunkelheit verschluckte seine Frage. Inständig hoffte er, die fragliche „Sie“ war nicht eine von den beiden Vampiren, die ihn zurückgeholt hatten. Die eine wirkte durch ihre heulende Stimme wie eine Todesfee. Und die andere klang so rau und maskulin, dass er sie sogar für einen Mann gehalten hatte.

Eine Tür öffnete sich knarrend und schlug wieder zu. Ein gellender, entsetzter Schrei entfachte nostalgische Funken in Cyrus’ Herz. Die Tür flog kreischend wieder auf. Die in Frage stehende „Sie“ war offenbar sehr verängstigt. Das befriedigte ihn ein wenig, wenigstens war er nicht der Einzige, der den Gestalten hilflos ausgeliefert war.

„Beweg dich, Schlampe“, kommandierte eine verzerrte Stimme aus den Schatten.

Ein bleicher, einsamer Umriss löste sich aus der Dunkelheit. Als sie näher kam, verschwammen die Farben. Das gedämpfte Gelb ihres Kleides verschmolz mit dem schlichten Braun ihrer Haare und dem papierähnlichen Weiß ihrer Haut. Ihr Körper war mit Blut bespritzt, ihre Kehle zeichnete sich blau und violett von der Dunkelheit ab, und um ihre Augen lagen schwarze Ringe.

Vorsichtig näherte sie sich, hielt zwei Schritte von ihm entfernt inne und kniete dann an seiner Seite nieder. Das Sonnenlicht berührte sie, aber sie verbrannte nicht. Ein Mensch. Seine Erleichterung war enorm. Auf keinen Fall wollte er den Kreaturen, die er einst beherrscht hatte, als Futter dienen.

„Ich bin hier, um Ihnen zu helfen“, sagte sie. Ihre Stimme war kaum ein Flüstern.

Cyrus betrachtete sie mit Verachtung. Leise sprechende Frauen konnte er nicht ertragen: Sie hielten keine Überraschungen für ihn bereit, und gewöhnlich gab er sich mit nichts ab, das kein außerordentliches Amüsement versprach. Er streckte eine erbärmlich zitternde Hand aus, um ihr das Haar aus dem Gesicht zu streichen, und berührte die dunkle Quetschung um ihr Auge. „Ich sehe schon, du hörst nicht gut zu.“

Ihre Hände ballten sich zu wütenden Fäusten, die für einen Moment seinen Respekt entfachten. Dann schauderte sie und zerstörte die Illusion von Mut. Er wusste gleich, es war nicht das erste blaue Auge, das sie sich in ihrem Leben eingehandelt hatte.

„Stützen Sie sich auf mich“, flüsterte sie und half ihm auf die Füße. „Die haben gesagt, Sie können nicht gehen.“

Wie erniedrigend. Einst war er tödlich und mächtig gewesen. Jetzt war er ein Mensch. Die Vampire, die in den Schatten lauerten, wussten es. Obwohl sie auf Distanz blieben, konnte er ihre Gier fast riechen. Er wusste, was er an ihrer Stelle fühlen würde. Verlangen, Neugier. Nicht viele Vampire kehrten aus dem Totenreich zurück, in dem er gefangen gewesen war. Schon das machte ihn zu einer Delikatesse.

Einer der Vampire knurrte. Cyrus hörte das Klirren von Ketten, als sich die Kreatur näherte, und richtete sich auf. Das Mädchen neben ihm zitterte und schrie auf. Hätte er allein stehen können, hätte er sie ihnen zum Fraß vorgeworfen.

„Er darf keinen Schaden nehmen“, kommandierte ein anderer Vampir, worauf der Herankommende innehielt.

„Wo bin ich?“, fragte Cyrus und hasste sich für seine Abhängigkeit von diesem Mädchen.

„St. Anne’s“, flüsterte sie. „Eine Kirche.“

„Schon klar. Es gibt nicht viele Autowaschanlagen, die St. Anne’s heißen.“

Die Tür öffnete sich, und er musste wegen des hereinquellenden Gestanks von Tod heftig würgen. Er sah eine Reihe chromblitzender Motorräder, die in der Eingangshalle der Kirche geparkt waren. Nur mühsam konnte er sich auf Einzelheiten konzentrieren, seine Augen waren von den vielen Eindrücken überfordert.

„Die haben gesagt, sie würden sie beerdigen, wenn die Sonne untergegangen ist“, sagte das Mädchen leise. „Haben sie aber nicht.“

Cyrus warf einen flüchtigen Blick auf die beiden verrenkten Körper auf dem Boden. Einer war schwarz gewandet und trug den weißen Kragen des Klerus. Der andere gehörte einer weißhaarigen Frau. Ihre Bluse und die hausmütterliche Strickjacke waren aufgeschlitzt, darunter war die runzlige Haut ihrer Brust zu sehen. Ihr Rock wickelte sich um die Schenkel und stellte die Kniestrümpfe zur Schau.

„Vater Bart und Schwester Helen“, wisperte das Mädchen unter Tränen. „Sie …“

„Ich weiß, was mit ihnen ist.“ Er wandte sich ab und streckte einen Arm aus, um sich an der Wand abzustützen. „Deck sie zu.“

Hallo, Gewissen. So trifft man sich wieder.

Als das Mädchen zu ihm zurückkam, zitterte sie. Cyrus wollte sie für ihre Schwäche schlagen, in seinem letzten Leben hätte er das getan. Jetzt schaffte er es kaum, aus eigener Kraft den Arm zu heben. So peinlich es auch war, er war auf sie angewiesen. Wenn sie ihm nicht mehr half, weil er sie schlecht behandelt hatte, würde das seine Situation nicht gerade verbessern.

„Das Rektorat ist unten.“ Sie wischte sich die Tränen ab, als sie die Tür öffnete. Mit Teppich belegte Stufen führten nach unten in die Dunkelheit. „Ich glaube, da wollen sie uns einsperren. Mich haben sie jedenfalls dort festgehalten.“

Sein Verstand rotierte. Mühsam stückelte er Informationen aus den Erinnerungen seiner früheren Existenz zusammen und überlegte, was davon zu seiner aktuellen Lage passte. „Wer sind sie denn?“

„Ungeheuer.“ Das Wort kam leiser als ein Flüstern.

Am liebsten hätte er sie die Treppe hinuntergeschubst. Doch blöderweise würde er dann direkt hinterherfallen. „Ja, Vampire. Ich weiß. Aber wer genau?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was Sie …“

„Wer sind sie? Wessen Verbündete sind sie? Sind es Fangs oder Kelten oder Coveners?“ Er suchte in seinem Gedächtnis nach weiteren Namen von Vampirgangs, und Angst ergriff sein Herz. „Sie sind doch nicht etwa von der Bewegung?“

Was für eine blöde Frage. Natürlich waren sie nicht von der Bewegung. Für die VVEM wäre es sinnlos, Vampire aus dem Zustand ihres Todes zurückzuholen.

Es sei denn, seine neue menschliche Existenz war eine Art sadistischer Bestrafung, die sie ersonnen hatten. Wenn dem so war, konnte er mit Sicherheit erraten, wer seinen Namen auf die Liste gesetzt hatte.

Das Mädchen half ihm die Stufen hinab zu einer verstaubten Wohnung mit einem Bett, einem Sessel und einem verbeulten Aluminiumfernsehmöbel. Darauf stand ein halb aufgegessenes Mikrowellengericht, daneben lag eine Fernsehzeitung mit aufgeschlagenem Kreuzworträtsel. Auf einem schmalen Bücherregal befanden sich ein Fernseher und wenige Bücher, dazwischen eine Flasche Weihwasser, und in einer Ecke glänzte ein Rosenkranz.

Cyrus deutete auf die Weihwasserflasche. „Versteck das.“

Das Mädchen wartete, bis er sich an die Wand gelehnt hatte, dann kam sie seiner Bitte nach. „Warum?“

„Weil da oben eine Menge Vampire sind und sie diesen Raum offensichtlich nicht gründlich durchsucht haben. Es wäre schlau, wenn wir jede potenzielle Waffe, die wir finden, auch behalten.“ Er zog eine Grimasse, als sie die Flasche nahm und um ihn herumging, ohne ihn anzusehen. „Was hast du für ein Problem?“

„Überhaupt keins.“ Sie schluckte heftig. „Außer dass ich von Vampiren entführt wurde und zusehen musste, wie meine beiden besten Freunde ermordet wurden.“

Cyrus rümpfte die Nase. „Wenn deine besten Freunde eine Nonne und ein Priester waren, dann hast du eindeutig ein Problem, aber das meine ich nicht. Warum willst du mich nicht ansehen?“

Nun musste sie es aussprechen, und sie tat es auch, mit großen Augen, die sie hinter Strähnen farblos-brauner Haare verbarg. „Wei-weil Sie nackt sind.“

Es war lange, lange her, dass er zum letzten Mal auf Kosten von jemand anderem so gelacht hatte. Er genoss den Anflug von Humor gründlich, obwohl er mit dem Rücken an der schmutzigen Wand bedenklich ins Wanken geriet. „Ach komm, lass mich raten, du bist auch eine Schwester, nicht wahr?“

Sie errötete, als wäre der Gedanke absurd. „Nein.“

„Wie schade. Ich fand Nonnen immer am spaßigsten. Am Anfang sagen sie alle Nein, und wenn ich mit ihnen fertig bin, betteln sie um mehr.“ Er zuckte die Achseln und überhörte ihren entsetzten Schluchzer. „Ich muss auf die Toilette und will ein Bad nehmen. Du musst mir helfen. Und such mir ein paar Klamotten von dem Priester.“

„Was ist, wenn sie hier herunterkommen?“ Sie packte seinen Arm, offenbar machten ihr die Klauen der Vampire oben doch mehr Sorge als sein nacktes Fleisch.

„Ich schlage vor, du verabschiedest dich schnell von deiner Unschuldsrolle. Die sind geneigter, dich am Leben zu lassen, wenn du als aktive Teilnehmerin auftrittst.“ Er schüttelte sie ab und fiel prompt zu Boden. Sie stieß einen kurzen, mitleidigen Schrei aus, der ihn abstieß, also versuchte er zu kriechen.

„Lassen Sie mich Ihnen helfen“, sagte sie freundlich und kniete neben ihm nieder. Er war so verflucht schwach, dass er sich von ihr auf die Füße helfen ließ.

Das Bad war klein. Aus seinem früheren Leben war er etwas anderes gewöhnt. Aber es gab eine Badewanne, und der abscheuliche orange Plüschteppich des Wohnzimmers ging nur bis kurz vor die Badezimmertür. Schon für den unregelmäßig gemusterten Fliesenboden hätte er diesen Raum im Moment zu seinem Lieblingsort erklärt.

Gefasst stand er die Demütigung durch, sich von einem anderen Menschen beim Pinkeln helfen lassen zu müssen. Dann drehte das Mädchen die rostigen Hähne auf, um die schimmernde Emailbadewanne zu füllen.

Vorsichtig half sie ihm ins Wasser. Als die Hitze in seine Haut stach, keuchte er auf. Doch sie schien es gar nicht zu bemerken, ihre dünnen Arme zitterten vor Anstrengung, als sie ihn in der Wanne absetzte. „Schaffen Sie es, aufrecht sitzen zu bleiben?“

„Ich stecke in einem Kessel voll mit siedendem Wasser, aber ja, ich werde mich bemühen, meinen Körper aufrecht zu halten.“

Sie ließ ihn allein mit seinen Gedanken, und er hatte eine Menge, worüber er nachdenken musste. Da er ohnehin zu erschöpft für alles andere war, erwog er in Ruhe seine nächsten Schritte. Als Erstes musste er herausfinden, wer ihm das angetan hatte. Dann würde er seinen Vater kontaktieren. Außer es war Vater, der ihn zurückgeholt hatte. Auch wenn er es nicht gerne zugab, war das eine ziemlich naheliegende Vermutung. Doch warum sollte sein guter alter Daddy ihn als Mensch zurückgeholt haben? Es ergab keinen Sinn.

Moment, sein Vater musste ja nicht allein dahinterstecken. Cyrus war stolz auf seinen unter Vampiren weithin bekannten Namen. Vielleicht hatte eine fanatische Gruppe ihn erweckt, in der Hoffnung auf Gunst oder Ruhm.

Oder sie brauchten ihn als Opfer.

Auch das war nicht abwegig. Cyrus selbst hatte seinem Vater durch Jahrhunderte geholfen, Vampire zu opfern. Aber das Schlüsselwort war Vampir. Warum war er ein Mensch?

Allmählich entspannte er sich, als jemand schüchtern an der Tür klopfte.

„Was?“ Er nahm das nächste Objekt – ein Stück Seife – und schleuderte es gegen die Tür.

Das Mäuschen kam mit einem Stapel gefalteter Kleider herein. „Vater Bart war kleiner als Sie. Und beleibter.“

„Heb die Seife auf.“ Cyrus musterte sie, als sie sich bückte. Nicht weltbewegend, entschied er und drehte den Kopf nach hinten, um ihre Rückseite zu studieren.

Früher hätte er sich an ihr gütlich getan. Sie hatte lange schlanke Beine, die sich bestimmt göttlich anfühlten, wenn sie sich um seine Hüften schlangen. Ihre Haare waren gerade lang genug, um ihr daran den Kopf in den Nacken zu ziehen und ihre Kehle für einen Biss zu entblößen. Aber ihr Gesicht war zu unschuldig, ihre ganze Art zu furchtsam. Ihr dünnes Baumwollsommerkleid erzählte endlose Geschichten von Fahrten zum Supermarkt in Papas Laster, während dazu Garth Brooks’ Ruf der Landstraße aus den offenen Fenstern plärrte.

Der Vampir Cyrus hätte sein Vergnügen mit ihr gehabt und ihr Blut in einer Nacht ausgesaugt. Sie wäre gestorben, ohne das Morgengrauen des nächsten Tages zu erleben.

Jetzt vermisste er Blut noch mehr als zu Zeiten, in denen er ziellos auf der anderen Seite des Schleiers schwebte. Doch er wollte nicht mehr daran denken.

Als sie aufstand und ihm die Seife reichte, entriss er sie ihr. „Was ist das?“, fauchte er sie wütend an und zeigte auf die Wäsche. „Polyester?“

„Ich weiß nicht.“

„Schön. Lies die verdammten Schildchen. Bist du denn völlig unfähig?“ Ungeduldig zerrte er das Hemd von dem Stapel und studierte die Pflegehinweise, bevor er es mit Abscheu zur Seite warf. „Ich trage nur Naturfasern.“

Das Mädchen nickte verunsichert. „Ich denke nicht, das Vater Bart so was hatte.“

„Der tote Priester ist nicht mein verdammtes Problem!“ Er schlug die Fäuste ins Wasser, das über den Wannenrand schwappte.

Das Mäuschen fuhr zurück und schrie auf. Der Anblick ihres verängstigten Gesichts verbesserte Cyrus’ Laune beträchtlich.

„Verschwinde. Wenn du für mich keine tragbaren Kleider finden kannst, musst du eben die Idioten da oben fragen.“ Er lehnte sich in der Wanne zurück und lauschte mit geschlossenen Augen ihrer demütig bettelnden Litanei, sie nicht zu ihnen zu schicken.

Max kam fünf Stunden nach meinem Anruf. Ich lag auf Nathans Bett unter Decken begraben, klammerte mich an seinen Geruch wie an einen Rettungsanker und versuchte das Radio zu ignorieren, das Nathan immer angestellt ließ. Der klassische Rocksender war gerade in der Mitte einer Fleetwood-Mac-Retrospektive. Die letzten Töne von Gypsy verklangen, als krachend die Eingangstür aufflog.

„Carrie?“ Etwas Schweres schlug auf den Boden. Vielleicht die Sporttasche, die Max immer bei sich trug. Laute Schritte kamen den Flur entlang, und ich kletterte eilig aus den Laken, als er auf der Türschwelle zum Stehen kam.

„Was ist los? Wo ist Nathan?“ Max sah sich im Zimmer um, als ob er ihn hier finden könnte.

„Fort.“ War es die Erleichterung, dass ich jetzt einen Verbündeten in meinem Albtraum hatte, oder erreichte die Wucht der Ereignisse mich erst jetzt? Jedenfalls brach meine Stimme, und Tränen liefen mir übers Gesicht. „Er ist fort.“

„Oh Gott, Carrie.“ Max sackte auf das Bett und legte die Arme um mich. Ich vergrub meinen Kopf an seiner Schulter, seine Jacke roch nach Leder und Zigarettenrauch. Er drückte mich kurz an sich, bevor er ein Stück abrückte. Dann machte er eine Geste, als würde er sich einen Pfahl durch die Brust rammen. „Fort?“

Ich schüttelte den Kopf und wischte mir die Tränen aus den Augen. „Nicht so. Er war hier. Sein Körper war hier. Aber es war nicht er.“

„War er besessen?“

„Nicht direkt.“ Wie konnte ich es erklären? „Da war nichts von Nathan übrig. Kannst du das Radio ausmachen?“

Max nickte und fummelte am Radiowecker. Go your own way brach in der Mitte ab. „Ich hasse diesen Song sowieso.“

Den Tränen nahe bedeckte ich meine Augen, und er nahm mich wieder in die Arme. Es fühlte sich gut an, aber es änderte nichts. Der Schmerz in meinem Herzen ließ nicht nach.

„Was ist denn nur passiert?“, fragte er leise.

Es war mir unmöglich ihn aus der Umarmung zu entlassen. „Ich hab es durch das Blutsband gespürt. Etwas stimmte nicht. Also bin ich runter.“

Als ich abbrach, beruhigte er mich und klopfte mir teilnahmsvoll auf den Rücken. Er brummte „schon gut“ und „ganz ruhig“, Max war immer schon ein sehr verständnisvoller Mann gewesen. „Hör zu. Ich gehe jetzt runter und sehe mich um, und du bleibst hier oben, wo du sicher bist.“ Er richtete sich auf und sah mir in die Augen. „Okay?“

Immer noch unter Schock stehend, folgte ich ihm ins Wohnzimmer und sah, wie er ein paar Pflöcke aus seiner Tasche zog. „Sei vorsichtig.“

Max blickte auf, im Gesicht ein so gekünsteltes Lächeln, wie ich es noch nie an ihm gesehen hatte. „Ich kann gut selbst auf mich aufpassen, Frau Doktor.“

„Nein, nicht so. Ich meine, wenn Nathan unten ist …“

Mühsam folgte er meinem Blick zu dem Pflock in seiner Hand. Als sich unsere Blicke trafen, war eine solche Trauer in seinen Augen, dass es mir das Herz noch einmal brach. „Schenk mir ein wenig Vertrauen, Carrie.“

„Entschuldige.“ Den Tränen gefährlich nahe, wandte ich mich ab und tat, als fesselte etwas auf den Regalen an der Wand mein Interesse. Erst als ich hinter mir die Tür leise ins Schloss klicken hörte, wischte ich mir die Augen. Dann sah ich hoch, und der Anblick von Nathans lächerlich großer Sammlung von Büchern traf mich ins Mark. Ein Seitenblick, und ich sah seinen Stuhl, seine Schuhe und eine halb geleerte Tasse Blut auf einem Stapel Notizbücher. All die kleinen Dinge, aus denen Nathans Leben bestanden hatte, waren hier und warteten darauf, dass er zurückkam. Sie machten seine Abwesenheit plötzlich noch realer und verstärkten meinen Schmerz. Wenn wir Nathan nie wiederfanden, blieben mir nur diese Erinnerungsstücke. Sie und meine Trauer um ihn.

Ich weiß nicht, wie lange ich da stand und ein Foto anstarrte. Als das Klicken des Türknopfs Max’ Rückkehr verriet, war ich überrascht, wie kurz er unten im Laden gewesen war.

Er zog sich die Jacke aus und warf sie über die Stuhllehne. „Da war nichts. Nur jede Menge wirklich übel riechendes Blut. Ich nehme an, es war seins?“

Ich nickte stumm.

„Es gibt sonst nichts, was wir heute Nacht noch tun könnten.“ Fluchend rieb er sich den Nacken. „Erzähl mir, was genau passiert ist.“

Die Symbole.

„Da waren Zeichen.“ Ich setzte mich auf, holte mir ein Notizbuch und einen Stift, den ich auf dem Kaffeetisch, der immer mit allem möglichen Kram vollstand, erspäht hatte. „Er hat sich so verrückte Symbole in den ganzen Körper geritzt.“

„Geritzt? Mit einem Messer?“ Max stellte sich neben mich und sah mir erwartungsvoll über die Schulter, als ich aufmalte, woran ich mich erinnern konnte.

„Ich glaube, es waren magische Zeichen oder so was.“ Ich schloss die Augen, bekam aber kein klares Bild. „Es sah alles aus wie willkürliche Winkel mit Kringeln an den Enden.“

Als ich ihm die Seite zeigte, runzelte er die Stirn und strich mit den Fingern über die Symbole. „Bist du sicher, dass sie so aussahen?“

„Weißt du, ich konnte in der Hektik kein Foto machen. Wenn dich ein blutender, nackter Mann mit hippen Graffiti am ganzen Körper auf den Boden nagelt, hast du anderes im Kopf.“ Ich biss mir auf die Lippen und deutete auf das Blatt. „Was denkst du?“

„Er hat dich angegriffen?“ Max suchte meinen Körper nach Verletzungen ab. „Bist du unversehrt?“

„Ja.“ Ich hatte völlig vergessen, den Angriff zu erwähnen. Im Nachhinein wirkte es absurd. Fast musste ich lachen über meine Dummheit. „Er hörte plötzlich auf. Ich glaube … ich glaube, er hat mich erkannt, als er an mir gerochen hat, und dann … dann hat er mich losgelassen.“

Max durchdachte meine Worte, dann wandte er sich wieder meinen Zeichnungen zu. „Ist Nathan in anderen Sprachen bewandert?“ Er zog ein Handy aus der Tasche. „Aramäisch, Hindi, Griechisch? Vielleicht in einer Sprache, deren Buchstaben anders aussehen als unsere?“

Ich schüttelte den Kopf. „Er kann Gälisch seit seiner Kindheit, aber die Buchstaben sehen aus wie unsere. Wenn er sehr müde oder betrunken ist, fällt er manchmal in diese Sprache, aber …“

Max lachte leise. „Das merke ich mir für künftige Auseinandersetzungen.“

Dass er so selbstverständlich davon ausging, dass Nathan noch eine Zukunft hatte, gab mir etwas von meiner Selbstsicherheit zurück. Ich setzte mich auf die Couch, während Max eine Nummer in sein Handy tippte. „Wen rufst du an?“

„Die Bewegung“, sagte Max so beiläufig, als stünde er nicht im Haus zweier flüchtiger Vampire.

Ich griff nach dem Handy.

Max fuhr fassungslos zurück. „Hey, was machst du?“

„Du kannst die Bewegung nicht anrufen“, flüsterte ich grimmig, als könnten sie mich hören. „Die töten uns.“

„Sie werden wissen wollen, dass Nathan etwas zugestoßen ist. Und ganz nebenbei, wer soll uns sonst helfen? Die ach so verlässlichen Zauberbücher da unten vielleicht?“ Er drehte sich weg, um ins Handy zu sprechen. „Hola, Baby. Hier ist Harrison. Gib mir Anne.“

Mein Herz hämmerte in der Brust, während ich hilflos zusah, wie Nathans einziger Freund zum Judas wurde.

„Anne, cómo está? Hier ist Harrison.“ Er machte eine Pause und brach dann in herzhaftes Lachen aus.

Wie konnte er nur? Ich kochte innerlich und konnte seiner Flirterei am Telefon nicht mehr folgen. Nathan hatte die Bewegung verlassen müssen, nachdem er mich erschaffen hatte. Seitdem waren wir abgetaucht und taten alles, um nicht in ihr Blickfeld zu geraten, und nun lenkte Max mutwillig ihre Aufmerksamkeit auf uns?

„Alles klar.“ Er grinste breit. „Wir sind bei Sonnenuntergang im Flieger.“

„Flieger?“ Ich hielt mit Mühe an mir, bis er die Verbindung unterbrach. „Wo willst du denn hin?“

Wir fliegen zum Hauptquartier der Bewegung. Nach Madrid“, fügte er hinzu, als sei der Zielflughafen mein wichtigstes Problem.

„Wie bitte? Wir? Du erwartest von mir, dass ich in ein Haus voller Meuchelmörder marschiere, die allesamt Befehl haben, mich zu töten, sobald sie mich sehen?“ Ich schüttelte heftig den Kopf. „Keine Chance!“

Max lachte. „Du machst dich außerordentlich wichtig, weißt du? Es gibt Tausende von abtrünnigen Vampiren, die auf der Erde herumstreichen. Du bist ein zwei Monate altes Baby, das seinen Erschaffer umgebracht hat. Ich wette, dass kein einziger Vampir dort jemals deinen Namen gehört hat.“

„Aber du hast ihnen von Nathan erzählt.“ Ich deutete auf das Handy in seiner Hand. „Sie wissen jetzt, wo sie ihn suchen müssen.“

Max warf das Handy auf den Kaffeetisch und setzte sich neben mich. „Er war ein hervorragender Vampirjäger. Sie sind wütend, weil er die Truppe verlassen hat, aber sie werden keine Belohnung auf ihn aussetzen, solange er nicht ernstlich die Grenzen überschreitet. Da draußen sind zu viele Vampire, die der Menschheit schlimmeren Schaden zufügen.“

Ich wusste, dass das stimmte. Ähnliches hatte Nathan mir auch erklärt. Wenn sie unseren Tod wollten, hätten sie uns gleich, nachdem ich Cyrus getötet hatte, gepfählt. „Die Grenzen überschreitet?“ Meine Kehle war zugeschnürt. „Wie?“

„Indem er jemanden umbringt oder einen neuen Vampir erschafft.“ Max versuchte zwar, weiter gelassen zu wirken, aber seine Stimme wurde zunehmend ernster. „Hör zu, ich sage nicht, dass das eine harmlose Situation ist. Nathan ist in tödlicher Gefahr. Wenn ich die Hoffnung hätte, dass wir ihm allein helfen könnten, würde ich die Bewegung nicht hineinziehen.“

„Du wirst nicht zulassen, dass sie ihn töten, hörst du?“

Max schüttelte grimmig den Kopf, aber ein Stahlband der Sorge legte sich um mein Herz. „Es gibt etwas, das du mir nicht sagst“, murmelte ich.

Max seufzte schwer. „Wir haben den Souleater überwacht. Es gab … gewisse Aktivitäten.“

Oh ja, die gab es. Jacob Seymour, Cyrus’ Vater und Nathans Schöpfer, jagte durch meine Albträume, seit ich ihn auf Cyrus’ New Yorker Vampir-Silvesterparty zum ersten Mal gesehen hatte. Er fraß andere Vampire, verzehrte ihr Blut und ihre Seelen, um nach Jahren manischer Machterweiterung, die seinen Stoffwechsel geschädigt hatten, am Leben zu bleiben. Die meiste Zeit des Jahres schlief er sicher in seinem Sarg, geschützt von einem großen Gefolge von Leibwächtern. Vor Kurzem hatte allerdings ein Einsatzkommando der Bewegung seinen Futterplan etwas durcheinandergebracht.

„Was für Aktivitäten?“ Meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen, als ich sie zu Fäusten ballte. Ich wollte schreien: Raus damit! Spuck’s endlich aus, aber so konnte ich Max nicht behandeln. Er versuchte nur, mir zu helfen, indem er mir die Neuigkeiten in kleinen Dosierungen weitergab. Doch für mich war es so schmerzhaft, als ob er mir langsam ein Pflaster von einer Wunde zog.

„Alle seine bekannten Blutskinder sind verschwunden. Sogar die aus der Bewegung. Carrie, es gibt einen Grund dafür, dass der Souleater so schwach ist. Er hat mehr oder weniger über fünf Jahrhunderte lang einen Zögling pro Jahr erschaffen. Nun sind sie alle weg.“ Max zuckte hilflos die Achseln. „Und er wird wieder stärker.“

Ich dachte, es könnte nicht noch schlimmer werden. Jetzt wurde mir klar, dass das eine Illusion gewesen war. Mit Max’ Worten sackte der Boden einfach unter mir weg. „Du denkst doch nicht …“ Ich brachte es nicht über die Lippen. Es gab nur eine Art, auf die der Souleater stärker werden konnte: wenn er das Blut und die Seele eines Vampirs zu sich nahm.

„He, ich weiß nur, was man mir erzählt hat“, sagte er und versuchte ermutigend zu klingen. „Aber diese Geschichte … Pass auf, es gibt da eine Person, die uns erzählen kann, was mit Nathan los ist. Unglücklicherweise ist sie ein bisschen gefährlich. Deshalb hat die Bewegung sie festgesetzt.“ Er fluchte und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen blonden Haare. „Ich mag den Plan nicht, aber sie halten ihn für machbar und, ganz ehrlich, wir haben keine Alternative.“

Mit einem Schock fiel mir ein, wie der Abend begonnen hatte. Ich war aufgestanden, hatte mit Nathan gesprochen und einen Spaziergang gemacht, ohne jeden Verdacht, dass das Elend schon auf der Lauer lag. Es war so unfair und gemein! Alles, was ich wollte, war Nathan. Er sollte bei mir sein und mir sagen, dass alles gut war. Ich fühlte nach dem Blutsband, aber da war nichts. Schmerz, so mächtig, dass ich kein Wort und keinen Laut dafür fand, durchflutete meinen Körper. Ich öffnete den Mund, aber mein Schrei blieb stumm, ich schlang die Arme um meine Brust und versuchte aufzustehen, aber ich brach zusammen und fiel auf die Knie.

Einen Herzschlag später war Max an meiner Seite, packte meine Oberarme, zog mich hoch auf die Couch. Liebevoll legte er die Arme um mich, und ich sackte gegen ihn. Sein T-Shirt war angenehm an meiner Wange, und für einen Moment gab ich mich der Illusion hin, dass es Nathan wäre, der mich hielt.

Dann stieß ich Max von mir. Der Schmerz würde nie nachlassen, wenn ich mich nicht der Wirklichkeit stellte. Nathan war weg, vielleicht für immer.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, schluchzte ich, mehr in mich hinein als an Max gewandt.

Seine Stimme klang belegt, weil er darum rang, mir seine eigenen Ängste nicht zu zeigen. „Ich weiß, was du tun wirst. Du wirst diese Nacht überstehen und wahrscheinlich auch noch den morgigen Tag, dann nehmen wir die Maschine nach Madrid. Wir treffen uns mit der Bewegung, machen ein bisschen Sightseeing, dann betrinken wir uns glorreich und stürzen bei einer Flamenco-Show ab. Klingt das gut?“

„Wie kannst du in diesem Moment Witze machen?“ Ich fuhr mir über das Gesicht und blitzte ihn an. „Was, wenn wir Nathan nie wiederfinden?“

„Dies hier ist nicht das Schlimmste, was Nathan je passiert ist. Er wird da durchkommen.“ Max zögerte. „Ich habe das noch nie jemandem erzählt …“

Sofort saß ich kerzengerade. „Was denn?“

Er sah weg. „Ich weiß nicht, ob es dir hilft, wenn ich dir davon erzähle.“

„Es ist einen Versuch wert.“ Nichts konnte diese Situation verschlimmern.

„Mein Erschaffer ist gestorben.“ Ehe ich mein Beileid bekunden konnte, fuhr er hastig fort. „Vor ungefähr zehn Jahren. Er war nicht in der Bewegung, genauso wenig wie ich. Wir haben zusammengelebt – nicht schwul oder so –, und dann kam ich mit diesem Mädchen in Kontakt. Sie war eine Vampirjägerin, aber das wusste ich nicht. Sie hat mich benutzt, um ihn zu erwischen. Dann hat sie mich vor die Wahl gestellt: Ich konnte der Bewegung beitreten oder sterben. Ich hatte gesehen, was sie mit Marcus getan …“

Der Schmerz in seiner Stimme überwältigte mich. „Du musst nicht weitersprechen“, flüsterte ich.

Um Fassung bemüht, nickte er und lächelte, als wäre es ihm peinlich, dass er seine Gefühle gezeigt hatte. „Ich vermisse ihn immer noch. Manchmal denke ich, wenn ich nur seine Stimme hören könnte … Aber irgendwann bin ich damit fertig geworden.“

Ich wollte sagen: „Das kann ich mir nicht vorstellen“ oder „Es muss grauenhaft gewesen sein.“ Aber ich konnte, und es war grauenhaft. Darum erzählte er es mir ja. Wenn er den Verlust seines Schöpfers überleben konnte, würde ich auch den Verlust von Nathan überstehen. Doch diese weise Einsicht ließ die Möglichkeit zu, dass Nathan wirklich sterben könnte. Doch daran wollte ich nicht denken. Stumm lehnte ich mich wieder an Max. So konnte ich ausruhen, sicher in der Vertrautheit, die gute Freundschaften ausmacht.

„Wir werden ihn zurückholen, Carrie. Nathan spielt viel zu gern den Stachel in meinem Fleisch, um für längere Zeit zu verschwinden, fürchte ich.“ Tröstend legte er mir den Arm um die Schultern und drückte mich kurz an sich.

Dann hatten wir nichts mehr zu sagen. Max schlief an mich gelehnt auf der Couch ein. Wir gaben sicher ein sonderbares Bild ab: zwei verwundete Seelen, die versuchten, sich aneinander aufzurichten.

Draußen ging die Sonne auf. Wo immer Nathan war, ich hoffte, es ging ihm gut.

3. KAPITEL

Die Natur der Bestie

Oben schrie eine Frau, wieder und wieder. Es war ein herrlicher, schöner Klang, und er machte ihn verrückt.

Cyrus lag in dem schmalen Bett des Priesters. Mouse schlief auf dem Boden, wo sie sich in den Schlaf geweint und Cyrus damit furchtbar auf die Nerven gefallen war. Aber sie hatte das Bett frisch bezogen, also gab sie zumindest ein ganz brauchbares Zimmermädchen ab.

Das Geschrei oben erstarb, vermutlich zusammen mit der Frau, die es von sich gegeben hatte. Als nächstes würden sie ihr Blut abzapfen und ihre Organe essen. Die Erinnerung daran trocknete ihm den Mund aus. Was täte er nicht alles für den Geschmack von Blut auf seinen Lippen.

Mouse hatte ihn mit Dosensuppe gefüttert, die zu dünn und zu salzig war. Auch als Vampir hatte er gern verschiedene Gaumenfreuden genossen – Schokolade, teuren Käse und guten Kaviar. Als Blut noch seine Hauptquelle der Lebenserhaltung gewesen war, konnte er zum reinen Vergnügen essen. Dass er so minderwertige Nahrung aufnehmen musste, weil er Hunger hatte, war grausam deprimierend, aber die Suppe hatte ihn glücklicherweise ein wenig gestärkt.

„Bist du wach?“ Er setzte sich auf und stieß sie mit den Zehen an. Zusammengerollt lag sie auf der Seite, die Decke, die er ihr – generös, wie er fand – überlassen hatte, hielt sie an die Brust gepresst. Als sie sich nicht bewegte, gab er ihr einen lahmen Tritt. „Steh auf!“

Sie rührte sich nicht. Einen irren, freudigen Moment lang fragte er sich, ob sie gestorben war. Doch ein weiterer Tritt entlockte ihr eine kleine Bewegung. Sie runzelte leicht die Stirn und drehte den Kopf. Ihr stumpfes Haar fiel zur Seite und entblößte den Hals. Die Schlagader pochte mit verführerischer Vertrautheit.

Nur ein Biss.

Doch er war kein Vampir mehr, verfügte weder über Fangzähne, noch empfand er echten Blutdurst, zumindest keinen physischen. Aber seine Seele dürstete noch immer danach. Der reiche, volle Geschmack von Blut, die emotionale Verbindung mit dem Opfer während des Trinkens – danach sehnte er sich. Dosensuppe kam dagegen einfach nicht an.

Lautlos glitt er zu Boden und legte sich mit geschlossenen Augen neben sie. Ihm war schwindlig, und der Raum drehte sich um ihn. Trotz ihrer knochigen Hüften und Schultern war ihr Fleisch warm und einladend. Er erinnerte sich an diesen Teil, die Verführung. Es hatte Zeiten gegeben, in denen es ihm großen Genuss bereitet hatte, seinen Opfern Schmerzen zu bereiten, damit sie sich wehrten. Aber er war sich seiner Kraft nicht sicher, und er wollte nicht, dass sie schrie und die Vampire oben alarmierte.

Ihr Haar roch immer noch nach Shampoo. Billiger, stechender Erdbeerduft. Die Flasche hatte im Bad gestanden. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Hals und schmeckte ihre Haut. Salzig vor Schweiß und Furcht.

Seine Berührung weckte sie nicht. Sie stöhnte leise, als er mit der Zunge über ihre Ohrmuschel strich. Ihre Hüften stießen nach hinten, und er drückte sie fest an sich, an seine wachsende Erregung.

Genau so war es immer gewesen. Purer körperlicher Genuss, gepaart mit einem übermächtigen Gefühl. Immer kam der Moment, wo der Akt ihn trunken machte, ihn vergessen ließ, dass er töten wollte, und sein Bewusstsein überwältigte. In diesem Augenblick war er immer wieder der Illusion verfallen, dies wäre ein Ausdruck der Liebe und nicht nur das Vorspiel des Todes. Für einen Moment hatte er sich vorgemacht, dass sie ihn liebten.

Cyrus presste die Augen zusammen und schob die Hand von vorne unter ihr Kleid. Der Schlag ihres warmen Herzens war ein Widerhall seines eigenen Herzschlags, er klang wie Hohn in seinem Kopf.

Niemals hatten sie ihn geliebt. Wie könnten sie? Er war es niemals wert gewesen, geliebt zu werden. Nicht von seinem Vater, nicht von seinen Frauen, nicht von seinen Gefolgsleuten. Was hatte er je getan, um Liebe zu verdienen?

Und dann hatte der perfekte Moment immer eine hässliche Wendung genommen. Wut erfüllte ihn. Sein Griff um ihre knochige Hüfte wurde schmerzhaft. Auch ohne Vampirkraft wusste er, dass er Blutergüsse hinterließ.

Das war es, was er wollte. Den Schmerz. Die Todesangst in ihren Augen. Er schwelgte darin.

Erschrocken wachte sie auf. Er beugte sich über sie und sah, wie sie nach und nach verstand, was mit ihr geschah. Zuerst Verwirrung, dass sie aus diesem sündigen, genüsslichen Traum erwacht war. Dann die Scham, als sie begriff, dass der Traum Wirklichkeit gewesen war. Entsetzen, als sie sah, wer sie hielt, und schließlich völlige Schicksalsergebenheit, als sie verstand, was er vorhatte.

Obwohl ihr Körper bebte, waren ihre Glieder wie erstarrt in einem jämmerlichen, hilflosen Versuch, ihn wegzustoßen. Sie berührte ihn dabei nicht einmal. Adrenalin trieb seinen geschwächten Körper an. Seine stumpfen Menschenzähne drangen nicht durch ihre Haut. Sie fand ihre Stimme und schrie, als er auf dem zarten Fleisch ihrer Kehle herumbiss, aber sie kämpfte nicht gegen ihn. Er versuchte es noch einmal, und sie trommelte mit den Fäusten auf seine Brust. Er beachtete sie nicht und biss erneut zu, wobei er ihr den Mund zuhielt, um sie zum Schweigen zu bringen.

Das Mädchen wehrte sich, schlug und biss, während er sich fluchend auf sie rollte, um sie auf den kalten Boden zu pressen. Ihr Kleid rutschte über die Hüften, und er drängte sich zwischen ihre Beine. Durch die dünne Baumwolle ihres Höschens hindurch spürte er die Hitze, die er geweckt hatte, als sie noch zu träumen glaubte. Unter seinen Berührungen riss sie die Augen weit auf und erstarrte nur für eine bloße Sekunde, ehe sie sich wieder aufs Schlagen und Winden besann. Sie dachte, er wolle sie vergewaltigen und kämpfte noch härter als eben, als sie geglaubt hatte, er wolle sie töten.

Ihr Schrecken war ein Aphrodisiakum. Der Duft ihres Angstschweißes füllte seine Nase. Das Gefühl, wie sie sich unter seinem harten Körper wand und nach einem Weg suchte, um ihm zu entkommen, steigerte seine Erregung. Er packte ihre Haare und zerrte ihren Kopf nach hinten. Dann zielte er auf die zerbissenen roten Stellen, die er an ihrem Hals hinterlassen hatte, stürzte sich darauf und biss zu.

Diesmal drückte er nicht nur kurz zu. Cyrus ließe erst nach, als sein Kiefer schmerzte und es in seinen Ohren rauschte. Mouse zerkratzte seinen Rücken mit ihren Nägeln und hinterließ schmerzhafte Striemen auf seinen Schulterblättern. Ihr Schrei, ein langes scharfes Heulen, steigerte die Tonhöhe, je härter er sich in ihre Haut verbiss.

Schließlich platzte ihr Fleisch mit einem widerlichen Geräusch auf. Sie blutete. Nicht in einem Schwall wie bei einer Arterie, nur ein paar Tropfen. Hätte er sich in seinem Leben nach dem Tod an diesen Geschmack erinnern können, dann wäre es für ihn die Hölle gewesen. Unerträglich die Vorstellung, wie lange er sich nicht der süßen Gewalt des Bluttrinkens hatte hingeben können … Er erschauderte, als er zärtlich über das gerissene Fleisch der Wunde leckte.

Ihr Schrei wurde leiser und verwandelte sich in ein Schluchzen, das er nur wahrnahm, weil sich sein Mund auf ihrer zuckenden Kehle befand. Er hatte sie verletzt, sie zum Schreien gebracht. Dass er diese Macht wiedererlangt hatte, ob Mensch oder nicht, elektrisierte ihn.

Der Geschmack ihres Blutes hatte ein heftiges Feuer in seinen Lenden entzündet. Er stieß gegen ihre Schenkel und überließ sich der schaurigen Leidenschaft, die das sickernde Blut aus ihrem aufgerissenen Hals in ihm auslöste, und der Verzweiflung, die er in ihrer Seele spürte. Aber es war nicht genug. Es war nicht wie früher.

„Bitte“, krächzte sie und holte so mühsam Luft, als ob der Sauerstoff Tonnen wöge. „Bitte nicht.“

Ihr verzweifeltes Flüstern brachte ihn zum Höhepunkt. Er warf den Kopf zurück und stöhnte, als er kam, sein Samen spritzte über das bleiche Fleisch ihrer Schenkel. Keuchend rollte er sich von ihr. Sie schob sich auf den Ellenbogen weg und kam dann unter hemmungslosem Schluchzen auf die Füße. Die Badezimmertür schlug zu, und der Klang des Riegels war, als ob ihm jemand Eis auf den Bauch geschüttet hätte.

Cyrus hatte es nicht so genossen wie in alten Tagen. Früher, als er ein Vampir gewesen war, hätte er keinen einzigen Gedanken an seine Tat verschwendet. Jetzt regte sich sein Gewissen, ein Stachel, den er nach seiner Verwandlung ziemlich gut in den Griff bekommen hatte. Warum konnte er es jetzt nicht ignorieren? Ganz sicher kam er auch ohne ein Gewissen blendend aus.

Er hatte ihr wehgetan. Eben noch hatte dieser Gedanke ihm Befriedigung verschafft. Das sollte er auch. Unzähligen Mädchen hatte er Schlimmeres angetan, ihre Unschuld und ihr Vertrauen vernichtet, wenn nicht sogar ihr Leben.

Genau das hatte er mit Mouse getan.

Von seinen eigenen Gefühlen irritiert, stützte er sich mit zitternden Armen auf und starrte auf die geschlossene Badezimmertür. Ihr Schluchzen konnte er zwar nicht hören, aber er stellte es sich vor, während er lauschte, wie das Wasser in die Badewanne einlief. Ihr Geist war schon schwach gewesen. Ihre Freunde waren vor ihren Augen abgeschlachtet und gefoltert worden, doch das hatte sie noch nicht vollständig gebrochen. Nicht ganz. Nicht, bis er sie missbraucht und terrorisiert hatte.

So bist du eben. Du bist ein Monster.

Obwohl er wusste, dass es die Wahrheit war, wollte er es einfach nicht glauben. Ein Stück Menschlichkeit hatte sich wieder in seiner zerrissenen Seele eingenistet, zum Guten oder Schlechten. Wahrscheinlich zum Schlechten.

Mühsam stand er auf, stützte sich auf alles Erreichbare und gelangte zur Badezimmertür. „Komm da raus.“

Sie antwortete nicht.

„Ich sagte, komm da raus.“ Ihm fehlte die Geduld für dieses Spiel. Eigentlich sollte er oben sein, von den Ungeheuern Antworten auf seine Fragen verlangen und darauf bestehen, dass sie ihn in seinen früheren Zustand verwandelten. Doch nachdem er seine Energie darauf verschwendet hatte, sie gefügig zu machen, würde er kaum noch die Treppe hinaufkommen.

„Zur Hölle mit dir.“ Cyrus humpelte zu der kleinen Kommode und zog ein paar Sachen heraus, die dem toten Priester gehört hatten. Die Hose war ein bisschen kurz und die Taille etwas zu weit, aber um angemessene Garderobe konnte er sich später kümmern. Er schob die Arme in eins der grässlichen schwarzen Hemden mit verdeckter Knopfleiste und wandte sich in Richtung der schmalen Treppe. Auf halbem Weg gaben seine Beine nach, und er sackte zu Boden. Aber er kämpfte sich weiter, zog sich voran bis zum Fuß der Treppe, rang um Atem und kroch langsam die unregelmäßigen Stufen hinauf.

Cyrus hatte erwartet, dass die Tür oben versperrt sein würde, und das war sie auch, allerdings von innen. Offenbar war jemand mehr darum besorgt, die Vampire draußen als ihn drinnen zu halten. Es brachte ihn trotzdem in die Bredouille. Er musste sich recken, um den Knauf zu erreichen, und brauchte mehrere Anläufe, bis er ihn drehen konnte. Die Tür schwang auf, und sein schwaches Gleichgewicht in der unbeholfenen Haltung beförderte ihn mit dem Gesicht voran auf den rauen Teppich des Hauptflurs.

Die Leichen des Priesters und der Nonne waren aus der Eingangshalle entfernt worden, jedoch durch frischere Körper ersetzt. Cyrus zog sich über den Boden, der Teppich zerkratzte ihm den Bauch an der Stelle, wo das Hemd hochrutschte. Er packte das Rad von einem der Motorräder und wollte sich daran hochziehen. Die Maschine geriet ins Kippen, und für einen endlosen Moment wartete er darauf, dass sie auf ihn niederkrachte, aber sie fing sich. Mit einem frustrierten Seufzer robbte er in Richtung Wand, an der er sich in einem Gewaltakt purer Willenskraft aufrichtete. Schon früher hatte er mit solchen Kunden verhandelt. Vor nichts und niemandem empfanden sie Achtung, aber dennoch verbesserte es die Ausgangsposition, wenn man ihnen aufrecht entgegentrat, statt zu ihren Füßen herumzukriechen.

An die Wand gelehnt, gönnte Cyrus sich eine Verschnaufpause und betrachtete durch die dunklen Fenster flüchtig die Umgebung. Ein völlig zerklüfteter Parkplatz in einem Ozean aus Wüstensand, dahinter eine öde Straße. Genau die Art von Gegend, die Kretins sich vorstellten, wenn sie in rührseliger Verherrlichung der freien Landstraße poetisch wurden. Sein Blick fiel auf eine der Maschinen, und das Emblem auf dem Tank machte ihm eine Gänsehaut.

Die Fangs.

Einerseits widerstrebte ihm der Gedanke, auch nur eine Minute mit der verrohten Bande zu verbringen. Andererseits war er spontan dankbar, dass er ihnen einst in den Tagen vor seinem Tod Unterschlupf gewährt hatte. Wenn sie irgendeinen Anstand kannten, was er eigentlich nicht glaubte, sollten sie sich verpflichtet fühlen, ihn aufzuklären, was hier vor sich ging.

Die großen Doppeltüren zur Kirche waren geschlossen, kryptische okkulte Zeichen mit Kreide darauf gemalt. Mühsam zog er die Tür auf und ging hinein.

Aus einer provisorisch auf einem Seitenaltar arrangierten gigantischen Stereoanlage dröhnte laute, dissonante Musik. Nach dem ausgedehnten Aufenthalt der Fangs in seinem Herrenhaus war Cyrus heilfroh gewesen, diesen Krach los zu sein. Ein wildes Würfelspiel hielt im Hauptchor die meisten Gangmitglieder in seinem Bann. Ein paar schliefen auf Kirchenbänken, ohne sich darum zu scheren, welche Spuren ihre dreckigen Stiefel und schmierigen Klamotten auf den ungepolsterten Sitzen hinterließen. An einer Seitenwand versah ein Fang die Figuren auf einem Fresko des letzten Abendmahls mit überdimensionalen Schwänzen. Jemand schmiss eine Bierflasche, sie platzte mit lautem Getöse an der Wand. Insgesamt benahmen sie sich rücksichtsvoller als in Cyrus’ Haus, wo sie Bier saufend seine formellen Abendessen gesprengt hatten. Dies muss ihr Kirchenbenehmen sein.

Als Cyrus eintrat, unterbrachen alle ihre Beschäftigung und wandten sich ihm zu. Alle außer dreien. Sie saßen im Allerheiligsten, wo er noch am Morgen gefangen gewesen war. Kerzen markierten die Peripherie eines Kreises um sie. Ihre Fingerspitzen berührten sich, und sie sangen in tiefen Brummtönen. Er erkannte die große Frau mit der Raucherstimme und einem Gesicht, das sogar für einen Vampir hässlich war. Die anderen beiden sahen aus, als wären sie zur Zeit ihrer Verwandlung jünger gewesen, ein Mann mit schwarzem Stachelhaarschnitt und eine Frau, die wohl den gleichen Friseur besuchte. Sie alle zogen ihre grotesken Vampirfratzen.

Wut, so rasend, dass sie in seinen Venen brannte, nahm von Cyrus Besitz. Aber seine Muskeln waren zu schwach, und als er auf sie losging, stolperte er und fiel prompt auf die Nase. Benommen hob er den Kopf und sah, wie die Vampire von allen Seiten des Raumes auf ihn einstürmten. Sie schlugen ihre Klauen in seine Haare und rissen ihn an den Kleidern.

Ein Schrei, schmerzlich vertraut, erfüllte die Luft. Die Biester, die ihn gepackt hielten, erstarrten. Er sah auf und erblickte Mouse. Das dürftige Kleidchen klebte an ihrer nassen Haut, die triefenden Haare hingen ihr verfilzt um die Schultern. Sie stürzte sich direkt auf die Vampire um ihn herum und stieß sie weg. Ein Vorgehen, das Cyrus als erstaunlich furchtlos bezeichnet hätte, wenn sie ohne Zittern und hysterisches Kreischen ausgekommen wäre. Aber sie hatte die Vampire aus der Fassung gebracht, und das genügte. Sie waren so erstaunt, dass sie keinen Widerstand leisteten und sie nicht angriffen.

Sie packte Cyrus’ Handgelenk mit ihrer kalten, nassen Hand, zog ihn auf die Füße und stützte ihn mit überraschender Kraft. Er sah sich noch einmal um, starrte die drei Vampire im Kreis an und überlegte, ob er erneut versuchen sollte, an sie heranzukommen.

„Bitte!“ Mouse zerrte wie wahnsinnig. „Bitte!“

Sie hatte recht, Angst zu haben. Die Vampire würden nicht für immer erstaunt sein. Sie würden über sie herfallen wie eine Todesflut, und der schwache, verletzliche, menschliche Cyrus konnte sie nicht aufhalten. Er hielt sich an Mouse fest, und seine Füße schlingerten knochenlos unter ihm, als sie ihn aus dem Heiligtum schleifte.

Die beiden schafften es bis zur Tür, bevor die Monster ihnen nachsetzten. Mouse schrie gellend, als einer von ihnen eine Handvoll ihrer Haare zu fassen bekam. Dann riss sie sich los und packte Cyrus noch fester. Nur wenige Schritte noch, und sie waren sicher, aber diese wenigen Schritte schienen Kilometermärsche für Cyrus’ abgestorbene Beine und seine rasant abnehmende Energie. In einem letzten heldenhaften Kraftakt riss Mouse die Kellertür auf und stieß ihn hindurch. Er stürzte hin und um ein Haar wäre er die Treppe hinuntergefallen. Mouse zog die Tür zu und versperrte sie.

Die Vampire krallten sich von außen an die Tür, doch das Krallen wich bald wütenden Stimmen und die Stimmen schwerem Getrampel. Die Fangs hatten sie verlassen.

Cyrus rang nach Atem, die Brust schmerzte von der Anstrengung. „Was sollte das denn?“

„Bitte, geh da nie wieder hoch!“ Sie packte ihn vorn an seinem zerrissenen Hemd, wobei seine langen Haarsträhnen mit in ihre Fäuste gerieten.

„Glaubst du, ich geh da freiwillig noch mal hoch? Die töten mich!“ Eigentlich war ihm danach, ihre Schultern zu packen, er wollte die Finger in ihr mageres Fleisch bohren und sie schütteln. Aber sie zu misshandeln war einfach keine Herausforderung, entschied er. Das erklärte auch, warum es ihm vorhin keinen echten Genuss bereitet hatte.

„Wenn sie dich töten, töten sie mich auch!“ Sie hielt ihn fest, ihr Griff war nicht abzuschütteln.

„Wovon redest du?“ Er senkte die Stimme. In vergangenen Zeiten wäre er lieber gestorben, als Verständnis für eine kreischende Frau zu zeigen, aber sie wusste mehr als er. So ungern er es sich eingestand, er brauchte sie, und er brauchte sie in beruhigtem Zustand, damit sie ihm erzählen konnte, was sie wusste.

Cyrus sackte auf die zweite Stufe, und auch sie ließ sich nieder. So hockten sie Seite an Seite zwischen den verkohlten Steinmauern des engen Treppengangs. Sie schluckte pathetisch und rieb ihre Augen. „Wenn du stirbst, bin ich wertlos.“

Ich hatte den Eindruck, dass du sowieso wertlos bist. „Wie meinst du das?“

„Sie lassen mich nur leben, um auf dich aufzupassen. Sie wissen nicht, wie man einen … Menschen versorgt. Sie halten mich am Leben, damit ich dich pflegen kann.“ Sie merkte plötzlich, dass ihre Körper sich berührten, und rückte von ihm ab. „Wenn du stirbst, töten sie mich. Ich bin austauschbar. Das haben sie mir gesagt, als sie Vater Bart und Schwester Helen umbrachten.“

Resigniert wandte sie den Kopf ab, und er sah den blutigen Abdruck seiner Zähne in ihrem Fleisch. Er schaute weg. „Was ist, wenn ich mich umbringe? Was, wenn ich in die Küche gehe, ein Messer nehme und mir die Handgelenke aufschlitze?“

„Nein!“ Sie griff wieder nach ihm, aber er wich ihr aus, auch wenn seine Knochen vor Erschöpfung schmerzten.

„So. Du bist also verantwortlich dafür, dass es mir gut geht, und haftest dafür mit deinem Leben. Bisher hast du wenig getan, um meine Lebensfreude zu steigern. Da sind Rasierklingen im Bad und Messer in den Küchenschubladen. Das sagt mir, dass es dir egal ist, ob du lebst oder stirbst.“ Er studierte ihr Gesicht, während sie seine Worte verdaute.

Entmutigt sah sie zu Boden, ihre Stimme kaum ein Flüstern. „Würdest du dich umbringen?“

Würde er? Das würde diese miserable menschliche Existenz beenden. Aber sie hatten ihn aus dem Reich des Todes zurückgeholt, und ganz gewiss zu einem bestimmten Zweck. Das konnten sie wohl schwerlich ein zweites Mal tun. Und es war ja nicht mal gesagt, dass er eine Rasierklinge heben konnte, um sich aufzuschlitzen. „Nein. Ich wünsche nicht zu sterben.“ Er rutschte eine Stufe tiefer, entschlossen, sie nicht mehr anzusehen.

„Ich auch nicht“, flüsterte sie. „Zumindest glaube ich das.“ Das gab ihm eine vage Hoffnung, etwas gegen sie in der Hand zu haben, falls nötig.

„Dann hältst du mich besser am Leben.“

„Da sind wir“, verkündete Max und ließ seine Sporttasche auf den dicken Teppichboden fallen. Das schwach blecherne Geräusch, mit dem sie aufschlug, war der einzige Hinweis darauf, dass wir uns in einem Flugzeug befanden.

„Air Fang One?“

„Au, der war schlecht.“ Max lümmelte sich auf ein cremefarbenes Sofa mit Seidenbezug und legte die Füße hoch, als wäre es eine Secondhand-Couch im Studentenwohnheim. „Nimm Platz, es ist ein langer Flug.“

Ich konnte den Blick nicht vom prächtigen Dekor des Privatjets wenden. Wände, Teppich und Mobiliar waren in gedämpften neutralen Pastelltönen gehalten. Warmes Licht ergoss sich aus verdeckten Quellen und hob das dunkle Holzfinish der Tischplatten und des ausgedehnten Unterhaltungsbereichs am Ende der Kabine hervor. „Das hier ist schicker als mein Apartment.“

„Es gibt jede Menge Orte, die schicker sind als dein Apartment.“ Max ließ eine Konsole in der Lehne der Couch aufschnappen. Elegant glitt eine Fernbedienung heraus. Er schnappte sie und drehte sich zum Fernseher. „Zum Beispiel mein Apartment.“

Neugierig beäugte ich ein kleines rundes Tischchen und zwei robust wirkende Ohrensessel, optisch sehr ansprechend, besonders durch die farblich abgestimmten Sicherheitsgurte, aber wahrscheinlich nicht sonderlich bequem. „Willst du die ganze Zeit auf dem Sofa rumlümmeln?“

„Wie bitte?“ Max riss sich von einer anscheinend japanischen Fernsehshow mit Oben-ohne-Kandidatinnen los und setzte sich auf. „Oh, nein. Entschuldige. Du möchtest eine Führung?“

„Gibt’s noch mehr zu sehen?“ Ich war schon von diesem Raum beeindruckt genug.

Max erhob sich und deutete auf die stoffbespannten Paneele in der einen Wand. „Komm mit.“

Selbstverständlich befand sich dort eine versteckte Türklinke, eingearbeitet in eine Elfenbeinmulde. Max öffnete sie und gab den Blick auf einen schmalen Gang frei, ähnlich den Gängen in kommerziellen Fliegern, dahinter sah ich ein Cockpit mit dem ganzen Arsenal blinkender Lämpchen und leuchtender Skalen. Zwei Piloten in Standarduniform verständigten sich über Headsets mit dem Tower, während sie Knöpfe drückten und Instrumente überprüften. Sie wirkten ganz normal. Menschen eben.

„Die Bewegung beschäftigt Menschen?“, fragte ich halblaut, als Max mich wieder zum Passagierbereich führte.

„Werwölfe“, knurrte Max düster. „Im Hauptquartier wimmelt es geradezu davon. Sie sind auch gegen Vampire, deshalb findet es die Bewegung ganz toll, sie an Bord zu haben. Willst du das Schlafzimmer sehen?“

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