Die Verwandlung

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Ein Biss - und Carrie ist wie verwandelt. Nachdem die junge Ärztin in der Pathologie von einem Toten angefallen wurde, kann sie auf einmal kein Sonnenlicht mehr ertragen, verspürt plötzlich einen unerklärlichen Blutdurst. Ist sie etwa Opfer eines Vampirs geworden? Auf der Suche nach den Gründen für ihre rätselhaften neuen Gefühle lernt sie den charismatischen Vampirjäger Nathan kennen - und verliebt sich unsterblich in ihn. Doch die Blutsbande, die sie an ihren 'Erschaffer' Cyrus fesseln, sind stärker ... Gleichzeitig fasziniert und abgestoßen von dem ebenso attraktiven wie bösartigen Untoten, gerät sie immer mehr in seinen finsteren Bann ...


  • Erscheinungstag 15.12.2010
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783899419351
  • Seitenanzahl 460
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

DAS ENDE

Ich habe einmal einen Zeitungsartikel gelesen, in dem eine Umfrage über Ängste zitiert wurde. Diese besagte, dass die Amerikaner zwischen 18 und 65 Jahren am meisten Angst davor haben, in der Öffentlichkeit eine Rede zu halten. An zweiter Stelle stand die Angst vor Spinnen, an dritter Stelle mit großem Abstand der Tod. Ich habe vor allen diesen Dingen Angst. Aber am meisten fürchte ich mich davor, zu versagen.

Ich bin kein Feigling. Das will ich auf jeden Fall klarstellen. Aber mein Leben hat sich in wenigen Tagen von „eigentlich ziemlich perfekt“ in einen Horrorfilm verwandelt, und daher hat das Gefühl von Angst für mich eine ganz neue Bedeutung gewonnen.

Meinen Plan, was ich alles im Leben erreichen wollte, habe ich zielstrebig und fast bis ins Detail verfolgt und nur einige kleine Umwege zugelassen. Ich bin von der kleinen Ms. Carrie Ames zu Ms. Doktor Ames aufgestiegen, das war nur acht Monate vor dieser Nacht, die ich jetzt als „Die große Veränderung“ bezeichne. Ich bin aus dem verschlafenen Städtchen an der Ostküste, in dem ich aufgewachsen bin, ausgebrochen, um mich schließlich in einer verschlafenen Stadt mitten in Michigan wiederzufinden. Dort hatte ich eine Planstelle in der Notaufnahme des städtischen Krankenhauses. Die Stadt an sich und die umliegenden Dörfer boten mehr als genug Gelegenheiten, Verletzungen, die von urbanem Kriegsgeschehen oder tückischen Landmaschinen herrührten, kennenzulernen und zu behandeln. Da ich tat, was ich mir immer erträumt hatte, war ich mir nie so sicher wie damals, dass ich erfolgreich war und mein Schicksal fest im Griff hatte, was mir in meinen wilden College-Jahren nie gelungen war. Aber natürlich werden auch Städte mitten in Michigan irgendwann langweilig, besonders in den kalten Winternächten, wenn es so frostig ist, dass sich noch nicht einmal der Schnee vor die Tür trauen würde. Und in genau solch einer Nacht, in der ich nach einer grauenhaften Zwölf-Stunden-Schicht nur für knapp vier Stunden nach Hause gefahren war, stand ich schon wieder im Krankenhaus, um mitzuhelfen, einem Strom neuer Patienten Herr zu werden. Die Notaufnahme war für so einen eiskalten Abend erstaunlich voll, aber die drohenden Feiertage schienen alle Menschen, die noch einen Pulsschlag hatten, hinauszulocken. Wie immer hatte ich es meinem verdammten Schicksal zu verdanken, dass ich es in dieser Nacht nur mit den schwersten Fällen zu tun bekam, mit Patienten, die schwere Verletzungen hatten oder unter Krankheiten litten, die sie in unmittelbare Lebensgefahr brachten. Oder, um präziser zu sein, mit Unmengen konsumwütiger Besucher von Einkaufszentren, die in ihren Einzelteilen eingeliefert wurden, nachdem sie auf der 131 nach Süden in vereisten Kurven von der Fahrbahn abgekommen waren.

Nachdem ich drei Patienten aufgenommen hatte, stellte ich fest, dass ich dringend Nikotin brauchte. Obwohl ich ein schlechtes Gewissen hatte, meinen Kollegen noch mehr Einlieferungen aufzubürden, schlich ich mich hinaus, um mir eine kurze Zigarettenpause zu gönnen.

Ich ging in Richtung Rampe für die Krankenwagen, als John Doe eingeliefert wurde.

Dr. Fuller, der diensthabende und dienstälteste Arzt des Krankenhauses, lief neben einer Krankentrage her und bellte Befehle. Dabei fragte er die Rettungssanitäter in seinem breiten texanischen Slang aus.

Abgelenkt von der Tatsache, dass sich Dr. Fullers sanfter Südstaaten-Tonfall in ein hohes abgehacktes Stakkato verwandelt hatte, beachtete ich den Patienten auf der Liege nicht. Noch nie zuvor hatte ich meinen Vorgesetzten dabei erlebt, wie er seine Gelassenheit verlor. Ich war erschrocken.

„Carrie, hilfst du uns jetzt oder bist du auf dem Weg ins Marlboro-Land?“, schrie er mich an und erschreckte mich damit noch mehr. Als ich einen Satz zur Seite machte, zerbrach die Zigarette zwischen meinen Fingern so, dass der trockene Tabak auf die Erde rieselte. Meine Pause war nun offiziell für beendet erklärt.

Ich wischte mir die Hände an meinem Kittel ab und lief neben der Trage her. Erst dann sah ich, in welchem Zustand sich der Patient befand.

Sein Anblick versetzte mich in noch größeren Schrecken, während wir den Vorraum erreichten und die Rettungssanitäter hinausgingen, um den Intensivschwestern Platz zu machen.

„Okay, meine Damen, ich hätte gern Mundschutz, OP-Kittel, eine Schutzbrille – die ganze Verkleidung. Und zwar schnell, bitte!“, kommandierte Fuller, während er sich aus seinem blutverschmierten Kittel schälte.

Ich wusste, dass ich etwas tun musste, um ihn zu unterstützen, aber ich konnte mir nicht helfen, immerzu musste ich auf die Schweinerei vor mir auf der Trage schauen. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich mit medizinischer Hilfe hätte anfangen sollen.

Blut ist zum Beispiel etwas, vor dem ich keine Angst habe. Im Fall von John Doe war es nicht die Menge an Blut, die es unmöglich machte, ihn zu berühren, geschweige denn sich ihm zu nähern. Sondern die Tatsache, dass er aussah wie der Leichnam, den ich am letzten Tag meines Anatomiekurses an der Uni seziert hatte.

Seine Brust war mit Wunden durchlöchert. Einige waren klein, andere so groß, dass zwei Tennisbälle hineingepasst hätten.

„Schusswunden? Womit wurde auf ihn geschossen, mit einer verdammten Kanone aus dem Museum?“, murmelte Dr. Fuller, als er vorsichtig eine Wunde mit seinem behandschuhten Finger betastete.

Man brauchte keinen Doktortitel in forensischer Medizin, um sagen zu können, was die Wunden am Körper unseres John Doe verursacht hatte. Und dass es etwas anderes war als das, was für die Verletzungen in seinem Gesicht verantwortlich war. Sein Kiefer beziehungsweise das, was davon noch übrig war, war von den oberen Schneidezähnen abgetrennt und die Haut hing schlaff herunter. Sein Kinn war aus dem Gelenk gerissen und klebte an der anderen Seite seines Kopfes. Über dem klaffenden Loch in seiner Wange war eine Augenhöhle eingequetscht und leer, das Auge sowie der Sehnerv fehlten vollständig.

„Ich würde sagen, dass ihm jemand eine Axt über den Schädel gezogen hat, wenn ich glauben könnte, dass ein Mensch genug Kraft dazu hätte“, sagte Dr. Fuller. „So können wir ihn nicht intubieren, seine Trachea ist völlig zerstört.“

Ich bekam keine Luft. John Does verbleibendes Auge, klar und hellblau, sah mich an, als sei er bei vollem Bewusstsein.

Es musste sich um eine optische Täuschung handeln. Niemand konnte diese Art von Verletzung erleiden und dabei bei Bewusstsein bleiben. Diese unglaublichen Verletzungen würde kein Mensch überleben. Er schrie nicht und wand sich nicht in Schmerzen. Sein Körper war schlaff und zeigte keinerlei Reaktion, als die Ärzte einen Luftröhrenschnitt vornahmen, um ihn zu intubieren.

Er sah mich immer noch an.

Wie kann er noch leben?, fragte ich mich. Das Konzept, das ich mir mit großer Mühe über die drei Jahre meiner Ausbildungszeit ausgedacht hatte, wurde von einem auf den anderen Moment zerstört. Menschen können so etwas einfach nicht überleben. So ein Fall stand in keinem meiner Bücher. Aber dennoch lag dieser Mann hier und sah mich ruhig an, während um uns herum alle hektisch an ihm herumhantierten.

Für einen Moment, während dem sich fast mein Magen umdrehte, dachte ich, ich hätte gehört, wie er meinen Namen sagte. Dann wurde mir klar, dass Dr. Fullers schrille Stimme zu mir hindurchdrang.

„Carrie, ich brauche dich hier drüben. Wach auf und hilf uns! Los jetzt, sonst verlieren wir ihn!“

Ich hätte weiter John Doe anstarren oder mich zu Dr. Fuller umdrehen können, um zu sehen, dass er allmählich begann, an mir zu zweifeln. Ich weiß nicht, was schlimmer gewesen wäre, aber ich kam nicht dazu, mich für das eine oder andere zu entscheiden.

Schwach murmelte ich eine Entschuldigung, drehte mich schnell um und fing an zu rennen. Kaum war ich dieser grauenvollen Szene entkommen, bemerkte ich die klebrigen Flecken auf dem Boden, die die hübschen Fliesen mit einem tiefen Rot überzogen. Mir wurde schlecht. Ich fiel auf die Knie in eine Pfütze von gerinnendem Blut und schloss die Augen, während die Säure meinen Hals hinaufstieg. Ich beugte mich vornüber, als sich mein Erbrochenes mit dem Blut auf dem Boden vermischte.

Plötzlich wurde es in dem Raum hinter mir still, dann machte der Herzmonitor ein anhaltendes quäkendes Geräusch, um das Fehlen eines Pulses anzuzeigen.

„In Ordnung, er ist tot. Packt ihn ein und schafft ihn in den Leichenkeller“, hörte ich Dr. Fuller sagen. Seine Stimme hatte wieder ihren selbstbewussten Ton und den texanischen Dialekt angenommen, obwohl man ihr Müdigkeit und Resignation anhörte.

Ich raffte mich auf und rannte in die Umkleideräume. Ich konnte nicht begreifen, wie ich so hatte versagen können.

Eine Stunde später stand ich immer noch im Umkleideraum. Ich kam gerade aus der Dusche, hatte einen frischen, aus der Reinigung gekommenen Kittel an und versuchte, vor dem Spiegel mein nasses blondes Haar in so etwas wie einem Pferdeschwanz zu bändigen. Unter der Dusche war mein Mascara verlaufen, und ich wischte ihn mit meinem Ärmel fort. Das trug nur dazu bei, dass die schwarzen Ringe unter meinen Augen noch größer wurden. Meine fahle Haut spannte über meinen Wangenknochen, meine blauen Augen waren kalt und glanzlos. Noch nie hatte ich so fertig ausgesehen.

Wann bin ich eigentlich so weinerlich geworden? So ein Angsthase? In mir stiegen Erinnerungen auf, die ich nicht beiseitedrängen konnte. Wie ich mich zusammen mit den anderen Medizinstudenten über den Austauschstudenten lustig gemacht hatte, der sich am ersten Tag im Anatomiekurs übergeben hatte. Oder damals, als ich in der achten Klasse Amy Anderson, die sich immer für etwas Besseres hielt, von der Bushaltestelle aus nachgelaufen war, um ihr Regenwürmer ins Haar zu stecken.

Wie sich herausstellte, war ich einer der Menschen geworden, die ich verachtete. Für alle Kollegen der Notaufnahme des St. Mary’s Hospital war ich nun ein zimperlicher Fachidiot, ein quietschendes Mädchen. Die Vorstellung schnitt mir so sehr ins Herz, dass es eines chirurgischen Eingriffes bedurft hätte, um mich zu kurieren.

Ein Klopfen unterbrach mich in meinem Selbstmitleid. „Ames, sind Sie noch da drin?“

Die Tür ging auf, Dr. Fuller kam herein und ging zu einer schmalen Bank hinüber.

Einen Augenblick lang sagte er gar nichts. Aber ohne hinzusehen wusste ich, dass er den Kopf hängen ließ. Seine Hände steckten in den Taschen seines frischen weißen Kittels, die Ellenbogen hielt er dicht an die Seite gepresst. So sah er aus wie ein großer grauer Storch.

„Also, bleiben Sie noch?“, fragte er plötzlich.

Ich zuckte mit den Schultern. Gleichgültig, was ich zu sagen hätte, um meine Vorstellung von vorhin zu rechtfertigen, es wäre nur eine lahme Entschuldigung. Wie die, die von zahllosen Medizinstudenten hervorgebracht werden, die bald darauf nicht mehr zu den Vorlesungen kommen.

„Wissen Sie“, fing er an, „ich habe schon viele Ärzte gesehen, gute Allgemeinmediziner, die unter großem Druck einknicken. Sie werden müde. Sie haben Stress, vielleicht haben sie auch persönliche Probleme. Das passiert uns allen einmal. Aber einige von uns lassen es hier drinnen“, er deutete auf die Schränke hinter mir, „anstatt es da draußen kundzutun. Das ist es, was uns zu Ärzten macht, die leistungsfähig sind.“

Er wartete darauf, dass ich antwortete. Ich nickte nur.

„Ich weiß, dass Sie dieses Jahr viel durchgemacht haben, dass Sie Ihre Eltern verloren haben …“

„Aber hier geht es nicht um meine Eltern.“ Ich wollte ihn nicht unterbrechen, aber ich hatte es schon gesagt, bevor ich darüber nachdenken konnte. „Es tut mir leid. Aber ich bin wirklich darüber hinweg.“

Er seufzte tief und setzte sich auf die Bank. „Warum wollen Sie als Ärztin arbeiten?“

Ich setzte mich auch. Bevor ich antwortete, saßen wir dort eine Zeit lang wie ein Trainer mit seinem Starspieler, der ein wichtiges Spiel vergeigt hatte.

„Weil ich Menschen helfen möchte.“ Ich log. Sehr sogar. Aber ich kannte den eigentlichen Grund nicht, und ich wollte die Antwort auch nicht wissen. Echte Ärzte verlieren ihre Fähigkeit, menschlich und verständnisvoll zu sein, bevor sie ihr Abschlusszeugnis in den Händen halten. „Und weil ich meinen Beruf liebe.“

„Nun, ich liebe Golfspielen, aber das macht mich nicht zu Tiger Woods, oder?“ Er lachte über seinen eigenen Witz, bevor er wieder ernst wurde. „Wissen Sie, jeder Mensch erlebt einmal in seinem Leben eine Phase, in der er sich über die Ziele, die er sich gesteckt hat, klar werden muss. Er muss lernen, seine Grenzen zu erkennen und seine Fähigkeiten realistisch einzuschätzen.“

„Versuchen Sie mir gerade zu sagen, dass ich keine Zahnärztin werden soll?“, fragte ich und zwang mich zu lachen.

„Ich sage, dass Sie keine Ärztin werden sollten.“ Fuller klopfte mir tatsächlich auf den Rücken, als würde er damit seinen Worten die Schärfe nehmen wollen. Er stand auf und ging zur Tür, doch dann hielt er plötzlich inne, als habe er etwas vergessen.

„Wissen Sie …“, fing er an, doch dann sprach er seinen Satz nicht zu Ende. Stattdessen schüttelte er den Kopf und ging hinaus.

Ich war so wütend, dass ich die Fäuste ballte und durch die Nase schnaufte. Aber ich versuchte mich zusammenzureißen. Ich hatte bei dem Test, den alle großen Menschen bestehen müssen, versagt. Ich hätte ihm erzählen sollen, dass ich scharf auf das Geld war. Das wäre wirklich nicht schlecht gewesen. Obwohl es diese zwei Gründe gab, warum Menschen Medizin studierten, bestand meine wahre Motivation nicht in der finanziellen Sicherheit oder dem Wunsch, anderen zu helfen.

Was mich am Arztberuf interessierte, war die Macht, die damit verbunden war. Die Macht, Menschenleben in meinen Händen zu halten. Die Macht, dem Tod ins Auge zu blicken und zu wissen, dass ich ihn besiegen könnte. Diese Macht war nur Ärzten und Gott vorbehalten.

Ich sah mich selbst als eine Art moderne Zauberin, das Skalpell anstelle des Zauberstabes, mein Klemmbrett statt eines Buches voller Zaubersprüche und Rezepte. Es schüttelte mich bei diesem lächerlichen Gedanken.

Ich hätte meine normalen Sachen anziehen, mich aus dem Krankenhaus schleichen und nie zurückkehren können. Aber dann dachte ich an meinen toten Vater und erinnerte mich an einen seiner seltenen väterlichen Ratschläge, den er mir einmal gab: „Wenn du Angst vor etwas hast, stelle dich ihr. Angst ist irrational. Der einzige Weg, deine Angst zu überwinden, ist, dich ihr auszusetzen.“

So schnell, wie meine Selbstzweifel gekommen waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Diese Situation stellte nur meinen Glauben an meine Fähigkeiten auf die Probe. Und das wollte ich nicht zulassen.

Ich stand auf und machte mich auf den Weg durch die Notaufnahme, die mit Patienten und Krankenschwestern überfüllt war. Meine Kollegen an den verschiedenen Krankenbetten nahm ich gar nicht wahr. Ich verließ die Notaufnahme und die Intensivstation und ging durch die großen Schwingtüren weiter in Richtung Hauptteil des Gebäudes.

Die Türen der Büros, an denen ich vorbeikam, waren schon verschlossen. Kein Licht schien durch die Glastüren. Die Haupteingangshalle war bis auf einen Mann vom Reinigungsteam leer, er lehnte an dem verlassenen Informationsschalter und las gelangweilt in einer alten Zeitung, während sein Reinigungswagen allein in der Mitte des Raumes stand. Er sah noch nicht einmal auf, als ich in meiner Hektik fast sein Wägelchen umwarf und dabei ein Stapel Papierhandtücher von der oberen Ablage zu Boden flatterte.

Ich ging weiter zu den Aufzügen, drückte auf einen Knopf und klopfte ungeduldig mit meinem Schuh auf den Boden. Nach einer Weile, die mir unendlich lang erschien, öffneten sich die matten Metalltüren und ich ging hinein. Ich drückte die Taste für den Keller.

Ein irrationaler Zwang führte mich die langen Gänge zur Leichenhalle entlang. Ich war bisher erst einmal dort gewesen, als ich mir bei der Einstellung das ganze Krankenhaus angeschaut hatte. Der Weg dorthin war einfach, und ich fand die Tür, die keine Beschriftung trug, problemlos. Ich zog meine Identifikationskarte durch das Lesegerät neben der Tür, bis ich das metallene Klicken hören konnte, mit dem sich das Schloss öffnete.

Ich umklammerte die breite Klinke und hielt inne. Zum ersten Mal überlegte ich, was ich mir eigentlich beweisen wollte. Ich hatte Angst davor, eine schlechte Ärztin zu sein, und der Grund, warum ich mir noch einmal John Doe vor Augen führen wollte, war, mich meinen Ängsten zu stellen. Was, wenn ich es nicht aushielte?

Ich erschrak, als ich daran dachte, dass sein Körper vielleicht gar nicht so verwundet war, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich dachte an das erstaunte Gesicht von Amy Anderson, als sie den sich krümmenden Regenwurm aus den Haaren nahm. Ihre Angst hatte aus einem harmlosen Tier ein Monster gemacht. Vielleicht hatte die Panik in meinen Gedanken die Verletzungen von John Doe ins Unwahrscheinliche übertrieben?

Nein, du bist nicht hysterisch gewesen. Du weißt, was du gesehen hast. Ich stand in dem kühlen desinfizierten Raum, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

Echte Leichenhallen sind ganz anders als die, die man immer in Filmen sieht. Sie sind nicht riesig groß und werden nicht von unerträglich hellen Lampen erleuchtet. Ganz im Gegenteil, der Leichenkeller von St. Mary’s war klein und vollgestellt. Die Nachtwache hatte eine zerknüllte Papiertüte vom Imbiss auf dem Tisch liegen lassen. Es war ein ermutigendes Zeichen inmitten dieses Raumes, der dem Tod und der damit einhergehenden Demütigung gewidmet war.

Bevor ich mich an meine Aufgabe machte, ging ich einmal an den Wänden des Raumes entlang. Ich sah mir die Schränke an, die Plastikbehälter in allen Größen, die die formlosen Reste von Organen für spätere Untersuchungszwecke aufbewahrten, und die Autopsietische. Ich vermied es, auf den Tisch zu sehen, der belegt zu sein schien.

„Hallo?“, rief ich. Durch den lauten Klang meiner Stimme zuckte ich zusammen. Der Raum war so still, dass man das Surren der Leuchtstoffröhren hören konnte. Der Spruch „Tote aufwecken“ fiel mir plötzlich ein. Ich hatte erwartet, eine Nachtschwester aus einem der hinteren Räume kommen zu sehen, aber es war niemand da. Die Glückliche war wahrscheinlich gerade eine rauchen. Ich musste selbst herausfinden, wo John Doe abgeblieben war.

Der Kühlraum fasste sechs Bahren. Mit der großen Anzahl an Patienten, die wir heute hatten, war er sicherlich voll. Vielleicht war er sogar überbelegt, das heißt zwei Leute auf einer Bahre. Keine schöne Vorstellung.

Ich betrat den Kühlraum und wünschte mir sofort, ich hätte mir eine Jacke mitgenommen. Draußen zeigte der Thermostat 1° C an, und das war wirklich kalt. Zitternd schaute ich mir die sechs verhüllten Bahren an, die vor mir standen. Sie waren alle in dieselbe Richtung ausgerichtet; die Füße der Leichen zeigten zu der hinteren Wand. Ich sah auf meine Schuhe und bemerkte einen dunklen klebrigen Fleck auf dem ungeputzten Boden. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich mir überlegte, wie lange es her sein musste, dass jemand diesen Raum desinfiziert hatte. Nicht, dass diese speziellen Patienten anfällig für irgendwelche Krankheiten oder Infektionen gewesen wären.

Ich ging zu der Bahre ganz rechts. Ich ersparte es mir, die Laken aufzudecken, um nach den Namensschildern an ihren Zehen zu suchen. Ich entschied mich dafür, die detaillierteren Blätter auf den Abdecklaken zu lesen.

Die erste Leiche war weiblich, 68 Jahre alt. Die zweite männlich, 23. So ging es weiter, alle Blätter enthielten die eine Information, nach deren Fehlen ich suchte: Namen. Ich sah kein Blatt, das den dicken roten Stempel „nicht identifiziert“ trug, und es schien, als sollte sich mein kleiner Ausflug nicht gelohnt haben.

Ich rieb mir mit den Händen das Gesicht, strich mir über meine müden Augen und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Wo war der Leichnam hingekommen? Es war unwahrscheinlich, dass der Gerichtsmediziner nachts ins Krankenhaus kommen würde, um die Autopsie vorzunehmen. Das hatte Zeit bis morgen. Auch wenn man ihn identifiziert hätte, hätten sie die Leiche nicht den Familienangehörigen freigegeben, bevor die Polizei sie untersucht hatte.

Er muss doch hier irgendwo sein. Aber als ich mich noch einmal umsah, war klar, dass der Leichnam verschwunden war.

Ich würde wieder hinaufgehen und in die hämischen Gesichter meiner Kollegen blicken müssen. Ich hatte es versäumt, meinem Dämon ins Auge zu sehen, aber das Leben würde auch so weitergehen wie immer. Mit derselben Bestimmtheit, die mich hergebracht hatte, drehte ich mich um und verließ den Kühlraum, ohne mich noch einmal umzudrehen. Gleichgültig, was ich auch täte, irgendjemand würde immer einen schnippischen Kommentar anbringen oder Mitleid mit mir haben.

Ich hatte schon genug negative Kritik einstecken müssen, um den Lästermäulern etwas entgegenzusetzen, auch ohne dass ich mir noch einmal das anschauen musste, was von John Doe übrig geblieben war.

Ich drückte schon die Klinke hinunter, als ich noch einmal innehielt. Aus dem Augenwinkel sah ich kurz auf den Leichnam, der auf dem Autopsietisch lag.

Trotz all meiner gespielten Tapferkeit war ich ziemlich erleichtert, dass ich den Körper des Unbekannten hier nicht mehr gefunden hatte. Hinsehen oder nicht. Das war ein einfaches Spiel, wenn mich sonst niemand dabei beobachten konnte. Aber meine Erleichterung ebbte ab, da mich ein ungutes Gefühl beschlich. Ich war mir sicher, dass John Doe dort auf dem Autopsietisch lag.

„Wenn du jetzt wegläufst, dann wird dich diese Frage immer beschäftigen“, beschwor mich eine innere Stimme. Für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als würde meine Angst die Oberhand gewinnen. Ich würde einfach die Leichenhalle verlassen und die ganze Angelegenheit vergessen.

Aber die Worte meines Vaters und die Tatsache, dass Dr. Fuller meine Fähigkeiten als nicht besonders gut einschätzte, fielen mir wieder ein. Ich wollte keine Versagerin sein, wie ich es in den Augen meines Vaters gewesen wäre. Ich wollte Dr. Fuller beweisen, dass ich für meinen Beruf geeignet war. Ich ging zu dem Tisch.

Ich war kein Feigling.

Bevor ich es mir noch einmal anders überlegen konnte, zog ich mit einem Ruck das Laken von dem Körper.

Jede weitere Sekunde spielte sich vor meinen Augen in Zeitlupe ab. Millisekunde für Millisekunde. In genau dem Moment, in dem ich das Laken von dem Leichnam zog, sah ich die grellbunte Sohle eines Sportschuhs darunter hervorschauen. Ich hatte keine Chance, mir darüber Gedanken zu machen: Was darunter lag, trug Krankenhauskleidung. Es war die Nachtwache. Ihr Gesicht war schreckverzerrt.

Ich habe nicht gleich angefangen zu schreien. Entweder war ich zu geschockt oder ich hatte nicht begriffen, was hier los war. John Doe hätte anstelle des jungen Mannes auf der Bahre liegen sollen! Der Anblick ließ mich erstarren.

Offensichtlich war sein Genick gebrochen. Sein Hals war aufgerissen, als hätte ihn ein Hund angegriffen. Durch den extremen Blutverlust war seine dunkle Haut aschfahl, dennoch waren weder auf seiner Kleidung noch auf dem Tisch Blutspuren zu sehen. Seine Augen waren offen. Das heißt, das eine, das er noch hatte, war offen. Das andere fehlte.

Auf dem blank geputzten Stahltresen sah ich das Telefon stehen, aber der kurze Weg dorthin kam mir wie ein Kilometer vor. Meine Hände zitterten so schlimm, dass ich kaum in der Lage war, die Nummer für den Notfall einzutippen. Aber nachdem ich aufgelegt hatte, wurde ich nicht ruhiger. Ich war immer noch in dieser seltsamen Situation, allein in diesem furchtbaren Albtraum. Ich nahm noch einmal den Hörer ab.

Ich wählte die Nummer für das Büro des Sicherheitsdienstes, als mich etwas kurz an der Schulter berührte. Es war kaum mehr als ein Hauch, und obwohl ich es fast nicht bemerkte, fiel ich aus irgendwelchen Gründen um.

Der Sturz auf den Boden raubte mir die letzte Energie. Verwirrt und panisch versuchte ich, auf die Knie zu kommen, aber weiter kam ich auch nicht.

Im nächsten Augenblick stand ich kurz wieder aufrecht, bevor hinter mir Glasscheiben zerbrachen. Ich wurde mit solch einer Wucht an die Türen geschleudert, dass die Scheiben splitterten und das Holz zerbarst. Mein Rücken schmerzte fürchterlich. In den Schränken fielen die Regale aus ihren Halterungen, die Plastikbehälter purzelten heraus und ihr Inhalt verteilte sich über den Boden. Ich selbst fiel wieder auf die Knie und spürte unter meinen Händen ein Gemisch aus Formaldehyd und Menschenlebern. Ich war nicht in der Lage, mich irgendwie zu bewegen, weil der Boden zu glitschig war.

Jemand zog mich an den Haaren wieder nach oben. Als ich versuchte, auf die Füße zu kommen, rutschte ich aus. Der Schmerz war unerträglich. Mein Angreifer ließ nicht locker. Ich sah auf.

John Doe schaute mich an.

Sein Gesicht, das zuvor noch so entstellt war, zeigte bis auf leichte rosafarbene Narben kaum Spuren seiner Verletzungen. Seine Brust war makellos bis auf eine lange gerade Narbe, die in der Mitte verlief und offensichtlich schon älter war. Sein Kinn war nicht mehr aus den Gelenken gehoben, sondern hatte sich wie der Rest des Gesichtes in eine dämonische Visage mit einer verkrumpelten Schnauze und seltsam langem Kiefer verwandelt. An seinen langen blonden Haaren klebte Blut, aber sein Schädel war wieder intakt. Das leuchtend blaue Auge, mit dem er mich so angestarrt hatte, als er hilflos auf der Liege lag, sah mich mit einem stechenden und unbarmherzigen Blick an. In der anderen Augenhöhle, die zuvor leer gewesen war, steckte ein braunes Auge, dessen Weiß blutunterlaufen war.

Das Auge, das der Nachtwache fehlte.

John Doe bleckte die Zähne, nadelspitze Reißzähne.

„Fangzähne“, flüsterte ich geschockt. Ein Vampir.

Er lachte. Seine Gesichtsverformung ließ sein Lachen klingen, als würde es auf einem Kassettenrekorder zu langsam abgespielt.

Alles an diesem Wesen deutete darauf hin, dass es nicht tötete, um zu überleben, sondern dass es Spaß daran hatte, mit Berechnung und Wut ein Blutbad anzurichten. Es streichelte meine Wange mit einem krallenförmigen Fingernagel. Er war wie eine Katze, die mit einer Maus spielt, ein Dieb, der das gestohlene Gut bewundert.

Aber ich wollte nicht seine Trophäe sein. Mit den Händen tastete ich auf dem Boden nach einem Stück zerbrochenem Glas und stieß die Scherbe in seinen Oberschenkel. Sein Blut spritzte mir ins Gesicht. Ich spürte das Feuchte, hatte den metallenen Geschmack auf den Lippen und fing an zu würgen.

Wütend heulte er auf und zog mir seine freie Hand, die er wie eine Klaue gewölbt hatte, über den Nacken. Erst Sekunden später spürte ich einen brennenden Schmerz, aber das war mir egal. Ich konnte mich frei machen. Mit einer Hand versuchte ich die Blutung an meinem Hals zu stoppen, aber das warme Blut rann mir durch die Finger. Es war hoffnungslos, und das wusste ich. Bevor mich jemand finden konnte, würde ich am Boden der Leichenhalle verbluten.

Dann sah ich die weißen Schuhe der Leute vom Notfallteam, die in den Raum stürmten. Ich hob die freie Hand, um ihnen zu winken. Nur einer kam auf mich zu, die anderen blieben wie versteinert stehen.

„Es ist nicht schlimm, das kriegen wir schon wieder hin“, sagte der junge Krankenpfleger, als er meine Finger von der Wunde im Nacken löste.

Das war das Letzte, woran ich mich erinnern konnte.

WEITERE UNSCHÖNE ÜBERRASCHUNGEN

Ich lag fast einen Monat lang im Krankenhaus. Die Polizei stattete mir mehrere Besuche ab. Sie notierten sich meine Beschreibung von John Doe – die Reißzähne und so weiter –, aber sie fragten sich unter Garantie, unter welchen Schmerzmitteln ich wohl gestanden haben mochte. Der erste Kommissar, der mir Fragen stellte, war zwar schnell zum Tatort gekommen, aber da war John Doe schon verschwunden. Die letzte Zeugenbefragung ging schnell, und obwohl die Polizei mir versicherte, dass sie weiter am Fall arbeitete, hatte ich keine große Hoffnung, dass sie etwas herausfinden würde. Wer oder was John Doe auch war, sicherlich war er klug genug, um entkommen zu können.

Einige Kolleginnen aus der Notaufnahme kamen mich besuchen. Sie wirkten nervös und blieben nicht lange. Wir machten Witze über den Schlussverkauf nach Thanksgiving, den ich verpasst hatte. Sie scherzten, ich würde mich mit den Weihnachtseinkäufen beeilen müssen, wenn ich überhaupt rechtzeitig entlassen würde. Ich hielt es für nötig, ihnen zu sagen, dass ich niemanden hatte, für den ich Geschenke kaufen musste.

Die nicht enden wollenden Besuche hatten ein Gutes: Man brachte mir die Zeitungsausschnitte mit, in denen über den Vorfall berichtet wurde. Zwar wollte ich sie nicht sammeln und in ein Album einkleben, aber immerhin erfuhr ich aus den Artikeln mehr, als mir die Polizisten sagen konnten.

Den Zeitungen zufolge war der Wächter des Leichenkellers, Cedric Kebbler, von einem Unbekannten angegriffen und getötet worden. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Verdächtigen um einen Patienten, der aus der Psychiatrie ausgebrochen war. Ich hatte ihn dabei überrascht, wie er gerade sein Opfer tötete, und wurde deshalb selbst zum Opfer. Ich stürzte und der Täter entkam durch das einzige Fenster des Leichenkellers. Ich wurde nicht interviewt, weil mein „Gesundheitszustand“ und meine „Angstattacken und mein posttraumatisches Syndrom“ es nicht zuließen. Letzteres wurde von einem Psychiater der Klinik in einem kurzen Gespräch diagnostiziert. Währenddessen befand ich mich in einem Nebel, der von den morphinhaltigen Beruhigungsmitteln hervorgerufen wurde, die ich bekam.

In keinem der Artikel war die Rede davon, dass John Does Körper verschwunden sei und in welchem seltsamen Zustand die Leiche von dem Wächter war. Entweder hatte die Polizei diese Einzelheiten verschwiegen oder die Pressesprecherin der Klinik war wirklich eine tolle Kraft.

Als mich Dr. Fuller besuchte, fühlte ich mich in meiner Haut sehr unwohl. Offensichtlich reichte es ihm nicht, mich als Ärztin abgeschrieben zu haben. Er musste mich auch als Mensch völlig fertigmachen. Er stellte sich an das Fußende meines Bettes, hatte meine Krankenakte in der Hand und las sie, fast ohne mich dabei eines Blickes zu würdigen. Dann klappte er mit einem tiefen Seufzer die Mappe zu und sagte: „Nun, das sieht nicht gut aus, nicht wahr?“

Er hatte recht. In der Woche nach meiner Begegnung mit John Doe war ich zweimal operiert worden. Erst einmal musste die Wunde an meiner Halsschlagader versorgt werden, und danach wurden die Glassplitter aus meiner Schädeldecke entfernt. Nach der ersten Operation setzte im Aufwachzimmer mein Herz aus, was der behandelnde Arzt mit einer flotten Handbewegung beiseitewischte, als würde mich seine Unbekümmertheit in irgendeiner Weise beruhigen.

Außerdem durfte ich eine Reihe spaßiger Impfungen genießen, wie zum Beispiel Tetanus und Röteln – nur als Vorsichtsmaßnahmen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass John Doe mich in einem Anfall von Tollwut attackiert hatte, aber mich fragte ja niemand nach meiner Meinung, und außerdem war ich nicht in der Position, mich darüber aufzuregen.

Während meines langen Krankenhausaufenthaltes fing ich an, seltsame Symptome zu entwickeln. Die meisten ließen sich als Nachwirkungen eines Stresstraumas erklären oder als die Nebenwirkungen eines größeren Eingriffes.

Das erste Gebrechen, das mich ereilte, war eine erhöhte Temperatur von 40° C. Das Fieber trat auf, als ich mein Herzversagen hatte. Aber die nachfolgenden Wiederbelebungsversuche waren schließlich erfolgreich. Ich stand immer noch unter starken Beruhigungsmitteln, und ich kann nicht behaupten, dass es mir leidtut, dass ich das alles nicht mitbekommen habe. Nach 40 langen Stunden fiel das Fieber und sank so stark, dass meine Körpertemperatur nur noch 34° C betrug. Das war nicht normal.

Erst als ich mir meine eigene Krankenakte ansah, begriff ich, dass zu diesem Zeitpunkt meine Verwandlung begann. Die Ärzte waren ratlos. Ein Arzt berichtete, dass solche Dinge durchaus vorkommen könnten, und zitierte Fälle, bei denen Komapatienten für längere Zeit abnorm geringen Körpertemperaturen standhielten. Er hätte auch gleich die Schultern hilflos zucken können. Und was die übrigen Ärzte anging, hatten auch sie nichts anderes zu meinem Fall zu sagen.

Das zweite Symptom war mein unglaublicher Appetit. Ich wurde durch eine Magensonde, die über die Nase lief, ernährt, um den Heilungsprozess an meiner Kehle nicht zu stören. Dennoch wollte ich immer etwas zu essen haben, sobald die Wirkung der Betäubungsmittel nachließ und sich mein geistiger Nebel etwas lichtete.

Die Krankenschwestern runzelten dann die Stirn, kontrollierten meine Akte und erklärten mir dann, dass ich durch die Sonde ausreichend Nährstoffe zugeführt bekäme. Ich vermisste aber, zu kauen und zu schlucken, wie man es beim Essen tut.

Und als die Sonde entfernt wurde, schien sich mein unersättlicher Appetit nicht zu verringern. Ich aß unglaubliche Mengen, und als ich endlich nach Hause entlassen wurde, rauchte ich fast eine ganze Schachtel Zigaretten am Tag, als wäre ich von einem nikotinsüchtigen Dämon besessen. Es heißt im Allgemeinen, dass starkes Rauchen nach einem schweren Engriff in das Gewebe keine gute Idee sei. Aber das Allgemeinwissen hatte keine Erklärung für meinen Hunger, der mich fast verrückt machte. Die Leere, die mich zur Fressmaschine werden ließ, konnte durch Essen nicht gefüllt werden. Und je mehr ich zu mir nahm, desto größer wurde diese Leere.

Das dritte Anzeichen trat so lange nicht in Erscheinung, bis ich entlassen worden war. Nachdem ich wochenlang in einer Krankenstation wie in einem U-Boot gelebt hatte, erwartete ich, dass mir natürliches Licht erst einmal fremd vorkommen würde. Aber nie hätte ich gedacht, dass ich das Gefühl haben würde, meine Haut würde unter größten Schmerzen verbrennen, sobald ich ins Sonnenlicht hinaustrat. Draußen zwinkerte ich desorientiert, um mich in dem gleißenden weißen Licht zurechtzufinden.

Obwohl es Mitte Dezember war, hatte ich das Gefühl, ich würde einen Hochofen betreten. Vielleicht war das Fieber zurückgekehrt, aber ich hatte nicht die geringste Lust, noch eine Nacht in einem Krankenhausbett zu verbringen. Ich nahm ein Taxi nach Hause, zog die Rollläden herunter und kontrollierte wie besessen alle fünfzehn Minuten meine Temperatur. Erst 34° C, dann 33° C, und sie fiel weiter. Als ich gewahr wurde, dass meine Körpertemperatur der des Thermostates im Wohnzimmer entsprach, war mir klar, dass ich wohl den Verstand verloren hatte.

Vielleicht war es ein unterbewusstes Bedürfnis, mich vor einem weiteren Schock zu schützen, oder eine bewusste Entscheidung, die Realität beziehungsweise meine Situation zu ignorieren, jedenfalls weigerte ich mich, anzuerkennen, wie merkwürdig all dies war. Ich musste eine Sonnenbrille tragen, sobald die Sonne schien, gleichgültig, ob ich mich drinnen oder draußen aufhielt. Meine Wohnung verwandelte sich in eine Höhle. Die Rollläden waren immer geschlossen. Zuerst stolperte ich häufig in dem Zwielicht, doch dann gewöhnte ich mich schnell daran. Nach einigen Tagen fiel es mir leicht, im flackernden blauen Licht des Fernsehbildschirmes zu lesen.

Als ich wieder zu meinem Dienst im Krankenhaus zurückkehrte, blieben die Veränderungen, die ich durchgemacht hatte, nicht unbemerkt. Aufgrund meiner plötzlichen Sensibilität Sonnenlicht gegenüber bat ich darum, nur Nachtschichten übernehmen zu dürfen. Aber es war unmöglich, mich zwischen all den piepsenden Monitoren und den endlosen Mails auf irgendetwas zu konzentrieren.

So viele Dinge konnten nicht erklärt werden. Es gab sehr viele Fragen, die auch die Wissenschaft nicht beantworten konnte. Außerdem war ich mir auch nicht sicher, ob ich die offensichtliche Lösung der Probleme überhaupt sehen wollte.

Doch ich konnte es nicht länger hinauszögern. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ich alle möglichen Quellen, medizinischen Fachzeitschriften und Bücher studiert hatte. Schließlich musste ich die Antwort auf meine Frage, die ich so gefürchtet hatte, akzeptieren.

Eine geschlagene Stunde lief ich vor meinem Schreibtisch, auf dem mein Computer stand, auf und ab. Was wollte ich eigentlich? Erwachsene glauben nicht an Dinge, die plötzlich in der Nacht mit einem Knall auftauchen. Vielleicht sollte ich wirklich einmal zu der Psychotherapeutin gehen, die mir mein Arzt empfohlen hatte.

Als Kind durfte ich nie den Luxus genießen, die Wiederholungen von Dunkle Schatten zu schauen. Alles, was ich las, musste ich für die Schule lesen. In unserem Hause wurde alles, was mit Lust und Laune zu tun hatte, kritisch beäugt. Mein Vater, ein Anhänger der Lehren C. G. Jungs, schätzte solche Dinge mit dem Blick des Psychoanalytikers als ein Warnzeichen für einen unterentwickelten Animus ein. Für meine feministische, karriereorientierte Mutter galten sie als rotes Tuch, weil sie fürchtete, ich würde durchs Vergnügen zu einem Fußsoldaten einer Armee von Einhorn-Gläubigern.

Ich setzte mich wieder hin und wählte mich ins Internet ein. Falls meine Eltern oben im Himmel, dessen Existenz sie verneinten, weil er sich nicht logisch erklären ließ, sitzen und auf mich hinabschauen sollten, würden sie jetzt sicherlich von mir enttäuscht sein, da war ich mir sicher.

Auf komische Weise war es ihre Schuld, dass ich den Mut besaß, die Möglichkeit zu erkunden, ob ich ein Vampir war. Ockhams Rasiermesser war eine Theorie, die mein Vater ständig zitierte. Alles musste möglichst einfach und praktisch sein. Der Himmel verbiete, dass jemals ein Objekt in unserem Haus – oder eher in unserem Museum – kaputtging oder nicht an seinem festen Platz war. Ich log immer und behauptete, ich sei gar nicht da, ich sei eine statistische Anormalität. Wenn ich das sagte, starrte mein Vater mich mit seinem schönsten missbilligenden Blick an und sagte: „Man sollte nicht über das nötige Maß hinaus die Anzahl der Dinge vergrößern, die nötig sind, um alles zu erklären.“

Mit anderen Worten: Wenn etwas wie eine Ente aussah, musste es auch eine Ente sein. Oder, wie in diesem Fall, wenn es so aussah, als würde ich zu einem Vampir mutieren …

„Danke, Dad“, murmelte ich, als ich mir eine weitere Zigarette anzündete. Ich hatte längst akzeptiert, dass diese Dinger mir physisch nicht guttaten, aber das Ritual half, meine zerrütteten Nerven zu beruhigen. Ich gab Vampir in die Suchmaschine ein und hielt den Atem an.

Kaum glaubwürdiger, als im Kaffeesatz zu lesen oder sich auf sein Glück beim Billard zu verlassen, bot das Internet Anonymität und die Chance, etwas herauszufinden. Beides waren entscheidende Aspekte bei meiner Suche nach Wissen. Aber dennoch kam ich mir ein wenig albern vor, als ich den ersten Link anklickte.

Die Anzahl der Leute, die sich für Vampire interessierten – oder sogar behaupteten, selbst einer zu sein – fand ich erstaunlich, aber die Informationen, die ihre Webseiten boten, konnte man vernachlässigen. Ich fand eine vielversprechende Spur, eine professionell wirkende Homepage, auf der man die Möglichkeit hatte, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich entschied mich an dieser Stelle anzufangen, und so begann ich, meine Situation zu schildern.

Es fiel mir noch nie leicht, etwas zu schreiben, aber mit jedem Wort, das ich in das kleine weiße Textfeld schrieb, kam ich mir noch blöder vor. Nach verschiedenen frustrierenden Entwürfen gab ich auf und kürzte den ausführlichen Text auf zwei abgebrochene Sätze: „Von Vampir angefallen. Bitte um Rat.“

Ich musste nicht lange auf eine Antwort warten. Noch bevor ich aufstehen konnte, um auf die Toilette zu gehen, kam das Signal, dass ich eine E-Mail erhalten hatte.

Die erste Antwort informierte mich darüber, dass ich ein Fall für die Psychiatrie sei. Der zweite Schreiber mutmaßte, ich würde zu viele Spätfilme schauen. Eine weitere Person versuchte mich in verständnisvollem Ton davon zu überzeugen, dass ich mich aus meiner offensichtlich ungesunden Beziehung lösen sollte. Dafür, dass es sich um eine Seite für Menschen handelte, die an Vampire glauben sollten, zeigten sie nicht viel Verständnis für die Möglichkeit, dass Vampire tatsächlich existieren könnten.

Ich begann die Antworten zu löschen, ohne sie gelesen zu haben, bis eine Betreffzeile meine Aufmerksamkeit erregte.

1320 Wealthy Ave.

Ich kannte die Adresse. Die Straße war nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Die Gegend lag direkt neben der Innenstadt. In dieser Straße gaben College-Studenten, die zum ersten Mal von zu Hause fort waren, ihr Taschengeld für Drucke von der Künstlerin Georgia O’Keeffe in Posterläden aus, während nebenan Migrantenfamilien ihre Einkäufe in mickrigen Eckläden erledigten. Ich war schon häufiger durch dieses Viertel gefahren, aber ich hatte nie angehalten.

In der E-Mail stand Folgendes: Nach Sonnenuntergang, jederzeit diese Woche.

Die kleine Uhrenanzeige in der Ecke des Computerbildschirmes zeigte 17.00 Uhr an. Nach Sonnenuntergang.

Ich musste erst in sechs Stunden zum Dienst.

Ich brauchte mich nur in meinen Wagen zu setzen und hinzufahren.

Aber es hörte sich nach einer kniffligen Sache an. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, das hatte ich ja nun gerade hinter mir. Der Absender konnte entweder ein verwirrter Teenie-Fan sein oder ein Vampir-Fanatiker. Sicher, er oder sie war vielleicht völlig harmlos und machte sich nur einen Spaß, aber ich war nicht wirklich daran interessiert, noch einen weiteren Monat im Krankenhaus zu verbringen.

Warum sollte ich zu einer unbekannten Adresse fahren, weil sie mir von einem anonymen E-Mail-Verfasser genannt worden war? Nun, so anonym war der Absender gar nicht: Zigmeister69@usmail.com war gar keine so ungewöhnliche E-Mail-Adresse. Ich loggte mich bei usmail.com ein, um zu schauen, ob ich ein User-Profil finden würde, eine Homepage, etwas, das einen Hinweis darauf gab, wer mir diese Mail geschrieben hatte. Aber ich fand nichts.

Meine vergebliche Suche löste eine andere, noch erschreckendere Idee aus. Was, wenn der Absender John Doe wäre? Was, wenn er in aller Stille jeden meiner Schritte verfolgte? Auch wenn es absurd erschien, dass das Monster aus meinen Albträumen sich abends an den Computer setzen würde, um mich zu erschrecken – ich wusste ja nicht, wer mir da schrieb. Vielleicht hatte er die ganze Zeit über sorgfältig diese Falle für mich geplant, hatte herausgefunden, wo ich wohnte, wie er mich erreichen konnte, und sorgte dafür, dass ich mich vermeintlich in Sicherheit wähnte.

„Scheiß drauf.“ Energisch drückte ich meine Zigarette im Aschenbecher neben der Tastatur aus, bevor ich die Adresse in die Maske der Suchmaschine eingab.

Die Gruft: Okkulte Bücher und Zubehör.

Darunter stand die Telefonnummer und die Angabe, wie man dorthin gelangte.

In einem öffentlichen Raum, in einem quirligen Stadtviertel konnte mir nichts geschehen. Dieses Argument redete ich mir leise immer wieder ein, als ich zu meinen Schlüsseln griff und die Wohnung verließ.

Obwohl die Sonne schon vor einer Stunde untergegangen war, war der Himmel immer noch hell genug, sodass meine Haut spannte und juckte. Ich trug zur Tarnung eine Baseballkappe. Falls mir John Doe auflauerte, wollte ich ihn zuerst sehen, bevor er mich entdeckte. Ich warf eine Schmerztablette ein, die mir gegen meine Lichtempfindlichkeit verschrieben worden war, und knöpfte meinen Woll-Trenchcoat zu, um mich vor der Dezemberkälte zu schützen.

Der Häuserblock mit den Nummern 1300 war nur fünf Meilen von meiner Wohnung entfernt. Er lag an einer Kreuzung von drei Straßen, deren Häuser aus verschiedenen Epochen stammten und die zum Teil trendige Restaurants beherbergten. Frauen in weiten langen Röcken und bestickten Mänteln gingen auf den schneebedeckten Fußwegen neben Männern mit Rastazöpfen und Cordhosen. Die meisten Fußstapfen im Schnee stammten von Doc-Martens-Schuhen – also dem klassische Schuhwerk alternativer Studenten.

Vor einem gut besuchten Café fand ich einen Parkplatz. Mit meinen Jeans, Baseballmütze und Pferdeschwanz hatte ich das Gefühl, aufzufallen. Ich trat auf den Bürgersteig hinaus und versuchte die Tatsache, dass mich ultrahippe Absolventen der Kunsthochschule durch die Scheibe des Cafés anstarrten, zu ignorieren. Wahrscheinlich sah ich wie ein Maskottchen für das kapitalistische System aus, über das sie sich beim Milchkaffeetrinken beschwerten.

Wie sich herausstellte, war es nicht einfach, 1320 Wealthy zu finden. Ich war schon einige Male daran vorbeigelaufen, bis ich das Haus endlich fand. Der Eingang befand sich zwischen einem Secondhand-Modegeschäft und einem Gemüseladen an der Ecke, also zwischen 1318 und 1322, die direkt nebeneinander lagen. Nichts deutete auf 1320 hin, bis auf ein Klappschild auf dem Bürgersteig. Wäre ich geduldig genug gewesen, dem Aufsteller mehr Aufmerksamkeit zu schenken, hätte ich mir die frustrierende Suche ersparen können. „Die Gruft: Okkulte Bücher und Zubehör, 1320 Wealthy“ stand mit silbernen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Ein großer roter Pfeil wies auf die winzige Treppe, die von dem Bürgersteig in die Räume unter das Kleidungsgeschäft führte.

Ich blinzelte in ein schwarzes Loch. Die Stufen waren feucht, aber nicht mit Eis bedeckt. Ich holte tief Luft und ging hinunter.

Am Ende der Treppe befand sich eine alte hölzerne Tür. Auf der Glasscheibe in der oberen Hälfte war mit goldenen Lettern der Name des Geschäftes geschrieben. Als ich die Tür öffnete, erklangen Glocken.

Das, was ich drinnen sah und roch, überwältigte mich sofort. Räucherstäbchen brannten und füllten den Raum mit dicken Rauchschwaden und einem unerträglichen Geruch. Es lief leise New-Age-Musik, irgendeine friedliche keltische Harfe, mit Vogelgezwitscher unterlegt. Ich weiß nicht, ob es der Geruch oder die nervige Musik war, jedenfalls musste ich würgen.

In dem Laden war es nicht sehr hell, doch es brannten jede Menge Kerzen auf den Bücherregalen und warfen von dort aus zitternde Schatten in den Raum.

Um den schweren Duft der Räucherstäbchen nicht mehr einatmen zu müssen, hielt ich mir den Ärmel vor mein Gesicht. Ich hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Schließlich blickte ich zum Kassentresen.

Es schien niemand da zu sein. „Hallo?“

Eine Tür fiel mit einem schweren Knarzen ins Schloss. Als ich mich zu dem Geräusch umdrehen wollte, spürte ich einen Schlag auf die Brust. Ich verlor den Boden unter meinen Füßen, dann fiel ich mit dem Rücken auf den Dielenfußboden.

Die Muskeln in meinem Körper schmerzten sehr, denn seitdem ich im Krankenhaus gewesen war, hatte ich mich noch nicht sehr viel bewegt. Aber mein bis dato unbekannter Instinkt sagte mir, dass ich mich bewegen musste. Schnell rollte ich mich zur Seite, als die Klinge einer Axt dorthin auf den Boden niedersank und das Holz zersplitterte, wo gerade noch mein Kopf gewesen war.

Mit einer Kraft, die mir bisher unbekannt war, krümmte ich meinen Rücken und stieß mich mit meinen Handflächen vom Boden ab. Ich landete auf meinen Füßen mit einer Bewegung, die ich nur aus Action-Filmen kannte. Erst dann sah ich meinen Kontrahenten.

Wenn man mich gefragt hätte, ich hätte ihn auf etwa 15 Jahre geschätzt. Aber aufgrund des Tattoos auf seinem Handrücken, der Piercings in seinen Ohren und in der Augenbraue musste er mindestens achtzehn sein. Sein langes fettiges Haar war bis auf einen schmalen Streifen in der Mitte des Kopfes abrasiert. Ungeachtet der Temperatur, die in dem Laden herrschte, trug er einen dicken Wintermantel.

Ich hob meine Hände, um ihm zu signalisieren, dass er vor mir keine Angst zu haben brauchte, aber er hob die Axt noch einmal, um zuzuschlagen. Dieses Mal traf er die Vitrine des Verkaufstresens, die mit einem Knall zersprang. „Stirb, du dreckiger Vampir!“

Wie es jeder vernünftige Mensch getan hätte, rannte ich weg. Und obwohl der kleine Psychopath mit dem Kindergesicht recht flott zu Fuß war, schaffte ich es, an ihm vorbei zur Tür zu kommen, die gerade in diesem Moment aufging. Ich hatte keine Zeit, um mich mit meinen Armen vor dem Kommenden zu schützen. Die schwere Holztür knallte mir gegen den Schädel und warf mich aus dem Gleichgewicht. Wieder stürzte ich auf den Boden und bekam gerade noch mit, wie sich wieder die Axt dort befand, wo ich gerade gestanden hatte.

„Nate, Vorsicht …“

Mir kamen zwei Gedanken, als ich den Mann sah, der gerade in den Laden gekommen war. Der erste war verdammte Scheiße. Der Mann hielt die Axt, die auf ihn zukam, einige Zentimeter vor seinem breiten Oberkörper auf, indem er die Klinge zwischen seinen Handflächen fing wie eine Fliege. Er hatte die Waffe abgewehrt, noch bevor der gewalttätige Junge ihn warnen konnte. Verdammte Scheiße war auch mein zweiter Gedanke.

Der Typ war purer Sex. Breite Schultern, ein flacher Bauch, dunkle, wellige Haare. Plötzlich wurde mir bei seinem Anblick klar, warum die Krankenschwestern so auf die Kalender mit halb nackten Feuerwehrmännern standen, die im Aufenthaltsraum hingen.

„Es tut mir schrecklich leid“, wandte er sich zu mir um.

Ich nahm die Hand, die er mir anbot. Mich durchzuckte es wie ein elektrischer Schlag, als er mich berührte. Ich stand auf. Fast hätte ich gesagt: „Schon okay“, bevor mir klar wurde, dass absolut nichts okay war. Ich zitterte, als ich zur Türklinke griff.

„Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, Ziggy?“, fuhr er den jungen Mann an, bevor er sich wieder zu mir umdrehte. „Sind Sie verletzt? Brauchen Sie etwas? Einen Krankenwagen?“

Er legte seine Hand auf meine Schulter, aber ich schüttelte sie ärgerlich ab. „Verlassen alle Kunden Ihr Geschäft in einem Krankenwagen?“

Ziggy zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf mich: „Sie ist ein verdammter Vampir, Mann! Lass sie nicht weg!“

Mit einer Aggressivität, die mich erschreckte, schrie der Mann den Jungen an. „Hol ihr ein nasses Tuch für ihren Kopf!“

Ziggy grummelte irgendetwas, um sein Missfallen auszudrücken. „Soll ich ihr vielleicht auch eine Tasse von meinem schönen warmen Blut besorgen? Mit ein paar Marshmallows zum Umrühren?“

„Geh schon hoch, los!“

Der Bursche ging Flüche murmelnd an uns vorbei und verließ den Laden, indem er die Tür laut zuknallte, sodass das Glas in der Tür zitterte.

„Ich glaube nicht, dass er mit einer Kompresse zurückkommt“, stellte ich trocken fest.

„Nein, das glaube ich auch nicht.“ Der Mann lachte leise und hielt mir die Hand hin. „Ich bin Nathan Grant.“

„Carrie Ames.“

Verschwinde schon, du blödes Stück, sagte mir eine innere Stimme. Er hat noch die verdammte Axt in der Hand! Aber meine Füße rührten sich nicht von der Stelle. Die morbide Neugierde, die mich auch hierher geführt hatte, hatte mich völlig unter Kontrolle. Außerdem zwang mich eine skrupellose Anziehungskraft, wie ich sie bislang nicht kannte, so nah wie nur möglich bei diesem Mann zu bleiben.

Nathan neigte seinen Kopf und sah mich neugierig aus grauen Augen an. Er räusperte sich und stellte die Axt am Türrahmen ab, bevor er die Arme über der Brust verschränkte. „Ames. Sind Sie die Ärztin aus den Nachrichten?“

Seine Stimme war verführerisch männlich, er sprach mit einem vernehmbaren schottischen Akzent. Es fiel mir schwer, mich auf seine Frage zu konzentrieren, weil ich seine perfekt geschwungenen Lippen anstarrte. „Oh … ja. Genau die bin ich.“

Er lächelte, aber es war nicht das netteste Lächeln, das ich jemals gesehen hatte. Es erinnerte mich an den Gesichtsausdruck, den ein Zahnarzt hat, bevor er einem sagt, dass man sich einen Termin für eine Wurzelbehandlung geben lassen soll.

„Dann gibt es eine Menge, über das wir reden müssen, Doktor. Ich muss mich für Ziggy entschuldigen. Er ist von der Idee besessen, er sei ein Vampir-Jäger. Wie hat er Sie eigentlich gefunden?“

„Mich gefunden?“ Zigmeister69. Ich war in eine Falle getappt. „E-Mail.“

Nathan grinste. „Verstehe. Nightblood.com?“

Ich tat so, als müsste ich husten, um mir eine Antwort zu überlegen. „Genau.“

Er schüttelte den Kopf. „Regel Nummer eins: Gehe nie an die Öffentlichkeit.“

„Regel Nummer eins? Worüber reden Sie eigentlich?“

Als hätte er alle Zeit der Welt, zu erklären, worum es ging, drehte er sich um. Er ging hinter den Tresen zur Stereoanlage, stellte den CD-Spieler ab und beendete damit das nervig beruhigende New-Age-Gedröhne.

„Worüber reden Sie?“, hakte ich nach und ging hinter ihm her, als er durch den Laden schritt und an den Kerzen roch. „Wären Sie so nett, mal stehen zu bleiben und mit mir zu reden?“

Er seufzte und ließ seinen Kopf hängen, während er sich mit den Armen auf dem Tresen abstützte. Es sah nicht so aus, als könne der zierliche Holzbau sein Gewicht halten.

„Es gibt Regeln, die du befolgen musst. Regeln, die jeder Vampir befolgen muss.“

Ich stellte fest, dass meine Hand schon auf der Türklinke lag, bevor ich mich entschlossen hatte, fortzurennen.

„Warte!“, rief er mir nach. Er ging um den Tresen herum und hielt mich am Ärmel fest, bevor ich hinauslaufen konnte. „Wenn du jetzt fortläufst, dann wird es kein gutes Ende nehmen.“

Sein Griff an meinem Arm machte mich nervös, ebenso wie die Spannung, die ich in seiner Stimme hören konnte. Als ich sprach, hörte ich mich heiser und seltsam an. „Ist das eine Drohung?“

„Hör zu“, fing er an, aber die Bedrohlichkeit war aus seiner Stimme gewichen. „Ich weiß, dass du dir ein paar Fragen stellst. Sonst wärest du nicht an Ziggy geraten.“

„Ja, ich habe einige Fragen.“ In meiner Wut spuckte ich die Worte fast aus. „Wer zum Teufel sind Sie? Warum wurde ich angegriffen, als ich hier zur Tür hereinkam? Und wieso zur Hölle glauben Sie, ich sei ein Vampir?“

Ich riss die Tür auf und trat in die Eiseskälte hinaus. In meiner Manteltasche suchte ich nach einer angebrochenen Packung Zigaretten.

Er folgte mir bis zu der Treppe und sprach erst wieder, als ich schon die Hälfte der Stufen hinter mir gelassen hatte. Gerade als ich versuchte, mein Feuerzeug in Gang zu bekommen, rief er mir nach.

„Weshalb glaubst du, du seist ein Vampir? Deshalb hast du die Foren im Internet nach Vampiren durchsucht, richtig? Deswegen hat dich Ziggy auch gefunden. Es ist seine Hauptbeschäftigung.“ Mit einer Eleganz, von der ich glaubte, sie sei nur Tieren vorbehalten, ging er die Stufen hinauf und nahm meine Hand. Seine Haut war eiskalt. „Egal, wie viel du rauchst, du wirst immer mehr rauchen wollen. Du wirst nie genug bekommen. Das Essen, das du isst, macht dich nicht satt, und du hast keine Ahnung, woran das liegen könnte.“

Plötzlich wirkte die Zigarette zwischen meinen Fingerspitzen albern. Ich zitterte, was nicht nur an der Kälte lag.

Nathan sprach weiter, aber er hörte sich weit weg an.

„Komm mit hoch“, fuhr er fort, „ich werde versuchen, es dir zu erklären.“

Ich ging ein paar Schritte die Treppe hoch und dachte darüber nach, dass ich weitergehen, mich in mein Auto setzen und nie mehr zurückkommen sollte, ja einen großen Bogen um diesen Stadtteil machen. Sollte ich jemals an diesen Ort zurückkehren, könnte ich so tun, als ob dies alles nie geschehen sei. Es gab ja immer noch die Chance, dass ich eigentlich noch gar nicht aus der Narkose aufgewacht war und dass ich immer noch auf der Intensivstation im Koma lag. So sehr ich auch versuchte, mir das einzureden, wusste ich doch, dass es nicht stimmte. Ich warf die Zigarette weg und sah ihr dabei zu, wie sie auf die nächste Stufe rollte. „Es ist nicht zufällig möglich, dass ich das hier gerade zusammenträume, oder?“

„Nein“, antwortete er ruhig. „Wir erkennen uns, ähem, gegenseitig.“

Ich sah ihn scharf an. Ich wurde blass, und an der Art und Weise, wie er mich ansah, wusste ich, dass er mir meine Angst ansah. „Sie sind ein …“

„Vampir, ja“, beendete er meinen Satz, als mir die Stimme versagte.

„Na, dann wäre das ja wohl geklärt“, stellte ich fest. Seltsamerweise fühlte ich mich ein wenig erleichtert, obwohl ich in einem düsteren Hauseingang mit einem Typen stand, der behauptete, ein Vampir zu sein. „Ich bin verrückt.“

„Du bist nicht verrückt. Das machen wir alle durch, wenn wir uns verwandeln.“ Er sah nervös auf, als jemand über unseren Köpfen an dem Eingang vorbeiging. „Aber das hier ist nicht der richtige Ort, um so etwas zu besprechen. Warum kommst du nicht mit hoch, dann können wir uns in meiner Wohnung weiterunterhalten.“

„Nein, aber trotzdem danke“, sagte ich und konnte mir das Lachen nicht verkneifen. „Es war sehr nett, Sie kennenzulernen, Mr. Vampir, aber ich muss los. Ich muss heute Abend arbeiten. Und vielleicht erreiche ich vorher noch meinen Psychotherapeuten. Wenn ich Glück habe, verschreibt er mir ein Rezept für ein schönes riesiges Paket mit Psychopharmaka, damit ich mein normales Leben weiterführen kann.“

Ich drehte mich um, aber Nathan hielt mich am Arm fest. Schneller, als ich reagieren konnte, hatte er mich zwischen seinen muskulösen Körper und die harte Mauer gepresst. Mit der Hand hielt er mir meinen Mund zu, als ich gerade losschreien wollte.

„Das genau wollte ich vermeiden“, zischte er zwischen seinen zusammengepressten Zähnen hervor. Dann neigte er den Kopf, und sein Körper lehnte sich gegen meinen.

Als er sich wieder zurückbewegte und den Kopf hob, setzte mein Herzschlag aus. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge waren verzerrt, seine Haut spannte sich über eine spitze knochige Schnauze. Lange Reißzähne reflektierten das Licht. Er sah aus wie John Doe, bevor er meine Kehle wie ein Geburtstagsgeschenk aufgerissen hatte.

Nur verrieten seine Augen, dass er sich unter Kontrolle hatte. Bis zu dem Tag, an dem ich sterbe, werde ich mich an seinen Blick erinnern: Nathans graue Augen schauten mich so klar und so ehrlich an, dass es mir das Herz zerriss, obwohl sein Gesicht einer furchtbaren Maske glich.

„Verstehst du jetzt?“, frage er.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, ich nickte. Er ging einen Schritt zurück und verbarg sein Gesicht in den Händen. Als er mich anschaute, sah sein Gesicht wieder normal aus. Er betrachtete mich liebevoll und mitleidig. Das verwirrte mich mehr als seine monsterähnliche Erscheinung.

„Nun komm schon. Lass uns reingehen, dann erzähle ich dir alles, was du wissen willst.“

Mir war kalt, und vor lauter Verzweiflung fühlte ich mich fast taub. Ich ließ mich von ihm die Stufen hinauf auf den Bürgersteig führen. „Alles?“

„Sicher“, versprach er, während er aus seiner Tasche einen Schlüsselbund hervorholte.

„Okay“, ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. „Aber warum ich?“

DIE BEWEGUNG

Nathans Wohnung war klein, und überall standen Möbel herum. An den Wänden befanden sich grobe Regale auf schlichten Winkeln, wie man sie zum Zusammenbauen im Baumarkt kauft. Auf einigen standen so viele Bücher, dass sich die Regalböden unter ihrem Gewicht bogen. Auf dem Couchtisch lagen Notizbücher und Schreibblöcke, die mit einer fast unleserlichen Handschrift beschrieben waren. Die Zimmer waren vollgestellt, aber nicht schmutzig.

„Entschuldige bitte diese Unordnung“, sagte er und lächelte entschuldigend. Er sah kurz zur Treppe hinüber. Ein Song von Marilyn Manson dröhnte in voller Lautstärke aus einem der anderen Zimmer, dessen Tür geschlossen war. „Dreh das leiser, Ziggy!“

Die Lautstärke wurde einige Dezibel heruntergedreht. Nathan und ich standen einige Augenblicke lang etwas unbeholfen an der Tür. Ich nehme an, er war genauso unsicher wie ich.

„Kinder“, sagte ich, zuckte mit den Schultern und sah mich nach dem Zimmer um, von dem ich annahm, dass es Ziggy gehörte.

„Gib mir deinen Mantel.“

Ich beobachtete Nathans Gesichtsausdruck, als er mir aus der Jacke half. Er sah meiner Meinung nach sehr jung aus, dafür, dass er einen Sohn in Ziggys Alter hatte. Aber dann fiel mir ein, dass Nathan ja ein paar Jahrhunderte alt sein konnte.

Nachdem er meinen Mantel an einem Haken neben der Tür aufgehängt hatte, schien er plötzlich energischer. „Hast du etwas zu dir genommen?“ Er ging in Richtung Küche und bedeutete mir, ich solle folgen. „Ich habe noch ein paar A positiv.“

Ich wartete im Türrahmen und sah ihm dabei zu, wie er einige Beutel Blutkonserven aus dem Kühlschrank nahm. Dann griff er zum Teekessel, der auf der Trockenablage stand, öffnete den Deckel, riss mit den Zähnen eine Konserve auf und füllte den Inhalt hinein. Er machte das mit einer Routine, als würde er eine Tüte Chips öffnen. Danach zündete er die Flamme des Gasherdes an und stellte den Kessel darauf. Wiederum wirkte dies so natürlich, dass ich mich erst daran erinnern musste, dass normale Männer kein Blut in ihren Kühlschränken aufbewahren. Auf der anderen Seite besaßen normale Männer auch keine Teekessel.

„Sie wollen das doch nicht etwa trinken, oder?“ Ich spulte in meinem Kopf ab, was wir in der Ausbildung über Krankheiten, die durch Blut übertragen werden, gelernt hatten.

Obwohl er mich nicht ansah, ahnte ich, dass er grinste. „Doch. Möchtest du auch etwas?“

„Nein!“ Mir zog sich der Magen zusammen. „Wissen Sie, wie gefährlich das sein kann, Blut zu trinken?“

„Weißt du, wie gefährlich ich bin, wenn ich es nicht trinke?“ Er lehnte sich gegen die Arbeitsfläche und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. So sah ich zum ersten Mal, wie groß er wirklich war.

In meinem Personalausweis ist meine Körpergröße mit 1,77 Meter angegeben, und auch wenn mich der Aufenthalt im Krankenhaus einige Kilos gekostet hatte, war ich immer noch kein kümmerliches Pflänzchen. Dennoch wirkte Nathan, als könne er mich mühelos mit bloßen Händen in Stücke reißen, wenn ihm danach wäre.

Irgendwie klang seine Stimme ein wenig traurig. Kurz sah er mir in die Augen, aber bevor ich dahinterkommen konnte, was los war, drehte er sich wieder weg.

„Oh, tut mir leid. Dir hat noch niemand erklärt, wie das alles geht. Blut zu trinken gehört zu den Voraussetzungen, ein Vampir zu sein. Irgendwann wirst du es tun müssen, also lieber jetzt als später.“ Seine Stimme wurde rau. „Und außerdem, wenn du es zu lange hinauszögerst, rastest du aus und tust etwas … was du später bereuen wirst.“

„Dann versuche ich es eben.“ Aus dem Kessel strömte ein warmer, metallischer Duft. Zu meinem Entsetzen knurrte mein Magen. „Also, werde ich unsterblich sein?“

„Warum ist das immer das, was alle zuerst wissen wollen?“, fragte er. „Nein, du wirst wahrscheinlich nicht ewig leben.“

Wahrscheinlich? Das hört sich aber nicht gerade ermutigend an.“

„So sollte es auch nicht klingen.“ Er warf das Handtuch über seine Schulter. „Wir sind nicht dem üblichen Unbill wie Zeit oder Krankheit unterworfen und wir haben die Fähigkeit, uns selbst zu heilen, diese Gabe nimmt mit dem Alter zu. Aber die Liste der Dinge, die uns töten können, ist ellenlang: Sonnenlicht, Weihwasser, die Hölle, ja sogar ein schwerer Verkehrsunfall können uns vernichten.“

Er goss ein wenig Blut in einen Keramikbecher, dessen Rand schon etwas angesprungen war, und deutete auf den kleinen Esstisch. „Wenn du das nicht willst, kann ich dir sonst etwas anderes anbieten?“

„Nein, danke.“ Ich setzte mich auf den Stuhl, den er für mich unter dem Tisch hervorzog. „Haben Sie auch Nahrungsmittel für Menschen hier?“

„Ja“, beantwortete er meine Frage. „Ab und zu mag ich das auch ganz gern, aber ich kann nicht davon leben. Und Ziggy muss etwas essen.“

Ich runzelte die Stirn. Ziggy hatte mich eindeutig in den Laden gelockt, um mich umzubringen. Dann ergab es keinen Sinn, dass er selbst mit einem Vampir zusammenwohnte.

„Hm … weiß Ihr Sohn davon, dass Sie ein Vampir sind?“

„Mein Sohn?“ Nathan sah mich einen Moment lang irritiert an, dann fing er an zu lachen. Ich mochte sein herzliches Lachen, den tiefen, wohlmeinenden Klang seiner Stimme. „Ziggy ist nicht mein Sohn. Aber ich verstehe, wie du auf den Gedanken gekommen bist. Er ist … er ist ein Freund von mir. Außerdem finde ich, dass du mich ruhig duzen kannst.“ Er sah mich an.

„Okay, ich bin Carrie.“ Ich war verwirrt. Ziggy war ein Freund? Ich meine, ich war nicht verschlafen, ich konnte zwischen den Zeilen lesen. Wie es aussah, war der erste vernünftige Typ, den ich in dieser Stadt kennenlernte, schwul. „Aber ist er nicht ein bisschen zu jung für dich?“

Nathan lächelte, als sei es ihm etwas peinlich. „Ich bin nicht homosexuell, Carrie. Ziggy ist mein Blutspender. Ich passe nur auf ihn auf, das ist alles.“

Das war das erste Mal, dass er mich mit meinem Vornamen ansprach und nicht mit Doktor oder Miss Ames. Mit seinem deutlichen Akzent – und ich war mir ziemlich sicher, dass er Schotte war – hörte sich mein langweiliger Allerweltsname exotisch und fast sinnlich an. Ich fragte mich, ob sich Nathan darüber bewusst war, dass ich mich von ihm angezogen fühlte und mein Blut schneller durch meine Adern rauschte.

Falls er das tat, war er so höflich, es nicht zu erwähnen. Dafür war ich dankbar. „Also, warum hat er versucht, mich umzubringen? Ich meine, du bist ein Vampir, und das weiß er, und er spendet Blut für dich und so weiter. Was hat er mit mir zu schaffen?“

Nathan nippte an seinem Becher. „Das ist kompliziert.“

Ich schaute kurz an die Uhr an der Wand. „Ich habe noch ein paar Stunden Zeit.“

Er schien sich seine Antwort einen Moment lang zu überlegen. Dann setzte er sich zu mir an den Tisch, stellte seinen Becher beiseite und verbarg sein Gesicht in den Händen. „Hör zu, du scheinst ein recht nettes Mädchen zu sein, aber ich muss dich etwas fragen, und diese Frage ist ein wenig heikel.“

Trotz des drohenden Tones nickte ich. Alles, was ich zu diesem Zeitpunkt wollte, waren Antworten auf meine Fragen. Wenn er mich darum gebeten hätte, ich hätte ihm einen ganzen medizinischen Fragebogen ausgefüllt. „Schieß los!“

„Ich habe deine Geschichte in den Zeitungen sorgfältig verfolgt, und ich habe da einige Fragen. Nämlich warum du an diesem Abend im Leichenkeller warst.“ Als er mir in die Augen sah, wusste ich, dass ihn diese Frage wirklich beschäftigte.

„Glaubst du etwa, ich habe das mit Absicht getan?“

Er zuckte mit den Schultern. Sein Gesicht zeigte weder Mitleid noch Freundlichkeit. „Erzähl’s mir.“

Im letzten Monat hatte ich viel mit Depressionen zu kämpfen gehabt. Mein altes normales Leben zu führen, konnte ich aufgrund einer geheimnisvollen Krankheit, die ich nicht loswurde, vergessen. Meine Knochen hatten mir vierundzwanzig Stunden am Tag wehgetan. Bei dem geringsten Lichteinfall bekam ich schreckliche Kopfschmerzen. Wenn ich tatsächlich ein Vampir war, dann hatte diese Existenz nichts mit dem luxuriösen Leben eines Grafen Dracula oder eines Lestat de Lioncourt zu tun. Ich lebte in einer wahren Hölle, und das hatte wenig mit freiem Willen zu tun.

„Bitte“, sagte er leise, „ich muss das wissen.“

Ich hätte ihm eine knallen können. „Nein! Was glaubst du, dass ich total ausgeflippt bin?“

Er hob wieder die Schultern. „Da draußen gibt es einige Menschen, die krank genug sind, um ihrem Leben entkommen zu wollen. Manchmal leiden sie unter einer Art Trauma, einer Krankheit, unter dem Verlust eines geliebten Menschen.“ Er sah mir geradewegs in die Augen. „Der Verlust deiner Eltern.“

„Woher weißt du das mit meinen Eltern?“, presste ich die Frage zwischen den Zähnen hervor. Seit dem Autounfall, bei dem sie ums Leben gekommen waren, hatte ich nicht mehr von ihnen gesprochen. Meine Eltern waren auf dem Weg zu mir gewesen, sie wollten mich im College besuchen. Aus Schuldgefühlen hatte ich mit keinem Menschen darüber geredet. Niemand wusste von den Umständen, unter denen meine Eltern umgekommen waren. Bis vielleicht auf die entfernten Verwandten, die ich noch in Oregon hatte und von denen ich die meisten erst auf der Beerdigung kennengelernt hatte.

„Ich habe meine Verbindungen“, antwortete er, als würden wir darüber sprechen, wie er an Tickets für ein Basketballspiel der Lakers gekommen war, nicht darüber, dass er in meinem Privatleben herumspionierte. Er besaß sogar die Frechheit, über den Tisch nach meiner Hand zu greifen. „Ich weiß, was es heißt, wenn man jemanden verliert. Glaub mir. Ich kann verstehen, warum du nicht …“

„Ich wollte das nicht!“

Ich hatte nicht vorgehabt zu schreien, aber es fühlte sich gut an. Ich wollte noch einmal schreien. Die ganzen schrecklichen Geschehnisse des letzten Monats schienen wieder in mir hochzukommen und ich konnte mich einfach nicht länger beherrschen.

„Carrie, bitte …“, redete er auf mich ein, aber ich ignorierte ihn.

Als ich aufstand, stieß ich an den Tisch, sodass sein Becher umfiel und warmes Blut über die Tischplatte spritzte. Als ich das sah, war ich seltsamerweise davon fasziniert, und plötzlich sah ich vor meinem inneren Auge, wie ich mich über die Oberfläche beugte und das Blut aufleckte. Ich wandte mich ab, um das Bild abzuschütteln. „Ich habe das alles nicht gewollt!“

Indem ich den Ausschnitt von meinem Sweatshirt zur Seite schob, deutete ich auf die Narbe an meinem Hals, die noch nicht völlig verheilt war. „Glaubst du, jemand setzt sich freiwillig so einer Tat aus? Glaubst du etwa, dass ich in diese Leichenhalle hineinmarschiert bin und gesagt habe: ‚Hey, John Doe, hast du nicht Lust, mir meinen verdammten Hals aufzureißen? Mach mir das Leben zur Hölle, wie wär’s?‘“

Auf einmal war die Musik aus Ziggys Zimmer deutlich leiser. Gut, sollte er doch zuhören.

„Denkst du, es macht mir Spaß, hier zu sitzen und einem Typen, den ich verdammt noch mal gar nicht kenne, dabei zuzusehen, wie er Blut trinkt? Ich will nur mein altes Leben zurückhaben!“

Und dann hätte ich am liebsten so lange geschrien, bis ich heiser geworden wäre, wollte mit den Füßen aufstampfen und mit Dingen um mich werfen. Ich wollte all diese Gefühle wie Verzweiflung und Frustration endlich loswerden.

Aber anstatt das zu tun, fing ich an zu weinen. Meine Beine gaben nach und ich fiel auf den Boden. Als Nathan sich neben mich kniete und den Arm um mich legte, um mich zu trösten, stieß ich ihn weg. Aber als er es noch einmal versuchte, gab ich nach.

Ich konnte mein Schluchzen nicht unterdrücken, als er mich an seinen muskulösen Oberkörper presste. Sein Wollpullover kratzte an meiner Wange. Er roch gut – männlich und ein wenig nach Seife, als käme er gerade aus der Dusche. Na und, auch wenn ich ihn gar nicht kannte, war es doch egal? Nie zuvor hatte ich so weinen können und mich von jemandem trösten lassen.

„Ich weiß, dass du das nicht gewollt hast“, sagte er leise.

„Ja?“, fragte ich und sah ihn an. „Bisher hast du dich eher wie ein Vampir-Polizist verhalten.“

Sanft nahm er mein Gesicht in seine Hände und zwang mich, ihn anzusehen. „Ich weiß, dass du es nicht wolltest, denn mir ist dasselbe passiert. Auch mit deinem John Doe.“

Als er das sagte, musste ich auf einmal nicht mehr weinen. Die Schluchzer ebbten ab und auf wundersame Weise trockneten meine Tränen.

Nathan half mir auf. Ich nutzte das aus und lehnte mich, so lange es ging, an ihn, ohne dass es auffallen würde. Ich stützte mich mit der Hand auf seinen Bauch, direkt unter dem Rippenbogen, als wäre ich aus der Balance gekommen, und spürte unter der Wolle seines Pullovers, dass sich dort eine perfekte Bauchmuskulatur abzeichnete.

Er stellte den Stuhl auf, der umgekippt war, und half mir, mich hinzusetzen. Dann gab er mir ein Glas Wasser und fing an, das verschüttete Blut aufzuwischen.

Zwischen uns herrschte eisiges Schweigen, aber es gab einige Dinge, die ich wissen musste. Ich fing mit den offensichtlichen Fragen an: „Wie konnte das passieren?“

Nathan stand an der Spüle und wusch das blutige Geschirrhandtuch mit Wasser aus. „Er hat von deinem Blut getrunken, du hast etwas von seinem Blut zu dir genommen. Dann bist du gestorben. So läuft das.“

„Nein“, begann ich. Ich wollte wissen, wie er zum Vampir geworden war, ob John Doe ihn auch einfach so angegriffen hatte, wie er es bei mir getan hatte. Aber ich konzentrierte mich auf Nathans letzte Aussage. „Ich habe sein Blut nicht getrunken. Ich glaube nicht, dass er meines trank.“

„Ist sein Blut in deinen Mund gelangt? Oder in eine deiner Wunden?“ Er lehnte sich gegen die Spüle. „Ein Tropfen reicht völlig aus. Es ist wie ein Virus oder Krebs. Es kann sich jahrzehntelang im Körper befinden, ohne dass es ausbricht. Es wartet, bis das Herz aufgehört hat zu schlagen. Dann zerstört es deine Zellen.“

„Ja, aber ich bin nicht gestorben. Sie riefen mich in den OP, um die Blutung zu stillen …“ Aber das traf nicht so ganz zu. „Oh, Gott. Ich bin in die Schleuse gegangen, in der Notaufnahme. Da bin ich ohnmächtig geworden.“

„Dann ist es dort passiert.“ Er zeigte auf das Wohnzimmer. „Lass uns reingehen. Da ist es netter.“

Autor

Jennifer Armintrout
Die Bestsellerautorin Jennifer Armintrout, geboren 1980, lebt in Michigan. Schon früh begann sie sich für das Jenseitige zu interessieren. Ob es daran liegt, dass sie in einer katholischen Großfamilie aufwuchs und im prägenden Alter zu viele Beerdigungen besuchte? Während ihrer Arbeit in der Pathologie eines Krankenhauses fragte sie sich eines...
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Blutsbande