Blossom Street - liebevoll gestrickte Geschichten - Teil 1-3 (3in1-eBundle)

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DAS MUSTER DER LIEBE

Nach ihrem Sieg über den Krebs erfüllt Lydia sich ihren Traum und eröffnet ein Wollgeschäft. In ihrem Strickkurs lernt sie drei Frauen kennen, die - wie Lydia - alle mit einem Schicksalsschlag zu kämpfen haben. Masche für Masche, Faden für Faden arbeiten die vier gemeinsam an einem Zeichen der Hoffnung. Doch noch etwas anderes entsteht während ihrer Treffen zwischen Lachen und Weinen, Reden und Schweigen - das zarte, bunte Muster einer neuen Freundschaft.

DIE MASCHEN DES SCHICKSALS

Was gibt es Besseres, als über dem leisen Klappern von Stricknadeln Ängste, Sorgen und Sehnsüchte mit seinen Freundinnen zu teilen? Niemand kennt die Maschen des Schicksals besser als Lydia, Besitzerin des Wollgeschäfts "A Good Yarn", und sie will den drei Frauen in ihrem Strickkurs unbedingt helfen. Gemeinsam entrollen sie ihren Kummer wie die Wollknäule zu ihren Füßen, und erschaffen daraus etwas Neues, Einzigartiges: ein unzerreißbares Band der Freundschaft und einen roten Faden für ihr Glück.

DER GARTEN DES LEBENS

Eigentlich hat Susannah alles, was sie sich wünschen könnte. Doch ist ihr beschauliches Leben mit Mann und Kindern wirklich ihr großer Plan vom Leben? Als Susannah an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, um ihrer verwitweten Mutter beizustehen, werden ihre Zweifel immer lauter. Vor vielen Jahren ließ sie hier ihre erste Liebe Jake zurück. Jetzt weckt der schöne Garten ihres Elternhauses Susannahs Erinnerungen an eine schicksalhafte Zeit und immer mehr scheinen auch vergessene Träume neu zu erblühen.

"Ein großartiger Frauenroman um alte Geheimnisse und neue Entscheidungen, voller Menschenkenntnis, Humor und Wärme, wie ihn nur Debbie Macomber schreiben kann." Publishers Weekly


  • Erscheinungstag 21.05.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955769178
  • Seitenanzahl 1264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Debbie Macomber

Blossom Street - liebevoll gestrickte Geschichten - Teil 1-3 (3in1-eBundle)

Debbie Macomber

Das Muster der Liebe

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Christiane Meyer

MIRA® TASCHENBUCH

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MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

The Shop on Blossom Street

Copyright © 2004 by Debbie Macomber

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Übersetzung der Strickanleitung: Leena vom Hofe

Redaktion: Laura Oehlke

Titelabbildung: büropecher, Köln

ISBN 978-3-95649-988-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. Kapitel

„Aus dem Garn werden die Maschen geformt, durch das Stricken Freundschaften geknüpft, und die Kunst verbindet die Generationen.“

(Karen Alfke, Unpattern-Designerin und Stricklehrerin)

Lydia Hoffman

Als ich den leer stehenden Laden in der Blossom Street zum ersten Mal sah, musste ich an meinen Vater denken. Das kleine Geschäft erinnerte mich an den Fahrradladen, den er besaß, als ich noch ein Kind war. Sogar die großen Schaufenster, die im Schatten einer bunt gestreiften Markise lagen, waren ähnlich. Im Frühling und Sommer hatte rotes Springkraut in den Blumenkübeln vor den Fenstern geblüht, und im Herbst hatte meine Mutter farbenfrohe Chrysanthemen gepflanzt. Ich wollte vor meinem Laden auf jeden Fall auch Blumen pflanzen.

Dads Geschäft war damals immer weiter gewachsen, und er musste bald größere Räumlichkeiten beziehen. Doch nirgendwo fühlte ich mich so zu Hause wie in seinem ersten Laden, der diesem hier in der Blossom Street so ähnelte.

Die Maklerin war sichtlich überrascht. Sie hatte kaum die Tür aufgeschlossen, als ich bereits erklärte: „Ich nehme ihn.“

Mit einem verblüfften Gesichtsausdruck wandte sie sich zu mir um. „Möchten Sie sich nicht erst mal genauer umsehen? Sie wissen, dass ein kleines Apartment über dem Geschäft dazugehört?“

„Ja, das haben Sie bereits erwähnt.“ Das war der zweite Punkt, der diesen Laden für mich so interessant machte. Denn mein Kater Whiskers und ich suchten dringend eine neue Bleibe.

„Kommen Sie, dann zeige ich Ihnen einmal die Räumlichkeiten, bevor Sie den Vertrag unterschreiben“, lud sie mich ein.

Ich lächelte und nickte. Obwohl es eigentlich nicht nötig war. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass dies der richtige Platz war. Für mein Garngeschäft. Und für mich.

Der einzige Nachteil war, dass diese Gegend Seattles gerade saniert wurde. Der Zugang zur Blossom Street war aufgrund von Bauarbeiten an einer Seite komplett gesperrt. Nur die öffentlichen Verkehrsmittel konnten passieren. Das dreigeschossige Backsteingebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ein ehemaliges Bankhaus, sollte in hochwertige Eigentumswohnungen umgewandelt werden. In einigen anderen Gebäuden sollten ebenfalls moderne Wohnungen entstehen. Dem Architekten war es gelungen, trotz aller Modernisierungsmaßnahmen den traditionellen Charme der Häuser zu erhalten. Das gefiel mir. Die Bauarbeiten würden noch Monate andauern. Doch das bedeutete auch, dass meine Miete erschwinglich wäre – im Augenblick zumindest.

Ich wusste, dass die ersten sechs Monate schwierig werden würden. Das erste halbe Jahr ist für jedes kleine Geschäft entscheidend. Die Baustellen machten den Anfang vermutlich noch komplizierter, als er ohnehin sein würde. Doch trotz allem liebte ich die Gegend und den Laden. Es war alles, was ich mir jemals erträumt hatte.

Am frühen Freitagmorgen, eine Woche nachdem ich das Geschäft zum ersten Mal gesehen hatte, setzte ich meinen Namen, Lydia Hoffman, unter den Zweijahresvertrag. Ich bekam die Schlüssel und eine Kopie des Mietvertrags ausgehändigt. Noch am selben Tag zog ich – aufgeregt wie noch nie zuvor in meinem Leben – in meine neue Wohnung ein. Ich fühlte mich, als würde ich noch einmal ganz von vorn anfangen. Und tatsächlich tat ich das auch.

Ich eröffnete A Good Yarn am letzten Dienstag im April. Ein Gefühl von Stolz und Vorfreude durchflutete mich. Ich stand inmitten meines Ladens und betrachtete die unzähligen Farben, die mich umgaben. Was meine Schwester Margaret dazu sagen würde, konnte ich mir nur zu gut vorstellen. Sie ist – um es einmal milde auszudrücken – nicht gerade ein Mensch, von dem man Ermutigung und Unterstützung erwarten kann.

Ich hatte einen Tischler gefunden, der mir ein Regal mit drei Fächerreihen baute. Es war in einem glänzenden Weiß gestrichen. Der größte Teil der Wolle war am Freitag geliefert worden. Ich brachte das Wochenende damit zu, sie nach Gewicht und Farbe in den Fächern zu verteilen. Eine Registrierkasse hatte ich gebraucht gekauft, den alten Tresen auf Hochglanz poliert und schließlich Ständer mit Strickzubehör aufgestellt. Alles war fertig. Ich war bereit.

Eigentlich hätte dies ein glücklicher Moment sein sollen. Doch stattdessen ertappte ich mich dabei, wie ich mühsam versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Dad wäre so stolz auf mich gewesen. Er hatte mich stets unterstützt. Als er starb, fühlte ich mich wie gelähmt.

Ich hatte immer geglaubt, ich würde vor meinem Vater sterben.

Viele Menschen empfinden Unbehagen, wenn über den Tod gesprochen wird. Ich aber, ich habe so lange mit dem Tod im Nacken gelebt, dass das bei mir anders ist. Die Möglichkeit zu sterben war für mich so selbstverständlich, so präsent, dass ich heute darüber sprechen kann wie andere Menschen über das Wetter.

Das erste Mal wurde Krebs bei mir in dem Sommer diagnostiziert, als ich sechzehn wurde. An jenem Tag im August machte ich mich auf den Weg, um meinen Führerschein abzuholen. Ich hatte die theoretische und praktische Prüfung erfolgreich bestanden. Meine Mutter ließ mich den Weg von der Fahrschule zum Augenarzt fahren. Es sollte eine Routineuntersuchung werden, bevor ich zur Highschool ging. Ich hatte große Pläne für den Tag. Sobald ich von der Untersuchung zurück sein würde, wollten Becky und ich zum Strand. Zum ersten Mal würde ich dann ganz allein fahren. Ich freute mich darauf, endlich ohne meine Mutter, meinen Vater oder meine ältere Schwester an meiner Seite am Steuer zu sitzen.

Ich war wütend, weil meine Mutter den Termin beim Arzt direkt im Anschluss an meine Fahrprüfung vereinbart hatte. In der Zeit vor der Prüfung hatte ich einige Probleme gehabt – Kopfschmerzen und Schwächeanfälle. Mein Vater vermutete, ich benötigte vielleicht eine Lesebrille. Die Vorstellung, an der Lincoln High School mit einer Brille auf der Nase aufzutauchen, stimmte mich nicht besonders froh. Um ehrlich zu sein, machte mich der Gedanke ziemlich unglücklich. Ich hoffte, meine Eltern würden mir erlauben, Kontaktlinsen zu tragen. Doch wie sich herausstellen sollte, war eine leichte Sehschwäche mein geringstes Problem.

Der Arzt, ein Freund meiner Eltern, schien eine Ewigkeit mit seinem unglaublich hellen Lämpchen in mein Auge zu leuchten. Er stellte mir unzählige Fragen über meine Kopfschmerzen. Das ist mittlerweile fünfzehn Jahre her. Aber ich werde nie seinen Gesichtsausdruck vergessen, als er danach mit meiner Mutter sprach. Er wirkte so ernst, so nüchtern. So besorgt.

„Ich möchte für Lydia einen Untersuchungstermin an der Universitätsklinik von Washington vereinbaren. Und zwar umgehend.“

Meine Mutter und ich waren überrascht. „Gut“, erwiderte meine Mutter und blickte zwischen Dr. Reid und mir hin und her. „Gibt es ein Problem?“

Er nickte. „Was ich mit meinen Apparaten erkennen kann, gefällt mir überhaupt nicht. Ich möchte, dass Dr. Wilson einen Blick darauf wirft.“

Dr. Wilson begnügte sich jedoch nicht damit, nur „einen Blick darauf zu werfen“. Während der Operation entfernte er einen Hirntumor, der sich später als bösartig herausstellte. Heute kommen mir diese Worte leicht und locker über die Lippen, aber es war keine schnelle oder einfache Sache. Im Gegenteil. Die Diagnose bedeutete wochenlange Krankenhausaufenthalte und stechende, lähmende Kopfschmerzen. Auf die Operation folgten eine Chemotherapie und eine Strahlenbehandlung. Es gab Tage, an denen selbst das kleinste bisschen Licht mir solch unerträgliche Schmerzen bereitete, dass ich mich dazu zwingen musste, nicht laut zu schreien. Tage, an denen ich jeden Atemzug ganz bewusst machte und um mein Leben kämpfte. Ich spürte, dass es mir zu entgleiten drohte. Trotzdem gab es so manchen Morgen, an dem ich mir wünschte, tot zu sein. Ich glaubte, diese Qualen nicht länger ertragen zu können. Ohne meinen Vater wäre ich wahrscheinlich gestorben.

Mein Kopf war für die Operation rasiert worden. Dann, als mein Haar endlich nachzuwachsen begann, fiel es durch die Chemotherapie gleich wieder aus. Ich verpasste das komplette erste Jahr an der Highschool. Und als ich wieder in die Schule zurückkehren konnte, war nichts mehr wie früher. Alle sahen mich plötzlich mit anderen Augen. Ich ging nicht zum Abschlussball der Highschool, weil kein Junge mich bat, mitzukommen. Einige Freundinnen luden mich ein, mit ihnen zu gehen, aber ich lehnte ab – wahrscheinlich aus falschem Stolz. Heute wünschte ich, ich hätte ihre Einladung angenommen.

Der traurigste Teil der Geschichte war, dass der Tumor zurückkehrte. Und das gerade, als ich glaubte, all die Medikamente und Schmerzen hätten sich gelohnt, und ich dachte, ich könnte wieder ein ganz normales Leben führen.

Ich werde den Tag nie vergessen, als Dr. Wilson uns erklärte, der Krebs sei wieder ausgebrochen. Dabei war es nicht sein besorgter Gesichtsausdruck, der sich mir ins Gedächtnis einbrannte. Nein. Es war der Schmerz, den ich in den Augen meines Vaters sah. Er konnte, mehr als jeder andere, nachvollziehen, was ich während der ersten Behandlung durchgemacht hatte.

Meine Mutter war noch nie gut darin gewesen, mit Kranken und Krankheiten umzugehen. Es war mein Vater, der für mich da war. Er wusste, dass er nichts tun konnte, um diesen zweiten Schlag für mich erträglicher zu machen. Ich war vierundzwanzig, steckte mitten im Studium und bereitete mich gerade auf eine wichtige Prüfung vor. Aber es half nichts: Ich musste mein Studium abbrechen.

Ich habe den Krebs zweimal überlebt. Deshalb bin ich gewiss nicht mehr das unbeschwerte Mädchen, das ich früher einmal gewesen war. Ich genieße jeden einzelnen Tag, weil ich genau weiß, wie wertvoll das Leben ist. Die meisten Menschen schätzen mich auf jünger als dreißig. Gleichzeitig halten sie mich aber für sehr viel reifer als andere Frauen meines Alters. Meine Erfahrungen mit dem Krebs lehrten mich, nichts als selbstverständlich hinzunehmen – am wenigsten das Leben selbst. Aber in gewisser Weise wurde ich auch für mein Leiden entschädigt. Mein Dad machte mich darauf aufmerksam, dass ich seitdem weiser als die meisten in meinem Alter war. Vielleicht hatte er sogar recht damit. Und trotzdem bin ich in manchen Lebensbereichen noch immer unglaublich unerfahren – vor allem in Bezug auf Männer und Beziehungen.

Während ich den Krebs zweimal überlebte, schaffte Dad das nicht. Mein zweiter Tumor brachte ihn um. Das jedenfalls glaubte meine Schwester Margaret. Sie hat es nie ausgesprochen, aber ich wusste, dass sie so dachte. In Wahrheit glaubte auch ich, sie hätte möglicherweise recht damit. Es war ein Herzinfarkt, der ihn tötete. Nach meiner zweiten Diagnose war er um Jahre gealtert. Ich weiß, wenn er mit mir hätte tauschen können, hätte er es gern getan.

Sooft es ihm nur möglich war, saß er an meinem Bett. Und genau das war der Punkt, den Margaret nicht vergessen oder vergeben konnte – die Liebe und die Hingabe, die Dad während dieser Zeit für mich aufbrachte. Und Mom, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ebenso.

Margaret war bereits verheiratet und Mutter von zwei Kindern, ehe der zweite Tumor überhaupt entdeckt wurde. Trotzdem fühlte sie sich durch meine Erkrankung in gewisser Weise betrogen. Sie glaubte, dass es meine Entscheidung war, krank zu werden und diesen Weg einem normalen Leben vorzuziehen.

Unnötig zu erwähnen, dass unser Verhältnis zueinander angespannt war. Doch meiner Mutter zuliebe versuchte ich mein Möglichstes, mich mit Margaret zu verstehen – besonders seit Dad tot war. Sie machte es mir jedoch nicht leicht. Ihre Verbitterung konnte sie nur schwer verbergen. Dabei war es egal, wie viele Jahre mittlerweile vergangen waren.

Margaret hatte mir von der Eröffnung eines Wollgeschäfts abgeraten. Aber sie hätte wahrscheinlich grundsätzlich versucht, mir alles auszureden, was ich mir vornahm. Ihre Augen begannen bei der Aussicht auf mein Versagen zu leuchten. Laut Statistik gehen die meisten neu eröffneten Läden im ersten Jahr in Konkurs. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, meiner Idee eine Chance geben zu müssen.

Die finanziellen Mittel hatte ich. Das Geld stammte aus dem Erbe meiner Großmutter mütterlicherseits. Sie starb, als ich zwölf war. Mein Vater hatte das Geld geschickt angelegt. So konnte ich nun auf einen beachtlichen „Notgroschen“ zurückgreifen. Ich hätte es – laut meiner Mutter – für schlechte Zeiten behalten sollen, aber seit meinem sechzehnten Lebensjahr gab es nichts anderes als schlechte Zeiten. Deshalb wollte ich das Geld nicht länger sparen. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass Dad meine Entscheidung gutgeheißen hätte.

Das Stricken hatte ich während der Chemotherapie gelernt. Über die Jahre entwickelte ich eine gewisse Fingerfertigkeit darin. Dad scherzte immer, dass ich mit all der Wolle, die ich besäße, einen eigenen Laden aufmachen könne. Und irgendwann vor nicht allzu langer Zeit beschloss ich, seine Worte in die Tat umzusetzen.

Ich liebe es, zu stricken. Es verschafft mir ein gewisses Wohlbehagen, das ich nicht erklären kann. Die Wolle um die Nadel zu legen und eine Masche zu formen – wieder und wieder – erfüllt einen Zweck, spiegelt die eigene Leistung wider und macht den Fortschritt sichtbar. Wenn sich die Welt aufzulösen scheint, versucht man eine Ordnung herzustellen – und das Stricken erlaubt mir genau das. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass man durch Stricken Stress besser abbauen kann als durch Meditation. Und für mich ist die Beschäftigung mit den Nadeln auf jeden Fall interessanter als jede Form sportlicher Betätigung. Ich möchte etwas Greifbares, Handfestes erzeugen. Vielleicht liebe ich es auch deshalb so, weil Stricken mir das Gefühl gibt, etwas zu tun. Obwohl ich oft nicht wusste, was der nächste Tag bringen würde, gaben mir die Nadeln in der Hand und die Wolle in meinem Schoß die Sicherheit, alles, was auf mich zukommen würde, meistern zu können. Jede Masche war ein Erfolg. Es gab Tage, an denen ich nur eine einzige Reihe zustande brachte. Aber auch dieser kleine Erfolg war mein Erfolg. Für mich bedeutete das einen Schritt. Einen großen Schritt in die richtige Richtung.

Über die Jahre brachte ich einigen Menschen bei, zu stricken. Meine ersten Schüler waren andere Krebspatienten, die sich einer Chemotherapie unterzogen. Wir trafen uns im Onkologischen Zentrum von Seattle. Schon kurze Zeit später hatte ich allen – sogar den Männern – beigebracht, Waschlappen zu stricken. Jeder Arzt und jede Schwester im Krankenhaus war nun bis an ihr Lebensende mit genügend Waschlappen versorgt. Danach zeigte ich meinen Schülern, wie man kleine Decken herstellt. Sicherlich musste ich einige Rückschläge einstecken, aber der Erfolg überwog bei Weitem. Meine Geduld wurde belohnt, wenn ich merkte, dass die anderen durch das Stricken dieselbe Heiterkeit und Gelassenheit erlangten wie ich.

Und nun besaß ich meinen eigenen kleinen Laden.

Meiner Meinung nach war der einfachste Weg, um Kunden zu werben, Strickkurse anzubieten. Ich würde aber wohl kaum genügend Wolle verkaufen, wenn ich den Schülern nur beibrachte, kleine Waschlappen zu stricken. Deshalb entschloss ich mich, mit einer Babydecke zu beginnen. Das Strickmuster baute auf den Grundlagen auf – rechte und linke Maschen.

Was ich von meinem Projekt erwartete, wusste ich nicht. Aber ich war voller Zuversicht. Hoffnung ist für einen Menschen, der an Krebs erkrankt ist – oder eine Person, die den Krebs überlebt hat –, der stärkste Antrieb. Wir leben von der Hoffnung, und wir leben für die Hoffnung. Da viele von uns nicht wissen, ob sie den nächsten Tag überstehen werden, brauchen sie die Hoffnung, um weiterzumachen.

Ich war gerade dabei, ein Ankündigungsschild für meine Anfängerkurse zu malen, als das Glöckchen über der Ladentür erklang. Ich ging davon aus, dass mein erster Kunde das Geschäft betreten hatte. Deshalb blickte ich mit einem Lächeln im Gesicht zum Eingang. Die Aufregung, die ich verspürte, erstarb jedoch sofort. Margaret stand vor mir.

„Hi“, sagte ich und bemühte mich, nicht enttäuscht zu klingen. Ich wollte nicht, dass meine Schwester an meinem ersten verkaufsoffenen Morgen in meinen Laden spazierte und mein Selbstbewusstsein attackierte.

„Mom hat mir erzählt, dass du deine Idee tatsächlich verwirklicht hast.“

Ich antwortete nicht.

Stirnrunzelnd fuhr Margaret fort: „Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich sehe mir dein Geschäft mal an.“

Ich machte eine ausholende Handbewegung. Zu meinem eigenen Ärger fragte ich: „Und? Was denkst du?“

„Warum hast du es A Good Yarn getauft?“

Tatsächlich hatte ich mir Dutzende von Namen für meinen Laden überlegt. Einige waren ganz nett, andere einfach und durchschnittlich gewesen. A Good Yarn schien mir ein freundlicher und einladender Name. Aber all das erklärte ich Margaret nicht.

„Ich wollte, dass meine Kunden wissen, dass ich Qualitätswolle verkaufe.“

Margaret zuckte die Schultern. Sie schien zu sagen, dass es unzählige Wollgeschäfte gab, die interessantere Namen hatten.

„Also“, sagte ich wieder, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte, „was denkst du?“

Abermals sah Margaret sich um. „Es ist besser, als ich erwartet habe.“

Das betrachtete ich als ein echtes Lob. „Bisher habe ich noch nicht allzu viel Ware, aber ich plane, den Bestand über das nächste Jahr auszubauen. Außerdem ist noch nicht die gesamte Wolle, die ich bestellt habe, geliefert worden. Es gibt einige wundervolle Importgarne aus Irland und Australien, die ich gern ordern würde. Doch das kostet alles Zeit und Geld.“ In meinem Überschwang erzählte ich mehr, als ich eigentlich wollte.

„Erwartest du von Mutter, dass sie dir hilft?“ Sie stellte die Frage geradeheraus.

Ich schüttelte den Kopf. „Mach dir keine Sorgen. Das hier schaffe ich ganz allein.“ Das war also der Grund für ihren unangekündigten Besuch. Margaret fürchtete, ich würde Mutters Hilfe ausnutzen. Das hatte ich natürlich nicht vor, und die bloße Frage verletzte mich. Doch ich unterdrückte den Drang, ihr diese Kränkung mit einer passenden Erwiderung heimzuzahlen.

Margaret sah mich derweil an, als würde sie mir nicht glauben.

„Ich habe meine Aktien verkauft“, gab ich zu.

Margaret riss ihre dunklen Augen weit auf. Sie waren den meinen so ähnlich. „Das hast du nicht …“, stieß sie fassungslos hervor.

Was dachte meine Schwester denn? Dass ich das nötige Kleingeld für einen Laden in einer Zuckerdose herumliegen hatte? „Ich musste es tun.“ Aufgrund meiner Krankheitsgeschichte hätte keine Bank der Welt mir einen Kredit bewilligt. Obwohl ich seit vier Jahren keinen Rückfall hatte, galt ich immer noch als Risikofall.

„Es ist dein Geld“, sagte Margaret schließlich und ließ keinen Zweifel daran, dass sie diese Entscheidung für verantwortungslos hielt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Daddy das gefallen hätte.“

„Er wäre der Erste gewesen, der mich unterstützt hätte“, platzte ich heraus. Ich hätte meinen Mund halten sollen, aber ich hatte es einfach nicht geschafft.

„Vielleicht hast du recht“, sagte Margaret mit diesem sarkastischen Unterton in ihrer Stimme, der jede unserer Unterhaltungen begleitete. „Dad konnte dir ja nie einen Wunsch abschlagen.“

„Das Geld habe ich geerbt. Genauso, wie du welches bekommen hast“, erklärte ich. Ihr Erbteil warf wahrscheinlich immer noch satte Gewinne ab.

Meine Schwester schritt durch meinen Laden und ließ ihren Blick schweifen. Wenn ich mir Margarets offensichtliche Abneigung vor Augen führte, wusste ich nicht, warum mir die Beziehung zu ihr immer noch so wichtig war. Doch Tatsache war, dass sie mir wirklich etwas bedeutete. Die Gesundheit unserer Mutter war angeschlagen, und ihr fiel es noch immer schwer, sich an ein Leben ohne ihren Mann zu gewöhnen. Also, fürchtete ich, würden über kurz oder lang nur noch Margaret und ich übrig sein. Und der Gedanke, überhaupt keine Familie mehr zu haben, ängstigte mich.

„Wie sieht dein Geschäftsplan aus?“, fragte Margaret.

„Ich … ich fange klein an.“

„Und was ist mit Kunden?“

„Ich habe eine Anzeige in den Gelben Seiten geschaltet.“ Ich erwähnte nicht, dass das neue Telefonbuch erst in zwei Monaten erscheinen würde. Es gab keinen Grund, Margaret das unter die Nase zu reiben. Außerdem hatte ich in der Nachbarschaft Flyer verteilt, konnte aber nicht einschätzen, ob diese Aktion etwas bringen würde. Ich zählte auf Mundpropaganda. Doch auch das behielt ich lieber für mich.

Meine ältere Schwester stieß ein wieherndes Lachen aus – ich hatte ihr spöttisches Gelächter schon immer gehasst und musste die Zähne zusammenbeißen, um meine Wut zu unterdrücken.

„Ich bin gerade dabei, einen Aushang zu machen, der meinen ersten Strickkurs ankündigen soll.“

„Glaubst du wirklich, ein handgeschriebener Zettel im Schaufenster lockt Kundschaft zu dir in den Laden?“, fragte Margaret. „Hier zu parken ist der reinste Albtraum. Und selbst wenn die Sperrung der Straße wieder aufgehoben wird, kannst du wegen der Baustellen nicht davon ausgehen, dass viel Verkehr herrschen wird.“

„Nein, aber …“

„Ich wünsche dir wirklich alles Gute, bloß …“

„Tust du das wirklich?“, unterbrach ich sie. Meine Hände zitterten, als ich zum Schaufenster ging, um meinen Aushang zu befestigen.

„Was meinst du damit?“

Ich drehte mich um und sah meiner Schwester ins Gesicht. Mit ihren eins siebzig war sie fast acht Zentimeter größer als ich und brachte knapp zwanzig Pfund mehr auf die Waage. Als wir noch Kinder waren, ähnelten wir uns mehr.

„Ich denke, du willst, dass ich auf die Nase falle!“, sagte ich ehrlich.

„Das ist nicht wahr! Ich bin vorbeigekommen, weil … weil ich daran interessiert bin, weil ich wissen will, was du tust.“ Sie reckte ihr Kinn vor, als ob sie mich herausfordern wollte, sie noch einmal zu provozieren. „Wie alt bist du? Neunundzwanzig? Dreißig?“

„Dreißig.“

„Ist es nicht langsam an der Zeit, die Nabelschnur zu durchtrennen?“

Ihre Worte waren eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. „Aber genau das mache ich doch gerade. Ich habe unser Elternhaus verlassen und bin in das Apartment über meinem Laden eingezogen. Ich habe ein eigenes kleines Geschäft eröffnet. Und ich würde mich freuen, wenn ich mit deiner Unterstützung rechnen könnte!“

Sie zuckte die Schultern und blickte mich ratlos an. „Soll ich dir Wolle abkaufen? Ist es das, was du möchtest? Du weißt doch, dass ich nicht stricken kann. Und ich verspüre auch nicht den Wunsch, es zu lernen. Ich häkele viel lieber. Und …“

„Nur dieses eine Mal“, schnitt ich ihr erneut das Wort ab. „Kannst du nicht irgendetwas Nettes sagen?“ Ich blickte sie erwartungsvoll an und betete stumm, sie möge in sich gehen und wenigstens ein ermutigendes, anerkennendes Wort für mich finden.

Meine Bitte schien Margaret zu überfordern. Einige Sekunden lang zögerte sie. „Du hast ein Auge für Farben“, sagte sie schließlich. Sie deutete auf eine Auslage von verschiedenen Wollknäueln, die ich auf einem Tisch in der Nähe der Tür arrangiert hatte.

„Danke“, erwiderte ich und hoffte, erfreut zu klingen. Dass ich einen Farbfächer benutzt hatte, um die Knäuel anzuordnen, verschwieg ich. Margaret fiel es so schwer, mich zu loben, dass ich ihr nicht die Gelegenheit geben wollte, diese freundliche Geste im nächsten Atemzug wieder zu zerstören.

Wenn wir einander näher gewesen wären, hätte ich ihr den wahren Grund verraten, weshalb ich den Laden eröffnet hatte. Ich wollte damit ein Zeichen setzen – ein Zeichen, dass ich das Leben bejahte. Ich wollte alles daransetzen, das Geschäft zum Erfolg zu führen. Wie ein Eroberer in Wikingerzeiten, der an Land kam und hinter sich seine Schiffe vernichtete, hatte ich die Weichen gestellt. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich hatte Erfolg, oder ich würde untergehen.

Das Glöckchen über der Ladentür erklang. Ich hatte einen Kunden! Mein erster richtiger Kunde.

2. Kapitel

Jacqueline Donovan

Die Auseinandersetzung mit ihrem verheirateten Sohn hatte Jacqueline Donovan zugesetzt. Sie hatte wirklich versucht, die Abneigung, die sie ihrer Schwiegertochter gegenüber empfand, zu verbergen. Aber als Paul anrief, um zu erzählen, dass Tammie Lee bereits im sechsten Monat schwanger war, hatte Jacqueline die Nerven verloren. Sie hatte einige unschöne Dinge gesagt, die sie besser für sich behalten hätte. Paul hatte mitten im Gespräch einfach aufgelegt.

Und als sei das nicht schon schlimm genug, hatte kurz darauf ihr Mann angerufen, um sie zu bitten, ihm einige Skizzen auf die Baustelle in der Blossom Street zu bringen. Weil der Streit mit Paul sie so belastete, erzählte sie ihrem Mann davon – und nun war Reese ebenfalls wütend auf sie. Aber wenn sie ehrlich sein sollte, war es ihr relativ egal, was er dachte. Doch Paul, ihr einziges Kind … das war etwas anderes.

Sie fühlte sich unruhig und deprimiert, als sie zum Arbeitsplatz ihres Mannes fuhr. Es dauerte zwanzig Minuten, einen Parkplatz zu finden. Und natürlich lag der, den sie schließlich ergatterte, ein gutes Stück entfernt, gegenüber einem schäbig aussehenden Videoladen. Die Skizzen fest umklammernd, machte sie sich auf den Weg durch das Chaos der Baustelle. Währenddessen schimpfte sie unentwegt vor sich hin. Reese schaffte es doch immer wieder, ihr den Tag zu vermasseln!

„Hast du die Zeichnungen dabei?“ Der Mann, mit dem sie seit dreiunddreißig Jahren verheiratet war, kletterte aus einem Baucontainer. Sie stieg vorsichtig über Stahlrohre und versuchte, sich nicht schmutzig zu machen oder ihre Ferragamo-Pumps zu ruinieren. Das Architekturbüro ihres Mannes, Donovan & Gray, war für dieses Sanierungsprojekt verantwortlich. Gekleidet in einen Designeranzug und mit einem Schutzhelm auf dem Kopf, war Reese mit seinen neunundfünfzig Jahren noch immer ein gut aussehender Mann.

Jacqueline übergab ihm die zusammengerollten Papiere. Es war unüblich, dass Reese sie um etwas bat. Das kam ihr entgegen.

„Ich mache mir Sorgen um Paul“, begann sie und bemühte sich, die Fassung zu bewahren. Reese zuckte nur müde die Schultern. Er arbeitete wirklich hart und machte viele Überstunden. Jacqueline tat so, als glaubte sie, dass er all die Stunden, die er außer Haus verbrachte, auch tatsächlich im Büro oder auf einer Baustelle beschäftigt war. Und das, obwohl sie es besser wusste. Wenn er müde und erschöpft war, würde sie deshalb ganz sicher kein Mitleid mit ihm haben.

Jacqueline und Reese hatten es geschafft, die Fassade aufrechtzuerhalten. In Wirklichkeit aber war ihre Ehe seit Jahren zerrüttet. Reese lebte sein Leben, und sie lebte ihres. Sie hatten nicht mehr miteinander geschlafen, seit Paul ausgezogen war, um zum College zu gehen – was ungefähr zwölf Jahre her war. Bis auf die Liebe zu ihrem Sohn gab es kaum noch etwas, das die beiden miteinander verband.

„Weil Tammie Lee ein Kind erwartet?“, fragte ihr Mann und ignorierte ihre Besorgnis.

Sie nickte. „Offensichtlich ist Tammie Lee ausgesprochen fruchtbar, genau wie ich es befürchtet hatte – die reinste Gebärmaschine.“

Reese runzelte die Stirn. Ihm missfiel die „natürliche Vorsicht“, die seine Frau Pauls Ehefrau gegenüber hegte. Allerdings war es richtig, dass sie nichts über die Familie dieser Frau wussten. Das bisschen, das Jacqueline aus Tammie Lees Geschichten von Tanten, Onkeln und Gott weiß wie vielen Cousinen und Cousins herausgehört hatte, war gelinde gesagt entmutigend.

Das Geräusch eines Krans, der über ihre Köpfe hinwegglitt, lenkte Reese einen Moment lang ab. Als er sich wieder seiner Frau zuwandte, runzelte er abermals die Stirn. „Du scheinst dich nicht darüber zu freuen.“

„Komm schon, Reese! Wie sollte ich mich denn fühlen?“

„Wie eine Frau, die zum ersten Mal Großmutter wird.“

Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Ich für meinen Teil bin nicht gerade begeistert.“ Einige ihrer besten und liebsten Freundinnen genossen es, Großmutter zu sein. Aber Jacqueline bezweifelte, dass ihr die Anpassung an die neue Situation ebenso reibungslos gelingen würde.

„Jacquie, es geht um unser Enkelkind.“

„Warum überrascht mich deine Reaktion nicht?“, stieß Jacqueline wütend hervor. Diese Diskussion führten sie seit Langem. Sie hätte gar nicht von dem Thema angefangen, wenn es nicht diesen Streit mit Paul gegeben hätte. Sie fühlte sich ihrem Sohn auf eine besonders innige Weise verbunden. Er war der Grund, weshalb sie überhaupt an dieser „Gemeinschaft“, die sich Ehe nannte, festgehalten hatte. Paul war genau so, wie sie sich ihren Sohn immer gewünscht hatte: Er sah gut aus, war klug, erfolgreich und so vieles mehr. Nach einer Banklehre war er schnell die Karriereleiter hinaufgeklettert. Bis er vor einem Jahr etwas völlig Untypisches getan hatte – er hatte die falsche Frau geheiratet.

„Du hast Tammie Lee nie eine Chance gegeben“, beharrte Reese.

„Das ist nicht fair“, erwiderte Jacqueline und bemerkte zu ihrem Entsetzen, dass ihre Stimme zitterte. Sie bemühte sich wahrlich, die unschöne Verbindung mit Tammie Lee zu akzeptieren. Aber nie im Leben würde sie verstehen, warum ihr sonst so vernünftiger Sohn diese Fremde heiraten musste … dieses Mädchen vom Lande. Dabei hatten so viele Töchter ihrer Freundinnen Interesse an Paul gezeigt. Er nannte Tammie Lee seine Südstaatenschönheit. Doch alles, was Jacqueline sah, war eine Hinterwäldlerin. „Ich hatte sie zum Mittagessen in den Club eingeladen. Doch während des Essens habe ich mich so geschämt wie noch nie in meinem ganzen Leben. Ich habe sie Mary James vorgestellt, und das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass Tammie Lee über eingelegte Schweinefüße redete – mit der Präsidentin der Frauenvereinigung!“ Es hatte Wochen gedauert, bis Jacqueline den Mut fand, ihrer Freundin wieder unter die Augen zu treten.

„Betreut Mary nicht die Gestaltung des Kochbuchs?“, fragte Reese. „Dann ist es doch absolut sinnvoll, wenn die beiden sich über …“

„Das Letzte, was ich brauche, ist, dass du mich auch noch kritisierst“, unterbrach Jacqueline ihren Mann. Es war absurd, ihm irgendetwas erklären zu wollen. Sie konnten sich nicht einmal mehr normal unterhalten. Außerdem ruinierte der Staub auf der Baustelle ihr Make-up, und der Wind zerstörte ihre mühevoll hochgesteckten Haare. Das war Reese natürlich egal. Er hatte keine Ahnung, was sie alles auf sich nahm, um so auszusehen. Und selbstverständlich konnte er sich nicht vorstellen, wie viel Arbeit in ihrem Haarstyling oder ihrem Make-up steckte. Sie war mittlerweile Mitte fünfzig, und es brauchte geschickte Hände und einige Kunstgriffe, um ihr wahres Alter zu verstecken.

Er erhob seine Stimme: „Was genau hast du denn zu Paul gesagt?“

Jacqueline straffte die Schultern, um Haltung zu bewahren. „Nur dass ich mir gewünscht hätte, dass er noch eine Weile gewartet hätte, bevor er eine Familie gründet.“

Ihr Ehemann reichte ihr die Hand, um ihr in den Baucontainer zu helfen. „Komm rein.“

Sie ignorierte seine Hand und folgte ihm. Dies war das erste Mal, dass sie einen dieser Baucontainer von innen sah. Sie blickte sich um, entdeckte einen Stapel Baupläne, einige leere Kaffeetassen und eine Menge Unordnung. Der Raum glich einem Schweinestall.

„Du erzählst mir besser alles“, sagte Reese, während er Kaffee einschenkte und ihr schweigend eine Tasse reichte. Sie lehnte mit einem Kopfschütteln ab – schließlich wusste sie nicht, wann diese Tasse zum letzten Mal gespült worden war.

„Warum glaubst du, dass ich noch mehr gesagt habe? Reicht nicht die Tatsache, dass ich enttäuscht bin?“, fragte sie.

„Ich glaube es, weil ich dich kenne.“

„Na, vielen Dank.“ Sie spürte einen Kloß im Hals, aber sie riss sich zusammen. Er sollte unter keinen Umständen merken, wie sehr seine Worte sie getroffen hatten. „Um die Angelegenheit noch zu verschlimmern: Tammie Lee ist bereits im sechsten Monat. Und natürlich hatte Paul eine passende Erklärung, warum er uns so lange nicht informiert hat. Er hat gesagt, sie wollten warten, bis die Schwangerschaft sicher ist.“

„Und du glaubst ihm nicht?“ Reese verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Türrahmen.

„Natürlich nicht. Normalerweise wartet man drei Monate, bis man seinen Lieben die frohe Botschaft mitteilt“, sagte sie, und der sarkastische Tonfall in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Aber sechs? Wir beide wissen, dass er es auf die lange Bank geschoben hat, weil er genau weiß, wie ich mich dabei fühle. Ich habe es von Anfang an gesagt, und ich sage es wieder: Diese Ehe ist ein großer Fehler.“

„Aber Jacquie …“

„Was soll ich denn denken? Paul geht auf Geschäftsreise nach New Orleans und trifft in einer Bar dieses Mädchen.“

„Sie waren beide zu Gast bei derselben Tagung und haben sich am Abend noch auf einen Drink getroffen.“

Warum ritt ihr Mann auf solch unnützen Details herum? Das war typisch – er war auf Pauls Seite. Ihr blieb die Rolle der bösen Schwiegermutter. Nun gut. „Sie waren ganze drei Tage zusammen. Und dann erklärte er uns, dass er ein Mädchen geheiratet hat, das niemand von uns je zu Gesicht bekommen hat“, fuhr sie fort.

„In dem Punkt gebe ich dir recht“, lenkte er ein. „Ich hätte mir gewünscht, dass Paul uns von der Hochzeit erzählt. Aber das ist doch nun schon über ein Jahr her.“

Es schmerzte Jacqueline immer noch, dass ihr Sohn seine Trauung nicht kirchlich gefeiert hatte. So wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Sie glaubte, Paul habe ein Recht darauf gehabt – sie habe ein Recht darauf gehabt. Doch sie waren nicht einmal zur Hochzeit eingeladen worden.

Darüber mochte sie eigentlich nicht mehr nachdenken. Die einzige Entschuldigung ihres Sohnes besagte, dass er verliebt war. Dass er mit Tammie Lee den Rest seines Lebens verbringen wollte und dass er es nicht aushalten konnte, länger als unbedingt nötig von ihr getrennt zu sein. Das war der Grund, den Paul seinen Eltern nannte – aber Jacqueline hatte ihre Zweifel. Paul musste gewusst haben, dass sie nicht erfreut gewesen wäre. Und dass seine angeheirateten Verwandten ganz und gar nicht ihrer Vorstellung entsprachen. Sie konnte sich denken, wie die Hochzeit, die Tammie Lees Familie ausrichten würde, aussähe: Auf dem Empfang würden bestimmt Eintopf und Grütze gereicht. Es gäbe sicher frittierte Biskuitküchlein statt einer Hochzeitstorte.

„Tammie Lee ist kein halbes Jahr nach der Hochzeit schwanger geworden.“ Sie machte sich nicht die Mühe, die Verachtung in ihrer Stimme zu verbergen.

„Paul ist über dreißig, Jacqueline“, erwiderte Reese und hatte wieder diesen missbilligenden Ausdruck in den Augen, den sie so sehr hasste.

„Und alt genug, um über Verhütung Bescheid zu wissen“, konterte sie. Ihr Sohn hatte ihr die Nachricht von der Schwangerschaft ebenso mitgeteilt wie damals die Nachricht von der Hochzeit: am Telefon und ohne Vorwarnung.

„Er hat mir erzählt, dass er sich eine Familie wünscht“, murmelte Reese.

„Aber nicht so früh, denke ich“, entgegnete sie. Mit ihrem Mann zu sprechen war einfach unmöglich. Ihm schien es vollkommen egal zu sein, dass Paul ein Mädchen unter seinem Stand geheiratet hatte. Sie versuchte ernsthaft, ihre Schwiegertochter in der Familie willkommen zu heißen. Doch sie konnte es einfach nicht aushalten, mehr als ein paar Minuten in ihrer Nähe zu sein. Tammie Lees oberflächliche Anmut und ihr unaufrichtiger Südstaatencharme waren unerträglich, fand Jacqueline.

„Paul freut sich auf das Baby, stimmt’s?“

Jacqueline lehnte sich gegen den Tisch und nickte. „Er ist total begeistert“, antwortete sie. „Jedenfalls sagt er das …“

„Also, wo ist dann das Problem?“

„Er … er glaubt nicht, dass ich eine besonders gute Großmutter abgeben werde.“

Reese kniff die Augen zusammen. „Was hast du zu ihm gesagt?“

„Oh Reese“, sagte sie und fühlte sich schrecklich. „Ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe ihm vorgeworfen, dass diese Ehe ein schrecklicher Fehler ist und dass die Schwangerschaft alles nur noch viel schlimmer macht.“ Sie hatte angenommen, dass Paul in ein oder zwei Jahren seinen Fehler selbst einsehen und der Ehe ein anständiges Ende bereiten würde. Aber ein Kind veränderte die Situation natürlich grundlegend.

„Das hast du nicht wirklich zu Paul gesagt, oder?“ Er klang wütend, und das drängte sie nur noch weiter in die Defensive.

„Ich weiß, dass ich besser den Mund gehalten hätte. Aber kannst du mir einen Vorwurf daraus machen? Ich versuche mich gerade an den Gedanken zu gewöhnen, dass unser einziger Sohn mit einer Fremden auf und davon ist. Und im nächsten Moment überfällt er mich mit der Mitteilung, dass sie schwanger ist.“

„Es sollte eine freudige Nachricht sein.“

„Ist es aber nicht.“

„Für unseren Sohn und Tammie Lee schon.“

„Das ist auch so eine Sache“, rief sie aufgebracht. „Warum haben alle Mädchen aus dem Süden zwei Namen? Warum können wir sie nicht einfach Tammie nennen, ohne Lee?“

„So ist eben ihr Name.“

„Das ist lächerlich.“

Er sah sie an, als würde er sie in diesem Augenblick zum ersten Mal richtig wahrnehmen. „Warum bist du überhaupt so wütend?“

„Weil ich Angst habe, meinen Sohn zu verlieren.“ Paul und ihre enge Beziehung zu ihm waren ihr einziger Trost in einem Leben, das ihr ansonsten wenig Anlass zur Freude bot. Und nun hatte sie etwas Dummes getan und ihren Sohn verletzt.

„Ruf ihn an und entschuldige dich.“

„Das will ich ja“, sagte sie.

„Du könntest Tammie Lee auch einen Blumenstrauß schicken.“

„Werde ich.“ Trotzdem wäre es eine Geste Paul zuliebe, nicht seiner Frau.

„Warum gehst du nicht in den Blumenladen hier in der Blossom Street?“

Sie nickte. „Ich will aber noch mehr tun.“ Sie hoffte, mit ihrem Vorhaben ein Zeichen zu setzen. Vielleicht würde ihr Sohn dann erkennen, dass sie sich alle Mühe gab, seine Ehefrau wirklich zu akzeptieren.

„Was?“

„Ich habe im Schaufenster des Wollladens einen Aushang entdeckt. Ich werde mich für einen Strickkurs anmelden. Auf dem Aushang steht, dass das erste Projekt eine Babydecke sein wird.“

Reese zeigte selten, dass er etwas, was sie tat, guthieß. Die Wärme des Lächelns, das in diesem Moment über sein Gesicht huschte, ging ihr durch und durch.

„Ich mag vielleicht Tammie Lee nicht sonderlich. Aber ich werde alles tun, um eine gute Großmutter zu sein.“ Jemand musste schließlich für den richtigen Einfluss auf Pauls Kind sorgen. Sonst würde ihr Enkelkind am Ende mit eingelegten Gurken groß werden … oder womöglich auch mit diesem komischen Akzent durchs Leben gehen.

3. Kapitel

Carol Girard

Carol Girard hätte es nie für möglich gehalten, dass schwanger zu werden so schwierig sein könnte. Ihre Mutter hatte diesbezüglich offensichtlich keine Probleme gehabt – Carol und ihr Bruder Rick wurden im Abstand von zwei Jahren geboren.

Vor ihrer Hochzeit hatten Doug und Carol bereits davon gesprochen, eines Tages eine eigene Familie haben zu wollen. Wegen Carols anspruchsvollem und forderndem Job in einer angesehenen Immobilienfirma wollte Doug sichergehen, dass sie sich ebenso sehr nach einer Familie sehnte wie er. Er hatte sie gefragt, ob sie bereit wäre, ihre Karriere für einige Jahre zurückzustellen, um sich um die Kinder zu kümmern. Ihre Antwort war ein uneingeschränktes Ja. Babys hatten für sie immer dazugehört. Sie sah sich in ihren Träumen von der Zukunft stets als Mutter, und sie erachtete Kinder als einen wichtigen Teil ihres Lebens. Doug würde ein toller Vater sein, und sie liebte ihren Mann über alles. Sie wollte die Mutter seiner Kinder sein.

Während sie ihr Mittagessen in der Mikrowelle erhitzte, betrachtete sie versonnen die Küche ihrer Eigentumswohnung im sechzehnten Stock eines Hochhauses. Von hier aus hatte man einen einmaligen Blick auf die Bucht.

Carol hatte ihre Stelle vor nunmehr einem Monat gekündigt – und schon jetzt fühlte sie sich rastlos und ungeduldig. Sie hatte die Immobilienfirma verlassen, um ihrem Körper Ruhe zu gönnen. Er sollte sich von der täglichen Routine und dem Stress erholen. Doug hatte sie davon überzeugt, dass die Anspannung in ihrem Job der Grund war, warum sie bisher noch nicht schwanger geworden war. Ihr Gynäkologe hatte diese Möglichkeit bestätigt. Unzählige erniedrigende Tests, die Doug und sie über sich ergehen lassen mussten, hatten dann aber ergeben, dass neben ihrem fortgeschrittenen Alter von siebenunddreißig Jahren bei ihr eine körperliche Störung vorlag. Sie bildete Antikörper gegen das Sperma ihres Mannes.

Das Telefon klingelte. Bevor es zum zweiten Mal läutete, war sie bereits aufgesprungen und hatte sich schnell den Hörer geschnappt.

„Hallo“, sagte sie fröhlich und freute sich, endlich mit jemandem sprechen zu können – selbst wenn es nur ein Vertreter sein sollte.

„Hallo, Liebling! Ich habe mich gefragt, ob du wohl noch zu Hause bist.“

Sie erstarrte. „Sollte ich irgendwo anders sein?“

Doug lachte leise. „Ich dachte, du wolltest heute Nachmittag einen Spaziergang machen.“

Das war etwas, das von einem der zahllosen Bücher vorgeschlagen wurde, die sie lasen. Carol hatte daraufhin entschieden, dass sie sich körperlich mehr betätigen musste. Und da sie ja nun zu Hause war, hatte sie genügend Zeit, sich draußen an der frischen Luft zu bewegen. Das gehörte alles zu der Abmachung, die sie diskutiert und getroffen hatten, bevor sie ihren Job aufgab.

„Richtig. Ich wollte mich gerade fertig machen und losgehen.“ Sie warf einen Blick auf die Mikrowelle und drehte ihrem wartenden Essen den Rücken zu.

„Carol? Ist alles in Ordnung mit dir?“

Ihr Ehemann bemerkte ihre Stimmung, ihre Niedergeschlagenheit und Sorge. Doug hatte recht, als er ihr vorschlug, die Arbeit zu kündigen. Sie beide hatten Angst, denn es bestand die Möglichkeit, dass Carol niemals eine Schwangerschaft zu Ende bringen würde. Es half auch nicht, dass es noch die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung gab. Die Versicherung zahlte nur für drei Versuche – die ersten zwei waren bereits gescheitert. Künstliche Befruchtung oder IVF, In-vitro-Fertilisation, waren für sie der letzte Ausweg. Die letzte Hoffnung der beiden, doch noch ein leibliches Kind zu bekommen. Im Juli würde ihr letzter Versuch stattfinden. Danach mussten sie für die Kosten selbst aufkommen. Als sie darüber nachdachten, die Chance der künstlichen Befruchtung zu nutzen, hatten sie sich darauf geeinigt, nur diese drei Versuche zu wagen. Falls sie dann noch nicht schwanger wäre, würden sie mit dem Adoptionsverfahren beginnen. Und die emotionale Belastung der ersten fehlgeschlagenen Befruchtungen zeigte deutlich, dass sie beide diesen Druck nicht lange würden aushalten können. Zweimal war eine befruchtete Eizelle eingesetzt worden, und zweimal hatte Carol eine Fehlgeburt erlitten. Kein Paar dieser Welt konnte dieses Leid noch häufiger ertragen.

Carol und Doug redeten nicht darüber, dass diese künstliche Befruchtung ihre letzte Chance war. Aber der Gedanke daran beherrschte beide tief in ihrem Inneren. Es war so wichtig, dass sie schwanger wurde – und schwanger blieb.

Sie war bereit, alles dafür zu tun, was in ihrer Macht stand. Sie war bereit, ihren geliebten Job aufzugeben, bereit, während der unzähligen Tests malträtiert und erniedrigt zu werden. Sie war bereit, ihre Zweifel zu besiegen, alle emotionalen Höhen und Tiefen zu meistern – alles für das Baby. Dougs Baby.

„Ich liebe dich, mein Herz.“

„Ich weiß.“ Obwohl sie es scheinbar gedankenlos dahersagte, wusste sie es. Doug liebte sie. Er stand ihr während der gesamten schmerzhaften und langwierigen Prozedur zur Seite, ging mit ihr zu unterschiedlichen Ärzten, unterzog sich Tests, weinte mit ihr und ertrug gemeinsam mit ihr die Rückschläge, die Wut und die Trauer. „Eines Tages wirst du dein eigenes Kind in den Armen halten, und dann wissen wir beide, dass es all das wert war.“ Sie hatten sich sogar schon Namen für das Kind überlegt. Wenn es ein Junge wäre, sollte er Cameron heißen, und falls sie ein Mädchen bekämen, würden sie es Colleen nennen. Carol hatte manchmal das Gefühl, ihr Kind schon anschauen und spüren zu können. Sie wusste genau, wie es sich anfühlen würde, die Freude und den Stolz im Blick ihres Mannes zu sehen.

Diese Vorstellung ließ sie die schwierigen, belastenden Phasen der IVF leichter ertragen.

„Wann wirst du zu Hause sein?“ Früher hatte sie diese Frage nicht sonderlich interessiert, doch nun bestimmten seine Arbeitszeiten ihren Tagesablauf. Jeden Nachmittag warf sie sehnsüchtige Blicke auf die Uhr. Sie fragte sich, wie viele Stunden, Minuten noch vergehen würden, bis Doug endlich heimkam.

„So wie immer“, versprach er.

Ihr Ehemann, mit dem sie seit sieben Jahren verheiratet war, arbeitete als Antragsprüfer für eine Versicherung. Sie hatte in ihrem Job mehr verdient als er. Mit ihrem Gehalt konnten sie eine beträchtliche Anzahlung auf die Eigentumswohnung leisten, in der sie jetzt lebten. Als sie heirateten, hatte ihr kluger und bescheidener Mann darauf bestanden, ihren Lebensstandard so auszurichten, dass sie allein von seinem Gehalt leben konnten. Er befürchtete, dass sie sonst auf Carols Einkommen angewiesen sein würden. Der Plan, eine eigene Familie zu gründen, hätte sonst daran scheitern können. Nach ihrer Hochzeit warteten sie noch drei Jahre, um sich ein finanzielles Polster zu schaffen. Das sollte sich als eine gute Entscheidung entpuppen. Denn selbst mit der Unterstützung durch die Versicherung waren die Kosten für eine künstliche Befruchtung horrend.

„Habe ich schon mal erwähnt, wie furchtbar das Fernsehprogramm tagsüber ist?“, fragte sie.

„Dann schalte doch den Apparat aus und mach einen Spaziergang.“

„Jawohl, Sir“, erwiderte sie in einem gespielt unterwürfigen Ton.

Er lachte. „Bin ich wirklich so schlimm?“

„Nein. Es ist nur – nicht mehr zu arbeiten habe ich mir irgendwie ganz anders vorgestellt.“ Sie hatte nicht damit gerechnet, dass das Leben zu Hause endlose Stunden Langeweile bedeutete. Oder den verzweifelten Versuch, sich abzulenken, bis ihr Mann endlich wieder da war. Bisher hatte sie ständig an irgendwelchen Meetings teilgenommen oder schwerwiegende Entscheidungen getroffen. Sie war es gewohnt, immer unter Strom zu stehen. Allein zu Hause zu sein war eine völlig neue Erfahrung für sie – und keine, die sie genoss.

„Soll ich vielleicht später mit dir zusammen rausgehen?“

„Nein, alles okay. Du hast recht. Ich sollte kurz an die frische Luft. Es ist so ein wundervoller Nachmittag.“ Kein Fleckchen auf der Erde war schöner als Seattle, wenn die Sonne schien. Es war ein perfekter Maitag, und sie betrachtete versonnen die schneebedeckten Olympic Mountains in der Ferne und das blaugrüne Wasser der Puget-Sound-Bucht zu ihren Füßen.

„Ich sehe dich dann gegen halb sechs“, sagte er.

„Ich werde da sein.“ Bevor sie die Immobilienfirma verlassen hatte, war Doug immer als Erster zu Hause gewesen. Er hatte das Essen gekocht. Und er hatte den Fernseher angeschaltet, um die Lokalnachrichten zu verfolgen. Carol hatte keine Mühe gehabt, diese Rolle zu übernehmen. Nun war diese tägliche Routine einer der interessanteren Parts in ihrem Leben.

Sie stellte ihr Essen in den Kühlschrank und schnappte sich auf ihrem Weg nach draußen einen Apfel.

Carol nahm den Aufzug und fuhr runter ins Foyer des Gebäudes. Sie ging durch die Glastür und trat nach draußen auf den Bürgersteig. Während sie ihren Apfel aß, lief sie in Richtung Wasser.

Alle Kollegen im Büro hatten Carol gewarnt. Sie erzählten ihr, dass Frauen, die nicht arbeiteten – vor allem Mütter –, ständig mit ihrem Gewicht zu kämpfen hätten.

Viel in der Küche und stets mit Essen konfrontiert zu sein machte es unmöglich, schlank zu bleiben – das sagten jedenfalls ihre ehemaligen Mitarbeiter. Aber das war kein Problem für Carol. Nie zuvor hatte sie gesünder gegessen als im Moment. Die Ernährung war ein wichtiger Teil ihres Lebens, und sie schaffte es mühelos, ihre Kleidergröße zu halten.

Eine kühle Brise wehte vom Wasser herüber, als sie den vertrauten Weg entlangspazierte. Aus einer Laune heraus änderte sie die Richtung und stieg Pill Hill hinauf, wo sich das Virginia Mason Hospital und das Swedish Medical Center befanden. Sie war völlig außer Atem, als sie den steilen Anstieg hinaufgeklettert war. Langsam ging sie weiter und sah sich in der Gegend um, bis sie irgendwann in die Blossom Street einbog.

Einige der Häuser wurden gerade saniert. Die Straße war abgesperrt, aber den Bürgersteig konnte man benutzen. Auf der einen Seite der Blossom Street schienen die Bauarbeiten abgeschlossen zu sein: Die Fronten der Läden waren frisch gestrichen, und eine grün-weiß gestreifte Markise spendete einem Blumenladen Schatten. Tulpen und Lilien waren in großen Gefäßen vor der Eingangstür des Ladens arrangiert.

Trotz des Baustellenlärms schlenderte Carol die Straße entlang. Ein Videoladen und ein altes Apartmentgebäude bildeten das Ende des Blocks. Gegenüber entdeckte sie ein Bistro, Annies Café. Der Unterschied zwischen den bereits modernisierten Abschnitten der Straße und den alten Gebäuden war erstaunlich. Der ursprüngliche Teil erinnerte an eine malerische kleine Stadt mit freundlichen Händlern. So wie man sie aus Fernsehserien der 60er-Jahre kannte. Sicher, einige der Gebäude waren heruntergekommen, doch trotzdem wirkten sie einladend. Es war kaum zu glauben, dass die Blossom Street weniger als eine Meile vom Stadtzentrum Seattles mit seinen Hochhäusern und den überfüllten Straßen entfernt war.

Neben dem Blumenladen entdeckte Carol eine weitere Überraschung: einen Wollladen. Das Geschäft war neu. Ein Schild kündete von der „großen Eröffnung“. Eine Frau – sie schien in Carols Alter zu sein – saß in einem Schaukelstuhl und strickte. Ein Knäuel limonengrünes Garn lag in ihrem Schoß.

Weil sie nichts Besseres zu tun hatte, stieß Carol die Tür auf und betrat das Geschäft. Ein hübsches Glöckchen ertönte. „Hallo“, sagte sie und bemühte sich, fröhlich und neugierig zu klingen. Sie war sich nicht sicher, was sie dazu bewogen hatte, den Laden überhaupt zu betreten. Zumal sie nicht stricken konnte und an Kunsthandwerk noch nie sonderlich interessiert gewesen war.

Die zierliche Frau begrüßte sie mit einem schüchternen Lächeln. „Hallo und willkommen im A Good Yarn.“

„Sie sind neu hier, habe ich recht?“

Die Besitzerin nickte. „Gestern war die Eröffnung, und Sie sind heute Nachmittag meine erste Kundin.“ Sie lachte leise. „Eigentlich überhaupt die erste Kundin heute“, gab sie zu.

„Was stricken Sie da?“, fragte Carol und fühlte sich seltsam beschämt, weil sie im Grunde genommen keine wirkliche Kundin war.

„Einen Pullover für meine Nichte.“ Sie griff nach ihrem Strickzeug und hielt es Carol entgegen.

Die Farben – Limonengrün, Orange und Türkis – zauberten ein Lächeln auf Carols Gesicht. „Das gefällt mir.“

„Stricken Sie?“

Die Frage musste kommen. „Nein, aber ich würde es irgendwann gern einmal lernen.“

„Dann sind Sie bei mir genau richtig. Am nächsten Freitag beginnt ein Anfängerkurs. Wenn Sie sich dafür einschreiben, erhalten Sie einen Nachlass von zwanzig Prozent auf die Wolle.“

„Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich bin völlig unbegabt fürs Stricken.“ Carol spürte ehrliches Bedauern. Doch sie war nun einmal nicht der Mensch, der gern etwas mit seinen eigenen Händen herstellte. Zinseszinsen oder Jahreszinsen, Einlagen und Anlagefonds berechnen – dort lagen ihre Fähigkeiten und ihr Talent.

„Sie werden es nie wissen, wenn Sie es nicht ausprobieren. Ich bin übrigens Lydia.“

„Carol.“ Sie reichte ihr die Hand. Lydia legte ihr Strickzeug beiseite, um Carols Händedruck zu erwidern. Die junge Frau war klein und zierlich, ihr dunkles Haar trug sie kurz. Ihre klugen braunen Augen funkelten vergnügt, und Carol mochte sie auf Anhieb.

„Im Anfängerkurs beginne ich mit einem einfachen Projekt“, erklärte Lydia.

„Es müsste aber wirklich sehr leicht sein, wenn ich mit dem Stricken anfangen sollte.“

„Ich habe mir überlegt, dass jeder der Schüler eine Babydecke stricken sollte.“

Carol erstarrte, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie senkte den Kopf, bevor Lydia es bemerkte. Normalerweise war sie kein Mensch, der besonders empfindlich war. Aber durch den Aufruhr ihrer Hormone schienen ihre Emotionen hin und wieder außer Kontrolle zu geraten. Die ganze Situation war so seltsam, und doch schien es Schicksal zu sein.

„Vielleicht werde ich mich doch für den Kurs anmelden“, sagte sie und strich über ein Knäuel hellgelber Wolle.

„Das wäre wundervoll.“ Lydia ging zum Tresen hinüber und kehrte mit einem Klemmbrett zurück.

Im Augenblick suchte Carol überall nach Zeichen und Omen. Oft hielt sie Zwiesprache mit Gott. Ohne den geringsten Zweifel glaubte sie, dass sie zu diesem Lädchen geführt worden war. Es war Sein Weg, ihr zu zeigen, dass Er ihre Wünsche und Gebete bald erhören würde. Wenn sie sich diesem dritten und letzten IVF-Zyklus unterzog, würde es klappen. In naher Zukunft würde sie die Babydecke für ihr eigenes Kind benötigen.

4. Kapitel

Alix Townsend

Mit dem Absatz ihres kniehohen schwarzen Stiefels zertrat Alix Townsend den Zigarettenstummel, den sie soeben auf den rissigen Bürgersteig aus Beton geworfen hatte. Der Manager des Videoladens in der Blossom Street sah es nicht gern, wenn die Mitarbeiter im Pausenraum rauchten. Um sich seine Bemerkungen zu ersparen, zog sie es vor, draußen ihre Zigarettenpause zu machen. Der Kerl war ein Idiot, der andauernd und ununterbrochen über seine Angestellten, die Wirtschaftslage und das Leben im Allgemeinen nörgelte.

Ihr Chef hatte allerdings in einem Punkt recht: Die Bauarbeiten ruinierten langsam, aber sicher sein Geschäft. Alix glaubte, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die Kündigung wegen Personalabbaus erhalten würde. Und gleich anschließend die Benachrichtigung, dass ihr Apartmenthaus verkauft worden sei und dass sie aus ihrer Wohnung ausziehen müsse. Mit all den Sanierungsmaßnahmen, die in der Gegend stattfanden, war das praktisch unumgänglich. Entweder das – oder sie würde eine gewaltige Mieterhöhung erwarten können. Vielen Dank, Herr Bürgermeister.

Sie vergrub die Hände in den Taschen ihres schwarzen Ledermantels und blickte die Straße entlang auf den Staub und den Bauschutt. Sie trug ihren Ledermantel ständig – egal ob es regnete oder die Sonne schien, im Sommer wie im Winter. Dieser Mantel hatte sie eine Menge gekostet, und sie würde ihn ganz sicher nicht ausziehen, damit irgendjemand ihn ihr stehlen und damit abhauen könnte. Jemand wie ihre Mitbewohnerin zum Beispiel, die übergewichtige Laurel – obwohl Alix bezweifelte, dass ihre Klamotten Laurel passten. Lässig an die Mauer gelehnt, ein Knie angezogen und den Fuß gegen die Mauer gestützt, konzentrierte Alix sich auf die andere Straßenseite.

Sämtliche Ladenfronten waren frisch gestrichen. Der neue Blumenladen hatte, genau wie der Kosmetiksalon, bereits eröffnet. Diese Läden waren echt ein Segen für die Nachbarschaft – als ob sie jemals etwas in dem einen oder anderen Geschäft kaufen würde. Sie schnaubte verächtlich. Was in dem Laden, der sich zwischen den beiden anderen befand, angeboten wurde, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. A Good Yarn. Sie sah sich das Geschäft genauer an und entschied, dass es sich um einen Wollladen handeln musste. Die Menschen hier wirkten nicht so, als würden sie beim Anblick eines Wollknäuels in Begeisterungsstürme ausbrechen.

Ein Strickgeschäft eröffnete jedoch noch eine andere Möglichkeit … Da sie noch fünf Minuten Pause hatte, überquerte sie die Straße. Sie blinzelte durch das Fenster und entdeckte ein handgeschriebenes Schild, auf dem ein Strickkurs angekündigt wurde. Wenn sie anfinge zu stricken, würden die Behörden und das Gericht sie vielleicht endlich in Ruhe lassen – denn möglicherweise könnte sie auf diese Weise die gemeinnützigen Stunden abarbeiten, die der Richter ihr aufgebrummt hatte.

„Hi“, sagte sie laut, als sie durch die Eingangstür trat. Sie liebte große Auftritte.

„Hallo.“

Die Besitzerin war eine anmutige, zerbrechlich wirkende Frau mit ausdrucksstarken braunen Augen und einem offenen Lächeln.

„Gehört Ihnen der Laden?“, fragte Alix und musterte die andere Frau abschätzig. Sie konnte nicht viel älter sein als sie selbst.

„Das ist mein Geschäft.“ Sie erhob sich aus ihrem Schaukelstuhl. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich würde gern mehr über den Strickkurs erfahren.“ Ihr Sozialarbeiter hatte irgendwann einmal vorgeschlagen, Aggressionen mit einer Tätigkeit wie Stricken abzubauen. Vielleicht würde das tatsächlich funktionieren. Und wenn sie damit ihre gemeinnützigen Stunden ableisten konnte …

„Was soll ich Ihnen erzählen?“

Langsam schlenderte Alix durch den Laden, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Sie sah sich um. Wetten, dass die Stricklady nicht besonders viele Kunden hatte? Vor einiger Zeit hatte ein Aushang im Gericht Alix’ Aufmerksamkeit erregt – in dem Schreiben ging es um handgearbeitete Steppdecken und Wolldecken für Kinder, die zu Hause misshandelt worden waren. „Haben Sie schon einmal vom Linus-Projekt gehört?“, fragte sie, obwohl sie sich beinahe sicher war, dass diese Frau noch nie einen Fuß in ein Gerichtsgebäude gesetzt hatte.

„Natürlich.“ Die Frau faltete die Hände und folgte ihr durch den Laden. Es schien, als habe sie Angst, Alix könne versuchen, das ein oder andere Wollknäuel mitgehen zu lassen. „Das ist ein Projekt, das von der Polizei initiiert wurde. Es hat unter anderem zum Ziel, Decken für Kinder herzustellen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind.“

„Genau.“

„Ich bin übrigens Lydia.“

„Alix. A-L-I-X.“ Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Frau ihren Vornamen nennen würde. Aber gut.

„Hallo, Alix, und willkommen im A Good Yarn. Sind Sie daran interessiert, am Linus-Projekt teilzunehmen?“

„Also …“ Sie hatte noch nicht ernsthaft darüber nachgedacht. „Könnte ich machen, wenn ich wüsste, wie man strickt“, sagte sie schließlich leise.

„Aber dafür gebe ich den Kurs doch.“

Alix stieß ein kurzes bitteres Lachen aus. „Ich bin mir sicher, dass ich zum Stricken nicht tauge.“

„Würden Sie es denn gern lernen? Es ist wirklich nicht schwierig.“

Alix schnaubte verächtlich. Die Wahrheit sah so aus: Sie hatte keine Ahnung, warum sie überhaupt hier war. Vielleicht hatte irgendein Erinnerungsfetzen aus ihrer Kindheit – ein Gefühl, ein Moment – sie hier in diesen kleinen Laden geführt. Die frühen Jahre ihres Lebens waren aus ihrem Gedächtnis gestrichen, verbannt, einfach nicht mehr da. Die vom Gericht berufenen Ärzte hatten festgestellt, dass sie an frühkindlicher Amnesie litt. Wie auch immer. Ab und zu stahl sich eine Erinnerung in ihr Gedächtnis. Meist konnte sie jedoch nicht unterscheiden, ob etwas tatsächlich geschehen war oder nicht. Was sie allerdings noch genau wusste, war, dass ihre Eltern sich fast ständig gestritten hatten. Immer wenn es zu Auseinandersetzungen kam, versteckte Alix sich in einem Schlafzimmerschrank. Und wenn sie dann die Tür schloss und die Augen zumachte, war es beinahe so, als gäbe es kein Geschrei und keine Gewalt. In diesem Schrank existierte eine andere Familie. Eine Familie, die sie sich ausgedacht hatte. Die aus einer wunderbaren Welt stammte, in der Mütter und Väter sich liebten, nicht anschrien oder schlugen. In Alix’ Welt gab es ein richtiges Zuhause, in dem nicht der halbe Kühlschrank mit Bier gefüllt war. Dort warteten nach der Schule Milch und Kekse auf sie. Sie konnte sich daran erinnern, dass im Laufe der Jahre die Fantasiewelt für sie immer wichtiger geworden war. Ein Detail war, dass diese Fantasiemutter, die sie so liebte, gern strickte.

Alix war als kleines Kind ziemlich oft in den Schrank geflüchtet …

„Nächsten Freitagnachmittag startet ein Anfängerkurs – wenn Sie mögen?“

Die Worte rissen Alix aus ihren Träumereien. Sie grinste. „Und Sie glauben ernsthaft, dass Sie jemandem wie mir das Stricken beibringen können?“

„Aber selbstverständlich kann ich das“, erwiderte Lydia, ohne zu zögern. „Ich habe es bereits vielen Menschen gezeigt. Außerdem haben sich bisher erst zwei Frauen für den Kurs angemeldet. Also kann ich Ihnen genügend Aufmerksamkeit schenken.“

„Ich bin Linkshänderin.“

„Das ist kein Problem.“

Die Lady musste wirklich verzweifelt auf der Suche nach Kunden sein. Ausflüchte gab es genügend, und letzten Endes würde Lydia sie nicht zwingen können. Außerdem hatte Alix gar kein Geld für die Wolle, die sie benötigte, um stricken zu lernen.

„Was halten Sie davon, eine Decke für das Linus-Projekt zu stricken?“, fragte Lydia plötzlich.

Damit konnte sie sich Alix’ Aufmerksamkeit sicher sein.

Und Lydia ließ nicht locker. „Ich habe selbst einige Decken für das Projekt angefertigt“, erzählte sie.

„Tatsächlich?“ Diese junge Frau schien ein großes Herz zu haben.

Lydia nickte. „Und es gibt so viele Menschen, die es verdient haben, dass man im Zuge dieses Projektes für sie strickt.“

Menschen, die es verdient haben, dass man für sie strickt … Die Mutter in ihrer Fantasiewelt hatte gestrickt, ihr Lieder vorgesungen und nach Lavendel und anderen Blumen geduftet. Alix hatte sich immer gewünscht, eines Tages so wie diese Mutter zu werden. Der Weg, den ihr Leben dann aber nahm, hatte sie in eine andere Richtung geführt. Vielleicht war dieser Strickkurs etwas, das sie tun konnte – tun sollte.

„Ich denke, ich könnte es versuchen“, sagte sie und zuckte die Schultern. Sie würde bestimmt jede Menge Spott über sich ergehen lassen müssen, wenn Laurel, die auch im Videoladen arbeitete, das herausfand. Aber das war ihr egal. Ihr ganzes Leben hindurch war sie Zielscheibe von Spott und Häme gewesen.

Lydia schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Das ist wunderbar.“

„Wenn die Decke für das Linus-Projekt nicht so toll wird, macht das auch nichts. Es ist ja nicht so, dass irgendjemand wüsste, dass ich sie gestrickt habe.“

Lydias Lächeln erstarb. „Sie wissen es, Alix. Und das ist das Wichtigste.“

„Ja, aber … also, ich denke, wenn ich den Kurs mache, dann erfüllt das gleich einen doppelten Zweck.“ Das klingt gut, dachte Alix und war mit sich selbst zufrieden. „Ich könnte lernen, wie man strickt. Und die Zeit, die ich dafür benötige, wird mir auf die Strafe angerechnet, die ich noch ableisten muss.“

„Von was für einer Strafe reden Sie?“

„Richter Roper hat mir hundert Stunden gemeinnütziger Arbeit aufgebrummt – wegen einer Drogengeschichte. Ich war es aber nicht! Ich bin nicht blöd, und er weiß das.“ Ihre Hände verkrampften sich. Sie war immer noch wütend über die Anschuldigungen, denn das Marihuana hatte Laurel gehört. „Drogen nehmen ist dumm.“ Sie zögerte, dann stieß sie hervor: „Mein Bruder starb an einer Überdosis. Und ich bin nicht bereit, mein Leben jetzt schon wegzuwerfen.“

Lydia straffte die Schultern. „Lassen Sie mich das alles mal zusammenfassen, damit ich Sie richtig verstehe. Sie möchten sich für den Strickkurs einschreiben und die Decke dem Linus-Projekt spenden?“

„Richtig.“

„Und die Zeit, die Sie für die Fertigstellung brauchen …“, sie zögerte kurz, „… möchten Sie gegen die gemeinnützigen Stunden, die Sie vom Gericht als Strafe erhalten haben, aufrechnen?“

Alix glaubte zu spüren, dass Lydia gewisse Vorbehalte hegte. Sie klang schon deutlich reservierter. Aber diese Art von Reaktion auf ihre Person kannte Alix bereits. „Haben Sie ein Problem damit?“, fragte sie kühl.

Wieder zögerte Lydia kurz. „Eigentlich nicht, solange Sie respektvoll mit mir und den anderen Kursteilnehmern umgehen.“

„Klar, kein Problem.“ Alix blickte auf ihre Uhr. „Ich muss wieder an die Arbeit. Wenn Sie mich brauchen, ich bin fast immer im Videoladen.“

„Okay.“ Plötzlich klang Lydia nicht mehr so selbstsicher, wie sie zu Beginn der Unterhaltung gewirkt hatte.

Der Videoladen war voll, als Alix zurückkehrte. Sie huschte schnell hinter den Tresen.

„Wo hast du so lange gesteckt?“, fragte Laurel. „Der Chef hat schon nach dir gefragt, und ich hab erzählt, du wärst auf dem Klo verschwunden.“

„Entschuldige. Ich war draußen, um zu rauchen.“ Laut Arbeitsrecht hatte Alix Anspruch auf eine fünfzehnminütige Pause.

„Hast du einen von den Bauarbeitern getroffen?“

Alix schüttelte den Kopf, während sie zur Kasse ging. „Keinen einzigen. Vier Uhr nachmittags, und die Typen sind schneller weg als ’ne Rakete.“

„Wir sollten auch eine Gewerkschaft haben“, flüsterte Laurel ihr zu.

„Und anständige Sozialleistungen erhalten“, sagte Alix.

Eines Tages würde sie einen Job finden, in dem sie nicht nur den Mindestlohn erhielt. Es wäre schön, wenn sie eine Wohnung für sich allein hätte – eine Wohnung, die sie nicht mit Laurel teilen musste. Ihre Mitbewohnerin lebte am Rande des Abgrunds und war ständig in Gefahr, abzustürzen. Und Alix’ größte Angst war es, dass Laurel sie bei diesem Absturz mit sich reißen würde.

5. Kapitel

„Wenn du linke und rechte Maschen stricken und Anweisungen befolgen kannst, kannst du alles schaffen.“

(Linda Johnson, Linda‘s Knit ‚N‘ Stitch,

Silverdale, Washington)

Lydia Hoffman

Ich hatte Angst, dass Margaret recht behalten und A Good Yarn untergehen könnte. Und das, bevor es überhaupt richtig losgegangen war. Bisher waren erst drei Frauen für den Strickkurs angemeldet. Und Alix, die letzte, die sich eingeschrieben hatte, sah aus wie eine Schwerverbrecherin. Ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, was Jacqueline und Carol zu einer Kursteilnehmerin sagen würden, die ein Hundehalsband trug und deren Haare in lila gefärbten Stacheln vom Kopf abstanden. Ich hatte Alix dazu ermutigt, teilzunehmen. Doch schon in dem Moment, als sie den Laden wieder verließ, fragte ich mich, ob ich das Richtige tat. Was hatte ich mir dabei gedacht?

Der Baulärm war mittlerweile nicht mehr ganz so störend, was eine ungemeine Erleichterung war. Trotzdem kamen nicht mehr Kunden in mein Geschäft. Das einzig Gute daran war, dass ich seit Langem einmal wieder Zeit und Ruhe fand, um ungestört zu stricken. Ich hätte dankbar für das sein sollen, was ich bereits erreicht hatte. Doch die fehlende Kundschaft bereitete mir echte Sorgen.

Jeder, mit dem ich mich über die Eröffnung des Ladens unterhielt, riet mir, genug Geld in der Hinterhand zu haben. Ich sollte für mindestens sechs Monate die Kosten decken können. Das hatte ich auch – trotzdem hoffte und betete ich, dass ich einen Teil meines Erbes unberührt lassen konnte. Und jetzt, da ich den Schritt gewagt hatte, überfielen mich immer häufiger tiefe Zweifel.

Margaret gelang es jedes Mal, mich völlig zu verunsichern. Ich wünschte, ich würde meine Schwester verstehen. Manchmal glaubte ich, sie hasste mich. Und ein Teil von mir erkannte das Problem: Mom und Dad hatten mir ihre gesamte Aufmerksamkeit geschenkt – aber ich hatte sie damals auch gebraucht. Ich weigerte mich zu glauben, dass meine Schwester ernsthaft dachte, ich wäre so hungrig nach Zuwendung gewesen, dass ich den Krebs heraufbeschworen hatte.

Ich hatte mich immer danach gesehnt, gesund und normal zu sein. Bis heute erschien mir mein Leben so, als würde ich unter einer Gewitterwolke stehen und ständig mit der Angst leben müssen, dass der Blitz wieder einschlägt. Konnte meine einzige Schwester mich nicht einfach verstehen und unterstützen?

Am Mittwochmorgen saß ich in meinem Schaukelstuhl und strickte ein Paar Socken für meine Auslage, als plötzlich das Glöckchen an der Ladentür bimmelte. Erwartungsvoll lächelnd sprang ich auf. Ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ein Kunde und möglicher Kursteilnehmer könne den Laden betreten.

„Hallo.“ Ein UPS-Fahrer mit einem Handwagen, der einen Meter fünfzig hoch mit Kisten beladen war, kam ins Geschäft. „Ich beliefere regelmäßig die Nachbarschaft und dachte, ich stelle mich einmal persönlich vor.“ Er stellte die Karre ab und streckte mir die Hand entgegen. „Brad Goetz.“

„Ich bin Lydia Hoffman.“ Wir schüttelten uns die Hände.

Er reichte mir ein elektronisches Clipboard, damit ich die Sendung abzeichnen konnte. „Wie läuft es denn so?“

„Es ist erst meine zweite Woche“, antwortete ich ausweichend. Ich wollte nicht zugeben, wie schleppend das Geschäft bisher anlief.

„Die Bauarbeiten sind sicherlich bald abgeschlossen. Und dann werden die Kunden in Scharen zu Ihnen kommen.“ Er lächelte. Ich fühlte mich mit einem Mal getröstet und – so überraschend es war – auch zu ihm hingezogen. Mir fehlten Ermutigung und Anerkennung so sehr, dass das ein wohl nur allzu normales Verhalten war. Dieses besondere Gefühl hatte ich schon lange nicht mehr empfunden. Heimlich warf ich einen Blick auf seinen Ringfinger und konnte zu meiner Erleichterung keinen Ehering entdecken.

Es ist eine Schande, es zuzugeben, aber meine sexuellen Erfahrungen beschränken sich auf einige unbeholfene Versuche auf dem Rücksitz des Wagens meiner Collegeliebe. Roger war während der zweiten Gehirnoperation an meiner Seite. Aber seine Anrufe und Besuche wurden weniger, nachdem ich die Chemotherapie begonnen hatte und mir alle Haare ausgefallen waren. Glatzköpfige Frauen sind nicht besonders attraktiv, auch wenn Roger das Gegenteil behauptete. Ich denke, es hing damit zusammen, dass er die Beziehung mit mir als zum Scheitern verurteilt ansah. Ich war schließlich eine Frau, die jederzeit sterben konnte. Jemand, der seine emotionale Investition möglicherweise niemals zurückzahlen konnte. Roger war eben ein Student der Wirtschaftswissenschaften.

Mein Freund auf der Highschool hieß Brian. Er reagierte damals ganz ähnlich wie Roger. Eine gewisse Zeit hielt er es noch mit mir aus, dann irgendwann verschwand auch er … Ich mache keinem von beiden einen Vorwurf daraus.

Meine Trennung von Brian – und später von Roger – war unumgänglich. Nach Roger gab es noch ein paar kleinere Affären, aber die waren meist nicht der Rede wert.

Diese Erfahrungen hätten mich lehren müssen, dass die meisten Männer keine romantischen Gefühle für eine zweimalige Krebspatientin hegen. Ohne wie eine Märtyrerin klingen zu wollen … ich verstehe, wie sie sich fühlen mussten. Warum sollte man sich emotional an eine Frau binden, die wahrscheinlich sowieso sterben wird? Ich weiß nicht einmal, ob ich Kinder bekommen kann – oder überhaupt sollte. Darüber denke ich nicht gern nach.

„Meine Großmutter hat gestrickt“, sagte Brad. „Ich habe gehört, dass Stricken in den letzten Jahren wieder in Mode gekommen ist.“

Die Entwicklung hält schon länger an, dachte ich, korrigierte ihn aber nicht. Verdammt, er sah wirklich gut aus, besonders wenn er lächelte – und das schien er oft zu tun. Seine Augen waren dunkelblau. In ihnen lag ein intensiver Ausdruck. Er war nicht übermäßig groß, was mir ebenfalls gut gefiel. Ich bin gerade einmal eins dreiundsechzig. Und wenn ich neben jemandem stehe, der mich um einiges überragt, ist das schon ziemlich beängstigend. Brad war genau richtig – und genau das war das Problem. Ich wollte nicht sehen, wie jungenhaft zerzaust sein dunkles Haar über seine Stirn fiel oder wie die dunkelbraune Uniform seine breiten Schultern noch mehr zur Geltung brachte. Aber ich sah all diese Dinge … und noch mehr.

„Was stricken Sie?“, fragte er und deutete auf mein Strickzeug. Er wartete meine Antwort nicht ab. „Socken?“

„Das stimmt.“

„Aber Sie benutzen nur zwei Nadeln. Als Großmutter Socken strickte, hatte sie ungefähr ein halbes Dutzend davon in Gebrauch.“

„Dies sind Rundstricknadeln. Das ist eine etwas modernere Art zu stricken“, erklärte ich und hielt ihm meine halb fertige Arbeit entgegen.

Er berührte den Wollfaden und wirkte beeindruckt. „Stricken Sie schon lange?“

„Seit fast zehn Jahren.“

„Sie sehen so jung aus, als hätten Sie noch nicht einmal die Highschool abgeschlossen. Geschweige denn, als hätten Sie ein eigenes Geschäft.“

Das höre ich häufiger. Ich lächelte freundlich. Aber im Grunde ist das für mich kein Kompliment.

„Ich denke, ich mache mich mal wieder an die Arbeit“, sagte Brad, als er merkte, dass die Unterhaltung stockte. Ich hätte nichts dagegen gehabt, noch ein paar Minuten lang mit ihm zu plaudern. Doch er musste sicher einen Zeitplan einhalten. Ich ja gewissermaßen auch. Außerdem war ich noch nie gut im Flirten.

„Bevor ich gehe … kann ich Ihnen die Kisten noch irgendwohin räumen? Sie sind schwerer, als sie aussehen.“

„Das schaffe ich schon allein. Aber danke.“ Ich war von Brads freundlichem Auftreten so verwirrt, dass ich erst jetzt wahrnahm, dass er mir neue Wolle geliefert hatte. Ein Vorteil meines eigenen Ladens lag darin, dass ich die Garne zum Einkaufspreis bekam. Da ich nicht sicher war, was meine Kundschaft bevorzugen würde, hatte ich einfach ganz unterschiedliche Garne bestellt. Meine erste Bestellung hatte aus hochwertiger Wolle in zwei Dutzend verschiedenen Farben bestanden. Wolle war ein Muss, besonders, weil das Filzen sich großer Beliebtheit erfreute. Beim Filzen strickt man ein überformatiges Muster. Das fertige Projekt wird anschließend in heißes Wasser gelegt, wobei es einläuft und am Ende die Konsistenz von Filz bekommt. Als Nächstes wollte ich die Baumwollgarne bestellen. Diese Garne gehörten zu meinen Lieblingsmaterialien. Der größte Teil meiner Lieferung war bereits vor der Eröffnung des Ladens gekommen, der Rest wurde nach und nach gebracht.

„Wohnen Sie auch hier in der Gegend?“, fragte Brad, schob das Clipboard unter seinen Arm und streckte die Hände nach der leeren Karre aus.

„Ich habe ein Apartment über dem Geschäft.“

„Das ist praktisch. Hier einen Parkplatz zu finden grenzt nämlich fast an ein Wunder.“

Als ob ich das nicht wüsste. Ich fragte mich, wo er seinen Lieferwagen abgestellt hatte – wahrscheinlich ein ganz schönes Stück von meinem Laden entfernt. Meine Kundschaft musste ebenfalls mit der Parksituation kämpfen. Viele Kunden würden gezwungen sein, ein bis zwei Blocks entfernt zu parken. Ich hatte Bedenken, ob sie bereit wären, diese Unannehmlichkeit auf sich zu nehmen. Zwar gab es hinter dem Laden eine kleine Seitenstraße, doch dort würde ich mich nicht allein aufhalten wollen – egal ob bei Tag oder bei Nacht.

„Danke, Brad“, sagte ich und hielt ihm die Tür auf.

Er winkte mir noch einmal zu, bevor er verschwand. Für einen Moment schien es, als habe sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Ich kannte das Gefühl: Es war Bedauern, das in Selbstmitleid umzuschlagen drohte. Aber das hier ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, schalt ich mich. Wenn ich mich selbst bemitleidete, musste ich eine Eric-Clapton-CD hören und ein oder zwei traurige Filme anschauen. Eiscreme konnte auch helfen – aber das nur in besonders schlimmen Fällen.

Es gab im Grunde nichts, das mich davon abhielt, eine neue Beziehung einzugehen. Nichts als meine eigenen Ängste. Du meine Güte, ich war dreißig! Okay, wenn ich ehrlich war, hatte ich Angst davor, mich zu verlieben. Ich wusste, dass die Beziehung scheitern würde. Ich habe es ja wirklich versucht, aber immer, wenn ich zugab, nicht nur ein-, sondern zweimal an Krebs erkrankt gewesen zu sein, konnte ich es in den Augen der Männer lesen.

Diesen Blick hasse ich am allermeisten – es ist eine Mischung aus Mitleid und Bedauern, aus Enttäuschung und Sympathie.

Oft kam die Veränderung schlagartig. Ich wusste dann, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Beziehung zerbrechen würde. Und mit ihr meine Hoffnungen auf das, wonach sich wohl jede Frau sehnt – Mann und Kinder. Eine eigene Familie.

Zugegeben, es hörte sich an, als würde ich in Selbstmitleid versinken. Und in der Tat, das Thema Männer oder Beziehungen war mein wunder Punkt. Ich tat mein Bestes, um nicht zu viel darüber nachzudenken. Schließlich gab es so vieles, für das ich dankbar war. Und um nicht vollends verrückt zu werden, konzentrierte ich mich eher darauf und vermied es, über mein Liebesleben nachzudenken.

Um es ganz einfach zu formulieren: Ich pflegte meine Freundschaften oder Beziehungen nicht besonders gut.

Bevor ich erkrankte, war das anders. Damals war ich beliebt und offen, hatte jede Menge Freunde. Mit der Krankheit verschwanden alle Jungs irgendwann aus meinem Leben. Und ich selbst stieß meine Freundinnen von mir weg, vertrieb sie. Das war dumm, das wusste ich. Doch ich konnte es nicht länger ertragen, zu hören, wie viel Spaß sie hatten. Zurückblickend weiß ich, dass ich neidisch war. Ich wollte so gern so sein wie sie, wollte lachen, die Nacht durchquatschen, jemandem meine Geheimnisse anvertrauen. Dates haben und das Leben entdecken. Aber stattdessen war mein Alltag bestimmt von Ärzten, Krankenhäusern und neuen Therapien.

Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie viel mir der Krebs genommen hatte. Fakt war, dass ich keine guten Freunde hatte. Ich befürchtete, die Gabe, Freunde zu gewinnen, möglicherweise verloren zu haben.

Die Gedanken an Brad Goetz vertrieb ich also aus meinem Kopf.

Gerade hatte ich damit begonnen, die Kisten auszuräumen und meine Wolle zu begutachten, da sah ich aus dem Augenwinkel einen Schatten an meinem Schaufenster vorbeihuschen. Brad. Und trotz meiner Entscheidung, mich nicht noch einmal auf eine Beziehung einzulassen, reckte ich den Hals, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Ein Lächeln überflog mein Gesicht, als er die Tür zu meinem Laden aufstieß.

„Lydia, haben Sie nach der Arbeit schon etwas vor?“

Zu meiner Überraschung fühlte sich mein Mund mit einem Mal ganz trocken an. „Etwas vor?“, wiederholte ich lahm.

„Ich weiß, es kommt etwas kurzfristig. Aber kann ich Sie vielleicht zum Essen einladen?“

Wieder zögerte ich, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sofort Ja zu rufen, und dem Wissen, dass ich früher oder später mit nichts als Trauer und Reue zurückbleiben würde.

„Tut mir leid“, sagte ich und hoffte, den richtigen Tonfall getroffen zu haben. „Aber für heute Abend habe ich schon Pläne.“ Dass ich vorhatte, die Ferse der Socke zu Ende zu stricken, verschwieg ich tunlichst. Das musste er nicht unbedingt wissen.

„Und was ist mit morgen? Mein Sohn ist die nächsten beiden Nächte bei meiner Exfrau, und ich dachte, wir könnten vielleicht zusammen …“

Bevor ich der Versuchung nachgab, schüttelte ich den Kopf. „Tut mir leid, ich kann nicht.“

Brads Lächeln erstarb. Wahrscheinlich kam es nicht so oft vor, dass eine Frau ihm einen Korb gab. „Bis bald.“

„Ja“, erwiderte ich leise und umklammerte ein Knäuel hellgelber Wolle. „Bis bald.“

6. Kapitel

Jacqueline Donovan

Jacqueline hatte sich ein Schaumbad eingelassen. Sie lag entspannt in der Badewanne und wollte sich gerade ihrem neuesten Krimi widmen, als ein Geräusch an der Haustür sie aufhorchen ließ. Normalerweise kam Reese dienstags erst spätabends nach Hause, wenn sie längst im Bett lag. Eine Zeit lang hatten seine Abwesenheit und die nicht enden wollenden Vermutungen, wo er sein könnte, sie unglücklich gemacht. Eine Ehefrau redete mit ihrem Ehemann nun einmal nicht über die Geliebte. So hatte Jacquelines Vorstellungskraft genügend Raum gehabt, die seltsamsten Blüten zu treiben. Schon vor Jahren hatte sie dann schließlich akzeptiert, dass ihr Mann eine andere Frau traf. Einige sogenannte Freunde hatten sie mit Vergnügen wissen lassen, dass Reese mit einer unbekannten Blonden gesehen wurde. Ein Blick auf seine Schecks und die Belege der Kreditkarte hatten den Verdacht bestätigt.

Eine Blondine. Männer waren so berechenbar.

Sie hatte sich entschlossen, wegzuschauen, und tat so, als sei in ihrer Ehe und ihrem Leben alles in Ordnung. Das hieß allerdings nicht, dass deshalb das Wissen um die Existenz dieser blonden Frau weniger wehtat. Reeses, Betrug traf sie tief. Aber Jacqueline war reif genug, um diesem unerfreulichen Umstand nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Zu ihr war ihr Mann schon seit Jahren nicht mehr ins Bett gekommen. Was sie betraf, sollte er seine Geliebte haben.

Die getrennten Schlafzimmer waren allerdings eine beiderseitige Entscheidung gewesen. Schon früh in ihrer Ehe hatte sie den Stammhalter zur Welt gebracht, und nach einer angemessenen Wartezeit von zwei Jahren hatten die beiden noch einmal einen Versuch gestartet, ein Kind zu bekommen. Aber nach zwei späten Fehlgeburten und den damit einhergehenden Depressionen hatte Jacqueline die Hoffnung auf ein weiteres Kind aufgegeben.

Viel zu schnell war Paul erwachsen geworden. Beinahe über Nacht – so fühlte es sich jedenfalls an – war er alt genug, das Elternhaus zu verlassen und zum College zu gehen. Als ihr Sohn in ein Wohnheim zog, hatte Jacqueline vorgeschlagen, Reese könne das leer stehende Zimmer zu seinem machen. Und schon am nächsten Tag siedelte er mit all seinen Sachen in das Zimmer um. Sie war ein bisschen traurig, weil er so prompt reagiert hatte. Aber andererseits war sie auch erleichtert.

Wenn sie ehrlich sein sollte, war Sex für sie mittlerweile ein Akt des Eindringens, des Einbruchs in ihren persönlichen Bereich. Das Liebemachen war früher etwas anderes gewesen, vor allem am Anfang ihrer Beziehung. Und auch nach Pauls Geburt noch für eine Weile. Sie war sich sicher, dass alles ganz anders gekommen wäre, wenn sie ein zweites Kind bekommen hätten. Sie hatte sich immer eine Tochter gewünscht, aber das hatte eben nicht geklappt. Wenn sie über die letzten zwanzig Jahre nachdachte, war ihr klar, dass ihr dürftiges Liebesleben damit zusammenhing, dass sie Angst hatte und auch Schuld empfand. Doch das war nun egal, es machte keinen Unterschied mehr. Und sie hatte keine Lust, sich in psychologische Behandlung zu begeben, um herauszufinden, woran das genau lag.

Keine Tochter zu haben bedauerte Jacqueline bis zum heutigen Tag. Reese hatte ihr immer gesagt, dass sie eine Tochter bekommen würde, wenn Paul heiratete.

Und das sollte ein Trost sein!

Unwillkürlich zuckte Jacqueline zusammen. Tammie Lee war so weit von ihrem Idealbild einer Tochter entfernt, dass es sich nicht einmal lohnte, näher über eine solche Möglichkeit nachzudenken.

„Jacquie, bist du zu Hause?“, ertönte Reeses Stimme aus dem Flur, der zu ihren Schlafzimmern führte.

„Ich nehme ein Bad“, rief sie zurück und legte ihr Buch beiseite. Es war gerade kurz nach sieben Uhr, und ihr Mann war ungewöhnlich früh zu Hause. Möglicherweise war sein Interesse an der anderen Frau abgeflaut. Das duftende Wasser und der Badeschaum spritzten, als sie aufstand. Sie fragte sich, ob vielleicht etwas nicht stimmte, weil ihr Mann schon zu Hause war. Nur was? Sie zog ein flauschiges Badetuch von der Heizung. „Ist alles in Ordnung?“

Reese klopfte an die Badezimmertür und kam, ohne eine Antwort abzuwarten, hinein. Er riss die Augen auf, als er sie, atemlos und rosig und mit nichts als einem Badetuch bedeckt, in der Wanne vor sich stehen sah.

„Was machst du hier?“, stieß sie hervor, verwirrt, weil er plötzlich vor ihr stand und sie fast nackt war. Früher war ihr Körper schlank und reizend gewesen, aber auch an Jacqueline war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Ihre Bauchmuskeln waren nicht mehr so straff, und ihre Brüste waren die einer Fünfzigjährigen. Sie zog das Badetuch fester um ihren Körper.

„Willst du mich etwa auch noch aus dem Badezimmer vertreiben?“

„Ich wäre nur beim Baden gern allein.“

Für einen Moment wirkte sein Blick kalt, bevor er ganz ruhig sagte: „Ich möchte bitte ein paar Minuten mit dir sprechen, wenn du Zeit hast.“

„Natürlich“, murmelte sie.

Er verließ das Bad und schloss die Tür hinter sich.

Als Jacqueline aus der Wanne stieg, merkte sie, dass sie zitterte. Sie stützte sich mit einer Hand auf dem Waschbecken ab. Dann atmete sie tief durch, um sich zu sammeln. Langsam trocknete sie sich ab und schlüpfte in ihr Satinnachthemd und den dazu passenden Morgenmantel. Sie blickte in den größtenteils beschlagenen Spiegel, wartete einen Augenblick, um ihr pochendes Herz zu beruhigen, und ging dann hinaus, um ihren Mann zu suchen.

Sie fand ihn in der Küche. Er stand vor dem geöffneten Kühlschrank und hielt eine Box mit Essen in der Hand, das sie vor zwei Tagen mitgebracht hatte. Sie kochte nicht mehr selbst, zumal Martha, die Haushälterin, diese Aufgabe gern übernahm. Jacqueline war froh, dass sie sich nicht länger mit den Vorbereitungen für die Mahlzeiten herumschlagen musste. So konnte sie sich besser ihren Verpflichtungen widmen. Reese aß meistens allein, weil er oft bis spätabends im Büro saß. Das behauptete er jedenfalls.

„Was ist los?“

Er antwortete nicht. Stattdessen öffnete er die Schachtel und untersuchte, was von dem Caesar-Salat mit Shrimps noch übrig war. Offenbar sagte ihm nicht zu, was er sah. Denn er verschloss den Karton wieder und stellte ihn zurück in den Kühlschrank. „Haben wir Eier?“

„Ich denke schon“, erwiderte sie und trat zwischen ihn und die Kühlschranktür. „Soll ich dir vielleicht ein Omelett machen?“

„Würdest du das tun?“ Ihr Angebot überraschte ihn.

Ein bisschen verärgert nahm Jacqueline den Eierkarton aus dem Kühlschrank und griff nach einem Stück Käse.

„Was machst du schon zu Hause?“, fragte sie. Wenn sie schon für ihn kochte, konnte er wenigstens ihre Fragen beantworten.

Er setzte sich auf einen Barhocker und beobachtete Jacqueline, die gerade eine kleine Bratpfanne hervorholte und sie auf den Herd stellte. „Haben wir Pilze?“

„Nein. Und jetzt beantworte meine Frage.“

Er seufzte tief.

„Gut. Dann erzähl’s mir eben nicht“, murmelte sie und wandte sich ab. Sie durchsuchte den Gemüsebehälter, fand eine grüne Paprika, eine halbe Zwiebel und eine Zucchini, die allerdings schon ein bisschen fragwürdig aussah und deshalb umgehend in den Mülleimer wanderte.

„Du hast Paul und Tammie Lee einen Blumenstrauß geschickt, stimmt’s?“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich das tun würde“, entgegnete sie ärgerlich. Sie war es nicht gewohnt, ihrem Mann zu erklären, was sie tat. Seit wann musste sie ihm Rechenschaft ablegen? Außerdem hasste sie es, wie er wegen ihrer Schwiegertochter an ihr herumnörgelte.

„Hast du etwas von Paul gehört?“

Sie kniff die Lippen zusammen und versuchte sich ihren Missmut nicht anmerken zu lassen. „Nein, aber Tammie Lee hat angerufen, um sich für die Rosen zu bedanken“, erwiderte sie bitter. Ihre Schwiegertochter war vor Freude fast übergeschäumt und hatte wild drauflosgeplappert, als hätte sie noch nie zuvor in ihrem Leben ein Dutzend rote Rosen gesehen.

„Ist das alles, was sie gesagt hat?“

„Hätte sie mehr sagen sollen?“, erwiderte sie. Jacqueline mochte diese Art Befragung nicht, und sie wollte ihn das spüren lassen.

Reese blickte zur Seite. „Ich habe keine Ahnung. Du bist doch diejenige, die mit ihr gesprochen hat.“

„Sie hat mir erzählt, wie sehr sie sich freut, schwanger zu sein. Und sie sagt, für sie kam die Schwangerschaft völlig überraschend.“ Sie konnte es kaum erwarten, zu hören, was ihre Countryclub-Freunde dazu sagen würden, dass Tammie Lee ein Kind erwartete. Jeder kannte Jacquelines Gefühle für ihre Schwiegertochter und ihre Hoffnung, dass Paul eines Tages seinen Fehler einsehen würde.

„Ich glaube, sie hat es darauf angelegt“, stieß sie wutschnaubend hervor. Tammie Lee wusste genau, was sie tat. Dieses Baby war kein Unfall.

„Es ist Pauls Leben.“

„Müssen wir dieselbe ermüdende Diskussion immer und immer wieder führen?“ Die Pfanne war mittlerweile heiß genug, sodass sie ein Stück Butter zergehen lassen und das Gemüse darin anschmoren konnte. Als würde sie ihren ganzen Zorn an den wehrlosen Eiern auslassen, schlug sie drei Stück auf und verrührte sie anschließend zu einer schaumigen Masse.

„Hast du dich für den Strickkurs eingeschrieben?“

Ihr Mann hatte offenbar jede Menge Fragen. Doch sie konzentrierte sich lieber aufs Kochen, statt zu antworten. Ihr entging nicht, wie verschlossen er war, wenn die Sprache auf ihn kam. Und sie fragte sich, wie er reagieren würde, wenn sie ihn plötzlich so löchern würde. Zum Beispiel, warum er um diese Uhrzeit zu Hause war, obwohl er doch eigentlich bei seiner Geliebten sein sollte. Oder warum es ihn mit einem Mal so interessierte, was Jacqueline tat. Aber sie entschied sich, ihn nicht zu fragen.

Sie rechnete damit, dass er sauer sein würde, weil sie nicht antwortete. Doch stattdessen lachte er.

„Was ist so lustig?“

„Du. Ich kann mir dich einfach nicht mit einem Paar Stricknadeln in der Hand vorstellen.“

Sie entschloss sich, auch diese Bemerkung zu ignorieren. Sie würde ihm auf keinen Fall den Gefallen tun, ihm zu zeigen, wie sehr er sie ärgerte.

„Du siehst nicht im Entferntesten wie eine typische Großmutter aus – vor allem nicht vorhin, als du aus der Badewanne kamst. Du sahst so hübsch aus.“

Auch diese Worte kommentierte sie nicht. Sie gab die geschlagenen Eier in die Pfanne mit dem angebratenen Gemüse und fügte etwas geriebenen Käse hinzu. Geschickt löste sie die Ecken des Omelettes und wendete es. Als die Eier so waren, wie er sie am liebsten mochte, ließ sie das Omelett aus der Pfanne auf einen Teller gleiten und reichte diesen ihrem Mann.

Seine Augen begannen zu leuchten.

„Du hast mir noch immer nicht verraten, warum du jetzt schon zu Hause bist.“ Er hatte sich bereits einmal geweigert, ihr zu antworten. Sie fragte sich, ob er es wieder tun würde.

„Ich hatte Hunger“, sagte er nur und widmete sich dem Omelett.

Was auch immer in Wirklichkeit geschehen war – Reese hatte offensichtlich keine Lust, mit ihr darüber zu reden. Sie beobachtete ihn einen Moment lang und sagte dann: „Ich gehe ins Bett und lese noch etwas.“

Sie stellte die benutzte Pfanne in die Spüle, damit Martha sie am nächsten Morgen abwaschen konnte. Dann machte sie sich auf den Weg in ihr Schlafzimmer.

Reese sagte nichts mehr, bis sie schon fast an der Tür war. „Jacquie?“

„Was ist?“, fragte sie und seufzte leise.

„Danke, dass du mir etwas zu essen gemacht hast.“

Abermals seufzte sie und schüttelte langsam den Kopf. „Gern geschehen.“

Im Schlafzimmer angekommen, zog sie ihren Morgenmantel aus und setzte sich auf die Kante ihres großen Bettes, das mit unzähligen Kissen dekoriert war. Versonnen strich sie mit der Hand über die mit Spitzen verzierte Tagesdecke. Sie schlug die Bettdecke zurück, schlüpfte zwischen die kühlen Laken und ordnete die Kissen in ihrem Rücken so, dass sie aufrecht sitzen und lesen konnte.

Weit entfernt hörte sie, wie Reese seinen Teller in die Spülmaschine räumte. Danach stellte er den Fernseher im Wohnzimmer an. Gerade als sie sich über die Lautstärke beschweren wollte, drehte er den Ton leiser.

Jacqueline las noch ungefähr zehn Minuten, bis ihr plötzlich Tränen den Blick verschleierten. Sie verstand nicht, warum sie weinte. Langsam beugte sie sich zum Nachttisch und zog ein Taschentuch hervor.

Sie weinte, weil alles auf einmal geschah. So jedenfalls erklärte sie es sich. Diese Schwangerschaft zur falschen Zeit, der schlimme Streit mit Paul und Reese, der an diesem Abend so unerwartet zu Hause war. Ihr Leben war das reinste Durcheinander. Sie war die Witzfigur in ihrem Freundeskreis, schoss es ihr durch den Kopf. Mrs. Donovan und ihre Schwiegertochter aus den Südstaaten. Ihre schwangere Schwiegertochter, ihr vor Liebe erblindeter Sohn und ihr Ehemann, der in fremden Betten herumstreunte.

Trotzdem würde sie Reese und Paul beweisen, dass sie eine gute Großmutter sein würde – und wenn es das Letzte war, was sie tat.

7. Kapitel

Carol Girard

Carol war gut gelaunt, als sie am Donnerstagabend das Essen vorbereitete. Doug würde jeden Moment nach Hause kommen, und sie hatte einige gute Neuigkeiten zu berichten. Nachdem sie das Hühnerbrustfilet in kleine Stücke geschnitten hatte, träufelte sie Sojasoße über das rohe Fleisch, um es zu marinieren. Sie hatte vor, es später in der Pfanne scharf anzubraten – so wie Doug es gern mochte.

Sie lächelte, als die Tür geöffnet wurde und ihr Ehemann die gemeinsame Wohnung betrat. „Hallo, Liebling“, rief er und hängte sein Jackett an den Haken. Beschwingt kam er zu ihr in die Küche. Sie umarmte ihn liebevoll und küsste ihn zärtlich. Der Kuss war lang und sehnsüchtig. Er ließ keinen Zweifel daran, dass sie mehr wollte.

„Womit habe ich diese Begrüßung verdient?“, fragte Doug und lehnte sich etwas zurück, damit er sie ansehen konnte.

„Ich hatte einen fantastischen Tag.“

„Erzähl mir, was du gemacht hast“, bat er. Behutsam löste er sich aus ihrer Umarmung und sah die Post durch, die auf dem Küchentisch lag.

„Nachdem du zur Arbeit gegangen bist, bin ich noch einmal zu dem Wollladen spaziert, den ich Dienstag entdeckt habe. Lydia sagte, es wäre nicht nötig gewesen, weil der Kurs doch erst morgen beginnt. Aber ich habe mir schon einmal die Nadeln und das Garn für die Babydecke ausgesucht. Warte, bis ich dir die Abbildung gezeigt habe. Sie ist so süß!“ Carol rannte ins Nebenzimmer und kehrte mit einer Strickanleitung und einem Knäuel cremefarbener Wolle zurück. „Das ist perfekt, findest du nicht?“

Er starrte auf die Wolle, als ob er sich fragte, wie sie beim Anblick eines einfachen Knäuels Garn so außer sich geraten konnte.

„Verstehst du nicht?“, rief sie. „Doug, wir werden ein eigenes Kind haben! Ich bin so sicher. Dieses Mal wird alles anders. Am Anfang der Woche habe ich noch geglaubt, ich könnte diesen Schmerz nicht noch einmal ertragen. Alles war so schwierig. Aber plötzlich habe ich Hoffnung, echte Hoffnung. Oh Doug, wir werden ein Baby haben!“

Sie sah, dass etwas von ihrem Enthusiasmus auch ihn berührt hatte. „Ein Baby“, wiederholte sie, und ihre Stimme zitterte ein bisschen. Sie ergriff seine Hand und legte sie auf ihren flachen Bauch.

Er sah sie an, und Verlangen flackerte in seinem Blick auf. Er ließ die Post auf den Boden fallen und zog sie in seine Arme. Ihre Küsse waren leidenschaftlich und hungrig. Irgendwann lehnte er sich leicht zurück und biss ihr sanft in die Unterlippe. Carol, die die Wünsche und Bedürfnisse ihres Mannes genau kannte, schmiegte sich an ihn, spürte seine Erregung und begann sich langsam zu bewegen. Sie flüsterte ihm anregende Worte ins Ohr.

Doug stöhnte leise auf und küsste sie wieder. „Du weißt, was passiert, wenn du so mit mir sprichst?“

„Ja, ich bin mir dessen bewusst“, flüsterte sie.

Er knöpfte ihre Bluse auf und schob sie über ihre Schulter, während sie hinüber ins Wohnzimmer taumelten. Eng umschlungen fielen sie aufs Sofa.

„Wir sind schon zu lange verheiratet für diese Art von verrücktem, spontanem Sex“, sagte er, während er sich die Krawatte vom Hals zerrte und sein Hemd aufmachte.

„Möchtest du lieber warten, bis es dunkel ist?“

„Nein“, brummte er heiser.

Auch sie wollte nicht länger warten. Diese Spontaneität war das komplette Gegenteil zu dem durchgeplanten Sex, den sie in letzter Zeit gehabt hatten. Was einmal impulsiv und natürlich gewesen war, entsprach mittlerweile einer langweiligen Routine. Es war ungefähr so romantisch wie ein Arzttermin. Sie war auf den richtigen Zeitpunkt fixiert, darauf, ihren Eisprung abzupassen, um endlich schwanger zu werden. Jetzt, zum ersten Mal seit Jahren, fand ihr Liebesspiel ohne Ziel statt. Es war völlig zwanglos – und daher umso befreiender. Sobald sie aus ihren Kleidern geschlüpft waren, legte sich Carol auf das Sofa und streckte die Arme aus, um ihren Mann willkommen zu heißen.

Doug ließ sich auf sie sinken. Sie schloss die Augen und genoss das Gefühl, als sein Körper sich mit ihrem vereinte. So sollte die Liebe immer sein. Sie hatte schon beinahe vergessen, wie es sich anfühlte, echte Leidenschaft zu spüren. Ihr Ziel war es, ihm Liebe und Hoffnung zu schenken. Und sie war trunken von der Intensität seiner Nähe.

Sie hatte ihre Arme um seinen Nacken geschlungen und vergrub ihre Finger in seinem dunklen Haar. Ihr Körper bog sich ihm entgegen. Carol genoss die Wärme und die Unbekümmertheit ihres Liebesspiels.

Danach hielten sie sich lange umschlungen, kosteten jeden Moment aus. Keiner von beiden sagte ein Wort – sie wollten den Frieden und die Harmonie nicht stören. Diese Vereinigung war eine Bestätigung ihrer tief empfundenen Liebe, ihrer Verpflichtung und ihres unumstößlichen Glaubens, dass sie eines Tages Eltern sein würden. Carol war sich sicher. Sie war fest davon überzeugt seit dem Tag, an dem sie den Wollladen betreten und erfahren hatte, dass der Anfängerkurs eine Babydecke stricken würde. Sie hatte ein Zeichen erhalten.

Nach einer Weile hob Doug den Kopf und küsste sie sanft auf die Stirn. „Ich liebe dich.“

Glücklich und zufrieden lächelte Carol ihren Ehemann an. „Ich liebe dich auch. Und ich glaube, der kleine Cameron wird viel Spaß mit seinem Vater haben.“

„Die kleine Colleen, meinst du.“

„Wir könnten auch Zwillinge bekommen.“

„Gut – je mehr, desto besser.“

Lange sahen sie einander an. Irgendwann wurde es einfach zu unbequem, in derselben Position auf der Couch zu liegen. Nachdem sie sich angezogen hatten, nahm Carol das Garn in die Hände. Es nur zu halten verschaffte ihr bereits ein Wohlgefühl. Sie würde diese Babydecke stricken, und mit jeder Masche, mit jeder Reihe würde ihr ungeborenes Kind ihre Liebe spüren.

Nach dem Abendessen klingelte das Telefon. Carol war gerade dabei, die Teller und das Besteck in den Geschirrspüler zu räumen. Doug saß vor dem Fernseher, sah die Nachrichten und las nebenbei die Zeitung. Er ließ den Sportteil sinken und sah, dass sie in der Küche an den Apparat ging.

Die Anruferkennung zeigte Carol, dass ihr Bruder Rick von seinem Handy aus anrief. Rick war Pilot für die Alaska Airlines. Er arbeitete in Alaska, wo auch seine Exfrau Ellie lebte. Zwar führte sein Dienstplan ihn oft nach Seattle, aber er hatte nur selten Zeit, seine Schwester zu besuchen.

„Hallo, großer Bruder“, begrüßte Carol ihn. Sie freute sich, endlich wieder von ihm zu hören.

„Carol, du hörst dich gut an. Bist du …?“ Er zögerte. Doch Carol wusste genau, was er fragen wollte.

„Noch nicht. Doug und ich arbeiten aber dran – Tag und Nacht.“ Sie warf ihrem Mann einen frechen Blick zu. Doch der hatte sich bereits wieder in seine Zeitung vertieft und gar nicht mitbekommen, was sie gesagt hatte. „Wie lange bist du in der Stadt?“

„Heute Abend und morgen. Am späten Nachmittag fliege ich weiter. Gibt es eine Möglichkeit, dass wir uns sehen können? Nicht unbedingt dieses Mal, wenn du keine Zeit hast, aber bald?“

Sie betrachtete ihren Kalender. „Herzlich gern.“ Seine Einladungen waren selten, und sie tat alles, um ihrem Bruder entgegenzukommen. „Wollen wir vielleicht zusammen frühstücken?“

„Du weißt doch, dass ich morgens nicht besonders unterhaltsam bin.“

Carol erinnerte sich daran, wie viele Schwierigkeiten ihr Bruder immer gehabt hatte, rechtzeitig zur Schule zu kommen. „Das stimmt allerdings“, sagte sie.

„Was treibst du denn so?“, fragte er.

„Nicht viel. Doug und ich gehen dreimal die Woche ins Fitnessstudio, und morgen Nachmittag beginnt mein neuer Strickkurs.“

„Stricken? Du?“

„Ja. Und wenn du artig bist, werde ich dir eines Tages mal einen Pullover stricken.“

„So einen irischen, mit den komplizierten Mustern?“

„Äh … ich dachte eher an ein einfacheres Modell.“

Ihr Bruder lachte. „Ich kann mir meine Schwester, die in ihrem Job Millionenbeträge verwalten musste, nicht mit einem Paar Stricknadeln vorstellen.“

„Versuch es ruhig – denn es wird so sein.“ Sie fragte sich, ob er sie aus einem bestimmten Anlass sehen wollte. „Gibt es einen Grund für unser Treffen?“

Rick zögerte. „Es ist schon so lange her, dass wir uns mal in Ruhe unterhalten haben“, sagte er. „Ich dachte nur, wir könnten uns gegenseitig mal wieder auf den neuesten Stand bringen. Das ist alles.“

„Das wäre schön. Morgen scheint es ja leider nicht zu klappen. Wann kommst du das nächste Mal in die Stadt?“ Sie hörte das Rascheln seines Terminkalenders, als er seinen Dienstplan betrachtete. „Warum kommst du dann nicht zum Abendessen vorbei?“, schlug sie vor.

„Ich werde nächste Woche wieder hier sein. Passt es euch?“ Er nannte ihr das Datum, und Carol notierte es auf dem Wandkalender. Den Bleistift noch in der Hand zögerte sie einen Moment lang. Es war schon ungewöhnlich, dass ihr Bruder von sich aus anrief. Aber dass er ein Treffen vorschlug, hatte Seltenheitswert.

„Ist alles in Ordnung, Rick?“ Er war seit mehr als einem Jahr geschieden. Und obwohl er ohne Trauer, ja sogar sachlich darüber sprach, wurde sie das Gefühl nicht los, dass ihm die Trennung mehr zusetzte, als er zugab. Sie kannte die genauen Hintergründe nicht, die Ellie dazu bewogen hatten, die Scheidung einzureichen. Carol glaubte, es lag an Ricks Karriere. Es war mit Sicherheit nicht leicht, eine Beziehung mit einem Mann zu führen, der so oft von zu Hause weg war. Ellie behauptete sogar, Rick sei untreu gewesen. Doch Carol konnte das nicht glauben. Ihr Bruder würde seine Frau nicht betrügen. Das passte einfach nicht zu ihm.

„Also … es ist beinahe alles in Ordnung. Aber ich möchte im Augenblick nicht darüber sprechen. Mach dir keine Sorgen“, fügte er hinzu und räusperte sich. „Wir sehen uns nächste Woche und reden dann.“

„Ich freu mich“, sagte Carol. „Hast du Mom und Dad in letzter Zeit gesehen?“

„Ich war erst kürzlich in Portland. Sie sind munter wie immer.“

„Schön.“

Die beiden unterhielten sich noch ein paar Minuten lang. Doch als Carol schließlich auflegte, runzelte sie die Stirn. Sie machte sich Sorgen um ihren Bruder und fragte sich, was ihn wohl belastete.

„War das Rick?“, fragte Doug aus dem Wohnzimmer.

„Er kommt nächste Woche zum Abendessen vorbei.“

„Es ist lange her, dass wir ihn gesehen haben.“

Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Armlehne von Dougs Sessel.

Er musterte sie. „Was ist los?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, ich wüsste es. Irgendwas stimmt mit meinem Bruder nicht.“ Sie beugte sich vor und hauchte Doug einen Kuss auf die Stirn. „Versprich mir, mich immer zu lieben“, flüsterte sie.

„Das habe ich schon“, erwiderte er und hob die rechte Hand, um ihr den Ehering zu zeigen. „Ich gehöre für immer dir, ob du willst oder nicht.“

Sie schmiegte sich an seine Schulter. „Ich glaube nicht, dass ich dich je mehr geliebt habe.“

„Das ist es, was ein Ehemann gern hört“, sagte er, legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie auf seinen Schoß. Sie kuschelte sich an ihn. Wieder einmal spürte sie eine tiefe Dankbarkeit – sie war Rick dankbar, dass er sie Doug vorgestellt hatte, und sie war ihrem Ehemann dankbar für seine Liebe. Trotzdem beunruhigte sie der Anruf ihres Bruders. Sie glaubte zu wissen, dass etwas Ernstes geschehen war. Zwar hatte er ihr gesagt, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Doch das war einfacher gesagt als getan.

8. Kapitel

Alix Townsend

Alix bereute mittlerweile, sich für den Strickkurs angemeldet zu haben. Doch es war zu spät. Als sie ihren wöchentlichen Gehaltsscheck in den Händen gehalten hatte, war sie zu A Good Yarn gegangen, um für den Kurs zu bezahlen. Wieder einmal hatte sie gehandelt, ohne vorher zu überlegen. Eigentlich war es einfach töricht, so viel Geld für einen Strickkurs zu verschleudern. Je länger sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie. Auf sich selbst. Sie war auf ihren Kindheitstraum von einer perfekten Mutter hereingefallen. Dabei hatte sie eine Mutter – die war allerdings alles andere als perfekt.

„John ist da“, flüsterte Laurel, die zu Alix hinter den Tresen gekommen war. Seit sechs Monaten traf sich Alix’ Mitbewohnerin mit einem Stammkunden aus dem Videoladen. Alix hielt den Typen allerdings für Abschaum. Er sah vielleicht gut aus und trug stets einen Anzug, aber sie wusste, was für Filme er auslieh. Sie waren alles andere als jugendfrei. Zu seinen Lieblingsfilmen gehörten einige der perversesten Streifen, die die Videothek im Angebot hatte.

Bevor John mit Laurel zusammenkam, hatte er Alix angemacht. Doch sie hatte ihn abblitzen lassen. Laurel hingegen fand ihn von Anfang an toll und glaubte, die ganze Welt drehe sich ab jetzt nur noch um den Gebrauchtwagenhändler John Murray. Alix jedoch hatte ihn durchschaut und wollte ihre Mitbewohnerin davon überzeugen, dass sie etwas Besseres verdiente. Das Problem, glaubte sie, war Laurels Gewicht. Weil sie mehr als zweihundert Pfund wog, schien Laurel zu denken, kein normaler Mann würde mit ihr ausgehen wollen. Dass sie ihr dünnes und strähniges blondes Haar lang trug und selten wusch, machte die Sache nicht gerade besser. Ihre gesamte Garderobe bestand aus Jeans und T-Shirts, wobei die meisten von den Shirts auch noch mit wenig geistreichen Sprüchen bedruckt waren. Alix’ Bemühungen, sie auch mal in Leder und schwarze Hosen zu stecken, waren kläglich gescheitert. Trotzdem, egal wie viel Laurel wog oder wie geschmacklos sie sich kleidete – sie verdiente es, respektvoller behandelt zu werden, als John es tat.

Selbst wenn John anders gewesen wäre, hätte Alix kein Interesse an ihm gehabt. Sie hatte ein Auge auf einen anderen geworfen. Als er vor einiger Zeit hereingekommen war, stand sie gerade an der Kasse. Sein Name war Jordan Turner. Rein äußerlich gesehen war er nichts Besonderes. Nur ein ganz normaler junger Mann, anständig und freundlich, aber mit einem netten Lächeln und warmherzigen braunen Augen. Die Liste seiner ausgeliehenen Videos verriet ihr, dass ihn der perverse Kram nicht interessierte. Außerdem sah er sich keine gewaltverherrlichenden Filme an. Bei seinem letzten Besuch hatte er sich True Lies und Dumm und dümmer ausgeliehen – ziemlich harmlos im Vergleich zu den Filmen, die sich Mister Lover Boy ansah. Alix hatte in der vierten Klasse mal einen Jungen gekannt, der auch Jordan Turner hieß. Und sie hatte ihn wirklich gemocht. Sein Vater war Pastor. Sie ging damals sogar ein paarmal in die Kirche, weil Jordan sie darum bat. Also hatte ihr erstes Date, wenn man so wollte, in einer Kirche stattgefunden. Wirklich komisch, wie sie fand.

„Vertritt mich bitte kurz“, wisperte Laurel, die hinter ihr stand.

„Laurel“, protestierte Alix, verkniff sich jedoch eine Warnung. Sie hasste diese Situationen. Wusste sie doch genau, was geschah, wenn Laurel und John im Hinterzimmer verschwanden und die Tür hinter sich abschlossen.

John sah sich seine perversen Sexfilme an, kam dann auf der Suche nach Erleichterung in den Videoladen und widmete Laurel zehn Minuten seiner Zeit. Danach haute er ab, nicht ohne ihr zu versprechen, sie mal auszuführen. Das hatte er tatsächlich ab und an getan, wobei er ihr damit allerdings gerade genug Aufmerksamkeit schenkte, um sie bei der Stange zu halten. Der Typ war ein Verlierer. Aber solange Laurel das nicht selbst einsah, würde Alix nichts tun können, um sie von ihm abzubringen.

„Dauert nicht lange“, versprach ihre Freundin und kicherte, als sie mit John an der Hand in den hinteren Teil der Videothek huschte.

Wenigstens war der Laden nicht voll. Um neun Uhr abends hatten die Leute, die einen Film ausleihen wollten, das schon erledigt. Es waren nur noch vier oder fünf Kunden da, die sich umsahen.

Völlig in Gedanken versunken, war Alix überrascht, als sie aufblickte und genau den Typen vor sich sah, um den ihre Gedanken gekreist waren. Jordan Turner stand am Tresen.

„Entschuldige bitte“, sagte er. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Verdutzt blickte sie Jordan an und brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln. Sie zuckte die Achseln und fragte in einem betont beiläufigen Ton: „Kann ich dir helfen?“

„Würdest du bitte nachsehen, ob The Matrix ausgeliehen werden kann?“

„Ja, sicher.“ Sie wandte sich dem Computermonitor zu und tippte den Titel des Films ein. Obwohl niemand, der sie sah, es geglaubt hätte – so hoffte sie –, pochte ihr Herz wie wild. Sie hatte nicht mit Jordan gerechnet, nicht an einem Donnerstagabend. Er kam fast immer am Dienstag.

„Ich habe im Regal nachgeschaut, aber alle Kopien scheinen verliehen zu sein.“

„Sie sind tatsächlich alle unterwegs“, bestätigte Alix und starrte auf den Monitor. „Soll ich dir einen ähnlichen Film empfehlen?“

Er dachte einen Augenblick lang nach, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Nein danke.“ Er legte Catch me if you can auf den Tresen und bezahlte die Leihgebühr. Bevor ihr irgendetwas einfiel, um ihn aufzuhalten, war er bereits wieder gegangen.

Kurz darauf erschien Laurel hinter dem Tresen, John im Schlepptau. Sie hatte einen Knutschfleck im Nacken, und ihre Bluse war falsch zugeknöpft. Alix blickte John an, der zurückstarrte und Laurel etwas ins Ohr flüsterte. Zwar konnte Alix nicht hören, was er sagte, aber sie konnte es sich denken. Laurel schüttelte vehement den Kopf.

John verließ den Laden keine Minute später – für Alix’ Geschmack immer noch nicht schnell genug.

„Ich treffe mich nach der Arbeit mit ihm“, erzählte Laurel ihr aufgeregt. „Er führt mich zum Essen aus.“ Sie blickte Alix herausfordernd an. Doch die ging nicht darauf ein und verkniff sich einen Kommentar.

„Er scheint besonders guter Laune zu sein“, murmelte sie spöttisch.

„Das stimmt“, erwiderte Laurel. „Er hat heute ein Auto verkauft, und wir werden das nachher feiern.“

„Du solltest vielleicht deine Bluse richten, bevor du den Laden verlässt.“

„Oh“, stieß Laurel hervor und sah an sich herunter. Sofort begann sie, sich den Knöpfen zu widmen. „Danke.“

Alix schüttelte nur stumm den Kopf und ergriff einen Korb mit Videos, die zurücksortiert werden mussten.

„Vielleicht komme ich heute Nacht nicht nach Hause“, sagte Laurel, „also warte nicht auf mich.“

Als ob Alix das jemals getan hätte. „Ich bin nicht deine Mutter. Mach dir keine Sorgen.“

„Meiner Mutter wäre es egal. Sie hat mich wegen meines Onkels im Stich gelassen, als ich zehn war. Wegen meines bösen Onkels, wenn du verstehst, was ich meine.“

Laurels Leben im Heim war nicht besser gewesen als das von Alix. Vor etwa einem Jahr hatten sie sich kennengelernt. Damals lebten sie beide in den Tag hinein und übernachteten meist in billigen Hotels. Wenn man nur das Mindestgehalt verdiente, konnte man sich keine regelmäßige Miete leisten. Es dauerte sechs Monate, bis Laurel und Alix die Wohnung gefunden hatten, in der sie nun lebten. Sie waren damals so außer sich vor Freude, man hätte glauben können, sie bezögen ein Schloss und nicht ein einfaches Apartment. Gemeinsam konnten sie die Miete aufbringen, aber die Sanierungsarbeiten bereiteten Alix Sorgen. Sie befürchtete, die Miete könne sich erhöhen. Laurel und sie würden dann über kurz oder lang wieder auf der Straße sitzen. Gerüchte machten die Runde, dieselbe Firma, die auch schon die alte Bank gekauft hatte, sei auch an dem Apartmentkomplex interessiert, in dem Laurel und Alix wohnten.

Die Wohnung war eine Bruchbude mit krummen, abgesackten Fußböden, einer völlig verdreckten Badewanne und Rissen in der Decke. Aber es waren Alix’ erste eigene vier Wände. Die Möbel befanden sich in einem so schlechten Zustand, dass selbst die Wohlfahrt dankend ablehnen würde, wenn man sie ihr angeboten hätte. Dennoch, es war ihr Eigentum. Alix und Laurel hatten jedes einzelne Stück über die Monate gesammelt – mal waren es Geschenke, mal hatten sie die Möbel direkt von der Straße mitgenommen.

Keines der Mädchen stand noch in Kontakt zu seinen Eltern. Das Letzte, was Alix gehört hatte, war, dass ihr Vater mittlerweile irgendwo in Kalifornien lebte. Zehn Jahre hatte sie ihn nicht gesehen und auch nicht vermisst. Er hatte keine Anstalten gemacht, sie zu finden. Und umgekehrt hatte sie ebenso wenig das Bedürfnis, ihn zu suchen. Ihre Mutter saß im Gefängnis. Niemand wusste davon – bis auf Laurel, der sie es in einem schwachen Moment erzählt hatte. Alix schrieb ihrer Mutter im Laufe der Zeit einige Briefe, doch ihre Mutter antwortete immer nur dann, wenn sie Geld brauchte – oder andere Dinge, um die eine Mutter ihre Tochter besser nicht bat.

Alix’ einzige Familie war ihr großer Bruder gewesen. Doch Tom geriet in die falschen Kreise und starb vor fünf Jahren an einer Überdosis. Sein Tod hatte sie schwer getroffen. Und er tat es immer noch. Tom bedeutete ihr alles. Er war einfach gegangen und hatte … aufgegeben. Als sie es erfuhr, war sie wütend. So wütend, dass sie ihn umbringen wollte, weil er ihr das antat. Und das Nächste, an das sie sich erinnerte, war, dass sie sich auf dem Fußboden zusammengekauert und sich gewünscht hatte, wieder acht Jahre alt zu sein. Sie wollte sich in ihrem Schrank verkriechen und so tun, als sei ihre kleine Welt sicher.

Ohne Tom geriet sie ins Wanken, wurde unbesonnen und brachte sich in Schwierigkeiten. Sie hatte einige Zeit gebraucht, bis sie ihren Weg gefunden hatte. Aber es war ihr gelungen. Heute war Alix entschlossen, nicht dieselben Fehler wie ihr Bruder zu machen. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr war sie auf sich allein gestellt. Nach ihrer Einschätzung hatte sie es wirklich gut hinbekommen, drogenfrei und ehrlich zu bleiben. Sicher, sie war ein paarmal mit den Bullen aneinandergeraten und anschließend einem Sozialarbeiter unterstellt worden. Doch trotzdem war sie stolz, nicht in ernste Schwierigkeiten geraten zu sein – und sie war stolz, nicht von der Wohlfahrt leben zu müssen.

„Heute Nachmittag hat jemand für dich angerufen“, sagte Laurel, kurz bevor der Laden schloss. „Ich wollte es dir erzählen, aber ich hab’s vergessen.“

Sie konnten sich die Wohnung leisten, jedoch kein eigenes Telefon. Und so wurden alle Gespräche im Videoladen geführt – was dem Geschäftsführer natürlich nicht sonderlich gefiel. „Wer hat angerufen?“

„Eine Frau namens O’Dell.“

Die Sozialarbeiterin kam nach der Drogengeschichte ab und zu vorbei. Alix war mit Laurels Vorrat an Marihuana erwischt worden. Sie konnte Laurel noch immer nicht verzeihen, dass sie das Geld für so etwas vergeudet und die Drogen – was noch schlimmer war – in Alix’ Tasche versteckt hatte. Alix nahm keine Drogen, aber niemand wollte ihren Unschuldsbeteuerungen glauben. Also hielt sie den Mund und nahm den Vermerk in ihrer Akte hin.

„Was wollte sie?“, fragte Alix, obwohl sie es genau wusste. Denn bevor Alix all die Zeit, Kraft und das Geld in die Babydecke investierte, wollte sie sichergehen, dass der Aufwand auch tatsächlich auf ihre Stunden gemeinnütziger Arbeit angerechnet würde.

„Sie sagte, es sei in Ordnung und würde dir sicher helfen, deine Aggressionen zu bewältigen – was immer das heißen soll“, erwiderte Laurel.

„Oh.“ Wenigstens hatte die Dame nicht den Strickkurs erwähnt. Das bewahrte Alix davor, Laurel zu verraten, was sie plante.

„Willst du mir erzählen, worum es geht?“

Alix presste die Lippen aufeinander. „Nein.“

„Wir wohnen zusammen, Alix. Du kannst mir vertrauen.“

„Sicher kann ich das“, entgegnete Alix trocken. „Genauso wie ich dir vertrauen kann, dass du der Polizei die Wahrheit sagst.“ Sie würde Laurel nicht so schnell vergessen lassen, was sie ihretwegen in Kauf nehmen musste.

„Okay“, erwiderte Laurel und hob beschwichtigend die Hände. „Mach, was du willst.“

Das war genau das, was Alix vorhatte.

9. Kapitel

„Wir sind alle miteinander verstrickt. Das Stricken verbindet mich mit all den Frauen, die mein Leben so sehr bereichert haben.“

(Ann Norling, Designerin)

Lydia Hoffman

Obwohl ich schon seit Jahren Strickkurse gebe, habe ich nie zuvor mit einer derart bunten Gruppe gearbeitet wie in meinem kleinen Anfängerkurs. Diese Frauen hatten nichts gemeinsam. Alle drei saßen steif und verkrampft an ihren Tischen im hinteren Teil des Ladens und sagten kein Wort.

„Vielleicht sollten wir damit beginnen, uns einander vorzustellen. Erklärt doch bitte, warum ihr diesen Kurs machen wollt“, schlug ich vor und gab Jacqueline ein Zeichen, anzufangen. Sie war diejenige, um die ich mir am meisten Sorgen machte. Jacqueline gehörte offensichtlich zur gehobenen Schicht. Und ihre erste Reaktion auf Alix war ein schlecht versteckter Schock gewesen. Als ich ihren Blick auffing, fürchtete ich, sie würde sich entschuldigen und aus dem Laden stürzen. Ich weiß nicht genau, was sie bewog, zu bleiben. Aber ich war dankbar, dass sie es tat.

„Hallo“, begann Jacqueline mit ruhiger Stimme und nickte den anderen beiden Frauen, die ihr gegenübersaßen, zu. „Mein Name ist Jacqueline Donovan. Das Architekturbüro meines Mannes ist verantwortlich für die Umgestaltung und Sanierung der Blossom Street. Ich würde gern stricken lernen, weil ich bald zum ersten Mal Großmutter werde.“

Sofort hob Alix den Kopf und sah die Frau an. „Ihr Mann steckt hinter dem ganzen Chaos? Sagen Sie ihm, er soll die Finger von meinem Apartment lassen, hören Sie?“

„Wie können Sie es wagen, in einem derartigen Ton mit mir zu sprechen!“

Die beiden Frauen starrten sich an. Alix war aufgesprungen. Ich bewunderte Jacqueline, die nicht einmal zusammenzuckte. Schnell wandte ich mich an Carol. „Mögen Sie vielleicht fortfahren?“, fragte ich und war selbst überrascht, wie ruhig meine Stimme klang.

Ich hatte Carol schon ein bisschen kennengelernt. Sie war bereits zweimal im Laden gewesen, um Wolle zu kaufen. Ich wusste, warum sie den Kurs belegte, und hoffte, wir könnten vielleicht Freundinnen werden.

„Ja, hallo“, sagte sie und klang so verunsichert, wie ich mich fühlte.

Alix hörte nicht auf, Jacqueline anzustarren, aber die schaffte es, sie in bemerkenswerter Art und Weise zu ignorieren. Ich hätte wissen müssen, dass so etwas passieren würde. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren oder diese Auseinandersetzungen verhindern sollte. Alix und Jacqueline waren so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein können.

„Mein Name ist Carol Girard, und mein Mann und ich hoffen, bald ein Kind zu bekommen. Im Augenblick unterziehe ich mich einer Hormonbehandlung. Im Juli wird eine künstliche Befruchtung, also eine IVF oder auch In-vitro-Fertilisation, vorgenommen. Der Grund, warum ich diesen Kurs belege, ist, dass ich eine Decke für mein noch ungeborenes Kind stricken möchte.“

Ich konnte an Alix’ Miene ablesen, dass sie nicht genau wusste, worum es ging.

„Künstliche Befruchtung oder IVF bedeutet, dass die Befruchtung der Eizelle in einem Reagenzglas stattfindet und die Eizelle dann später eingepflanzt wird.“

„Ich habe kürzlich in Newsweek einen wundervollen Artikel zu dem Thema gelesen“, erzählte Jacqueline. „Es ist wirklich faszinierend, was die Medizin heutzutage leisten kann.“

„Ja, es sind einige spannende Dinge auf dem Markt, aber bisher haben Doug und ich unser persönliches Wunder noch nicht erleben dürfen.“

Der sehnsüchtige Ausdruck in Carols Augen war so intensiv, dass ich das Bedürfnis verspürte, meine Hand auf ihre Schulter zu legen.

„Der Versuch im Juli ist unsere letzte Chance“, fügte sie leise hinzu. Carol biss sich auf die Unterlippe. Ich fragte mich, ob ihr bewusst war, wie viel von ihrer Angst sie im Augenblick preisgab.

„Was genau machen sie mit Ihnen bei dieser künstlichen Befruchtung?“, fragte Alix und lehnte sich leicht nach vorn. Sie schien ehrlich interessiert zu sein.

„Es ist ein langer, schwieriger und kraftraubender Prozess“, antwortete Carol. „Ich bin nicht sicher, ob ich davon erzählen sollte – schließlich wollen wir stricken lernen.“

„Wäre es Ihnen recht?“, fragte Alix in die Runde und überraschte mich mit ihrer Neugierde.

„Auf jeden Fall“, ergriff Jacqueline das Wort. Ich bezweifelte, dass ihr Interesse so ernst gemeint war wie das von Alix.

„Also“, begann Carol und faltete die Hände, „alles begann mit Medikamenten. Ich musste ein Mittel nehmen, das meine Eierstöcke anregen sollte, Eizellen zu produzieren. Sobald sich Eizellen gebildet hatten, wurden sie entnommen.“

„Hat das wehgetan?“, fragte Jacqueline.

„Nur ein bisschen. Aber ich musste nur an das Baby denken, und jeder Schmerz wurde erträglich. Wir beide wären so gern Eltern.“

Das war deutlich zu spüren. Und soweit ich Carol bisher kennengelernt hatte, würde sie sicher eine wundervolle Mutter werden.

„Nachdem Doug eine Samenprobe abgegeben hatte, wurden die Eizellen befruchtet. Daraus entstanden Embryos, und diese wurden mir eingesetzt. Wir haben es bereits zweimal versucht, und bis jetzt hat es nicht geklappt. Die Versicherung bezahlt nur drei Versuche … Deshalb ist es so wichtig, dass ich diesmal schwanger werde.“

„Mir scheint es, als würden Sie sich sehr unter Druck setzen“, bemerkte Alix, und ich bewunderte sie für diese sensible Einschätzung.

„Wie nervenaufreibend für Sie beide“, murmelte Jacqueline teilnahmsvoll.

„Trotzdem bin ich im Moment davon überzeugt, dass es klappt“, sagte Carol und schien von innen heraus zu strahlen. „Ich weiß nicht, warum, aber zum ersten Mal seit Monaten fühlt sich alles richtig an. Wir hatten uns nach dem letzten Fehlversuch entschieden, eine Zeit lang zu warten. Vor allem, weil Doug und ich Abstand brauchten, um den zweiten Fehlschlag zu verkraften. Und ich habe geglaubt, die Zeit zu benötigen, um mich psychisch und körperlich auf den letzten Versuch vorzubereiten. Doch diesmal wird es funktionieren. Ich weiß einfach, dass wir diesmal ein Baby bekommen werden.“

„Ich hoffe es für Sie“, erklärte Alix. „Menschen, die sich so sehr Kinder wünschen, sollten auch welche bekommen.“

„Es gibt doch noch die Möglichkeit einer Adoption“, sagte Jacqueline. „Haben Sie darüber schon nachgedacht?“

„Das haben wir“, erwiderte Carol. „Das ist in der Tat eine Option. Aber wir wollen uns erst darum kümmern, wenn wir wirklich alles versucht haben, um ein eigenes Kind zu bekommen.“

„Soweit ich weiß, gibt es lange Wartezeiten bei Adoptionen“, warf Jacqueline ein. Sie schien im selben Moment zu bereuen, die Worte ausgesprochen zu haben.

„Ja, ich weiß … Doug und ich haben auch darüber geredet. Unter Umständen müssten wir ein Kind aus dem Ausland adoptieren, was allerdings nicht ganz einfach sein soll. Aber wie gesagt, darüber denken wir erst nach, wenn wir all unsere Hoffnungen auf ein eigenes Kind aufgeben müssen. Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir eine Entscheidung treffen.“

Ich wartete einen Augenblick und gab dann Alix ein Zeichen. „Erzählen Sie uns ein wenig über sich.“

Alix zuckte die Achseln. „Mein Name ist Alix Townsend, und ich arbeite im Videoladen gegenüber.“

Ich hoffte, sie würde nicht erwähnen, dass sie nur an der Babydecke arbeitete, um ihre gemeinnützigen Stunden abzuleisten – obwohl ich sie natürlich nicht davon abhalten konnte. Doch wenn Jacqueline das hörte, würde sie mit Sicherheit sofort aufstehen und den Laden verlassen. Es ging hier sicher nicht nur ums Geld, aber Jacqueline würde bestimmt mehr Wolle kaufen als Alix.

„Bisher habe ich immer gern in dieser Gegend gewohnt“, erklärte Alix, „und ich hoffe, ich kann hier auch weiterhin leben, wenn die Bauarbeiten endlich beendet sind.“ Ihre Augen verengten sich, als sie einen Blick quer über den Tisch warf.

„Sehen Sie mich nicht so an“, sagte Jacqueline mit kühler Stimme. „Ich habe mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun.“

„Ich habe mir überlegt“, begann ich, „dass wir in der ersten Stunde über die unterschiedlichen Garnstärken und -typen sprechen könnten.“ Vielleicht würde das Alix abschrecken – was ich insgeheim irgendwie hoffte, obwohl ich das Linus-Projekt unterstützte. „Das Muster, das ich gewählt habe, gehört zu meinen Lieblingsmustern. Was ich daran so sehr mag, ist, dass es Herausforderung genug ist, um Ihren Ehrgeiz zu wecken, aber nicht zu schwierig, um Sie zu entmutigen. Man benötigt vierlagiges Kammgarn, und man kommt recht schnell voran.“

Vor mir stand ein Weidenkorb mit Beispielen von Kammgarnen, die sich in ihrem Gewicht und in ihrer Farbe unterschieden. „Ich weiß, dass es vielleicht eigennützig klingt, aber ich möchte an dieser Stelle eines betonen: Kaufen Sie immer hochwertige Wolle. Wenn Sie schon Ihre Zeit und Kraft in ein Projekt stecken, stellen Sie sich nicht selbst ein Bein, indem Sie die billige Wolle aus der Schnäppchenabteilung kaufen.“

„Das sehe ich ganz genauso!“, bekräftigte Jacqueline. Ich wusste, dass sie kein Problem damit haben würde.

„Und was ist, wenn sich einige Leute dieses teure Material nicht leisten können?“, fragte Alix.

„Tja, das könnte die Sache natürlich verkomplizieren.“

„Sie haben gesagt, jeder, der den Kurs besucht, bekommt zwanzig Prozent Rabatt beim Garnkauf – gilt das immer noch, oder haben Sie mittlerweile Ihre Meinung geändert?“

„Dazu stehe ich“, versicherte ich ihr.

„Gut, weil ich nämlich nicht das nötige Kleingeld für Luxuswolle zu Hause rumliegen habe.“ Sie griff nach einem hübschen pink und weiß melierten Knäuel Mischwolle. „Wie teuer ist das?“

„Fünf Dollar der Strang.“

Jeder Strang?“ Entsetzt riss sie die Augen auf.

Ich nickte.

„Wie viele würde ich davon benötigen, wenn ich die Babydecke damit stricken wollte?“

Ich blickte auf die Strickanleitung und rechnete. Mit dem Taschenrechner in der Hand sagte ich: „Sieht aus, als ob fünf Knäuel reichen würden. Wenn Sie nur vier benötigen, können Sie mir das fünfte zurückgeben und erhalten selbstverständlich den vollen Kaufpreis zurück.“

Alix erhob sich, schob die Hand in die Hosentasche und fischte einen zerknüllten Fünfdollarschein hervor. „Ich kann diese Woche nur einen Strang kaufen. Aber ich denke, nächste Woche habe ich das Geld, um einen weiteren zu nehmen. Ist das für Sie in Ordnung?“

„Es ist wichtig, dass Sie exakt dieselbe Farbe für Ihr Projekt bekommen. Und da sich die Wolle von Charge zu Charge farblich ein wenig unterscheiden kann, werde ich Ihnen die Knäuel aus dieser Lieferung zurücklegen. Sie können mir das Geld nach und nach geben.“

Alix sah mich zufrieden an. „Das ist okay für mich. Ich glaube, die Dame, die mit diesem einfallsreichen Architekten verheiratet ist, könnte sämtliche Wolle in diesem Laden sofort kaufen.“

„Mein Name ist Jacqueline. Und ich würde mir wünschen, dass Sie mich auch so nennen.“

„Ich würde vorschlagen, Sie alle suchen sich nun Ihre Wolle aus“, sagte ich schnell, um die beiden zu trennen. Und zwar, bevor Alix über den Tisch springen konnte, um Jacqueline an die Gurgel zu gehen. Ich gab es nicht gern zu, aber diese Frau zählte wirklich nicht zu den angenehmsten Menschen, die ich kennengelernt hatte. Ihre Einstellung war nicht besser als die von Alix.

Jacqueline saß allein an einem Tisch, den sie zur Hälfte in Beschlag genommen hatte. Als Carol ankam, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich neben Alix zu setzen. Jacquelines Verhalten machte deutlich, dass sie es gewohnt war, dass sich alles um sie drehte – nicht nur in diesem Kurs, sondern in ihrem ganzen Leben.

Tief in meinem Inneren fragte ich mich, was ich mir mit diesem Kurs antat. Offen gesagt spürte ich ein wenig Angst. Ich hatte gehofft, mit meinen Schülerinnen Freundschaften aufbauen zu können. Doch hier lief eindeutig etwas total schief.

Der Unterricht dauerte zwei Stunden, und wir schafften es kaum, das Aufnehmen der Maschen zu lernen. Dabei hatte ich mich extra für eine besonders einfache Methode entschieden, weil ich sie in der ersten Stunde auf keinen Fall überfordern wollte.

Am Ende des Unterrichts überfielen mich echte Zweifel, ob ich überhaupt fähig war, Menschen das Stricken beizubringen. Carol hatte die Technik sofort begriffen, doch Alix besaß offenbar zwei linke Hände. Jacqueline hatte ebenfalls Probleme. Als die erste Stunde sich dem Ende näherte, pochte es in meinem Kopf. Ich spürte Kopfschmerzen aufziehen, und ich fühlte mich, als läge ein Marathon hinter mir.

Und dass Margaret anrief, gerade als ich dabei war, den Laden zu schließen, machte die ganze Situation nicht eben schöner.

„A Good Yarn“, rief ich in den Hörer und bemühte mich, eifrig und betriebsam zu klingen.

„Ich bin’s“, erwiderte meine Schwester in knappem, geschäftsmäßigem Ton. Mit diesem Tonfall sollte sie beim Finanzamt arbeiten. „Ich dachte, wir sollten uns über den Muttertag unterhalten.“

Sie hatte recht. Das Geschäft beschäftigte mich so sehr, dass ich den Muttertag ganz vergessen hatte. „Sicher. Wir müssen etwas ganz Besonderes für Mom machen.“ Es würde der erste Muttertag ohne Dad sein, und ich ahnte, wie schwierig es für uns alle werden würde. Trotz all unserer Unterschiede rauften Margaret und ich uns doch einmal im Jahr zusammen, um etwas Schönes für unsere Mutter auf die Beine zu stellen.

„Die Mädchen haben vorgeschlagen, wir könnten sie am Samstag zum Essen ausführen. Wir verbringen den Sonntag bei Matts Mutter.“

„Tolle Idee, aber ich muss am Samstag arbeiten.“ Ich wusste, dass gerade der Samstag ein erstklassiger Verkaufstag war, und ich konnte es mir schlicht nicht leisten, den Laden nicht zu öffnen. Mein Ruhetag war stattdessen montags.

Meine Schwester zögerte einen Moment lang. Als sie schließlich weiterredete, klang sie beinahe schadenfroh. Und es dauerte nicht lange, bis ich herausfand, wieso.

„Wenn du arbeiten musst, treffen die Mädchen und ich uns am Samstag mit Mom, und du kannst sie dann am Sonntag besuchen.“ Das bedeutete, dass Margaret Mom nicht mit mir teilen musste. Moms gesamte Aufmerksamkeit wäre auf Margaret gerichtet – und genau das war der Grund, warum sie alles so arrangiert hatte. Bis heute konnte ich nicht verstehen, warum sie in allem einen Wettkampf sah.

„Oh. Ich hatte gehofft, wir würden uns alle gemeinsam treffen.“

„Am Sonntag arbeitest du doch nicht, oder?“

Ich ließ meine Schultern sinken. „Nein, aber … also, wenn du es so möchtest.“

„Es geht nicht anders.“ Margaret sprach in diesem bestimmenden harschen Ton, den ich so verabscheute. „Du bist doch diejenige, die Samstag nicht mitkommen kann. Ich glaube beinahe, du möchtest, dass ich meine Pläne an deinen Zeitplan anpasse. Doch das werde ich ganz bestimmt nicht tun.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich das möchte.“

„Nicht wörtlich, aber ich kann zwischen den Zeilen lesen. Ich bin verheiratet, weißt du, und er hat auch eine Mutter. Dieses eine Mal möchten wir den Muttertag mit ihr verbringen.“

Um keinen Streit zu provozieren, schlug ich mit möglichst ruhiger Stimme vor: „Wir könnten ja vielleicht einen Kompromiss finden.“

„Was meinst du?“

„Ich weiß, dass Mom gern auf der Strandpromenade essen gehen würde. Ich könnte den Laden für einige Stunden schließen und euch dort treffen. Dann wären wir alle zusammen, und ich kann sie am Sonntag trotzdem noch einmal besuchen.“

Schon an der langen Pause, die nun entstand, konnte ich erkennen, dass Margaret dieser Vorschlag überhaupt nicht gefiel. „Du schlägst ernsthaft vor, dass ich Mom abhole und mit ihr an einem Samstagnachmittag nach Seattle fahre – weil es für dich angenehmer ist? Wir beide wissen doch, wie furchtbar der Verkehr ist.“

„Es war nur eine Idee.“

„Ich möchte lieber, dass wir den Muttertag dieses Jahr getrennt feiern.“

„Gut. Vielleicht ist das auch besser.“ Dabei beließ ich es und nahm mir vor, es Mom später zu erläutern.

„Gut. Dann haben wir das geklärt.“ Mir fiel auf, dass Margaret nicht danach fragte, wie die ersten beiden Geschäftswochen gelaufen waren. Sie fragte aber auch sonst nichts oder gab mir irgendeine Möglichkeit zu erfahren, was in ihrem Leben so vor sich ging.

„Ich muss los“, sagte Margaret. „Julias Tanzunterricht beginnt in fünfzehn Minuten.“

„Drück sie von mir“, entgegnete ich.

Meine zwei Nichten sind meine ganze Freude. Ich liebe sie abgöttisch und fühle mich beiden, Julia und Hailey, sehr verbunden. Weil sie offenbar meine Empfindungen für die Mädchen kannte und nicht guthieß, tat Margaret alles, um die beiden von mir fernzuhalten. Aber mittlerweile waren sie alt genug, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Wir unterhielten uns oft, und ich ahnte, dass sie ihrer Mutter davon nichts erzählten.

Meine Schwester verabschiedete sich hastig und hängte ein. Das war typisch für Margaret.

Ich ging zur Ladentür und drehte das Schild auf „Geschlossen“. Gerade als ich das tat, sah ich Brad Goetz aus dem Apartmenthaus kommen, in dem Alix wohnte. Offenbar war er in Eile, denn er rannte beinahe zu seinem Wagen. Ich konnte nicht sehen, wo sein Auto stand, aber ich ahnte, warum er es so eilig hatte. Er war gut aussehend und im besten Alter. Und ohne Zweifel war er auf dem Weg zu einer Verabredung am Freitagabend.

Ich hätte diejenige sein können, mit der er sich zum Dinner traf. Doch ich war es nicht. Es war meine Entscheidung – eine Entscheidung, die ich zu bereuen begann …

10. Kapitel

Jacqueline Donovan

In der Hoffnung, ihre Nervosität in den Griff zu bekommen, schenkte Jacqueline sich ein zweites Glas Chardonnay ein. Sie nahm einen Schluck, ging in die Küche und holte die Platte mit den Horsd’œuvres für die Gäste. Martha hatte Cracker mit Kräuterfrischkäse und kleinen Shrimps garniert. Paul und Tammie Lee wollten heute Abend vorbeikommen.

Sie hatten den Muttertag in Louisiana verbracht, wo sie Tammie Lees Mutter besuchten. Ihr ging es offenbar gesundheitlich nicht gut. Jacqueline war jedoch fest entschlossen, das Fernbleiben ihres Sohnes nicht als Affront gegen sich zu empfinden.

Es war das erste Mal, dass Paul einen Besuch bei seinen Eltern so offiziell angekündigt hatte, und Jacquelines Nerven waren seit seinem Anruf zum Zerreißen gespannt.

„Beruhige dich“, sagte Reese und folgte ihr in die Küche.

„Ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich an heute Abend denke“, murmelte sie. Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Mikrowelle und sah, dass es nur noch zehn Minuten bis zum Eintreffen der beiden waren. Unwillkürlich erschauderte sie, als sie daran dachte, mit Tammie Lee Small Talk machen zu müssen. Und sie fürchtete, Paul würde ihnen heute verkünden, dass er in die Nähe von New Orleans ziehen würde, damit Tammie Lee bei ihrer Familie sein konnte.

„Einen Termin zu vereinbaren, wann er herkommen darf … Das sieht Paul so gar nicht ähnlich.“

„Er wollte nur höflich sein und hat sich Gedanken gemacht.“ Reese ging um den Tresen herum und setzte sich auf einen Barhocker. „Sollte das Stricken nicht deine Nerven beruhigen?“

„Das ist auch so eine Sache“, erwiderte Jacqueline. „Ich werde diesen lächerlichen Kurs nicht länger besuchen.“

Überrascht von ihren deutlichen Worten blickte er seine Frau an. „Was ist passiert?“

„Ich habe meine Gründe.“ Ihr missfiel der Ausdruck in seinen Augen – es schien, als sei er enttäuscht von ihr. Aber er musste sich ja auch nicht mit dieser ungezogenen Punkrockerin auseinandersetzen, oder wie auch immer sich diese Leute heutzutage nannten. Alix glich dem Mitglied einer Straßengang. Das Mädchen machte ihr Angst. „Warum interessiert dich überhaupt, was ich tue?“, fragte sie und lehnte sich an den Küchentresen.

„Letzte Woche hast du noch den Eindruck gemacht, aufgeregt und neugierig zu sein“, sagte er beiläufig und zuckte die Schultern. „Ich dachte, es sollte eine versöhnliche Geste deinerseits sein. Du wolltest den Strickkurs doch belegen, um Paul etwas zu zeigen. Nämlich dass du dir ehrlich Mühe gibst, eine gute Großmutter zu werden.“

„Ich werde eine wunderbare Großmutter sein. Was für Möglichkeiten hat Tammie Lees Kind denn sonst schon? Wahrscheinlich ist das Wertvollste, das ihre Mutter es lehren kann, wie man Schweinefüße einlegt.“ Der bloße Gedanke daran ließ sie erschaudern.

„Jacqueline …“

„Eigentlich ist es deine Schuld.“

„Meine Schuld?“ Reese straffte die Schultern, blickte seine Frau an und schien einen Moment lang gegen einen Heiterkeitsausbruch kämpfen zu müssen. „Für was trage ich die Schuld?“

„Dafür, dass ich diesen Strickkurs so unmöglich finde.“

Er runzelte die Stirn. „Erzählst du mir bitte, was eigentlich los ist?“

„In dem Kurs ist eine junge Frau. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum sie überhaupt stricken lernen will, aber das tut im Augenblick nichts zur Sache. Sie ist abscheulich, Reese. Das ist das einzige Wort, was mir zu ihr einfällt. Ihr Haar ist in einem lächerlichen Lila gefärbt. Und sie scheint mich zu hassen, seit sie erfahren hat, dass du für die Sanierungs- und Umbauarbeiten in der Gegend der Blossom Street verantwortlich bist.“

Er nahm sein Weinglas. „Die meisten Leute begrüßen die Umbauarbeiten.“

„Alix lebt in dem Wohnhaus am Ende der Straße.“ In Jacquelines Augen war das Haus ein rattenverseuchtes Loch. Wenn es abgerissen werden sollte, umso besser. Alix und ihresgleichen würden sich eben woanders günstige Wohnungen suchen müssen. Sie würden ohnehin nicht mehr in die vornehme Gegend passen, die die Blossom Street bald sein würde.

„Ah“, murmelte er und nahm einen Schluck von seinem Wein. „Ich verstehe.“

„Was soll mit dem Haus passieren?“, fragte sie.

„Das ist noch nicht entschieden worden.“ Er ließ behutsam den Wein im Glas kreisen. „Die Stadt verhandelt gerade mit dem Besitzer. Mein Vorschlag war es, das gesamte Haus umzubauen und Eigentumswohnungen daraus zu machen. Aber es scheint, als seien einige Vertreter einkommensschwächerer Mieter an den Bürgermeister herangetreten.“

„Das ist bedauerlich. Diese Leute werden die Nachbarschaft negativ beeinflussen – und deine ganze Arbeit wäre dann für die Katz!“ Eigentlich wollte sie nicht so pessimistisch klingen. Doch wenn alle Bewohner des heruntergekommenen Apartmenthauses so waren wie Alix, war der Ruf der gesamten Gegend in Gefahr.

„Vielleicht solltest du es doch noch einmal probieren und dem Kurs eine Chance geben“, schlug er vor, ohne auf ihren Ausbruch einzugehen.

Die Wahrheit war, dass sie weitermachen wollte. Sie empfand den Kurs nicht als „unmöglich“ oder furchtbar. Das war übertrieben. Mit Ausnahme der Auseinandersetzung mit Alix hatte sie den Unterricht durchaus genossen. Irgendwann hatte Lydia ihre Schülerinnen gebeten, durch den Laden zu gehen und sich drei Knäuel Wolle in ihren Lieblingsfarben auszusuchen. Im ersten Moment erschien dies Jacqueline unnötig, geradezu sinnlos. Dennoch entschied sie sich für ein silbern schimmerndes Garn, ein Knäuel Wolle in tiefem Violett und eines in lebhaftem Rot. Als Nächstes forderte Lydia sie auf, sich drei Knäuel in den Farben zu nehmen, die sie am wenigsten mochten. Jacqueline war geradewegs auf einen Strang hellgelber Wolle zugegangen. Anschließend erklärte Lydia ihnen, wie die Farben sich kontrastierten und was es mit Komplementärfarben auf sich hatte. Gegen das tiefe Violett gehalten, wirkte das Gelb mit einem Mal völlig anders. Und wie Lydia gesagt hatte, war dieser Kontrast besonders reizvoll.

Jacqueline entdeckte, dass zum Stricken vor allem gehörte, Strukturen und Farben zu wählen. Das hatte sie zuvor überhaupt nicht bedacht. Nach dem Ende der Stunde ging sie in dem Bewusstsein aus dem Wollladen, viel mehr als nur die grundlegenden Stricktechniken erlernt zu haben. Doch auch das konnte ihr Unbehagen gegenüber Alix nicht gänzlich ausräumen.

„Ich könnte einen anderen Anfängerkurs besuchen, der später im Sommer beginnt“, sagte Jacqueline, die sich immer noch nicht sicher war, was sie tun sollte. Schließlich hatte sie für den gesamten sechswöchigen Kurs bezahlt … und sie hasste den Gedanken, dass irgendeine dahergelaufene Göre sie mit ihrem unmöglichen Benehmen einschüchterte und vertrieb.

Die Türklingel schrillte. Jacqueline merkte, wie sich eine unangenehme Anspannung in ihr breitmachte. Während Reese ging, um die Tür zu öffnen, zauberte sie ein Lächeln auf ihre Lippen, faltete die Hände und ging ins Wohnzimmer. Sie wartete, bis ihr Mann Paul und Tammie Lee im Flur begrüßt hatte.

„Wie wundervoll, euch beide zu sehen“, flötete Jacqueline und breitete die Arme aus, als Tammie Lee und ihr Sohn das Zimmer betraten. Sie umarmte ihre Schwiegertochter kurz und hauchte Paul einen Kuss auf die Wange. Jetzt, da sie wusste, dass Tammie Lee schwanger war, fragte sie sich, warum ihr die Veränderung nicht schon viel früher aufgefallen war. Ihre Schwiegertochter zeigte ihre Schwangerschaft deutlich – sie trug sogar ein Umstandstop.

Paul und Tammie Lee nahmen auf dem Sofa Platz. Sie saßen so nah beieinander, dass sich ihre Schultern berührten, und hielten Händchen. Es schien, als ob sie zeigen wollten, dass nichts und niemand sie auseinanderbringen konnte.

Während Reese seinem Sohn ein Glas Wein einschenkte, brachte Jacqueline die Platte mit den Horsd’œuvres herein. Tammie Lee lächelte ihre Schwiegermutter an.

„Ich liebe Shrimps! Und seit ich schwanger bin, verspüre ich ein ständiges Verlangen danach“, sagte sie mit ihrer leicht nasalen Stimme. „Frag ruhig Paul. Ich glaube, er hat Shrimps schon total satt, doch trotzdem beklagt er sich nie.“ Sie warf ihrem Mann einen verliebten Blick zu, als sie nach einer kleinen Serviette und zwei Crackern griff.

Paul schenkte seiner Frau einen Blick, der voller Liebe und Stolz war. Und Jacqueline musste sich zusammenreißen, um Haltung zu bewahren. Sie würde niemals verstehen, was ihr Sohn in diesem Mädchen sah.

„Was kann ich dir zu trinken bringen?“, fragte Reese Tammie Lee, als er Paul das Weinglas reichte.

„Wie lieb, dass du fragst. Aber im Moment habe ich alles, was ich brauche. Danke.“

Wenn es irgendetwas Positives an der ganzen Sache gab, war es, dass Tammie Lee in der Schwangerschaft offenbar auf sich achtgab. Wenigstens schien sie ein Fünkchen gesunden Menschenverstand zu besitzen.

Reese und Jacqueline setzten sich den beiden gegenüber. Ein polierter Mahagonitisch stand zwischen ihnen. Sie nutzten das Wohnzimmer nur selten. Selbst jetzt, fünf Jahre nachdem sie die Sitzgarnitur gekauft hatten, rochen die Sessel immer noch nach neuem Leder.

„Ich denke, wir sollten es ihnen sagen“, flüsterte Tammie Lee Paul ins Ohr.

Paul nickte und drückte ihre Hand. „Tammie Lee hatte heute Nachmittag einen Ultraschalltermin. Es sieht so aus, als würden wir ein Mädchen bekommen.“ Er lächelte. „Manchmal sind sie sich nicht sicher, aber der Arzt hat uns bestätigt, dass es mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein Mädchen wird.“

„Ein Mädchen“, wiederholte Reese, und die Freude, die in seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören. Er stand auf und klopfte Paul anerkennend auf die Schultern. „Hast du das gehört, Jacquie? Nun bekommen wir doch noch ein Mädchen!“

Jacqueline hatte das Gefühl, ihre Hände nicht mehr spüren zu können. „Eine Enkeltochter“, murmelte sie und fühlte, wie ihr eine Gänsehaut über die Arme lief. Oh, wie sie sich nach einer Tochter gesehnt hatte!

„Wir haben bisher noch nicht über Namen nachgedacht“, fügte Tammie Lee hinzu. „Erst heute Nachmittag haben wir uns überhaupt dazu entschieden, dass wir das Geschlecht des Babys wissen wollen. Ihr seid die Ersten, denen wir davon erzählen.“

„Wir haben uns immer eine Tochter gewünscht“, erzählte Reese und sprach Jacqueline damit aus dem Herzen.

„Das ist doch einfach … wundervoll“, brachte Jacqueline schließlich hervor.

„Wir wollten es dir sagen, Mom“, sagte Paul und wandte sich zum ersten Mal seit ihrer Ankunft seiner Mutter zu, „damit du die Wolle für die Babydecke auswählen kannst.“

„Mrs. Donovan, als Paul mir erzählte, dass Sie eine Decke für das Baby stricken, ist mir ganz warm ums Herz geworden. Sie alle sind so nett zu mir.“ Sie legte ihre Hände auf ihren Bauch und seufzte.

Tammie Lees Akzent, ihre ganze Art zu sprechen gingen Jacqueline durch Mark und Bein. Einige Menschen mochten diesen Singsang vielleicht, aber in ihren Ohren klang er einfach nur ungebildet. Unkultiviert.

„Es gibt noch mehr Neuigkeiten“, sagte Paul und rückte auf dem Sofa nach vorn.

„Noch mehr?“, erwiderte Reese. „Erzähl mir nicht, dass ihr Zwillinge bekommt.“

„Nein, das nicht“, entgegnete Paul und lachte.

Tammie Lee lächelte ihrem Ehemann zu. „Zwillinge. Mich macht schon der Gedanke an ein Kind nervös – was wäre dann erst los, wenn wir zwei Babys erwarten würden?“

Paul wandte sich seiner Frau zu und schenkte ihr einen so liebevollen Blick, dass Jacqueline nicht länger hinsehen konnte. Sie senkte den Kopf. Ihre Hoffnung, dass ihr Sohn seine Hochzeit mit diesem Mädchen eines Tages bereuen würde, erstarb augenblicklich.

„Was sind das also für Neuigkeiten, die ihr habt?“, fragte Reese.

Pauls Miene hellte sich auf. „Letzte Woche habe ich erfahren, dass Tammie Lee und ich in den Seattle Country Club aufgenommen werden.“ Der Club, in dem auch Jacqueline und Reese Mitglieder waren, war der einflussreichste in der Gegend. Neuaufnahmen waren begrenzt, und nur wenige Menschen hatten jedes Jahr das Glück, zugelassen zu werden. Jaqueline hatte angenommen, dass Paul durch Tammie Lee keine Chance hätte, jemals in seinem Leben Clubmitglied zu werden.

„Das freut mich“, erklärte Jacqueline säuerlich und tat ihr Bestes, um zu lächeln. Offensichtlich hatten die langatmigen und unpassenden Ausführungen Tammie Lees über die Südstaatenküche nicht so viel Schaden angerichtet, wie Jacqueline befürchtet hatte.

„Man hat mich gefragt, ob ich im Kochbuch-Komitee mitarbeiten möchte“, erzählte Tammie Lee und wirkte so aufgeregt, als sei ihr nie etwas Schöneres widerfahren. „Ich kann gar nicht mehr sagen, wie oft ich gebeten wurde, Mamas, Tante Thelmas oder Tante Friedas Rezepte zu verraten.“

„Rezepte für was?“, platzte Jacqueline heraus.

„Meistens wollen die Leute das Rezept für Hush Puppies, also Maisklößchen. Vier oder fünf Damen haben sich bereits danach erkundigt.“

„Hush Puppies?“

„Das ist so etwas wie Maisbrot, Mutter“, erklärte Paul.

„Ich weiß, was das ist“, presste Jacqueline zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Paul liebt meine Hush Puppies“, fuhr Tammie Lee eifrig fort. „Meine Mama hat mir erzählt, der Name würde daher stammen, dass Jäger früher die Reste ihres Maisbrotes an ihre Hunde verfüttert haben. So blieben sie in der Nacht ruhig.“

Das ist das Rezept, das du für das Seattle-Country-Club-Kochbuch einreichen willst?“, fragte Jacqueline und war sich sicher, dass sie sich vor lauter Scham nie wieder in der Öffentlichkeit würde blicken lassen können.

„Oh, außerdem habe ich meine Mama noch um Großmutters Rezept für Braunschweiger Eintopf gebeten – das ist übrigens das Lieblingsgericht meines Vaters. Meine Großmutter ist in Georgia aufgewachsen, bevor sie meinen Großvater kennengelernt hat und nach Tennessee gezogen ist. Ich war fast achtzehn, als wir nach Louisiana gezogen sind. Ich bin also ein echtes Südstaatenmädchen.“

„Braunschweiger Eintopf“, sagte Jacqueline. Das klang doch wenigstens ein wenig vorzeigbar.

„Das ist die Südstaatenvariante des Chilis. Mama hat es immer gemacht, wenn wir gegrillt haben. Sie hat noch das Originalrezept meiner Großmutter. Das muss ich natürlich ein bisschen abwandeln, denn heutzutage nimmt man Schweinefleisch oder Hühnchen statt Beutelratte oder Eichhörnchen.“

Noch ein Wort von dieser Frau und Jacqueline war sich sicher, in eine tiefe Ohnmacht zu fallen.

„Ich hoffe, du hast ihnen dein Rezept für frittierte Okraschoten gegeben“, sagte Paul und klang, als hätte er nie zuvor in seinem Leben etwas derart Köstliches gegessen. „Du wirst nicht glauben, was Tammie Lee alles aus Okra zaubern kann. Ich schwöre dir, es schmeckt himmlisch.“

Nur ein einziges Mal hatte Jacqueline das schleimige grüne Gemüse gekostet. Die Okraschoten waren in einer Suppe verwendet worden. Jacqueline hatte sie noch nie vorher gesehen oder gegessen und war im ersten Moment von der dickflüssigen Konsistenz der Suppe abgeschreckt. Sie hätte schon beim Anblick beinahe angefangen zu würgen. Und jetzt erzählte ihr Sohn, dass er dieses furchtbare Gemüse liebte.

„Ich habe ein Rezept für Kuchen mit Pekannüssen. Der Kuchen ist in unserer Familie sehr beliebt, und ich werde das Rezept wohl auch vorschlagen.“

„Ich glaube, wir haben es Tammie Lees Kochkünsten zu verdanken, dass wir in den Countryclub aufgenommen worden sind.“

Jacqueline biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte nicht damit herausplatzen, dass sie seit Jahren ehrenamtlich für den Club tätig war. Ihre Wohltätigkeitsprojekte waren die einträglichsten Spendenaktionen des Clubs. Reeses‘ Name zählte natürlich auch eine ganze Menge – aber offensichtlich hatte ihr Sohn vergessen, die langjährige Mitwirkung seiner Eltern als Grund für seine Mitgliedschaft in Betracht zu ziehen. Stattdessen nahm er an, Tammie Lees Angewohnheit, von Autos überfahrene Tiere zu kochen – Eichhörnchen, um Himmels willen! –, hätte ihnen die Türen geöffnet.

„Ihr scheint jede Menge gute Neuigkeiten zu haben“, sagte Reese und lächelte zufrieden.

„Ja“, stimmte Jacqueline zu und strengte sich an, glücklich auszusehen. Sie gab sich wirklich Mühe, doch es fiel ihr nicht leicht.

„Ich denke, es gibt kein Paar, das glücklicher sein könnte“, flötete Tammie Lee. „Ich kann nicht glauben, dass irgendein anderer Mann so viel Liebe für eine Frau empfindet wie Paul für mich – besonders, seit wir wissen, dass wir ein Kind erwarten.“

„Wir sind froh, dass du nun zu unserer Familie gehörst“, entgegnete Reese.

„Ich kann eure Freude und eure Liebe spüren“, erwiderte Tammie Lee und sah Reese an. „Und ich kann euch nicht genug danken, dass ihr mich so freundlich aufgenommen habt.“

Paul sah seine Mutter an. Er kannte ihre wahren Gefühle. Sie konnte vielleicht Tammie Lee hinters Licht führen, aber ihr Sohn kannte sie einfach zu gut. Er tat alles, um seine junge Frau vor Jacquelines Unmut zu bewahren. Früher hatten Mutter und Sohn sich sehr nahegestanden, doch seit Tammie Lee in sein Leben getreten war, war diese Nähe verschwunden.

In diesem Moment konnte Jacqueline die leidenschaftliche Kampfbereitschaft in den Augen ihres Sohnes lesen. Sie wusste: Wenn sie auch nur ein Wort sagte, das Tammie Lee verletzte, würde ihr Sohn ihr das nie verzeihen.

11. Kapitel

Carol Girard

Carol stellte einen frischen Strauß Blumen in die Mitte des gedeckten Abendbrottisches. Sie machte einen Schritt zurück, um ihr Werk zu betrachten. Am frühen Nachmittag hatte sie auf dem Markt weiße Lilien und rote Tulpen sowie frischen Lachs und Spargelspitzen für das Essen besorgt. Die Blumen standen jetzt von ihr selbst arrangiert in einer Porzellanvase, die ein Geschenk von Doug zum letzten Hochzeitstag war.

So viele Jahre lang hatte sie all ihre Energie in ihre Karriere gesteckt. Als sie ihren Job dann kündigte, geriet sie ins Wanken und wusste nicht, wie sie ihre Zeit sinnvoll nutzen konnte. Möglicherweise wäre sie aufgeschmissen gewesen, hätte sie nicht ihre Online-Selbsthilfegruppe gehabt. Diese Frauen waren für sie so wichtig geworden wie Schwestern. Sie alle kämpften mit ihrer Unfruchtbarkeit und unterstützten sich gegenseitig mit Rat und Trost. Es ermutigte Carol, dass einige der Frauen ebenfalls zu stricken begonnen hatten, um zu entspannen. Und auch, um ein Erfolgserlebnis zu haben – das Gefühl, etwas erreichen zu können. Auch sie verfolgte diese Ziele. Aber für sie war das Stricken darüber hinaus ein Zeichen dafür, dass sie ein Leben als Mutter führen wollte und vor allem auch würde.

Seit dem Tag, an dem sie den Wollladen in der Blossom Street entdeckt hatte, schien sich alles zum Guten zu wenden.

Seit sie Lydia und die anderen Frauen kannte, war ihr, als wäre die Tür zu einer ganz neuen Welt aufgestoßen worden. Zum ersten Mal sah sie in ihrer Wohnung nicht nur einen Schlafplatz oder einen Ort, an dem man sich ab und zu mit Freunden traf; es waren ihre vier Wände. Und sie entschloss sich, ein richtiges Heim daraus zu machen. Sie wollte kleine Veränderungen vornehmen, die ihre Liebe zu ihrem Mann und zu ihrem ungeborenen Kind ausdrücken sollten.

Normalerweise gingen sie in ein Restaurant, wenn ihr Bruder sie besuchte. Aber an diesem Abend plante Carol, zu Hause zu kochen. Rick hatte am Telefon geklungen, als sei er in Schwierigkeiten. Deshalb wollte sie für eine wohltuende, intime Atmosphäre sorgen, damit sie frei und ungezwungen über alles sprechen konnten.

Das Einkaufen und Dekorieren hatte einen Großteil ihres Nachmittags in Anspruch genommen. Doch sie genoss jede Sekunde. Noch vor sechs Monaten hätte sie nicht geglaubt, dass Blumen zu arrangieren oder einen ganzen Vormittag zwischen den Regalen eines Bauernmarktes herumzulaufen ihr Spaß machen würde. Doch mittlerweile verschafften ihr diese kleinen häuslichen Tätigkeiten Freude und ein Gefühl der Befriedigung. Sie tat es für ihre Familie.

Rick hatte aus der Lobby angerufen, und sie stand an der Tür, um ihn in Empfang zu nehmen. Als ihr Bruder hereinkam, umarmte sie ihn liebevoll.

„Also“, begann er und machte einen kleinen Schritt zurück, um seine Schwester besser ansehen zu können, „ich hätte nicht mit so einem stürmischen Empfang gerechnet.“ Es überraschte ihn sichtlich, dass sie ihn so innig begrüßte.

„Tut mir leid. Es ist einfach so schön, dich zu sehen.“

Er lachte und sah sich in der Wohnung um. „Wo ist denn Doug?“

„Er hat angerufen – bei ihm wird es später. Aber ich bin mir sicher, dass er bald kommt.“

Sie warf einen Blick auf die Uhr, als sie ihren Bruder ins Wohnzimmer führte. Doug hatte sich nicht so begeistert über Ricks Besuch gezeigt wie Carol. „Möchtest du ein Bier?“ Ihr Bruder trank selten. Und nur wenn er in den nächsten vierundzwanzig Stunden keinen Flug absolvieren musste.

„Ja, gern.“ Er ließ sich auf einen Sessel sinken, von dem aus er einen freien Blick aufs Wasser hatte. Eine Weile sagte er kein Wort. Als Carol ihm sein Bier brachte, lächelte er sie an und fragte: „Kann ich dir bei den Vorbereitungen für das Abendessen helfen?“

„Nein, es ist beinahe alles fertig.“ Sie ging in die Küche, um den Salat zu holen.

Er nickte und schwieg. Als sie wieder zurückgekehrt war, sah er sie plötzlich an. „Du hast alles richtig gemacht, kleine Schwester“, sagte er und klang beinahe traurig. Er nahm einen Schluck von seinem Bier.

„Du doch auch“, erwiderte sie.

Er lachte leise. „Habe ich das wirklich?“

„Meine Güte, Rick“, begann sie und versuchte, seine düstere Stimmung ein wenig aufzuhellen. „Du bist Pilot einer namhaften Fluggesellschaft. Dein Traum ist wahr geworden.“ Ihr Bruder hatte sich Stück für Stück hochgearbeitet. Seit sie denken konnte, hatte er von nichts anderem geredet, als eines Tages Pilot zu sein. Und seit er alt genug war, hatte er Flughäfen besucht, mit Piloten gesprochen und alles an Informationen in sich aufgesogen, was er bekommen konnte.

Er lächelte und nickte zustimmend. „Ich sollte wohl glücklich sein, hab ich recht?“

„Bist du es denn nicht?“ Sie ging zu ihm und ließ den Salat auf der Anrichte stehen. Die letzten Handgriffe konnten noch warten. „Was ist los?“

„Entschuldige bitte. Entschuldige.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung und lachte. „Ich weiß nicht, was da gerade über mich gekommen ist. Mir geht’s gut. Vergiss einfach, was ich gesagt habe.“

„Nein, das werde ich nicht. Jetzt erzähl mir schon, was dich bedrückt. Du bist doch nicht hierhergekommen, um zum x-ten Mal den Ausblick aus unserer Wohnung zu genießen, stimmt’s?“

Er zuckte die Schultern und ging nicht auf ihre Frage ein. „Eigentlich war ich ganz guter Laune, bis ich gesehen habe, was du mit der Wohnung angestellt hast.“

„Was habe ich denn gemacht?“, fragte sie lächelnd. „Und warum hat das deine Laune ruiniert?“

Ihr Bruder sah sich um und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht genau, was es ist, aber irgendwas ist anders.“

Er bemerkte es also. Im Grunde genommen stand alles am selben Platz wie bei seinem letzten Besuch. Die Möbel waren auch noch dieselben. Äußerlich hatte sich also wenig verändert. Und trotzdem wirkte die Wohnung anders. Die Blumen, das polierte Holz, die glänzenden Gläser – all das waren kleine Dinge, aber sie drückten Carols veränderte Einstellung zum Thema „Zuhause“ aus. Diese Wohnung war nun ein heimeliger, liebevoller Ort, der wie geschaffen war für ein Kind.

„Es gibt tatsächlich etwas, das sich geändert hat“, erklärte sie, „aber das bin ich selbst. Ich bin glücklich, Rick, einfach richtig glücklich.“

Der leere Ausdruck in seinem Gesicht trieb ihr Tränen in die Augen. „Und du bist nicht glücklich“, sagte sie leise.

„Nein“, erwiderte er, lehnte sich vor und stützte die Arme auf seine Schenkel. „Nichts scheint mehr richtig und gut zu sein, seit Ellie nicht mehr bei mir ist.“

Vor einem Jahr waren Ellie und Rick geschieden worden. Noch nie hatte er über die Trennung gesprochen. Seine Entschlossenheit, das Thema nun zur Sprache zu bringen, zeigte, wie schlecht es ihm gehen musste.

„Ich liebe sie noch immer“, gab er zu. „Aber ich habe alles kaputt gemacht.“

Carol hielt unwillkürlich den Atem an. Weil sie beide liebte – ihren Bruder und Ellie –, hatte sie ihr Bestes getan, um sich aus der Angelegenheit rauszuhalten. Das einzige Gespräch mit Ellie war unangenehm und verstörend gewesen. Carol hatte sie seitdem nicht mehr angerufen.

Carol war nicht die Einzige, die die Hintergründe der Scheidung nicht kannte. Auch ihre Eltern wussten nicht genau, was das Scheitern von Ricks Ehe verursacht hatte. Was immer es auch gewesen sein mochte, er schien es zu bereuen und seine Exfrau zurückhaben zu wollen. „Hast du noch Kontakt zu Ellie?“, fragte sie.

Er nickte. „Sie sagt, es sei besser, wenn wir getrennte Wege gehen würden. Ich habe es versucht, Carol, ich habe es wirklich versucht. Aber mein Leben ist alles andere als gut ohne Ellie. Ich hatte keine Ahnung, dass es so werden würde.“ Er blickte kurz zur Decke und atmete tief durch. „Ich habe gehört, dass sie sich mit einem anderen trifft.“

„Das tut sicher weh.“ Die beiden waren auf dem College zusammengekommen. Carol konnte sich noch an den Tag erinnern, als sie die offene, fröhliche Blondine zum ersten Mal sah. Sie mochte Ricks Freundin auf Anhieb und hoffte damals sofort, sie eines Tages in ihrer Familie begrüßen zu können.

„Der Gedanke, dass Ellie jetzt mit einem anderen Mann zusammen ist, macht mich wahnsinnig. Ich kann immer nur daran denken, wie dumm ich gewesen bin. Ich würde alles tun, um wieder mit ihr ins Reine zu kommen. Wenn das bedeuten sollte, dass ich meinen Job an den Nagel hängen muss, würde ich das tun – ohne mit der Wimper zu zucken.“

„Das tut mir alles so leid.“ Carol wusste nicht, wie sie ihm helfen konnte. Zumal sie doch gar nicht wusste, was tatsächlich geschehen war.

„Ja, mir auch.“

„Willst du erzählen, was passiert ist?“

„Hat Ellie dir das nicht gesagt?“, fragte er und blickte sie überrascht an.

Carol schüttelte den Kopf. „Ich habe sie zwar angerufen, nachdem du mir erzählt hast, dass sie die Scheidung eingereicht hat, aber sie wollte nicht darüber sprechen.“ Sie erwähnte nicht, dass Ellie am Telefon in Tränen ausgebrochen war. Bis zum Schluss hatte Carol gehofft, die beiden würden ihre Schwierigkeiten in den Griff bekommen und sich zusammenraufen. Nach der Scheidung schien es jetzt so, als wolle Ellie ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

„Ich bin so oft fort von zu Hause“, sagte ihr Bruder. „Da ist man einsam, weißt du?“

Das hatte auch Ellie angedeutet. Doch Carol wollte es nicht glauben. Rick hätte seiner Frau niemals so etwas angetan, versuchte sie sich einzureden. Er war ihr großer Bruder, ihr Held. Trotzdem musste sie es jetzt wissen. „Du … hattest doch keine Affäre, oder?“

„Nein“, antwortete er. „Das war es nicht … aber Ellie – sie konnte nicht damit umgehen, dass ich in meinem Job ständig von hübschen Frauen umgeben und selten zu Hause war. Das war eine Sache des Vertrauens.“

Für Carol machte die Tatsache, dass er ständig mit Frauen zu tun hatte, es auch nicht leichter, ihm zu vertrauen. Aber das würde sie nur ungern zugeben. Ihr Bruder musste nichts von ihren Unsicherheiten und Zweifeln wissen.

„Ich weiß nicht, warum sie so gedacht hat“, fuhr Rick fort. „Ich liebe Ellie.“ Er strich sich über die Stirn. „Ich habe versucht ihr klarzumachen, dass sie die einzige Frau in meinem Leben ist. Doch sie hat mir nicht einmal zugehört. Bis heute kann ich nicht glauben, dass sie unsere Ehe einfach so weggeschmissen hat – nur weil sie mir nicht vertrauen konnte.“

Carol konnte das auch nicht glauben, aber sie behielt ihre Gedanken für sich. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder war Ellie eifersüchtig und irrational, oder es steckte mehr hinter ihren Vermutungen – mehr, als Rick zugab.

„Ich habe alles getan, um Ellie die Scheidung auszureden“, sagte er. „Okay, ich gebe zu, dass ich manchmal in Versuchung geraten bin. Aber was zur Hölle soll ich auch jeden Abend allein im Hotel machen? Fernsehen? Ab und zu bin ich auch ausgegangen. Kann man mir das zum Vorwurf machen?“

Vielleicht gab es doch einen handfesten Grund für Ellies Misstrauen. Trotzdem fand Carol es noch immer unglaublich, dass er seiner Frau so etwas angetan haben sollte. Er war ein ehrbarer Mann – aber eben ein Mann. Und wenn er ab und zu mit einer Stewardess ein Gläschen getrunken hatte, was war daran so schlimm? Möglicherweise war Ellies Reaktion übertrieben.

„Ich denke, ich sollte dankbar sein, dass wir noch keine Familie gegründet hatten“, murmelte er.

Da gab sie ihm recht. Wenn es etwas Gutes an der ganzen Sache gab, dann das. Sie konnte den Gedanken, dass Kinder unter einer Scheidung und einem zerrütteten Familienleben leiden mussten, kaum ertragen.

„Ellie wollte immer Kinder. Aber ich war noch nicht so weit.“

Sie nickte.

„Hast du eine Ahnung, was ich jetzt tun soll?“, fragte er und blickte sie erwartungsvoll an.

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Was sie ihm sagen sollte, wusste sie jedoch nicht. Wahrscheinlich war Rick selbst sein schlimmster Feind. Er war schon immer ein geselliger Mensch gewesen, ein Partylöwe, ein Draufgänger. Carol hatte ihn dafür bewundert. Er war ihr charmanter großer Bruder. Und nun machte es sie traurig, dass er so unglücklich war.

„Du musst Ellie beweisen, dass du der Richtige für sie bist.“

„Aber wie?“, fragte er verzweifelt. „Ich weiß einfach nicht mehr weiter, Carol. Ellie hat gesagt, sie will mich nie wieder sehen.“

„Du könntest ihr schreiben.“

„Was schreiben?“

„Einen Brief“, erklärte Carol. „Oder besser eine E-Mail. Schreib ihr, dass du ein Idiot warst.“

„Ich denke, das weiß sie schon.“ Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Unterhaltung sah sie, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte. „Was, wenn sie mir nicht antwortet?“

„Nimm ein Nein nicht hin. Lass sie wissen, dass du nicht so schnell aufgeben wirst.“

„Soll ich ihr Blumen schicken? Oder etwas anderes in der Richtung?“

„Bring ihr Erdbeeren und andere Früchte mit.“ Frisches Obst war in Alaska zwar erhältlich, kostete jedoch ein Vermögen. „Einen ganzen Korb voll“, schlug Carol vor. „Wenn ich mich recht erinnere, liebt Ellie Blaubeeren.“

„Tatsächlich?“

„Rick! Das solltest du wissen. Schließlich warst du mit ihr verheiratet.“

„Das ist das Problem“, stöhnte ihr Bruder. „Ich habe ihr viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und ich habe nicht geahnt, wie sehr ich sie liebe, bis es irgendwann zu spät war.“

„Dann musst du all das nachholen.“

Er grinste. Es war dasselbe jungenhafte Lächeln, das sie seit Kindertagen kannte. „Deine Begeisterung ist ansteckend. Glaubst du wirklich, dass ich sie zurückgewinnen kann?“

„Ja“, erwiderte sie voller Überzeugung. Es tat gut, dass ihr Bruder sich an sie wandte und ihre Hilfe erbat. Rick hatte einen Fehler begangen und nicht um seine Ehe gekämpft. Aber sie würde alles tun, um ihn nun darin zu unterstützen, das wiedergutzumachen.

12. Kapitel

Alix Townsend

Am Dienstagabend kam Jordan Turner in die Videothek. Als Alix sah, dass er den Laden jedoch jeden Moment wieder verlassen würde, ging sie nach draußen und gab vor, eine Pause zu machen. Ihre Hand zitterte, als sie sich eine Zigarette anzündete. Lässig lehnte sie sich an die Hauswand und nahm einen tiefen Zug in der Hoffnung, das Nikotin würde sie beruhigen.

Als die Tür aufging und Jordan herauskam, rief sie: „Hi!“

Er blickte über seine Schulter. „Wie geht’s?“, fragte er.

„Ganz gut. Hab dich gar nicht kommen sehen“, log sie. „Ich habe dir eine Kopie von The Matrix zurückgelegt, wenn du immer noch interessiert bist.“

„Ja, klar. Danke.“

„Gern geschehen.“ Sie zog ihre Zigaretten aus der Tasche und bot ihm eine an.

„Nein danke.“

Sie hätte sich denken können, dass er Nichtraucher war. Versonnen starrte sie auf ihren Glimmstängel und sagte: „Ich versuche gerade, es mir abzugewöhnen. Das sind schon Light-Zigaretten, aber ich schwöre, ich werde mir noch eine Zerrung holen bei dem Versuch, aus diesen Dingern Geschmack zu saugen.“

Er lachte, obwohl ihr Witz nicht besonders gut war. Ein warmes, glückliches Gefühl breitete sich in ihr aus.

„Ich habe dich schon öfter in der Gegend gesehen“, sagte Jordan.

„Alix Townsend. A-L-I-X geschrieben.“ Sie streckte ihre Hand aus, und er schüttelte sie. „Du bist Jordan Turner“, fuhr sie fort, bevor er die Chance hatte, sich vorzustellen. „Eine Kopie deines Führerscheins ist in unseren Akten. Du wohnst in der Nähe der Fifth Avenue, stimmt’s?“ Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie an ihm interessiert war. Sie musste wieder an den Jungen aus der Grundschule denken, der genauso hieß wie der junge Mann. Damals hatte sie sich in den netten Jungen verknallt. Doch all das war schon so lange her, dass es beinahe nicht mehr wahr schien.

„Ja, das stimmt.“

Konnte es sein, dass er der Jordan Turner war? Sie betrachtete ihn und fragte sich, wie wahrscheinlich ein solcher Zufall wäre. Dann nahm sie noch einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, um ihre Nerven zu beruhigen.

Nein, dies konnte nicht derselbe Jordan Turner sein. Allerdings konnte sie sich nicht ganz genau erinnern … Gerade hatte sie genug Mut gefasst, um ihn einfach zu fragen, als er die Unterhaltung fortsetzte.

„Ich arbeite nicht weit von hier.“

Also kam er auf seinem Weg von der Arbeit nach Hause im Videoladen vorbei. Viele Leute machten das so.

„Man kann viel über einen Menschen sagen, wenn man weiß, was für Filme er ausleiht“, behauptete sie. Sie warf die Zigarette auf den Gehsteig und trat sie mit dem Absatz ihres Stiefels aus.

„Das will ich gern glauben.“

„Möchtest du wissen, was ich über dich erfahren habe?“ Das war in Unterhaltungen einer ihrer Lieblingstricks – Charakteranalysen anhand der Filmauswahl. Jedoch hatte sie nicht oft die Gelegenheit, ihn anzuwenden.

Er schmunzelte. Ihr fiel mit einem Mal auf, wie süß er aussah, wenn er lächelte. Laurel konnte nicht nachvollziehen, was sie an einem Typen fand, der so durchschnittlich und normal war wie Jordan. Und Alix konnte es ihr nicht erklären. Jemand, der in einen Mann verknallt war, der perverse Sexfilme auslieh, würde das sowieso nicht verstehen.

Jordan lehnte sich neben sie an die Wand. „Fang an und erzähl mir, was du rausgefunden hast.“

Aufgeregt und verwirrt, wie sie im Moment war, wusste sie nicht, wie sie sich ausdrücken sollte. Sie geriet ins Schleudern und rang nach Worten – und zu ihrer grenzenlosen Enttäuschung fiel ihr einfach nichts Sinnvolles ein. In einem letzten Versuch machte sie eine undefinierbare Handbewegung und sagte: „Sie sind cool.“

„Cool?“, wiederholte er. „Du meinst, die Filme, die ich ausleihe, sind cool?“

„Ja.“ Sie wollte im Boden versinken.

„Danke.“

Sie spürte, dass sie rot wurde. „Ich muss wieder an die Arbeit“, murmelte sie, und ohne ein weiteres Wort lief sie zurück in den Laden.

Und um alles noch schlimmer zu machen, wartete Laurel schon neugierig auf sie. „Wie ist es gelaufen?“, fragte sie ihre Mitbewohnerin.

Stumm starrte Alix sie an.

Laurel rang die Hände. „Doch so schlimm?“

Plötzlich merkte Alix, wie sich Übelkeit in ihr ausbreitete. Es war die gleiche Übelkeit, die sie von früher kannte, wenn ihre Eltern wieder einmal miteinander stritten. Der Schmerz darüber hatte ihren Magen angegriffen – als ob sie schuld an allem Übel sei. Jordan war möglicherweise derselbe Jordan Turner, mit dem sie zusammen in der Grundschule gewesen war. Doch sie hatte keine Zeit gehabt, ihn zu fragen. Und nun, da sie einfach weggerannt war, würde sie bestimmt keine Chance mehr dazu bekommen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Laurel und musterte sie.

Alix machte eine wegwerfende Handbewegung und ging zum Badezimmer im hinteren Teil des Ladens. Die Toilette war widerlich. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, wann sie zum letzten Mal gereinigt worden war. Der blaue Zusatz zum Spülwasser konnte nicht mehr verdecken, dass sich in der Schüssel langsam Verfärbungen zeigten. Seltsam, dass ihr das in diesem Moment auffiel.

Sie stand am Waschbecken und starrte in den Spiegel. Die Stimmen in ihrem Kopf kannte sie nur zu gut. Es waren hässliche, negative Stimmen, die ihr Worte entgegenschrien, die sie nicht hören wollte. Sie lachten sie aus und riefen, sie sei eine Versagerin. Egal, was sie anfasste oder wie sehr sie sich bemühte, sie würde niemals etwas erreichen. Ihr Leben war verdammt. Dies war ihr Schicksal. Niemals würde sie mehr verdienen als das Minimalgehalt, niemals würde sie geliebt werden, niemals würde sie ein eigenes Heim besitzen. All die Sachen, die für normale Menschen so selbstverständlich waren wie ein Telefon oder eine Spülmaschine.

Sie schlug die Hände vors Gesicht, schloss die Augen und fühlte, wie sich tiefe Trauer in ihr ausbreitete. Sie konnte spüren, wie sich ein Gewicht auf ihre Schultern senkte, wie es sie niederdrückte. Vergeblich versuchte sie, die Depression zu vertreiben.

Sie hörte die widerwärtigen Namen, die ihre Mutter ihr gegeben hatte. Sie nahm die Schelte der Lehrer und die schmerzlichen, herablassenden Kommentare ihrer Mitschüler wahr. Die Demütigung war genauso deutlich zu spüren wie vor zwölf Jahren. Alix wollte die verletzenden Worte begraben, loswerden, nie wieder hören. Doch stattdessen hallten sie mit solcher Macht in ihrem Kopf, dass sie das Gefühl hatte, ihre Knie würden unter ihrem Gewicht nachgeben.

Es klopfte an der Tür. Überrascht wandte sie den Kopf.

„Alix, bist du da drin?“

Laurel. Verdammt. „Was ist?“, stieß sie missmutig hervor.

„Er ist wieder da.“

„Wer?“

„Der Typ, mit dem du dich vorhin unterhalten hast. Ich weiß nicht, wie er heißt.“

Alix biss sich auf die Unterlippe. „Du kannst ihm doch weiterhelfen.“

„Er hat aber nach dir gefragt.“

„Warum?“, fragte sie und runzelte die Stirn.

„Keine Ahnung“, entgegnete Laurel genervt. „Soll ich auch noch Gedanken lesen können?“

„Ich komme in einer Minute, okay?“ Alix straffte die Schultern, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und versuchte, mit dieser Situation zurechtzukommen. Sie fragte sich, warum Jordan sie sehen wollte.

Weil ihr Gesicht ganz rot war, ließ sie kaltes Wasser über ihre Hände laufen und presste sie gegen ihre Wangen.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis sie endlich den Mut gefasst hatte, rauszugehen und Jordan gegenüberzutreten.

Er stand am Tresen und wartete. Als sie näher kam, lächelte er.

„Du hast nach mir gefragt?“, begrüßte sie ihn, als hätte er sie bei irgendetwas gestört. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als freue sie sich darüber, ihn zu sehen – und in Wahrheit tat sie das auch nicht. Nachdem sie sich einmal vor ihm blamiert hatte, verspürte sie nicht das Bedürfnis, diese Erfahrung zu wiederholen. Nicht jetzt zumindest.

„Du hast gesagt, du hättest mir The Matrix zurückgelegt?“

Ihre Erleichterung kannte keine Grenzen. „Ja, das hätte ich beinahe vergessen. Er ist da vorne“, sagte sie und ging an ihm vorbei zu dem Regal, in das sie den Film gelegt hatte.

„Danke, dass du das für mich getan hast.“

„Kein Problem“, erwiderte sie und starrte angestrengt auf den Computermonitor hinter dem Tresen. Nachdem er die Leihgebühr bezahlt hatte, legte Alix das Video in die Hülle, verstaute alles in einer Tüte und reichte sie ihm über den Tresen. „Wir haben diese Woche Mikrowellen-Popcorn im Angebot, falls du Lust hast.“

„Nein danke. Ich habe gerade einen Rieseneimer davon gekauft. Ich denke, ich habe für die nächsten zehn Jahre genügend Popcorn.“

Sie stützte die Ellbogen auf den Tresen. Die Situation war ihr peinlich. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen, was sie fragen sollte. Wenn sie jetzt den Jordan Turner aus der vierten Klasse erwähnen würde, musste sich das wie eine lahme Anmache anhören. „Äh, gibt es denn noch andere Filme, die ich für dich beiseitelegen soll?“ Das war nicht gerade eine brillante Frage, aber wenigstens ergab sie einen Sinn.

Er zuckte die Schultern. „Ich wüsste im Augenblick nicht, welchen. Aber wenn mir etwas einfällt, sage ich es dir.“

„Okay.“

Mit einem Kopfnicken ging er. Die Glastür schloss sich hinter ihm, und wie durch ein Wunder erschien just in diesem Moment Laurel. „Was wollte er?“

„Einen Film, was sonst?“

„Und wieso hat er nach dir gefragt?“

Alix verspürte nicht das geringste Bedürfnis, Laurel alle Details zu erzählen. „Woher soll ich das wissen?“

„Es gibt keinen Grund, so zickig zu werden.“

Die Tür ging auf. Zu Alix’ grenzenloser Überraschung schob Jordan seinen Kopf durch den Spalt. „Alix, um wie viel Uhr hast du Feierabend?“

Sie war zu geschockt, um direkt zu antworten. „Um elf. Drei Nächte die Woche schließe ich den Laden ab.“

„Und wie sieht es morgen aus? Schließt du da ab?“

„Nein. Mittwochs arbeite ich bis um neun.“

„Möchtest du dann mit mir einen Kaffee trinken gehen? Nach der Arbeit?“

„Äh …“ Sie fand es beinahe unglaublich, dass er sie bat, mit ihm auszugehen. Oder jedenfalls fast. „Ja, warum nicht“, sagte sie, als wäre es etwas ganz Normales.

„Gut, dann sehen wir uns morgen.“ Er winkte ihr zu und verschwand.

Ein Glücksgefühl stieg langsam in ihr auf. Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht vor Freude in die Luft zu springen.

13. Kapitel

„Stricken – meine fantastische Gnade.“

(Nancie M. Wiseman, Redakteurin beim Cast On Magazin, Autorin von Classic Knitted Vests und The Knitter’s Book of Finishing Techniques)

Lydia Hoffman

Am Anfang der Woche rief meine Mutter mich an. Sie fragte, ob sie, Margaret und ich am Volkstrauertag zusammen zum Friedhof gehen könnten, um Daddys Grab zu besuchen. Es war erst ein paar Monate her, dass wir Vater beerdigt hatten. Für meine Mutter war es nach wie vor eine schwierige Phase. Sie musste sich erst damit abfinden, dass sie nun Witwe war.

Ich sagte sofort zu. Aber ich fragte mich gleichzeitig, wie Margaret reagieren würde. Sie hatte es am Muttertag erfolgreich geschafft, die Situation so zu drehen, dass wir uns nicht getroffen hatten. Bei allem, was die Familie betraf, reagierte Margaret gereizt und reserviert. Es schien, als wollte sie vergessen oder verdrängen, dass wir dieselben Eltern hatten. Mehr als einmal schoss mir durch den Kopf, dass Margaret vielleicht besser damit klargekommen wäre, wenn ich und nicht unser Vater gestorben wäre. Das war kein schöner Gedanke. Aber wenn ich ihre Einstellung betrachtete, glaubte ich, dass es stimmte. Trotzdem wollte ich nicht aufgeben. Irgendein verquerer Teil von mir weigerte sich, sie loszulassen.

Sie ist schließlich meine Schwester. Nach all dem, was ich erlebt habe, glaube ich, dass wir – auch wenn wir uns nicht mögen – einander doch brauchen.

Am frühen Montagnachmittag kam ich am Haus meiner Mutter an und fand sie auf der hinteren Veranda im Garten, wo sie Tee trank. Sie trug einen langen schwarzen Rock und eine schwarze Bluse, saß in ihrem Weidensessel und genoss den Sonnenschein.

Die Rosen waren beschnitten und trieben Knospen, und der süßliche Duft des Fliederbusches erfüllte die Luft. Mutter hielt ein Taschentuch in der Hand. Sie hatte offensichtlich geweint.

Ich ging zu ihr und legte ihr wortlos meine Hand auf die Schulter. Sie blickte auf und schenkte mir ein schwaches Lächeln. Dann legte sie ihre Hand auf meine und drückte sie sanft. „Ich vermisse ihn noch immer.“

„Ich auch“, flüsterte ich und merkte, dass meine Stimme zitterte.

„Dad hätte es bestimmt nicht gutgeheißen, dass wir so rührselig sind. Es ist ein so schöner Tag, und gleich werde ich mit meinen beiden Töchtern zusammen einen schönen Nachmittag haben. Wieso also sollte ich traurig sein?“ Sie ergriff die Teekanne. Ich sah, dass sie auch für mich eine Tasse gedeckt hatte. Ohne mich groß zu fragen, schenkte sie mir Tee ein. Ich ließ mich dankbar in den Sessel neben ihr sinken.

Wir unterhielten uns ein bisschen. Meine Mutter stellte eine Menge Fragen über das A Good Yarn, über meinen Anfängerkurs und die drei Frauen, die daran teilnahmen. Ich hatte Jacqueline, Carol und Alix schon öfter erwähnt und erzählte ihr auch von meinen anderen Kunden. Langsam, aber stetig baute ich meinen Kundenstamm aus. Und ich schloss, was ebenso wichtig war, neue Freundschaften. Meine Welt wurde jeden Tag ein bisschen größer, und das machte mich glücklich. Whiskers war ebenfalls zufrieden. Er hatte sich angewöhnt, seine Zeit im Laden zu verbringen, wo er sich meistens im Schaufenster sonnte. Mein Kater war ein willkommener Gesprächseinstieg, und meine Kunden mochten ihn. Und er genoss die Aufmerksamkeit.

Ich freute mich über den Fortschritt, den jede einzelne meiner Schülerinnen gemacht hatte. Es war nur ein bisschen schwierig, Jacqueline beinahe jede Woche davon zu überzeugen, den Kurs nicht hinzuschmeißen. Eigentlich wollte sie bereits nach der zweiten Stunde den Unterricht aufgeben. Aber ich konnte sie überreden, weiterzumachen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie wollte, dass ich sie bat zu bleiben. Im Endeffekt war ich glücklich, dass ich es getan hatte. In der dritten Stunde hatte es noch einige riskante Momente gegeben; immer wenn Alix eine Masche verlor, fing sie an, so unflätig zu schimpfen, dass ich fürchtete, Jacqueline würde jeden Augenblick ins Koma fallen. Ich schlug Alix vor, einen anderen Weg zu finden, um ihren Frust auszudrücken. Zu meiner Überraschung entschuldigte sie sich – es war nicht das erste Mal, dass sie mich beeindruckte. Sie war gar nicht so schlimm, man musste sie nur erst mal etwas näher kennenlernen.

Carol war meine begabteste Schülerin. Sie hatte die Babydecke fast fertig und sah sich bereits nach neuen Projekten um. Sie kam mindestens zweimal die Woche in meinen Laden und unterhielt sich mit mir. Whiskers saß ein paarmal auf ihrem Schoß und zeigte mir damit, dass er meine neue Freundin durchaus guthieß.

Mom liebt es, Geschichten aus meinem Laden zu hören. Wir reden fast jeden Tag miteinander. Sie braucht es. Und um ehrlich zu sein, genieße ich es genauso. Ich mag vielleicht dreißig Jahre alt sein, aber eine Tochter legt ihr Gefühl der Verbundenheit und das Bedürfnis nach der Mutter wohl nie ganz ab.

„Margaret und die Kinder kommen gleich“, sagte Mom beiläufig, doch damit führte sie mich nicht hinters Licht. Mit ihren Worten warnte sie mich. Sie stellte ihre Porzellantasse ab und legte die Hände in den Schoß. Meine Mutter besitzt eine natürliche Grazie, um die ich sie beneide. Margaret kommt in der Hinsicht ganz nach ihr.

Mir ist es schon immer schwergefallen, meine Mutter treffend zu beschreiben. Man könnte meinen, sie sei so zerbrechlich, wie sie aussieht, aber das stimmt nicht. Sie besitzt eine Stärke, für die ich sie bewundere. Während meiner Krebserkrankung hat sie meine Interessen gegenüber den Ärzten und der Versicherung vertreten. Sie ist liebevoll und großzügig und versucht immer, ihren Lieben alles recht zu machen. Ihre einzige Schwäche ist ihre Unfähigkeit, mit Krankheit umzugehen. Sie kann es nicht ertragen, mich – oder irgendjemanden – leiden zu sehen, und zieht sich daher in solchen Fällen zurück. Zum Glück ist Dad immer für mich da gewesen.

„Bringt Margaret Julia und Hailey mit?“, fragte ich.

Meine beiden Nichten sind wie ein Wunder für mich. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich eigene Kinder haben werde, geht gegen null, und so nehmen die Töchter meiner Schwester einen besonderen Platz in meinem Herzen ein. Es war sehr schade, dass Margaret Schwierigkeiten mit meinem guten Verhältnis zu den beiden zu haben schien. Sie behütete ihre Töchter voller Eifersucht.

Julia und Hailey jedoch erkennen meine Zuneigung und lieben mich – zu Margarets Überraschung – von ganzem Herzen. Die pure Freude der zwei bei jedem zufälligen Treffen schmerzte Margaret so sehr, dass sie alles tat, um mich von meinen Nichten fernzuhalten.

„Großmutter!“ Die neunjährige Hailey rannte mit ausgebreiteten Armen in den Garten. Als sie mich erblickte, juchzte sie vor Freude auf. Sie sprang, nachdem sie meine Mutter begrüßt hatte, in meine Arme, wobei sie mich fast erwürgte.

Die vierzehnjährige Julia war etwas zurückhaltender. Doch auch in ihren Augen konnte ich ablesen, wie sehr es sie freute, mich zu sehen. Ich streckte meinen freien Arm nach ihr aus, und als sie zu mir kam, schüttelten wir uns die Hände. Ich drückte sanft ihre Finger. Wie groß Julia geworden war: beinahe schon eine Frau – und eine Schönheit. Mein Herz wollte bei ihrem Anblick vor Stolz beinahe zerbersten.

„Tante Lydia, bringst du mir das Stricken bei?“, fragte Hailey, ohne mich loszulassen.

Ich warf einen Blick über meine Schulter, gerade als Margaret und ihr Ehemann durch die Hintertür in den Garten traten. Am missbilligenden Stirnrunzeln meiner Schwester konnte ich erkennen, dass sie die Frage gehört hatte. „Ich würde es dir sehr gern beibringen. Aber die Entscheidung liegt bei deiner Mutter.“

„Wir werden später darüber reden“, sagte Margaret äußerst knapp. Hailey legte den Arm fest um meine Schultern. Offenbar war sie nicht bereit, mich in nächster Zeit noch mal loszulassen.

„Hallo, Matt“, sagte ich.

Mein Schwager grinste und winkte mir zu. Ich erinnerte mich daran, wie Matt und Margaret begannen, miteinander auszugehen. Da sie fünf Jahre älter war als ich, erschien mir der damals siebzehnjährige Matt sehr reif und erwachsen, ein Mann von Welt. Sie heirateten jung, was meinem Vater nicht unbedingt gefiel. Er war der Meinung, meine Schwester solle zuerst ihr Studium abschließen. Das tat sie auch, nutzte ihre Ausbildung jedoch nie. Dabei hatte Vater es sich so gewünscht. Margaret war in den letzten Jahren in einigen Jobs tätig, aber keiner hatte sie wirklich ausgefüllt. Im Augenblick arbeitete sie halbtags für eine Reiseagentur. Mit mir sprach sie jedoch nie über ihre Arbeit. Dass sie so oft wie möglich zu Hause sein wollte, um sich um die Kinder zu kümmern, fand ich gut. Das hatte ich ihr jedoch noch nie gesagt, weil ich nicht sicher war, wie sie es aufnehmen würde.

Nachdem wir uns begrüßt und anschließend ein bisschen geredet hatten, fuhren wir zum Friedhof. Meine Mutter hatte einen üppigen Strauß Flieder aus dem Garten mitgebracht, und Julia und Hailey stellten ihn in die Vase auf dem Grab meines Vaters.

Schon immer fand ich Friedhöfe interessant. Als Kind hegte ich eine fast schon makabre Leidenschaft für Grabsteine. Ich liebte es, die Inschriften auf den alten Steinen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zu lesen. Während Margaret und meine Eltern am Grab meiner Großeltern beteten, wanderte ich immer umher. Einmal brach ich mir sogar das Bein, als eine Muttergottesstatue auf mich fiel. Ich habe Mom und Dad nie erzählt, dass ich auf die Statue geklettert war, um einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen.

Als ich nun auf den neuen Grabstein meines Vaters blickte, drohte mich eine Welle der Trauer zu überrollen. Die marmorne Tafel erzählte nicht viel. Sein Name stand dort, James Howard Hoffman, und die Geburts- und Todesdaten: 20. Mai 1940 – 29. Dezember 2003.

Geburt und Tod – alles, was dazwischen passierte, war ein Gedankenstrich. Der stumme Strich sagte nichts aus über seinen Dienst in Vietnam oder seine immerwährende Liebe für seine Frau und seine Töchter. Dieser Gedankenstrich zeigte nicht, wie viele zahllose Stunden er an meinem Krankenbett verbracht, mich getröstet, mir etwas vorgelesen und sich bemüht hatte, mir zu helfen. Es gab keine Worte, die die tiefe Liebe meines Vaters beschreiben konnten.

Plötzlich überfiel mich wieder der bekannte Schmerz. Eine Folge des Tumors, mit der ich bis heute zu kämpfen habe, ist die Migräne. Mit den neu entwickelten Medikamenten bekomme ich die anfallartigen Kopfschmerzen zum Glück meist schnell in den Griff. Die Symptome waren eindeutig.

Doch dieser Schmerz kam völlig überraschend.

Ich griff in meine Tasche, um die Pillen herauszuholen, die ich ständig bei mir trug. Meine Mutter, die mitbekommen hatte, dass etwas nicht stimmte, kam zu mir und sah, dass ich schwankte. „Lydia, was ist los?“

Ich atmete langsam und tief. „Ich muss nach Hause“, flüsterte ich matt und schloss die Augen vor dem grellen Sonnenschein.

„Margaret, Matt“, rief Mom. Sie schlang den Arm um meine Taille. Wenige Minuten später saß ich im Wagen. Doch statt Matt zu bitten, mich in meine eigene Wohnung zu bringen, bestand Mutter darauf, dass ich zu ihr nach Hause gebracht wurde.

Kurz darauf lag ich in dem Zimmer, in dem ich den Großteil meiner Kindheit verbracht hatte, auf dem Bett. Die Vorhänge waren zugezogen. Mom legte einen kühlen Waschlappen auf meine Stirn und ging auf Zehenspitzen hinaus.

Ich wusste, dass ich für ein paar Stunden schlafen würde, wenn die Medikamente erst wirkten. Danach würde es mir besser gehen. Aber den Punkt zu erreichen – den Punkt, an dem die Schmerzen nachließen – war schwierig.

Bald nachdem meine Mutter das Zimmer verlassen und der pochende Schmerz seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurde die Schlafzimmertür abermals geöffnet. Und obwohl ich die Augen geschlossen hielt, wusste ich, dass meine Schwester in das Zimmer getreten war.

„Du kannst es nicht lassen, stimmt’s?“ In ihren Worten schwang Bitterkeit mit. „Du kannst nicht einen Tag verstreichen lassen, ohne dass sich alles um dich dreht, oder?“

Ich konnte nicht glauben, dass meine Schwester tatsächlich annahm, ich hätte die Migräne heraufbeschworen, nur um einige Minuten Aufmerksamkeit zu haben. Würde Margaret wissen, wie sehr man bei Migräne litt, hätte sie mir niemals so etwas unterstellt. Aber ich sah mich nicht in der Lage, mit ihr zu streiten. Also hielt ich den Mund.

„Eines Tages wird es nur noch dich und mich geben.“

Das war mir klar. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ein gutes, normales Verhältnis zu meiner Schwester zu haben. Wenn die Schmerzen nicht so stark gewesen wären, hätte ich ihr einiges erklären können. Zum Beispiel, dass ich mir wünschte, die Dinge zwischen uns lägen anders.

„Wenn du glaubst, dass ich den Part von Mom und Dad übernehme, hast du dich getäuscht.“

Beinahe hätte ich angefangen zu lächeln. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Margaret etwas in der Richtung tat.

„Ich weigere mich, dich zu verhätscheln und zu verwöhnen. Es ist an der Zeit, dass du erwachsen wirst, Lydia. Du musst Verantwortung für dein Leben übernehmen. Was mich angeht, kannst du woanders nach Zuneigung und Verständnis suchen.“ Nachdem sie diese Worte gesagt hatte, verließ sie das Zimmer wieder.

Das Geräusch der zuschlagenden Tür hallte in meinem Kopf wider. Da der nasse Waschlappen auf meinem Gesicht lag, dauerte es einen Moment, dann merkte ich, dass Tränen über meine Wangen liefen.

Mehr als je zuvor war ich in diesem Augenblick davon überzeugt, dass eine gute Beziehung zu Margaret nicht möglich war.

14. Kapitel

Jacqueline Donovan

Jacqueline betrachtete sich im Spiegel. Sie seufzte und betete für ein wenig Geduld. Paul und Tammie Lee hatten sie und Reese zu sich nach Hause eingeladen, um zu grillen. Sie konnte nicht ablehnen – Paul hätte jede Ausrede durchschaut. Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und das Beste daraus zu machen.

„Bist du fertig?“, fragte Reese zum dritten Mal.

Leise murrend ging sie zu ihm. Er klimperte mit den Autoschlüsseln und schritt ungeduldig vor der Tür auf und ab.

„Müssen wir wirklich?“, fragte sie, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war.

Ihr Ehemann sah sie wortlos an. Manchmal brauchte es keine Worte, um auszudrücken, was er empfand. Über die Jahre hatte sie gelernt, sein Mienenspiel zu deuten. Jetzt gerade war auf seinem Gesicht ein humorloses Lächeln zu sehen, das seinen Missmut über etwas, das sie gesagt oder getan hatte, widerspiegelte.

„Was habe ich denn nun schon wieder falsch gemacht?“, fragte sie wütend. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du dich auf dieses Grillen freust.“ Der Himmel wusste, was ihre Schwiegertochter für das Essen vorbereitet hatte. Gegrillte Beutelratte? Oder Eichhörnchen?

„Merkst du es denn nicht?“, erwiderte er. „Paul wünscht sich, dass wir Tammie Lee kennen- und lieben lernen, so wie er es tut.“

Sie schüttelte ablehnend und frustriert den Kopf. „Das wird nicht passieren, egal wie oft wir gemeinsam grillen.“

„Du könntest ihr wenigstens eine Chance geben.“

Jacqueline missfiel seine Einstellung immer mehr. Ihr Ehemann wusste, wie wichtig es war, die richtige Person zu heiraten. Er selbst hatte sie schließlich nicht nur erwählt, weil sie so süß lächelte. Ihre Eltern waren gut befreundet. Und Jacquie hatte, genau wie Reese, eine fundierte Ausbildung genossen. Ja, sie war damals in ihn verliebt gewesen. Aber es gab so viel mehr, das einen Partner perfekt machte – nicht nur die Liebe. Außerdem wurden Gefühle in Jacquelines Augen sowieso vollkommen überschätzt.

Sie fürchtete, dass Paul so werden könnte wie sein Vater. Besonders, dass er sich von seinen Trieben leiten lassen könnte, nicht mehr von seinem Kopf. Doch ihr Sohn hatte Tammie Lee geheiratet. Wenn er etwas für dieses Mädchen empfand, hätte er sie ebenso gut – so wie sein Vater es mit dieser Blondine zu tun pflegte – irgendwo unterbringen und einmal die Woche besuchen können. Jacqueline wusste nicht genau, wie viel ihren Mann diese Dienstagnacht-Geliebte kostete, aber sie konnte sich denken, dass es eine Menge Geld war. Vielleicht wollte sie die Wahrheit auch gar nicht genau kennen.

Schweigend fuhren sie zu Pauls und Tammie Lees Haus, einem zweistöckigen Gebäude in der Nähe von Kirkland mit einer hübschen Aussicht auf den Lake Washington. Rauch stieg aus dem Garten auf, und Jacqueline überlegte, dass sie wahrscheinlich das Fleisch schon auf den Grill gelegt hatten. Gut. Je früher dieses Familientreffen vorüber war, desto besser.

Reese klingelte an der Tür. Tammie Lee öffnete ihnen barfuß, in ausgefransten Jeans und einem Umstandstop. Sie wirkte, als sei sie soeben den 60er-Jahren entsprungen.

„Ich bin so froh, dass ihr kommen konntet“, sagte sie mit ihrem breiten Südstaatenakzent, ergriff Jacquelines Hände und zog ihre Schwiegermutter ins Haus.

„Mom, Dad.“ Paul stand direkt hinter seiner Frau. Er schüttelte die Hand seines Vaters und umarmte seine Mutter kurz.

Jacqueline wollte den Nachmittag nicht mit einer negativen Bemerkung beginnen. Doch sie war der Überzeugung, dass es für Tammie Lee nicht gut war, barfuß im Haus herumzulaufen. Der Himmel wusste, auf was sie treten oder worauf sie ausrutschen konnte.

„Ich sage es nicht gern, aber solltest du nicht Schuhe anziehen?“ Sie stellte die Frage aus aufrichtig gemeinter Besorgnis um das Mädchen. Sie konnte jedoch an der Art, wie Paul die Lippen aufeinanderpresste, erkennen, dass er ihr diese Bemerkung übel nahm.

„Ich weiß, dass du recht hast“, erwiderte ihre Schwiegertochter und führte sie durch das Haus in den frisch gemähten Garten. „Paul sagt mir das auch immer, aber ich kann drinnen keine Schuhe tragen. Wenn ich das Haus betrete, schleudere ich die Schuhe in die Ecke. Letzte Woche bin ich barfuß durch den Garten gelaufen und prompt auf eine Nacktschnecke getreten.“

Jacqueline zuckte zusammen.

„Ich habe geschrien, als sei mir der Leibhaftige persönlich erschienen.“

Paul lachte. „Ich bin noch nie in meinem ganzen Leben so schnell gerannt. Ich dachte, sie sei von einem Schwarm Bienen angegriffen worden oder so etwas.“

Der Tisch im Garten war bereits gedeckt, und Tammie Lee hielt zwei Krüge mit Eistee hoch. „Gesüßt oder ungesüßt?“, fragte sie.

Jacquelines Meinung nach gab es nur eine Art, Eistee zu servieren – ungesüßt. Jeder, der Zucker hinzufügen wollte, konnte das dann später tun.

„Ungesüßt“, sagte sie und setzte sich an den Tisch.

„Für mich bitte auch“, sagte Reese.

Tammie Lee schenkte den Tee ein und reichte Jacqueline ein Glas. Diese runzelte beim Anblick eines grünen Blattes, das auf ihrem Getränk schwamm, die Stirn. „Da ist irgendwas in meinem Tee“, sagte sie und nahm ihren Löffel, um das Blatt zu entfernen.

„Das ist ein Minzblatt“, erklärte ihre Schwiegertochter. „Meine Mama lässt mich Eistee nur mit einem frischen Minzblatt und einer Zitronenscheibe servieren.“

Jacqueline lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie fühlte sich wie eine Idiotin. Natürlich war das Minze – sie hätte das erkennen müssen. Doch bei dem Mädchen wusste man ja nie, was man erwarten konnte.

„Das war eine gute Idee. Vielen Dank, dass ihr uns eingeladen habt“, sagte Reese.

Jacqueline warf ihm einen verärgerten Blick zu. Nichts an diesem Tag war gut, und er wusste das genau.

„Eigentlich war es Tammie Lees Idee“, erzählte Paul, der am Grill stand. Zu Jacquelines grenzenloser Erleichterung duftete das, was er grillte, einfach köstlich. Das Fleisch brutzelte, und ihr Sohn bestrich es großzügig mit einer Knoblauchsoße.

„Ja“, bestätigte Tammie Lee, die mit einem Notizblock und einem Stift in den Garten zurückgekehrt war. Sie zog einen Stuhl vor und setzte sich zu ihren Schwiegereltern an den Tisch. Dann schlug sie den Block auf und strich die Seite glatt. „Ich wollte euch nach euren Familientraditionen fragen“, sagte sie eifrig. „Es ist wichtig für Paul und mich, mit Familienbräuchen zu beginnen. Ich möchte eure Traditionen gern dabei aufgreifen.“

„Familienbräuche?“, wiederholte Jacqueline, als würde sie dieses Wort zum ersten Mal in ihrem Leben hören.

„Ja. So etwas wie der Derby-Tag.“

Jacqueline tauschte einen fragenden Blick mit ihrem Mann.

„Das Kentucky-Derby“, erklärte Tammie Lee und blickte in die Runde, als erwartete sie, dass nun alle nickten und sagten: „Ach so, das Derby.“

„Mein Vater und all meine Onkel trugen weiße Anzüge und Panamahüte, und Mama und meine Tanten kochten vorher tagelang.“

„Hier in Seattle ist das Kentucky-Derby nicht so ein wichtiges Datum wie bei euch, mein Liebling“, sagte Paul und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Er lächelte seine Eltern an. „Erzähl ihr von Weihnachten, Mom.“

„Weihnachten“, wiederholte Jacqueline. „Was ist mit Weihnachten?“

„Na ja, du kannst ihr erzählen, wie du früher am Weihnachtsabend meinen Strumpf an den Kamin gehängt hast.“

„Ja, aber das mache ich seit Jahren nicht mehr.“

„Was ist denn mit Football?“, fragte Tammie Lee aufgeregt. „In dieser Gegend ist man doch absolut verrückt danach, oder?“ Je begeisterter sie wurde, desto breiter wurde ihr Südstaatenakzent.

„Oh ja.“ Paul antwortete diesmal. „Dad und ich sind Husky-Fans.“

„Das ist doch wundervoll! Wir könnten ein Parkplatzpicknick veranstalten. Mama sagt, ein Parkplatzpicknick ist wie Kirche – alle Frauen werfen sich in Schale und bereiten Unmengen zu essen vor. Anschließend verbringen wir Stunden damit, um für ein Wunder zu beten.“

Paul und Reese lachten, aber Jacqueline wusste nicht, was daran lustig sein sollte. „Warum betet ihr?“

Ihre Schwiegertochter grinste. „Na, damit unser Team auch mal gewinnt.“

Jacqueline zwang sich zu einem kleinen Lächeln.

Schließlich war das Grillen doch nicht so schlimm, wie Jacqueline befürchtet hatte. Sie hatte Albträume gehabt, in denen der Tisch wie von einem Tierpräparator dekoriert war. Doch tatsächlich hatte Tammie Lee ein hübsches Blumenbouquet aufgestellt.

Alles in allem war es trotz Jacquelines düsterer Vorhersagen ein angenehmer Nachmittag. Das Essen bestand aus einer leckeren Guacamole, blauen Maischips, gegrilltem Rindfleisch und einem Kartoffelsalat, der ausgesprochen gut schmeckte. Das Jalapeño-Maisbrot war ein bisschen zu scharf, aber Jacqueline hatte sich sowieso nur ein kleines Stück genommen. Reese konnte nicht aufhören, das Essen zu loben, und Tammie Lee errötete angesichts seiner endlosen Komplimente. Da sie nicht mehr so viel arbeitete, hatte ihre Schwiegertochter nun genügend Zeit. Sie widmete sich ausgiebig dem Kochen und dem Versuch, ihren Mann damit glücklich zu machen. Als Jacqueline jung verheiratet war, hatte sie es genauso gemacht. Heutzutage ging ihr Interesse am Kochen jedoch gegen null.

Auf ihrem Weg nach Hause schwiegen Reese und Jacqueline. Ein Großteil des Tischgesprächs hatte sich um Familienbräuche gedreht. Offensichtlich pflegte Tammie Lees Familie jede Menge Traditionen. Sie hatte sämtliche Sitten in epischer Breite erklärt, wobei sie immer wieder Tante Thelma und Tante Frieda sowie Mama und Daddy erwähnte. Jacqueline fragte sich langsam, ob das Mädchen vielleicht Heimweh hatte.

Wenn es so war, konnte sie doch einfach ihre Sachen packen und ihre Mama besuchen. Vielleicht würde Paul, wenn seine Frau erst mal außer Haus war, endlich wieder zur Vernunft kommen.

„Wir hatten nicht viele Bräuche, die wir an Paul weitergegeben haben, oder?“, sagte Reese, als sie auf den Freeway fuhren.

„Natürlich hatten wir das“, erwiderte sie, obwohl es ihr beim Essen schwergefallen war, sich an ihre Rituale zu erinnern. „An Weihnachten haben wir Lebkuchenhäuser mit ihm gebastelt, erinnerst du dich?“

„Ja, aber das ist Jahre her. Damals war er noch ein Kind.“

„Und im Countryclub fand jedes Jahr zu Ostern eine Eiersuche statt.“

„Ja, und Paul und ich haben dir am Muttertag immer das Frühstück ans Bett gebracht.“

„Das stimmt“, sagte sie und fühlte sich mit einem Mal seltsam erleichtert. Sie hatte als Mutter also nicht total versagt. „Nur weil wir nicht weiße Anzüge tragen und Panamahüte aufsetzen, um uns das Kentucky-Derby anzuschauen, heißt das nicht, dass wir mit unserem Sohn keine gemeinsamen Rituale gepflegt haben.“

Er warf ihr einen Blick zu. „Kannst du dich daran erinnern, dass Paul dir einmal Eier im Glas machen wollte?“

„Ach, du meine Güte. Martha hat Monate gebraucht, um das Schlachtfeld in der Küche wieder sauber zu bekommen.“

„Aber du hast alles aufgegessen. Du hast perfekt mitgespielt“, sagte er. „Ich weiß nicht, ob ich dich je mehr geliebt habe als an jenem Tag.“

Jacquelines Lächeln erstarb, als sie aus dem Fenster starrte. Sie hatten einander geliebt, und irgendwie taten sie es noch immer. Dieses ganze Gerede über Traditionen und Familie wirbelte den Staub längst vergangener Jahre auf und wehte eine Menge glücklicher Erinnerungen in ihre Richtung. Das alles war ein bisschen verunsichernd.

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