Die Gabe der Liebe

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Michael ist überwältigt. Ein Jahr ist es her, dass er seine große Liebe Hannah verloren hat - ein Jahr voller Trauer. Jetzt hält er ihren letzten Brief in den Händen. Und doch kann er nicht tun, was sie sich von ihm wünscht. Er soll sich neu verlieben, heiraten und das Glück finden, das die Krankheit ihm genommen hat. Nur widerstrebend tut er Hannah den Gefallen, sich wenigstens einmal mit den Frauen zu treffen, die sie für ihn ausgesucht hat. Aber ist vielleicht genau das seine Chance für einen ersten Schritt zurück ins Leben?

»Niemand schreibt weibliche Charaktere so wunderbar wie Debbie Macomber. Ich bin mir sicher, selbst Gott hat sie um Rat gefragt, als er Eva schuf.«
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  • Erscheinungstag 01.03.2019
  • Bandnummer 7
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768836
  • Seitenanzahl 416
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Mai 2010

Liebe Freunde,

meine Leserinnen fragen immer wieder danach, wie diese oder jene Geschichte entstanden ist. Die Idee zu »Die Gabe der Liebe« kam mir im September 2008 bei einem Essen mit Paul und Maggie (Peale) Everett. Maggie erzählte mir von einer Freundin, die wusste, dass sie bald sterben würde. Wie Hannah in diesem Buch hinterließ sie ihrem Mann eine Liste von Frauen, von denen sie glaubte, sie könnten ihn erneut glücklich machen. Diese Geschichte berührte mich zutiefst, und ich erkannte sofort, wie sehr man einen Menschen lieben muss, um ihm einen solchen Brief zu schreiben. Damit war die Grundidee für mein nächstes Buch geboren, und schon kurze Zeit später hatte ich die Hauptrolle mit Michael, einem jungen Kinderarzt, besetzt. Alles Weitere steht auf den folgenden Seiten.

In gewisser Weise gehört dieses Buch in die »Blossom Street«-Reihe, aber ähnlich wie in »Der Sommer der Wünsche« spielt das Wollgeschäft von Lydia Goetz, A Good Yarn, keine zentrale Rolle. Wer die anderen Bücher der Reihe gelesen hat, erinnert sich sicher an Winter Adams, die Inhaberin des French Cafés. Und natürlich werdet ihr auch von euren anderen Lieblingscharakteren Neues hören. Aber in erster Linie ist dieses Buch Michael und in gewisser Weise auch Hannah gewidmet, die ich beim Schreiben liebgewonnen habe und bewundere.

Zu Beginn des Buches ist sie seit einem Jahr tot, gestorben an Eierstockkrebs. Meine Freundin Stephanie Cordall, die von Anfang an zu meiner Frühstück-am-Donnerstag-Gruppe gehörte, fiel dieser Erkrankung zum Opfer. Ich möchte euch daher bitten, euch mit den Symptomen dieses lautlosen Killers vertraut zu machen, um ihn frühzeitig erkennen und bekämpfen zu können.

Wie immer freue ich mich auf die Rückmeldung von meinen Leserinnen. Eure Kommentare sind mir eine unschätzbare Hilfe beim Schreiben. Ihr könnt mich über meine Webseite (www.DebbieMacomber.com) oder per Brief (P.O. Box 1458, Port Orchard, WA 98366, USA) erreichen.

Debbie Macomber

Für Maggie Peale Everett zum Dank
für eine wundervolle Buchidee

1. Kapitel

Ich bin kein sentimentaler Typ. Früher habe ich immer wieder mal den Muttertag vergessen und einmal, als ich noch mit Hannah zusammen gewesen war, sogar den Valentinstag. Glücklicherweise hatte sie mir mein Versäumnis nicht allzu übel genommen und auch nicht daraus abgeleitet, wie viel oder wenig ich für sie empfand. Auch was Jahrestage und Geburtstage angeht, bin ich ein hoffnungsloser Fall. Vermutlich würde ich sogar Weihnachten vergessen, wenn da nicht der allgemeine Trubel wäre. Nein, ich bin keineswegs egozentrisch … Nun ja, vielleicht doch, aber sind wir das nicht alle irgendwie?

In meinen Augen ist es lächerlich, Menschen mit Aufmerksamkeit zu überhäufen, nur weil sie Geburtstag haben oder im Kalender irgendein Feiertag steht, den sich irgendwann mal irgendwer ausgedacht hat. Wenn man jemanden liebt, muss man ihm diese Liebe jeden Tag zeigen. Warum soll man auf einen bestimmten Termin warten, um seiner Frau Blumen zu schenken? Taten sagen viel mehr als Worte, vor allem wenn es Taten der Liebe sind – Dinge, die man ohne besonderen Grund tut, einfach nur, weil man es will. Weil es einem wichtig ist. Weil der betreffende Mensch einem wichtig ist.

Das hat Hannah mich gelehrt. Hannah. An einem achten Mai habe ich sie verloren, meine schöne, gerade mal achtunddreißig Jahre alte Frau. Auch ein ganzes Jahr nach ihrem Tod konnte ich nicht an sie denken, ohne von tiefem Schmerz überfallen zu werden.

Ein Jahr. Dreihundertfünfundsechzig einsame Tage und leere Nächte.

Ein paar Tage nach ihrem Tod hatte ich an ihrem ausgehobenen Grab gestanden und zugesehen, wie ihr Sarg hinabgelassen wurde. Ich hatte die erste Schaufel voll Erde hinterhergeworfen. Das Geräusch werde ich nie vergessen, diesen hohlen Klang, als die Erde auf das glänzende Holz des Sarges prallte.

Auch ein Jahr später noch verging keine Stunde, in der ich mich nicht an Hannah erinnerte. Und das war schon ein bedeutender Fortschritt, denn in den ersten Monaten nach ihrem Tod war es mir nicht gelungen, sie länger als eine Minute aus meinen Gedanken zu verbannen. Alles, was ich sah oder hörte, erinnerte mich an Hannah.

Zu sagen, ich hätte sie geliebt, reicht nicht, um meine Gefühle für sie auszudrücken. Sie hat mich in jeder Hinsicht vollständig gemacht. Ohne sie war meine Welt trist und öde, grau in grau. Es gibt Tausende von passenden Attributen, und sie könnten trotzdem nicht einmal annähernd beschreiben, wie leer ich mich fühlte, seit sie nicht mehr bei mir war.

Ständig redete ich mit ihr. Wahrscheinlich sollte ich das niemandem erzählen, aber seitdem sie mich ein letztes Mal angelächelt hatte, bevor sie endgültig die Augen schloss, hatten wir ein einseitiges Gespräch miteinander geführt.

Und nun saß ich hier, ein Jahr später, und tat so, als hätte ich Spaß an einem Baseballspiel der Seattle Mariners, während ich in Wirklichkeit nur an meine Frau denken konnte. An meine Frau, die seit einem Jahr tot war.

Ritchie, Hannahs Bruder und mein bester Freund, hatte mich zu dem Spiel eingeladen und mir die Karte für den Logenplatz geschenkt. Klar, ich weiß, warum er das getan hat. Mir ist nur allzu klar, dass mein Schwager mich nicht eingeladen hat, weil er mich irrtümlich für einen eingefleischten Baseballfan hält. Er wusste natürlich genau, welcher Tag sich jährte.

Auch wenn ich, wie gesagt, nicht zu Sentimentalitäten neige, aber diesen einen Tag kann ich nicht vergessen.

Als Arzt, genauer gesagt als Kinderarzt, ist mir der Tod vertraut. Ich bin ihm schon viel zu oft begegnet, und keine dieser Begegnungen ist leicht, gerade wenn es Kinder betrifft. Und selbst wenn das Ende wie bei Hannah friedlich und heiter verläuft, fühle ich mich betrogen und wie ein Verlierer.

Als Teenager war ich selbst sportlich aktiv. Im Herbst habe ich Football gespielt, im Winter Basketball und im Frühjahr Baseball. Im Sommer habe ich als Rettungsschwimmer gearbeitet. Sportlicher Kampfgeist gehört zu meiner Natur. Ich verliere nicht gern, und mein Gegner, der Tod, spielt nicht fair. Der Tod hat mir, hat uns allen, Hannah genommen, und zwar viel zu früh. Sie war die lebendigste, fröhlichste, liebevollste Frau, die ich jemals kennengelernt habe, und ohne sie fühlte ich mich verloren, wusste nicht weiter, strampelte mich ab, ohne etwas zu erreichen.

Obwohl ich meinen Feind, den Tod, bekämpfe, seit ich Arzt geworden bin – schließlich bin ich genau zu diesem Zweck Arzt geworden –, habe ich ein neues, komplexeres Verständnis von ihm erlangt. Ich habe gelernt, dass der Tod ein Freund sein kann, obwohl er der Feind ist. Als Hannah im Sterben lag, meine Hannah, die mich über alles liebte und so gut kannte, hat sie mir diese ultimative Wahrheit gezeigt.

Das vergangene Jahr hatte mir die Augen dafür geöffnet, dass ich meiner Frau einen schlechten Dienst erwiesen habe. Ich bedauere ganz besonders, mich geweigert zu haben, ihren nahenden Tod zu akzeptieren. Viel zu lange habe ich mich an sie geklammert, länger, als ich es hätte tun sollen. Ich habe mich geweigert, sie in Frieden gehen zu lassen, als sie dazu bereit war. Selbstsüchtig, wie ich war, konnte ich es nicht ertragen, sie loszulassen.

Selbst als sie das Bewusstsein verlor, blieb ich Tag und Nacht an ihrer Seite und wollte einfach nicht glauben, dass kein Wunder geschehen würde. Es war dumm, als Arzt wusste ich es eigentlich besser, und doch klammerte ich mich an sie. Heute erkenne ich, wie stur ich war. Ich erkenne, dass ich sie nicht zu Gott gehen lassen wollte und ihren Geist festgehalten und an die Erde gefesselt habe. An mich.

Als ich endlich erkannte, wie sinnlos das Ganze war, als ich begriff, was ich Hannahs Eltern und Ritchie damit antat, da wusste ich, dass ich sie loslassen musste. Ich verließ ihr Krankenhauszimmer und bekam mich wieder in den Griff. Tagelang hatte ich weder geschlafen noch gegessen, mich nicht rasiert. Dementsprechend sah ich vermutlich noch erbärmlicher aus, als ich mich fühlte. Ich fuhr nach Hause, duschte, zwang mich, einen Teller Suppe zu essen, und schlief drei Stunden lang tief und fest. Als ich zurück ins Krankenhaus kam, hatten die engsten Familienangehörigen sich um Hannahs Bett versammelt. Ihr Puls wurde immer langsamer, und es konnte nur noch Minuten dauern. Und dann, unmittelbar bevor sie starb, schlug sie die Augen auf, sah mich an und lächelte. Ich hielt ihre Hand, hob sie an meine Lippen, als sie die Augen ein letztes Mal schloss … und dann war es vorbei.

Dieses letzte Lächeln wird mich für alle Zeit begleiten. Jeden Abend, bevor ich einschlief, hatte ich ihr letztes Lächeln vor Augen.

»He, Michael. Ein Bier?«, fragte Ritchie. Er nennt mich nicht Mike, niemand tut das. Selbst als Kind nannte man mich nie Mike.

»Gern.« In Gedanken war ich weder beim Spiel noch bei sonst irgendetwas. Ohne einen Blick auf die Spielstandsanzeige zu werfen, hätte ich nicht mal sagen können, welche Mannschaft in Führung lag. Rein äußerlich tat ich alles, was erwartet wurde: sprang auf, wenn Ritchie es tat, schrie und pfiff wie die anderen Zuschauer, aber das Spiel hätte mir nicht gleichgültiger sein können. Schon lange war mir alles gleichgültig geworden – bis auf meine Arbeit. Sie war meine Rettung.

»Gehen wir nach dem Spiel noch was essen?«, fragte Ritchie, als er mir ein paar Minuten später ein kaltes Bier in die Hand drückte.

Ich zögerte. Daheim warteten nur ein leeres Haus und meine Erinnerungen an Hannah auf mich.

»Gern.« Großen Appetit hatte ich allerdings nicht. Hatte ich zurzeit so gut wie nie.

»Toll.« Er nahm einen großen Schluck Bier und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zu.

Ich hatte meinem Schwager nicht gerade einen Gefallen getan, als ich seine Einladung, das Spiel gemeinsam zu sehen, angenommen hatte. Außerdem waren die Plätze nicht gerade billig. Ritchie hatte eine Menge Geld hingeblättert für die Logenplätze direkt hinterm Schlagmal, und was tat ich? Schaute während des ganzen Spiels kaum mal hin. Ich hätte seine Einladung zugunsten von jemand anderem ausschlagen sollen, wollte aber nicht allein sein. Nicht heute. An jedem anderen Tag des Jahres genügte mir meine eigene Gesellschaft völlig. Aber nicht heute.

Das Spiel musste vorbei sein, denn das Stadion begann sich zu leeren. Mitbekommen hatte ich davon nichts.

Ich gab mir einen Ruck. »Tolles Spiel.«

»Wir haben verloren«, grummelte Ritchie.

Nicht einmal das hatte ich bemerkt.

Er klopfte mir auf den Rücken und eilte zum Ausgang. Das war seine Art, mir zu zeigen, dass er mich verstand.

Eine halbe Stunde später saßen wir in einer netten Sportsbar nicht weit vom Stadion. Ich starrte auf die Speisekarte und wünschte, ich hätte wenigstens ein bisschen Appetit. Im Laufe des letzten Jahres hatte ich rund zehn Kilo Gewicht verloren. Nahrung war eine bloße Notwendigkeit, und nur deshalb machte ich mir die Mühe, überhaupt etwas zu essen. Meistens nebenbei, ohne darauf zu achten, was ich aß, oder mir zu überlegen, was mir schmecken könnte. Ich musste etwas in den Magen bekommen, also holte ich mir einen Eiweißriegel oder einen Gemüsetrunk. Das erfüllte seinen Zweck, auch wenn es mir keinen Genuss bereitete.

Hannah ist eine begnadete Köchin gewesen, genau wie ihre Cousine Winter Adams, der das French Café in der Blossom Street gehört. Sie experimentierte gern mit Rezepten und hatte Freude daran, ganze Menüs zuzubereiten. Bei unseren Freunden war sie für ihre Dinnerpartys berühmt. Als Gastgeberin war sie in ihrem Element, charmant und freundlich.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Ritchie.

Seine Frage überrumpelte mich. Dann bemerkte ich, dass er immer noch die Speisekarte studierte. »Gegrillten Lachs«, erwiderte ich.

»Ich tendiere dazu, mir ein T-Bone-Steak zu bestellen«, sagte er.

Steaks waren für mich untrennbar mit einer Feier verbunden, und diesen Tag zu feiern würde mir nie in den Sinn kommen. Lange bevor ich bereit gewesen war zu akzeptieren, dass Hannah ihren Kampf gegen den Krebs verloren hatte, hatte sie mir gesagt, sie wolle nicht, dass ich nach ihrem Tod um sie trauerte. Sie sagte, ihre Totenwache solle so fröhlich werden wie ihre Partys. Damals wollte ich nicht, dass sie über den Tod redete. Sie hatte sich bereits mit dem Ende abgefunden, aber mir fehlte immer noch der Mut dazu.

Die Kellnerin nahm unsere Bestellung auf, brachte jedem von uns ein Bier und ging wieder. Ich drehte die bernsteinfarbene Flasche zwischen den Fingern und betrachtete eingehend die Tischplatte. Ich wäre Ritchie gern eine bessere Begleitung gewesen.

»Jetzt ist es ein Jahr her«, murmelte mein Schwager.

Ich nickte, nahm seine Aussage zur Kenntnis, ohne etwas dazu zu sagen.

»Sie fehlt mir.«

Wieder nickte ich. So weh es tat, über Hannah zu reden, so dringend war mein Wunsch, genau das zu tun. Ich wollte – nein, ich musste – an ihr festhalten, wenn schon nicht physisch, dann doch wenigstens emotional.

»Schwer zu glauben, dass es schon zwölf Monate her ist.« Ich konnte den Schmerz in meiner eigenen Stimme hören, versuchte aber nicht, ihn zu verbergen.

»Geht es dir gut?«, fragte Ritchie.

Ein Achselzucken musste genügen. Was sollte ich auch antworten? Nein, es geht mir nicht gut. Ich bin verdammt wütend. Immer noch. Wie konnte so etwas einer so wundervollen Frau wie Hannah geschehen? Wie konnte es mir geschehen?

Hannah und ich hatten unmittelbar nach dem Ende meines Medizinstudiums geheiratet. Wir entschieden, nicht sofort eine Familie zu gründen, denn mein Praktikum und meine Assistenzarztzeit würden anstrengend werden. Hannah hatte als Einkäuferin für eine regionale Kaufhauskette gearbeitet und ihren Job geliebt. Wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam, so ausgelaugt, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, hatte sie mich mit Geschichten über Leute, denen sie begegnet war, unterhalten, Leute, deren Namen ich schnell wieder vergaß, deren Marotten mir aber in Erinnerung blieben. Aus der kleinsten Begebenheit machte sie eine richtige Anekdote und schmückte sie mit umwerfend witzigen Anmerkungen aus. Sie verstand es, selbst die banalsten Details so wiederzugeben, dass sie faszinierten. Wenn ich die Augen schließe, kann ich sie immer noch lachen hören. Ich lächele, sobald ich an unsere ersten Ehejahre denke, an die Herausforderungen, mit denen wir uns abplagten, an die Dinge, die wir gemeinsam genossen. Es sind dies die Erinnerungen, die mich in meinem ersten Jahr ohne Hannah aufrecht hielten.

Noch am selben Tag, an dem ich meine Assistenzzeit und meine Facharztausbildung abschloss und eine Stelle als Praxisarzt in Seattle antrat, warf Hannah ihre Antibabypillen weg. Wir redeten endlos über unsere Familie. Ich liebe Kinder, und Hannah ging es genauso. Sie wollte drei Kinder. Mir wären zwei genug gewesen, doch Hannah war der Meinung, eine ungerade Zahl sei besser, also erklärte ich mich mit drei Kindern einverstanden.

Aber Hannah wurde nicht schwanger. Wir waren davon ausgegangen, dass es ganz einfach sein würde. Sie machte sich permanent Sorgen, und ich kam zu dem Schluss, dass das eigentliche Problem der Stress war, den sie sich machte. Nach achtzehn erfolglosen Monaten wollte sie einen Fruchtbarkeitsspezialisten aufsuchen, und ich stimmte ihr zu. Und da erfuhren wir, dass nicht schwanger zu werden unsere geringste Sorge war. Nur eine Woche nach unserem ersten Besuch beim Spezialisten erhielt Hannah die Diagnose Eierstockkrebs – im Endstadium. Die Erkrankung war zu spät erkannt worden, um ihr Leben noch retten zu können.

Unwillkürlich dachte ich, ich hätte es wissen müssen. Hätte Verdacht schöpfen und merken müssen, dass etwas nicht stimmte. Als Arzt gab ich mir die Schuld daran, dass Hannahs Diagnose erst so spät gestellt worden war. Wenn ich besser aufgepasst hätte, so sagte ich mir, wären mir vielleicht frühe Symptome aufgefallen. Aber ich hatte zu tun gehabt, war mit meiner Arbeit ausgelastet gewesen, hatte zu viel anderes um die Ohren gehabt.

Freunde haben versucht, mir das auszureden, Freunde wie Patrick O’Malley, ebenfalls Kinderarzt und einer meiner Partner in der Praxis. Sie erinnerten mich oft daran – ebenso wie Hannah selbst –, dass Eierstockkrebs dafür bekannt ist, viel zu spät durch Symptome auf sich aufmerksam zu machen. Das wusste ich alles, aber ich begriff auch, dass ich die Schuldgefühle brauchte, dass ich mich selbst bestrafen wollte. Ich dachte, ich würde mich besser fühlen, wenn ich mir die Schuld gab, weil ich nichts bemerkt hatte.

»Erinnerst du dich noch an den Abend, an dem ihr beide zum Essen bei Steph und mir wart?«, fragte Ritchie in meine Grübeleien hinein. »Jenen letzten Abend?«

Ich nickte. Es war ein Freitagabend gewesen, das letzte Mal, dass wir beide zusammen ausgegangen waren. An jenem Nachmittag hatten wir die Nachricht erhalten, die unsere Welt aus den Angeln gehoben hatte. Die neuesten Testergebnisse hatten vorgelegen und gezeigt, dass die Chemotherapie das Fortschreiten der Krankheit kaum beeinflusst hatte.

Ich war am Boden zerstört gewesen, hatte das gemeinsame Essen absagen wollen, doch Hannah hatte darauf bestanden, die Einladung anzunehmen. Mit strahlendem Lächeln hatte sie das Haus ihres Bruders und ihrer Schwägerin betreten, als wäre alles in bester Ordnung. Ich hingegen war ein seelisches Wrack gewesen und hatte den Abend nur gerade so überstanden. Ganz anders Hannah. Hätte ich nicht gewusst, was Sache war, wäre mir nie auch nur ein Verdacht gekommen.

»Ja, ich erinnere mich.«

»Sie hat mich an jenem Abend um etwas gebeten.«

»Hannah?« Es gelang mir nicht, meine Überraschung zu verbergen, als ich den Blick von meiner Bierflasche hob.

Jetzt wandte Ritchie den Blick ab. »Während du mit Max ein Videospiel gespielt hast, hat Hannah unter vier Augen mit mir gesprochen.«

Ich rutschte auf meinem Sitz nach vorn. Der Lärm des Fernsehers in der Bar rückte in den Hintergrund. Jeder Muskel meines Körpers zitterte plötzlich vor Anspannung, als wüsste ich bereits, was Ritchie mir sagen würde.

»Sie sagte, die Ärzte hätten schlechte Nachrichten gehabt.«

Ich konzentrierte mich auf einen leeren Barhocker am anderen Ende des Raumes. »Ich wollte euch absagen, aber Hannah ließ das nicht zu.«

»Sie hatte gute Gründe, an diesem Abend zu uns zu kommen«, erklärte Ritchie. »Sie erzählte mir, dass es keine Hoffnung mehr gab und dass sie es akzeptiert hatte, sterben zu müssen.«

Das wollte ich nicht hören.

Ritchie stieß geräuschvoll seinen Atem aus. »Sie hatte keine Angst vor dem Tod, weißt du?«

»Warum sollte sie auch? Der Himmel ist für Menschen wie Hannah gemacht.«

Ritchie nickte zustimmend. »Schon lange vor jenem Abend hatte sie ihren Frieden mit Gott geschlossen. Ihre Haltung hatte nichts Fatalistisches an sich. Sie wollte leben. Mehr als alles andere wollte sie leben.«

Es hatte Augenblicke gegeben, in denen ich das bezweifelte. »Ich habe sie angefleht, mit mir nach Europa zu fliegen, weil ich von einer experimentellen Therapie gelesen hatte, die dort vorgenommen wurde. Aber sie hat es abgelehnt.«

»Es war zu spät«, meinte Ritchie schlicht. Seine Hand schloss sich fester um seine Bierflasche. »Ihr war das klar, auch wenn wir es noch nicht wahrhaben wollten.«

Typisch Hannah. Sie war nicht nur weise gewesen, sondern hatte auch stets praktisch gedacht. Während sie schon das Unabänderliche zu akzeptieren bereit gewesen war, hatte ich mich an jeden noch so kleinen Hoffnungsschimmer geklammert. Stundenlang hatte ich medizinische Fachzeitschriften gewälzt, mit Spezialisten telefoniert, im Internet recherchiert. Aber meine fieberhaften Versuche, sie zu heilen, hatten nichts geändert. Am Ende hatte Hannah recht behalten. Sie hatte den Punkt erreicht, von dem es keine Wiederkehr mehr gibt, und war keine zwei Monate später gestorben.

Auch jetzt noch schockierte es mich, wie schnell es gegangen war. Das war die einzige Zeit unserer Ehe, in der ich wirklich wütend auf sie gewesen war. Ich wollte, dass sie gegen den Krebs kämpfte. Ich wurde laut, wanderte im Haus auf und ab, schlug mit der Faust gegen die Wand. Ganz sanft hatte sie meine blutig geschlagenen Knöchel in ihre Hände genommen und den Schmerz weggeküsst. Allerdings hatte sie nicht verstanden, dass auch noch so viel Zärtlichkeit den Schmerz, von ihr verlassen zu werden, nicht lindern konnte.

Die Kellnerin brachte das Essen, aber ich hätte selbst dann keinen Bissen hinuntergebracht, wenn mein Leben daran gehangen hätte. Offenbar ging es Ritchie genauso, denn auch sein Steak blieb minutenlang unberührt liegen.

»Hannah hat mich gebeten, dir das hier zu geben«, sagte mein Schwager schließlich und zog einen Umschlag aus seiner Jackentasche.

»Einen Brief?«

»Sie hat mich gebeten, bis ein Jahr nach ihrem Tod zu warten. Dann, erst dann, soll ich dir diesen Brief geben. Das war der letzte Gefallen, um den meine Schwester mich gebeten hat.«

Ungläubig starrte ich Ritchie an. Wie hatte er mir das so lange verschweigen können? Dreimal wöchentlich trafen wir uns morgens im Fitnessstudio zum Training, schon seit Jahren. Die ganze Zeit hatte er nie erwähnt, einen Brief für mich zu haben.

»An jenem Abend habe ich Hannah das versprochen«, fuhr Ritchie fort. »Ich habe den Brief in unseren Safe gelegt und gewartet, wie sie es wollte.«

Ich wusste nicht, was ich sagen, wie ich reagieren sollte. Also nahm ich einfach den Brief an mich.

Kurze Zeit später verließen wir die Bar. Ich erinnere mich nicht an die Heimfahrt. In der einen Minute stand ich noch in der Tiefgarage mitten in Seattle, und als Nächstes wurde mir bewusst, dass ich den Wagen in der Einfahrt zu meinem Haus geparkt hatte.

Im Haus legte ich die Schlüssel auf die Küchentheke und ging ins Wohnzimmer, setzte mich aufs Sofa und starrte den Umschlag in meiner Hand an. Hannah hatte nur ein Wort darauf geschrieben.

Michael.

Ich starrte wie hypnotisiert auf meinen Namen, während die Trauer mich fast umwarf. So unglaublich es auch schien, mir war, als strömte mir von diesem Stück Papier ihre Liebe entgegen.

Meine Hände zitterten, als ich den Umschlag umdrehte und vorsichtig öffnete.

2. Kapitel

Ich weiß nicht, wie lange ich den Brief anstarrte, bevor ich den Mut aufbrachte, ihn auseinanderzufalten. Er bestand aus vier Seiten.

Als Erstes sprang mir das Datum ins Auge: 13. März. Auch dieser Tag hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Es war der Freitag gewesen, an dem wir von den behandelnden Ärzten mit dem niederschmetternden Ergebnis der Chemotherapie konfrontiert worden waren.

An jenem Tag hatte Hannah diesen Brief geschrieben? Das war unmöglich. Ich war jede Minute mit ihr zusammen gewesen, vom Termin bei den Ärzten bis zum Abendessen mit Ritchie und Steph. Das bedeutete …

Ich ließ mich in die Kissen sinken und schloss die Augen. Hannah musste den Brief vor der Besprechung mit den Ärzten geschrieben haben. Sie hatte Bescheid gewusst, noch bevor das Verdikt gefallen war. Sie hatte es immer gewusst, und in gewisser Weise habe auch ich es gewusst, aber nicht ertragen können. Habe mich geweigert, das eigentlich Offensichtliche zu akzeptieren.

Ich konzentrierte mich wieder auf den Brief. Er war handgeschrieben, in eleganter, fließender Schrift. Beim Anblick ihrer Handschrift, die mir einst so vertraut gewesen war, krampfte sich alles in mir zusammen. Gerade so, als hätte man mir einen Fausthieb versetzt.

Mein geliebter Michael,

ich weiß, dass dieser Brief dir einen Schock versetzen wird, und ich bitte dich dafür um Verzeihung. Jetzt ist es ein Jahr her, und ich kann mir vorstellen, dass es ein schweres Jahr für dich, für unsere Eltern und für Ritchie war. Ich würde alles dafür geben, euch diesen Schmerz zu ersparen.

Selbst an der Schwelle zum Tod hatte Hannah nicht an sich gedacht. Stattdessen hatten ihre Gedanken bei mir, bei unseren Eltern und ihrem Bruder verweilt, dabei, wie schrecklich sie uns fehlen würde und wie sehr wir sie liebten.

In den letzten Wochen habe ich intensiv darüber nachgedacht, was ich dir mit meinen letzten Worten sagen möchte. Bitte, übe Nachsicht mit mir, denn mir geht sehr viel durch den Kopf.

Ich weiß, dass die meisten Leute lachen, wenn sie von Liebe auf den ersten Blick hören. Ich war erst achtzehn, als wir uns kennenlernten, und obwohl ich noch so jung war, wusste ich doch sofort: Du bist der Mann, den ich lieben werde … und den ich von diesem Moment an geliebt habe. Ich werde dich lieben bis zu dem Tag, an dem ich sterben werde, und darüber hinaus. Und in meinem Herzen weiß ich, dass auch du mich immer lieben wirst. Dafür möchte ich dir danken. Deine Zuwendung, die mich durch alles begleitet und getragen hat, was ich seit der Krebsdiagnose auf mich nehmen musste, war das großartigste Geschenk meines Lebens. Du hast mich so glücklich gemacht, Michael.

Wieder schloss ich die Augen. Ich fürchtete, nicht die Kraft aufzubringen, die ich brauchte, um weiterzulesen. Als Ritchie mir den Brief gab, wusste ich, dass es mich hart ankommen würde, ihn zu lesen, aber ich hatte keine Ahnung, wie hart. Tief holte ich Luft und las weiter.

Die frühen Jahre unserer Ehe waren die schönsten meines Lebens. Wir hatten so wenig, und doch hatten wir alles, was wir brauchten: uns. Ich liebte dich so sehr, und ich war … ich bin so stolz auf dich. Auf den einfühlsamen Kinderarzt, der du geworden bist. Du bist dazu geboren, Arzt zu sein, Michael. Und ich bin dazu geboren, dich zu lieben. Danke, dass du meine Liebe erwiderst. Dass du mir so viel von dir gegeben hast, vor allem in diesen letzten paar Monaten. Du hast dafür gesorgt, dass sie zu den besten Monaten meines Lebens wurden.

Ich will nicht sterben, Michael. Ich habe dagegen gekämpft. Ganz ehrlich, das habe ich getan. Ich habe alles aufgeboten, was ich konnte. Nichts hätte mich glücklicher machen können, als mit dir zusammen alt zu werden. Es tut mir so leid, dass für mich das Ende schon so früh gekommen ist.

Bitte, glaube nie, dass ich eine pessimistische Einstellung hatte. Als wir damals die Diagnose erhielten, war ich wild entschlossen, gegen die Krankheit zu kämpfen und sie zu besiegen. Erst in der vergangenen Woche ist mir klar geworden, dass der Krebs stärker ist als ich. Es hat keinen Sinn, so zu tun, als wäre es anders.

Erneut musste ich eine Pause einlegen. Ich bedauerte so sehr, dass ich versucht hatte, Hannah dazu zu bewegen, mit mir nach Europa zu fliegen und sich dort dieser experimentellen Therapie zu unterziehen. Damals war es bereits viel zu spät dafür gewesen. Ich sammelte mich einen Moment und wandte mich wieder ihrem Brief zu.

Ich habe Ritchie gebeten, dir diesen Brief ein Jahr nach meinem Tod zu geben. So, wie ich dich kenne, hast du dich vermutlich in deiner Arbeit vergraben. Ich schätze, du verbringst zwölf Stunden am Tag in der Praxis und isst nur nebenbei schnell eine Kleinigkeit. Das ist kein gesunder Lebensstil, mein Schatz. Ich hoffe aber, dass du dich noch regelmäßig mit Ritchie im Fitnessstudio triffst.

Unwillkürlich musste ich lächeln. Ja, Hannah kannte mich ganz genau, bis hin zu den vielen Überstunden und den unregelmäßigen Mahlzeiten. Ich hatte durchaus versucht, mein Sportprogramm ausfallen zu lassen, genauso wie die Pokerrunde mit meinen Kumpels jeden Donnerstag. Aber Ritchie ließ das nicht zu, und es erwies sich als einfacher, zum Training zu kommen, als sich immer neue Ausreden einfallen zu lassen.

Zwei Wochen nach Hannahs Beerdigung hatte er in Sportsachen vor meiner Tür gstanden und mich mit ins Fitnessstudio geschleift. Nach ein paar dieser frühmorgendlichen Besuche meines Schwagers war ich zu dem Schluss gekommen, ihn nicht länger abwehren zu können, und so war unser gemeinsames Training wieder zu einem festen Bestandteil meines Wochenablaufs geworden.

Jetzt komme ich zum schwierigsten und schmerzlichsten Teil meines Briefes. Es tut zwar weh, aber ich muss akzeptieren, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Vermutlich ist es einfach normal, dass man dieses und jenes bedauert, wenn man mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert wird und weiß, dass das Ende nahe ist. Was ich am meisten bedauere, ist, keine Kinder haben zu können. Das ist sogar noch härter für mich als die Erkenntnis, dass mein Krebs mich umbringt. Ich habe mir so sehr ein Baby von dir gewünscht, Michael. Ein Baby für mich, ja, aber auch für dich. Du solltest Vater sein. Du wirst einen wunderbaren Vater abgeben. Oh, Michael, ich hatte mir so sehr ein Kind gewünscht.

Und wieder musste ich aufhören zu lesen, weil es mir die Kehle zuschnürte. »Auch ich habe mir ein Kind gewünscht«, flüsterte ich, ließ den Brief auf meine Knie sinken und fragte mich, ob ich zu Ende lesen konnte oder schwach werden und in Tränen ausbrechen würde. Doch ich musste weiterlesen. Ich musste wissen, was Hannah mir als Letztes mitgeben wollte.

Ich habe eine letzte Bitte an dich, mein Schatz, und ich hoffe, du wirst sie mir erfüllen.

»Was immer du willst.« Für Hannah würde ich alles tun.

Was ich möchte, was ich von dir brauche, mein Liebster, ist Folgendes: Ich möchte, dass du wieder heiratest.

Keuchend holte ich Luft. Niemals! Darüber hatte ich bereits nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen: Das konnte ich nicht. Ich hatte die Liebe meines Lebens erlebt, und so dumm, zu glauben, dass mir das ein zweites Mal zuteilwerden könnte, war ich nicht. Wenn ich wieder heiratete, würde ich meine zweite Frau um die Liebe betrügen, die ich ihr schwören müsste. Ich würde uns beide betrügen, denn mein Herz würde immer Hannah gehören. Hannah allein.

Ich habe vor Augen, wie du den Kopf schüttelst und vehement abstreitest, dass das möglich ist. Michael, ich kenne dich. Ich kann beinahe hören, wie du protestierst. Aber das ist wichtig, also bitte, bitte höre auf mich. Wenn du eine andere Frau liebst, schmälert das unsere Liebe nicht. Und es bedeutet auch nicht, dass du mich weniger lieben wirst. Ich werde immer ein Teil von dir sein, und du wirst ein Teil von mir bleiben.

Du musst daran denken, dass meine Lebensreise zu Ende ist.

Deine nicht.

Du hast noch sehr viel Leben vor dir, und ich will nicht, dass du noch mehr Zeit damit verschwendest, um mich zu trauern. Du hast mich durch und durch glücklich gemacht, und du wirst dasselbe mit einer anderen Frau tun.

Ich war mir nicht sicher, ob ich Hannah in diesem Punkt zustimmte, war mir nicht sicher, ob ich überhaupt eine andere Frau lieben konnte. So intensiv. So innig. Sie begriff nicht, was sie von mir verlangte. Ich hatte kein Verlangen nach einer anderen Frau oder danach, mein Leben jemals wieder mit einem anderen Menschen zu teilen.

Da ich weiß, wie starrköpfig du sein kannst, ist mir klar, dass ich dir ein bisschen auf die Sprünge helfen muss. Also habe ich eine kurze Liste von Kandidatinnen zusammengestellt, über die du nachdenken solltest.

Wie bitte? Eine Liste? Hannah hatte eine Liste von Frauen erstellt, die als Ersatz für sie infrage kommen sollten? Wenn es nicht so schockierend gewesen wäre, hätte ich gelacht. Und doch gewann meine Neugier die Oberhand.

Erinnerst du dich noch an Winter Adams, meine Cousine? Sie war bei unserer Hochzeit eine der Brautjungfern. Winter hat ein großes Herz, und sie liebt Kinder. Sie wäre dir eine ganz ausgezeichnete Ehefrau. Außerdem ist sie nicht nur meine Cousine, sondern war mir auch immer eine gute Freundin. Ich möchte, dass du ernsthaft über sie nachdenkst.

Natürlich erinnerte ich mich an Winter. Sie und Hannah hatten sich sehr nahegestanden. Nachdem sie ihr Restaurant, das French Café in der Blossom Street ganz in der Nähe meiner Praxis, eröffnet hatte, sahen wir uns nicht mehr so oft. Hannah und ich hatten jedoch das Café ein paarmal besucht und uns dort Kaffee und Croissants schmecken lassen. Ich erinnerte mich daran, dass Winter Kontakt zu Hannah gehalten hatte, überwiegend per Telefon. Wenn ich mich recht entsann, hatte sie eine Beziehungskrise gehabt, kurz bevor bei Hannah Krebs diagnostiziert worden war, und Hannah, wie sie nun einmal war, hatte ihr Trost und Beistand angeboten.

Winter war auch bei der Beerdigung gewesen und auf dem Friedhof unter Tränen fast zusammengebrochen. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört, bis auf eine Beileidskarte, die sie mir nach der Begräbnisfeier geschickt hatte.

Ich mochte Winter, war aber nicht an ihr als Frau interessiert. Auch wenn Hannah sicher war, dass ihre Cousine als mögliche Nachfolgerin infrage kam, hatte ich nicht die Absicht, noch einmal zu heiraten. Außerdem hatten Winter und ich nur eines gemeinsam: unsere Erinnerungen an Hannah.

Die zweite Frau, die du in Betracht ziehen solltest, ist Leanne Lancaster.

Der Name sagte mir etwas, aber mir fiel nicht gleich ein, wer sie war. Sie war jedenfalls keine engere Freundin von Hannah.

Leanne war meine Schwester auf der Krebsstation. Sie war immer nett zu mir und so mitfühlend. Als Krankenschwester hätte sie besonderes Verständnis für die Belastungen, denen du als Arzt ausgesetzt bist. Leanne und ich haben uns ziemlich viel unterhalten, und wenn ich … Wenn ich die Chance bekommen hätte, wären sie und ich gute Freundinnen geworden. Da bin ich mir sicher. Ich bewundere ihre emotionale Stärke. Sie ist geschieden, und es war ziemlich schwierig für sie. Ich kenne sie nicht so gut, wie ich Winter kenne, aber mein Herz sagt mir, sie würde zu dir passen. Triff dich mit ihr, Michael, lerne sie kennen. Mehr verlange ich nicht von dir.

Triff dich mit Leanne … Lerne sie kennen. Ich bezweifelte, dass Hannah auch nur ansatzweise eine Vorstellung davon hatte, was sie da von mir verlangte. Ich hatte absolut kein Interesse daran, mich mit dieser Frau zu treffen. Während ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass ich die Krankenschwester kannte. Und Hannah hatte recht. Leanne war eine nette, einfühlsame Frau – aber deswegen hatte ich noch lange nicht den Wunsch, sie kennenzulernen!

Die Dritte auf meiner Liste ist Macy Roth. Ich glaube, du hast sie nie kennengelernt. Sie ist Teilzeit-Model, und wir haben uns angefreundet, als ich noch arbeiten konnte. Wir lernten uns anlässlich mehrerer Modenschauen kennen, an denen ich mitgewirkt habe, und bei Katalogaufnahmen für die Firma. Als Macy erfuhr, dass ich im Krankenhaus lag, schickte sie mir Genesungswünsche auf wundervollen, mit eigenen Zeichnungen ihrer Katzen versehenen Karten. Erinnerst du dich noch? Und sie hat mir Socken und einen Schal gestrickt, die ich während der Chemotherapie getragen habe. Sie ist witzig, klug und in vielerlei Hinsicht begabt. Sie arbeitet als Model, entwirft Wandgemälde und hat noch zwei oder drei andere Jobs. Als ich über diese Liste nachdachte, kam sie mir in den Sinn, weil ich weiß, dass sie dich zum Lachen bringen wird. Sie wird dein Leben wieder ins Lot bringen, Michael. Ich fürchte, wenn ich nicht mehr bin, wirst du viel zu ernst werden. Ich möchte, dass du lachst und das Leben genießt. Und zwar so unbeschwert und ungehemmt wie Macy.

Und wieder hatte Hannah recht. In den letzten zwei Jahren habe ich nur selten gelacht. Tatsache ist, dass ich mich nicht mehr an mein letztes hemmungsloses Lachen erinnern konnte. Das Leben war ernst. Ich hatte meine Frau verloren und, offen gesagt, nicht viel Grund zum Lächeln, geschweige denn zum Lachen.

Ich erinnerte mich nicht an diese Macy, obwohl Hannah zweifellos von ihr erzählt hatte. Was die erwähnten Geschenke anging – die Zeichnungen, die Socken, der Schal –, die lagen vermutlich zwischen Hannahs Sachen, all dem Zeug, das ich aus dem Krankenhaus mit nach Hause genommen hatte. Ich hatte das alles in einen Karton gepackt, ganz hinten in einem Schrank verstaut und nie wieder angeschaut.

Drei Namen habe ich dir genannt, Michael. Drei Frauen, die ich kenne und denen ich vertraue. Jede von ihnen würde eine gute Ehefrau und Partnerin für dich abgeben; mit jeder von ihnen könntest du Kinder haben, denen du Vater werden solltest.

Ich werde vom Himmel aus zusehen, auf dich warten und über dich wachen. Wähle klug.

Deine dich liebende Frau

Hannah

Ich faltete die Briefbögen wieder zusammen, legte sie auf den Tisch und versuchte zu verarbeiten, was ich gelesen hatte. Schon der Zeitpunkt, zu dem Hannah diesen Brief geschrieben hatte, war schockierend. Dass sie mir darin vorschlug, wieder zu heiraten – und sogar so weit ging, drei mögliche Kandidatinnen zu nennen –, ging beinahe über das hinaus, was ich ertragen konnte.

Wenn sie über mich wachte, dann musste sie auch wissen, was für eine Hölle dieses erste Jahr ohne sie für mich gewesen war.

Ich bin dem Alkohol sonst nicht sonderlich zugetan. Ein paar Bier mit den Kumpels – mehr trinke ich normalerweise nicht. Aber plötzlich hatte ich das Verlangen nach etwas Stärkerem.

Ich erinnerte mich an eine Flasche Scotch, die irgendwo im Küchenschrank stand. Mein Vater hatte sie mir zum Universitätsabschluss geschenkt – für medizinische Zwecke, wie er sagte. Wenn es je einen Grund gegeben hatte, zu »medizinischen Zwecken« einen Drink zu nehmen, dann jetzt.

Fast fünfzehn Minuten verbrachte ich mit der Suche nach der Flasche. Hannah hatte sie in die Speisekammer gestellt, und das war der letzte Platz, an dem ich sie vermutet hatte. Wenig überraschend handelte es sich um Single Malt, dem von meinem Vater bevorzugten Whisky, natürlich von seiner Lieblingsmarke: The Glenlivet.

Das Etikett verriet mir, dass es sich um einen achtzehn Jahre gereiften Whisky handelte. Bei mir stand er jetzt seit mindestens zehn Jahren. Damit war er deutlich älter als der übliche zehn Jahre gereifte Stoff meines alten Herrn.

Ich holte ein sauberes Glas aus der Spülmaschine, gab Eiswürfel hinein und goss mir zwei Fingerbreit von meinem achtundzwanzig Jahre alten Scotch ein, bevor ich mich wieder auf dem Sofa niederließ. Dann streifte ich meine Schuhe ab, legte meine Füße auf den Couchtisch und griff erneut nach Hannahs Brief. Ich wollte ihn noch einmal lesen, diesmal unvoreingenommen, und dann sehen, ob ich ihrem letzten Wunsch folgen konnte oder nicht. Auch wenn ich daran zweifelte. Hannah war die einzige Frau, die ich jemals brauchen würde. Die einzige Frau, die ich jemals lieben würde. Ich wusste bereits, dass neben ihr keine andere bestehen konnte, auch nicht diejenigen, die meine Ehefrau so sorgsam für mich ausgewählt hatte.

3. Kapitel

Am Mittwochmorgen war ich um sechs im Fitnessstudio. Ritchie trainierte schon auf dem Laufband, den iPod eingestöpselt, als ich das Gerät neben ihm in Beschlag nahm.

Er schaute kurz rüber, erkannte mich und sah mich erwartungsvoll an. Mir war klar, dass er mir nach dem Training Löcher in den Bauch fragen würde. Am Montag war ich nicht gekommen, und seine Anrufe hatte ich in den letzten beiden Tagen auch ignoriert. Ich war noch nicht bereit gewesen, über Hannahs Brief zu reden, nicht einmal mit meinem besten Freund.

Ritchie war als Erster mit seinem Training fertig, und genau wie vermutet, wartete er in der Umkleide auf mich. Er saß auf der Bank, ein Handtuch um den Nacken gelegt, vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Als ich den Raum betrat, blickte er auf.

»Du hast nicht zurückgerufen«, meinte er. Als müsste er mich daran erinnern …

»Ich war beschäftigt.«

»Womit?«

Obwohl ich wusste, dass er mich von allen Leuten am besten verstehen würde, hatte ich Hemmungen, ihm die Wahrheit zu sagen. »Ich habe mich am Sonntag, nachdem ich zu Hause angekommen bin, volllaufen lassen«, gab ich zu. Der Kater am Montag war mörderisch gewesen. Ab sofort würde ich mich wieder ausschließlich an Bier halten. Vielleicht vertrug mein Vater ja das härtere Zeug, aber ich vertrug es nicht.

»Wegen Hannahs Brief?«

Ich nickte, ließ mich auf die Bank sinken und beugte mich vor, sodass ich in derselben Haltung dasaß wie mein Schwager. »Hannah möchte, dass ich wieder heirate.«

Ritchie riss die Augen auf. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«

Ganz meine Meinung. »Sie hat mir sogar eine Liste gegeben.«

Ritchies Unterkiefer sackte herab. »Eine Liste? Du meinst, eine Liste mit Frauen

Wieder nickte ich.

»Aber warum?«

Hannahs Gründe begriff ich selbst nicht, und erklären konnte ich sie erst recht nicht, obwohl ich ihren Brief inzwischen ein Dutzend Mal gelesen hatte.

»Sie scheint zu glauben, dass ich allein nicht gut zurechtkomme und eine Frau brauche.« Nicht nötig, auch noch ihren Wunsch zu erwähnen, dass ich Vater würde.

»Sie hat dir wirklich eine Liste gegeben?« Mein Schwager wirkte genauso schockiert wie ich, als ich den Brief zum ersten Mal las.

Ich sagte nichts dazu.

»Wer steht darauf? Jemand, den ich kenne?«

»Deine Cousine. Winter«, erwiderte ich.

»Meine Cousine?«, wiederholte er.

»Kennst du sonst eine Frau, die Winter heißt«, fauchte ich. Inzwischen bedauerte ich bereits, überhaupt etwas gesagt zu haben.

»Nein«, gab er kleinlaut zurück. »Wer noch?«

»Leanne Lancaster. Hannahs Krankenschwester in der Onkologie.«

»An sie kann ich mich nicht erinnern. Wie ist sie so?«

Ich wusste nicht recht, was ich ihm sagen sollte. »Still. Sanft und freundlich. Eine gute Krankenschwester. Hannah mochte sie sehr.«

»Nicht dein Ernst!«

Das ignorierte ich.

»Sonst noch jemand?«

»Eine Frau, die ich nie kennengelernt habe. Ein Model namens Macy Roth, mit dem sie zusammengearbeitet hat.«

Ritchie stieß einen leisen Pfiff aus. »Ein Model, sagst du?«

»Hannah meint – ich zitiere –, Macy wird mich wieder zum Lachen bringen«, erläuterte ich. Mein Sarkasmus war unüberhörbar.

Mein Schwager lachte in sich hinein. »Ich möchte wetten, dass Steph nicht auf die Idee käme, mir zu sagen, ich solle ein Model heiraten, sollte ihr etwas zustoßen.«

Ich wusste, dass Ritchie nur Witze machte, konnte ihm seinen Kommentar aber trotzdem nicht einfach so durchgehen lassen. »Bete darum, dass ihr nichts zustößt!«

Mein Schwager runzelte die Stirn. »Das war ein Scherz, Michael. Mach dich mal ein ein bisschen lockerer, ja?«

Er hatte recht. Ich durfte nicht jede kleine Bemerkung so ernst nehmen. »Tut mir leid«, murmelte ich.

Er stupste mich in die Seite. »Und? Tust du, was sie möchte?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich.«

»Warum?«

Die Antwort hätte eigentlich klar sein müssen. »Ich bin noch nicht so weit.«

»Wirst du es jemals sein?«

Gute Frage. »Vermutlich nicht«, räumte ich ehrlich ein. Ich hatte meine Frau verloren, meine Seelenverwandte. Das konnte ich niemals vergessen oder unbekümmert »nach vorn schauen«, wie so viele Freunde und Bekannte mir mit Vorliebe rieten.

»Dachte ich mir, dass du das sagen würdest«, meinte Ritchie. »Hannah wusste, dass du für den Rest deines Lebens Winterschlaf einlegen würdest. Deshalb wollte sie die Entscheidung erzwingen. Meine Schwester hat dich geliebt und …«

»Hör mal, Ritchie, ich brauche keine Belehrung von dir.«

»Ich habe auch nicht die Absicht, dich zu belehren. Beantworte mir nur eine Frage, dann halte ich den Mund.«

»Na schön, schieß los.« Ich wusste nur zu gut, dass er mich nicht in Ruhe lassen würde, bevor er gesagt hatte, was er sagen wollte.

Einen langen, spannungsgeladenen Moment starrte er mich nur an. »Meinst du, es ist ihr leichtgefallen, dir diesen Brief zu schreiben?«

Ich richtete mich auf.

»Welche Frau möchte darüber nachdenken, wie ihr Mann mit einer anderen zusammenlebt?«, fuhr er fort.

»Das sind zwei Fragen.«

»Nein, eine. Sie gehören zusammen.«

Ich schloss die Augen. War ich wirklich ein so unsensibler Trottel? Keine Sekunde hatte ich darüber nachgedacht, was Hannah empfunden haben musste, als sie den Brief schrieb.

»Im umgekehrten Falle: Hättest du ihr Männer aufzählen können, denen du so weit vertraust, ihr ein guter Ehemann zu sein?«

Darüber musste ich keinen Moment nachdenken. »Nein.«

»Ich auch nicht«, gab Ritchie zu. »Angesichts dessen solltest du dir ihren Brief wenigstens so weit zu Herzen nehmen, diese Frauen zu kontaktieren.« Er lachte in sich hinein. »Ich an deiner Stelle würde mit dem Model anfangen.«

Sehr witzig. Es war Jahre her, dass ich mich das letzte Mal mit einer Frau verabredet hatte. Ich wusste nicht einmal mehr, wie man so etwas anging. »Auf Partnersuche gehen? Ich?«

»Genau. Du. Klar doch, warum nicht? Du bist jung und hast noch viele Jahre vor dir.«

Hannah hatte fast genau dasselbe gesagt.

»Winter kennst du bereits. Wenn du dich dabei wohler fühlst, ruf sie an.«

»Und was soll ich ihr sagen?« Mich beherrschte die Angst, dass wir nur ein gemeinsames Gesprächsthema haben würden: Hannah. Wenn wir gemeinsam essen gingen, konnten wir uns nur über Hannah unterhalten und würden beide, noch bevor der Hauptgang serviert wurde, in Tränen ausbrechen.

»Teufel noch mal, das weiß ich doch nicht.«

»Ich würde nicht über Hannah reden wollen.«

Aber Ritchie schien diese Vorstellung nicht so schrecklich zu finden. »Winter vermutlich auch nicht. Sie waren gute Freundinnen, schon als Kinder, tauschten ihre Kleider aus, übernachteten abwechselnd beieinander.« Er lächelte. »Einmal, wir waren gerade dreizehn oder vierzehn, haben unsere Familien gemeinsam auf einem Campingplatz Urlaub gemacht. Die Toiletten waren ganz am anderen Ende des Platzes. Mitten in der Nacht konnte ich hören, wie Hannah und Winter sich flüsternd darüber unterhielten, dass sie ganz dringend aufs Klo mussten.« Ritchies Augen funkelten bei der Erinnerung. »Sie hatten beide keine Lust, den ganzen weiten Weg über den Campingplatz bis zu den Toiletten zu laufen. Also beschlossen sie, in den Wald neben unserem Zeltplatz zu gehen.«

Mir war klar, was jetzt kommen würde.

»Ich wartete, bis sie ihre Höschen heruntergelassen hatten. Dann richtete ich den Strahl meiner Taschenlampe auf sie.«

Ich grinste. Ritchie hatte schon immer eine Vorliebe für Streiche dieser Art gehabt.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie laut sie gekreischt haben«, fuhr er lachend fort. »Ich schwöre, sie haben den halben Campingplatz geweckt. Die Leute glaubten, ein Schwarzbär treibe sich auf dem Platz herum. Die beiden haben glatt eine Panik ausgelöst.«

Schon vor Jahren, als wir noch miteinander ausgingen, hatte Hannah mir diese Geschichte erzählt. Zugegeben, sie war witzig. Aber im Moment brachte ich nur ein schwaches Lächeln zustande. Vielleicht hatte Hannah recht. Vielleicht wurde es höchste Zeit, wieder einen Grund zum Lachen zu finden.

»Ruf Winter an«, drängte Ritchie.

Es klang so einfach, aber das war es nicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen, wie ich sie ansprechen sollte. »Seht ihr euch häufig?«

»So gut wie nie«, sagte Ritchie. »Das Leben geht manchmal seltsame Wege, weißt du?«

»Da sagst du was«, gab ich stöhnend zurück.

»Unsere Familien standen sich sehr nahe, als wir noch Kinder waren, und jetzt leben und arbeiten wir zwar beide in Seattle, treffen uns aber höchstens mal bei einer Hochzeit oder Beerdigung.«

Er zuckte zusammen, und ich konnte sehen, dass er diese versehentlich heraufbeschworene Erinnerung sofort bedauerte.

»Mit meinen Cousins und Cousinen ist es genauso«, sagte ich. Im Laufe der Jahre hatten wir uns ohne Absicht entfremdet. Jeder hatte viel um die Ohren, die Leute gingen ihrer eigenen Wege, und den Kontakt aufrechtzuerhalten fiel immer schwerer.

»Ruf sie einfach an«, wiederholte Ritchie.

Wenn wir uns über Hannah unterhalten konnten, war das vielleicht gar nicht so schlecht.

»Oder noch besser …« Ritchie sah mich vielsagend an.

»Was?«

»Fahr einfach hin.«

»Zu ihr nach Hause?« Das kam mir etwas übertrieben vor.

»Nein … zu ihrem Restaurant. Mir fällt der Name gerade nicht ein.«

»Das French Café

»Ach, richtig. Keine Ahnung, warum sie es so genannt hat. Unsere Wurzeln liegen in England, nicht in Frankreich.«

Ich vermutete, dass dafür wohl eher die Speisekarte ausschlaggebend gewesen war. »Sie servieren fantastische Croissants.«

Das weckte Ritchies Interesse. »Du warst also schon mal da?«

»Mit Hannah. Wir waren ein paarmal dort. Es liegt in der Blossom Street.«

»Mann, das ist ja gar nicht weit von hier. Du könntest einfach auf dem Weg zur Arbeit dort einkehren. Wenn du sie anrufst, wird das gleich mehr oder weniger was Besonderes. Aber wenn du das Restaurant besuchst, wirkt das viel selbstverständlicher.«

»Recht hast du«, sagte ich. Meine Entscheidung war gefallen.

»Soll ich dich begleiten?«

»Nein.« Mein Schwager musste mir nicht Händchen halten. Wenn etwas daraus wurde, gut – und wenn nicht, ebenfalls.

Wir duschten, zogen uns für die Arbeit um und verließen das Fitnessstudio. Ritchie ist Chiropraktiker. Seine Praxis liegt nördlich des Stadtzentrums, meine in unmittelbarer Nähe der Fifth Street. Die Blossom Street liegt nicht weit entfernt und damit auch nicht weit von Pill Hill, wo das Virginia Mason, das Swedish Hospital und weitere medizinische Einrichtungen untergebracht sind.

Ich machte mich eilig auf den Weg. Um acht muss ich in der Praxis sein, also hatte ich nicht viel Zeit. Außerdem wollte ich die Sache hinter mich bringen. Kaum war ich in die Blossom Street eingebogen, entdeckte ich auch schon das French Café. Zwei Leute gingen gerade hinein, während drei andere herauskamen. Morgens war hier offenbar eine Menge los. Es war schön zu sehen, dass das Restaurant erfolgreich war. Hannah hätte sich für ihre Cousine gefreut.

Mir gefiel das Ambiente: die gestreifte Markise, die auf dem Gehweg aufgebauten Tische. Die hatte es bei unseren früheren Besuchen noch nicht gegeben, wenn mich nicht alles täuschte. In der Schlange am Tresen standen etwa zehn Leute, als ich mich anstellte. Bedient wurde von einer Verkäuferin und einer Kassiererin. Ungeduldig warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Eigentlich hatte ich wirklich keine Zeit, und doch konnte ich mich nicht überwinden, einfach wieder zu gehen. Mein Blick wanderte über die verglaste Auslage, in der verschiedene Backwaren von Croissants über Donuts bis zu süßen Brötchen lagen. Ich entschied mich für einen Latte Macchiato und ein Croissant.

In Gedanken war ich jedoch nicht bei meiner Bestellung. Als ich endlich an der Reihe war, fühlte ich mich leicht benebelt, und mir war übel. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Verkäuferin.

»Einen Kaffee und ein Croissant«, orderte ich rasch. Ein Latte würde zu viel Zeit beanspruchen.

»Den Kaffee in welcher Größe?«

»Ähm, medium.«

»Soll ich Platz lassen für Kaffeesahne?«

»Ich trinke ihn schwarz«, erwiderte ich und zog mein Portemonnaie hervor. Mit klopfendem Herzen fragte ich: »Ist Winter zufällig da?« Meine Kehle war so trocken, dass ich kaum sprechen konnte.

Die Verkäuferin blickte auf. »Moment, ich schau gleich nach.«

Mir fiel auf, dass die anderen Kunden nicht gerade begeistert waren, weil ich den Laden aufhielt, also trat ich ein Stück zur Seite, während die Verkäuferin in der Küche nachfragte, und nutzte die Zeit, um meine Bestellung zu bezahlen. Eine halbe Minute später war sie zurück und schüttelte den Kopf. »Sie ist noch nicht da.«

»Oh.« Das klang unglaublich dumm, selbst für mich.

»Möchten Sie ihr eine Nachricht hinterlassen?«

»Ähm, ja, gern.«

Sie reichte mir einen Stift und einen Schreibblock. Ich nahm beides entgegen, zusammen mit meinem Kaffee und dem Croissant, und suchte mir einen freien Sitzplatz. Der Kaffee war nur noch lauwarm, als ich schließlich meine Versuche, etwas zu schreiben, aufgab. Ich war jetzt schon zu spät dran in der Praxis, und kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Das Ganze war sinnlos. Ich hatte dieser Frau nichts zu sagen. Zusammengeknüllte Blätter lagen auf dem Tisch, ich fühlte mich miserabel und war wütend auf mich selbst, weil ich auf Ritchie gehört hatte. Ich hätte es besser wissen müssen.

Schließlich ging ich wieder zum Tresen und gab Stift und Papier zurück. »Richten Sie Winter bitte einfach aus, dass Dr. Michael Everett heute Morgen da war.«

»Geht klar«, sagte die Verkäuferin freundlich.

»Danke«, murmelte ich, warf die zerknüllten Blätter in den Abfalleimer und wandte mich zur Tür. Ich konnte nur hoffen, dass ich in der Blossom Street nicht noch zufällig Winter begegnete.

Mit dem Gefühl, Zeit verschwendet zu haben, eilte ich in die Praxis. Wir waren drei Ärzte – Patrick O’Malley, Yvette Schauer und ich –, und jeder von uns hatte sein eigenes Büro und seine eigene, nur für ihn zuständige Arzthelferin. Meine hieß Linda Barclay und arbeitete schon von Anfang an für mich. Die übrige Belegschaft – eine Rezeptionistin und zwei weitere Sprechstundenhilfen, die sich auch um den Papierkram mit Versicherungen und Behörden kümmerten – teilten wir uns.

Linda wirkte besorgt, als ich etliche Minuten später als sonst in die Praxis stürmte. Dankenswerterweise fragte sie nicht nach Gründen. Da ich schon sehr lange nicht mehr zu spät gekommen war, musste ihr klar sein, dass nur etwas Wichtiges mich aufgehalten haben konnte. Ich griff nach meinem weißen Kittel, streifte ihn mir hastig über und eilte wortlos durch den Flur zum Untersuchungszimmer, in dem mein erster Patient wartete. Bewusst verbannte ich alle Gedanken an Hannahs Cousine aus meinem Kopf und konzentrierte mich auf die Arbeit. Es war nichts Außergewöhnliches dabei – ein paar Impfungen, Check-up-Untersuchungen und eine Halsentzündung.

Am Ende des Tages ging ich in mein Büro, um die Anrufe zu erledigen, die üblicherweise am späten Nachmittag abgearbeitet werden mussten. Außerdem stelle ich um diese Zeit Wiederholungsrezepte aus, lese die Laborberichte und befasse mich mit allen sonstigen Mitteilungen, auf die ich reagieren muss. Oft sitze ich noch zwei oder drei Stunden, nachdem alle anderen Feierabend gemacht haben, am Schreibtisch. Schließlich hatte ich keinen Grund, eilig nach Hause zu fahren, und deshalb machte mir das nichts aus. Im Gegenteil, die Ruhe nach der Hektik des Tages war mir willkommene Erholung.

Etliche rosa Notizzettel lagen sorgfältig geordnet auf meinem Tisch. Ich legte sie zur Seite, um sie abzuarbeiten, wenn alles andere erledigt war.

Es war bereits nach sechs, als ich die letzte Notiz las. In Lindas unverkennbarer Handschrift stand darauf: Winter Adams hat angerufen. Sie sagte, es gehe um eine private Angelegenheit. Darunter hatte sie eine Telefonnummer notiert.

4. Kapitel

Macy Roth wühlte sich durch die Unordnung in ihrem Schlafzimmer. Irgendwo musste ihr weißer mexikanischer Rüschenrock doch sein. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass sie hier mal für Ordnung sorgte, und das würde sie auch tun, schwor sie sich … irgendwann in den nächsten Tagen. Bei ihrer hektischen Suche, die sie im Eilschritt durch das ganze Zimmer führte, warf sie andere Kleidungsstücke achtlos hierhin und dorthin. Die sauberen Laken, frisch aus dem Trockner, die auf ihrer abgezogenen Matratze lagen, sagten ihr, dass sie ihr Bett später beziehen musste. Allerdings wusste sie noch nicht sicher, wann sie nach Hause kommen würde. Ihr Bett herzurichten war die Hausarbeit, die sie noch mehr verabscheute als alle anderen. Sie kam ihr so sinnlos vor. Schließlich würde sie in der Nacht wieder darin schlafen und alles zerwühlen. Den Tisch abzuräumen und abzuwaschen, das war im Prinzip das Gleiche. Egal, das war jetzt nicht zu ändern. Diese Art von Sinnlosigkeit lag wohl einfach in der Natur von Hausarbeit.

»Snowball!« Ihre weiße Langhaarkatze hatte die Gunst des Augenblicks genutzt, war auf die Matratze gehüpft und hatte sich in die frischen, vom Trockner noch warmen Betttücher gekuschelt. Macy wedelte mit den Armen, um sie zu verscheuchen. »Husch, mach, dass du wegkommst.«

Das Tier ignorierte sie – wie immer. Snowball achtete nur auf ihre Stimme, wenn Macy in der Küche nach ihm rief, weil sein Futter fertig war. »Na schön, ich gebe dir einen anderen Namen.« Sie hatte Snowball bekommen, als er noch ein flauschiges weißes Katzenbaby gewesen war. Dann aber hatte sich herausgestellt, dass er ein Kater war und seinen Name nicht sonderlich mochte. »Ich denke ernstlich darüber nach, Kumpel, in Ordnung? Und jetzt raus aus den Laken!«

Peace, angelockt vom Lärm, kam ins Schlafzimmer gerannt und sprang mit einem Satz aufs Bett. Gefolgt von Lovey. Jetzt tollten all ihre Katzen auf den warmen Laken herum, schlüpften zwischen die Bezüge und wälzten sich darin herum. Anscheinend hatten sie großen Spaß daran. Wenn Macy nicht so in Eile gewesen wäre, hätte sie sich die Zeit genommen, mit ihnen zu spielen.

»Weiß eine von euch, wo ich meinen Rock gelassen habe?«

Die Katzen ignorierten sie.

»Hat ihn eine von euch irgendwohin verschleppt?«

Auch diese Frage wurde ignoriert. »Undankbare Viecher«, grummelte sie. Der Timer des Backofens meldete sich mit einem lauten Ping. »Der Auflauf!« Du liebes bisschen, den hatte sie ganz vergessen. Sie rannte in die Küche, schnappte sich die Topfhandschuhe und holte die Auflaufform aus dem Backofen. Das Rezept war neu, und der Auflauf duftete himmlisch.

Sie schaltete den Ofen aus und ging auf die rückwärtige Veranda, wo gleich mehrere Wäscheberge auf sie warteten. Es wurde wirklich Zeit, dass sie ihre Hausarbeit in den Griff bekam. Irgendwann würde sie das auch schaffen, aber jetzt musste sie erst einmal ihren weißen Rock finden, den Auflauf zu Harvey hinüberbringen und ins Aufnahmestudio fahren. Vor allem musste sie pünktlich sein. Ihr Job hing davon ab.

Sie wühlte sich durch einen Stapel Schmutzwäsche und seufzte erleichtert, als ihr endlich der Rock zwischen die Finger geriet. Eine kritische Musterung ergab, dass sie ihn noch einmal anziehen konnte. Also tat sie das, zupfte den Bund zurecht und steckte ihre bunte Bluse hinein. Jetzt brauchte sie nur noch ihre Sandalen.

Auf dem Weg ins Schlafzimmer kam sie am Bad vorbei und warf einen Blick in den Spiegel. Sie runzelte die Stirn, fuhr sich rasch mit der Bürste durch ihre roten Locken und steckte sie mit einer Spange auf der linken Seite über dem Ohr fest. Eigentlich müsste sie sich die Haare auch mal wieder schneiden lassen, aber das konnte sie sich erst leisten, wenn sie für die Werbung im Radio bezahlt wurde. Und deshalb durfte sie auf gar keinen Fall schon wieder zu spät kommen.

Der Produzent hatte sie schon in der Woche zuvor verwarnt, als sie ein paar Minuten zu spät für die Aufnahmen zu einem anderen Spot gekommen war. Sie hatte zwar eine gute Entschuldigung gehabt, aber Don Sharman interessierten ihre Entschuldigungen nicht. Stattdessen wiederholte er nur immer wieder, dass sie sich eine andere suchen würden, wenn sie nicht endlich pünktlich zu den Aufnahmeterminen erschien. Ihre Erklärung war ihm völlig egal gewesen, dabei hatte sie mit Snowball wegen einer Blaseninfektion zum Tierarzt fahren müssen.

Nein, Macy konnte es sich absolut nicht leisten, diesen Job zu verlieren. Er war wie gemacht für sie. Man hatte ihr gesagt, ihre Stimme sei wunderbar melodisch, und in Anbetracht dessen, dass sie für diese Agentur schon diverse Werbespots gesprochen hatte, entsprach das wohl auch der Wahrheit. Obendrein wurde sie nicht schlecht bezahlt, und sie genoss es, ihre eigene Stimme im Radio zu hören, wie sie die Vorzüge von Preparation H anpries, einer Hämorrhoidensalbe, die aktuell bei Elburns, einer lokalen Apotheke, im Angebot war.

Ihre Großmutter hatte Macy eingeschärft, wie wichtig es war, das Haus nie ohne Lippenstift zu verlassen, also zog sie noch schnell ihre Lippen nach. Und da sie schon vor dem Spiegel stand, legte sie auch gleich noch ein wenig von dem kupferfarbenen Lidschatten auf, der ihre grünen Augen so schön betonte. Zufrieden, weil ihre Großmutter sich über sie gefreut hätte, schlüpfte sie in ihre Sandalen.

»Ich muss den Auflauf zu Harvey bringen«, informierte sie die Katzen, denen es auf dem Bett offenbar langweilig geworden war und die sich um sie versammelt hatten. »Bewacht für mich das Haus.«

Die Schale aus feuerfestem Glas in den schwarz-gelb gestreiften Topfhandschuhen haltend, stieß Macy die Insektentür mit der Hüfte auf, ging die Vordertreppe hinunter und schlängelte sich an ihrem Fahrrad vorbei, das unten an der Treppe stand. Sie nahm die Abkürzung über den Rasen und rannte die Treppe zu Harveys Eingangstür hinauf.

Der Veteran des Zweiten Weltkriegs wohnte schon seit über vierzig Jahren in dem Haus unmittelbar neben dem ihrer Großmutter. Die ganze Zeit über waren die beiden gute Freunde und Nachbarn gewesen. Keiner von beiden hätte es je zugegeben, aber Macy war davon überzeugt, dass die beiden ineinander vernarrt gewesen waren, so hätte es ihre Großmutter zumindest ausgedrückt.

Die Haustür stand offen, also rief Macy ein Hallo ins Haus. Normalerweise hätte sie sich nicht damit aufgehalten, sich bemerkbar zu machen oder zu klingeln, aber mit der heißen Auflaufschale in den Händen war es ein wenig schwierig, die Insektentür zu öffnen.

»Hau ab«, meldete sich Harvey aus der Küche.

»Kann ich nicht.«

»Warum nicht?«, fragte er knapp zurück.

Macy hatte längst entdeckt, dass hinter seinem schroffen Gebaren ein großzügiges, liebevolles Herz steckte. Offensichtlich betrachtete er es als die Aufgabe seines Lebens, es vor anderen zu verbergen.

»Ich habe dir dein Abendessen gebracht.«

»Es ist noch nicht mal Mittag!«, rief er.

»Ich weiß, aber zur Abendessenzeit werde ich nicht zu Hause sein«, rief Macy zurück und bemühte sich, die Insektentür doch selbst zu öffnen. Sie war verschlossen.

»Komm schon, Harvey, mach die Tür auf.«

»Es hat einen Grund, warum ich sie verschlossen habe.« Er ließ sich Zeit, schlenderte ins Wohnzimmer und entriegelte zögernd das Insektengitter. Allzu glücklich, sie zu sehen, wirkte er nicht. »Ich habe Wichtigeres zu tun, als anderen die Tür zu öffnen, weißt du.«

»Natürlich.« Rasch schob sie sich an ihm vorbei und ging in die Küche. Auf dem Tisch lag die Zeitung, das Kreuzworträtsel war zur Hälfte ausgefüllt. Harvey las jeden Tag die Zeitung von der ersten bis zur letzten Seite.

Macy stellte die Auflaufform auf den Herd, zog die Topfhandschuhe aus und legte sie zur Seite.

»Was ist das?«, fragte er, nickte zu der Schale hinüber und zog eine übertrieben angewiderte Grimasse.

»Etwas zu essen.«

»Werd nicht frech, kleines Mädchen.«

Macy grinste. »Ein neues Rezept.«

»Ich bin also dein Versuchskaninchen.«

»Sozusagen.« Im letzten Jahr hatte Harvey stark abgenommen, seine Kleider schlotterten ihm am Leib. Sie machte sich Sorgen um ihn. Er war sechsundachtzig, und allmählich sah man ihm sein Alter an. Früher hatte er das ganze Jahr in seinem Garten gearbeitet. Er war immer sehr stolz auf den Garten und die Blumenbeete gewesen. Inzwischen aber hatte Macy bereits zweimal den Rasen für ihn gemäht. Wenn ihm das aufgefallen war, ließ er es zumindest nicht erkennen. Sie hatte einen alten mechanischen Rasenmäher, der ihrer Großmutter gehört hatte, und die Arbeit damit war als Training besser geeignet als ein Workout im Fitnessstudio. Billiger war es obendrein.

Macy vermied alles, wofür sie monatliche Beiträge zahlen musste – bis auf die, die sich nicht vermeiden ließen. Wasser und Strom zum Beispiel. Da sie keinen festen Job hatte, konnte sie nicht auf ein regelmäßiges Einkommen zählen. In vielen Monaten musste sie jeden Cent dreimal umdrehen.

»Das riecht gut«, sagte Macy, beugte sich über die Auflaufform und schnupperte genießerisch.

»Was ist da drin?«, fragte Harvey misstrauisch.

»Fleisch und Reis.«

»Was für Fleisch?«

»Huhn. Seit wann bist du so wählerisch?«

»Ich habe gewisse Ansprüche.«

Sie lächelte. Das entsprach der Wahrheit, aber seine Ansprüche begannen zu bröckeln. Sie sah, dass sich schmutziges Geschirr in der Spüle stapelte. Bei ihr zu Hause war das nichts Ungewöhnliches, aber bei Harvey? Er liebte die Ordnung, gedieh darin, während sie sich im Chaos am wohlsten fühlte. Na ja, vielleicht nicht gerade wohlfühlte, aber sie war an Chaos gewöhnt. Eines Tages wollte sie wirklich gründlich für Ordnung sorgen. Harvey musste ihr beibringen, wie man das machte.

»Ich brauche das nicht, dass du dich um mich kümmerst«, sagte er. »Hast du nichts Besseres zu tun, als für einen alten Mann zu kochen?«

»Nicht wirklich.« Klar, sie musste dringend ins Studio, aber Harvey hatte Vorrang. Selbst wenn ihre Großmutter sie nicht darum gebeten hätte, ein Auge auf ihn zu haben, hätte sie das getan. »Außerdem bin ich diejenige, die dich braucht.«

Er schnaubte verächtlich, setzte sich wieder an den Tisch und nahm seinen Stift in die Hand. »Ich habe nicht die Absicht, mich den ganzen Nachmittag mit dir zu streiten.«

»Fein.« Sie schob sich die Topfhandschuhe unter den Arm. »Und jetzt versprich mir, dass du zu Abend essen wirst.«

Kopfschüttelnd funkelte er sie an.

Macy ließ sich seufzend ihm gegenüber auf einen Stuhl sinken.

»Wo du schon hier bist, wie heißt der Sänger, den deine Großmutter mochte? Sieben Buchstaben.«

»Barry Manilow?«

»Ja, richtig, das ist er.« Er schrieb den Namen hin und machte sich sofort daran, die Felder um diese Antwort herum zu füllen.

Autor

Debbie Macomber
<p>SPIEGEL-Bestsellerautorin Debbie Macomber hat weltweit mehr als 200 Millionen Bücher verkauft. Sie ist die internationale Sprecherin der World-Vision-Wohltätigkeitsinitiative Knit for Kids. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Wayne lebt sie inmitten ihrer Kinder und Enkelkinder in Port Orchard im Bundesstaat Washington, der Stadt, die sie zu ihrer <em>Cedar Cove</em>-Serie inspiriert hat.</p>
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