Der Garten des Lebens

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Eigentlich hat Susannah alles, was sie sich wünschen könnte. Doch ist ihr beschauliches Leben mit Mann und Kindern wirklich ihr großer Plan vom Leben? Als Susannah an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, um ihrer verwitweten Mutter beizustehen, werden ihre Zweifel immer lauter. Vor vielen Jahren ließ sie hier ihre erste Liebe Jake zurück. Jetzt weckt der schöne Garten ihres Elternhauses Susannahs Erinnerungen an eine schicksalhafte Zeit und immer mehr scheinen auch vergessene Träume neu zu erblühen.

"Ein großartiger Frauenroman um alte Geheimnisse und neue Entscheidungen, voller Menschenkenntnis, Humor und Wärme, wie ihn nur Debbie Macomber schreiben kann." Publishers Weekly


  • Erscheinungstag 10.04.2017
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783955766573
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Freunde,

meine Mutter liebte Blumen. Ich scheine diese Liebe von ihr geerbt zu haben, auch wenn ich nicht annähernd so viel Zeit im Garten verbringe, wie sie es getan hat. Als ich noch ein Kind war, haben die Nachbarn uns um unseren Garten beneidet. Ich erinnere mich noch genau an den Duft der Rosen und Lilien und an Gladiolen, die in meinen Kindertagen in den Beeten blühten. Und ich erinnere mich daran, dass ich Unkraut jätete und die Blumen goss.

Dieses Buch widme ich den Freundinnen meiner Jugend. Jede von ihnen hat in meinem Leben eine ganz besondere Rolle gespielt. Diane, Kathy und ich waren zwölf lange Schuljahre hindurch unzertrennlich. Carol stieß in der fünften Klasse zu uns – noch heute lachen wir sehr viel, wenn wir uns treffen. Cheryl trat in der siebten Klasse in mein Leben. Dann kam Jane. Sie war meine beste Freundin zu der Zeit. Und nicht zu vergessen Judy, Cindy, Bev und Yvette. Wir alle lernten uns in der Highschool kennen, haben noch immer Kontakt zueinander und sehen uns regelmäßig. Genau das macht für mich eine Freundschaft aus. Das Leben und die Zeiten mögen sich ändern, aber wahre Freunde bleiben. Sie bleiben auf eine besondere Art und Weise immer ein Teil von uns.

Und noch etwas: Bei unserem letzten Jahrgangstreffen haben Jane und ich beschlossen, nach unseren Jugendlieben zu forschen. Obwohl wir sie nicht ausfindig machen konnten – beide waren unbekannt verzogen –, hatten wir unglaublich viel Spaß bei dem Versuch, sie zu finden. Genau wie Susannah hatten wir keine Ahnung, was wir ihnen bei einem Wiedersehen sagen würden, außer: „Hi. Kennst du mich noch?“ Im Unterschied zu Susannah waren wir nicht einmal sicher, ob sie sich überhaupt an uns erinnern würden.

Ich hoffe, dass Ihnen Susannahs Geschichte gefallen wird – sie ist ein Loblied auf die Freundschaft und die Freuden des Gärtnerns. Und sie birgt eine wichtige Erkenntnis: Wir sind in einem Alter, in dem sich das Eltern-Kind-Verhältnis umkehren kann. So erlebt es Susannah, und so erlebe ich es mit meinen eigenen Eltern. Plötzlich müssen wir Wege beschreiten, Maßnahmen treffen, mit denen wir vorher nicht gerechnet haben und die uns schwerfallen. Und so zeigt uns die Erfahrung, dass es zum Erwachsenwerden dazugehört, schwierige Entscheidungen zu treffen.

Lehnen Sie sich zurück und betreten Sie Susannah’s Garden – Susannahs Geschichte.

Ich freue mich immer darüber, Ihre Meinung zu hören. Sie können mich über meine Homepage www.debbiemacomber.com erreichen, oder Sie können mir einen Brief schreiben: P.O. Box 1458, Port Orchard, WA 98366.

Debbie Macomber

Für meine Schulfreundinnen, mit denen ich mich daran erinnere, welche Wege wir genommen haben und welche nicht.

Jane Berghoff McMahon, Judy St. George Senecal, Cindy Thoma DeBerry, Diane DeGooyer Harmon, Cheryl Keller Farr, Kathy Faith Harris, Bev Gamache Regimbal, Yvette Dwinell Lundy und Carol Brulotte

1. Kapitel

Vivian Leary stand regungslos an der Straßenecke, nur ihre Augen blickten unruhig hin und her. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, geschweige denn, wie sie sich hatte verlaufen können. Immerhin lebte sie schon ihr ganzes Leben in Colville. Eigentlich kannte sie jeden Quadratzentimeter dieser Stadt. Doch jetzt erinnerte sie sich nur noch daran, dass sie hinausgegangen war, um die Post zu holen, und das war mittlerweile bestimmt schon viele Stunden her.

Die Straße kam ihr nicht bekannt vor, und die Häuser waren ihr fremd. Das Haus der Hendersons an der Ecke Chestnut Avenue und Elm Street war immer eine Art Wegweiser, ein Markierungspunkt gewesen, aber sie konnte es im Moment nicht entdecken. Ihr fiel ein, dass die Hendersons ihr Haus weiß gestrichen hatten, mit grünen Fensterläden.

Aber wo war es, fragte sie sich und versuchte angestrengt, sich zu konzentrieren. Wo war es?

George würde ärgerlich werden, wenn sie so lange brauchte, um die Post zu holen.

O nein, wie hatte sie das nur vergessen können?

George war tot.

Eine Woge des Schmerzes überrollte sie – schwer und erdrückend. George, ihr geliebter Ehemann, war tot. Im letzten November, nur zwei Monate vor ihrem sechzigsten Hochzeitstag, war er ihr genommen worden. Es war alles so schnell gegangen …

George war hinausgegangen, um den Wagen warm laufen zu lassen, damit sie zur Kirche fahren konnten, und ein paar Minuten später hatte er tot in der Garage gelegen. Ein schwerer Herzinfarkt hat ihn das Leben gekostet. Der nette junge Notarzt sagte, George wäre tot gewesen, noch bevor er den Boden berührt hatte. Seine Worte klangen, als sollte sie deswegen erleichtert sein. Aber nichts hatte das Entsetzliche dieses furchtbaren Morgens mildern können.

Vivian blinzelte, und obgleich es einer dieser wunderbaren, frühlingswarmen Maitage war, wie es sie nur im Osten des Staates Washington geben konnte, lief ihr ein kalter Schauer über den Körper. Sie versuchte, die Angst, die in ihr aufstieg, zu unterdrücken. Wie sollte sie jetzt nach Hause finden?

Susannah würde wissen, was zu tun war. Ja, ihre Tochter würde ihr helfen. Doch dann fiel Vivian ein, dass Susannah nicht zu Hause war. Susannah wohnte gar nicht mehr in Colville, sie hatte jetzt ein eigenes Zuhause. In Seattle, nicht wahr? Ja, in Seattle. Sie war verheiratet und hatte zwei wundervolle Kinder. Susannah und Joes Kinder. Großer Gott, warum nur fielen ihr die Namen nicht ein? Ihre Enkelkinder waren doch ihre größte Freude und ihr ganzer Stolz. Sie sah die Gesichter der beiden so deutlich vor sich, als würde sie eine Fotografie anschauen, aber sie konnte sich nicht an ihre Namen erinnern.

Chrissie. Vivian seufzte vor Erleichterung. Der Name ihrer Enkeltochter war Chrissie. Sie war zuerst auf die Welt gekommen, und drei Jahre später war Brian geboren. Oder waren es vier Jahre gewesen? Vivian entschied, dass das jetzt nicht so wichtig war. Wenigstens erinnerte sie sich an die Namen.

Wenn sie sich nur besser konzentrieren könnte, dann würde ihr bestimmt einfallen, wo sie sich gerade befand und welche Richtung sie nehmen musste, um nach Hause zu kommen. Es wurde bereits dunkel, und sie wollte nicht ziellos durch die Straßen irren. Aber es gelang ihr einfach nicht, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.

Wenn andere Fußgänger in der Nähe gewesen wären, hätte sie sie fragen können, wie sie von hier aus zur Woods Road kam.

Nein … in der Woods Road hatte sie als Kind gelebt. Seit sie in die Schule gekommen war – und das war vor dem Krieg gewesen –, wohnte sie woanders. Um Himmels willen, sie sollte doch wohl in der Lage sein, sich an ihre eigene Adresse zu erinnern! Was war nur los mit ihr?

Das Haus, an das sie sich zu erinnern versuchte, hatten George und sie vor beinahe fünfundvierzig Jahren gekauft. Damals waren die Kinder noch zu Hause. Vivian empfand Furcht … und Scham. Eine achtzigjährige Frau sollte doch wissen, wo sie wohnte. George wäre enttäuscht und außer sich, wenn er das erfahren würde … Gottlob würde er es nie erfahren. Aber das machte die ganze Sache auch nicht besser. Sie brauchte ihn, und er war nicht hier, um ihr zu helfen – dieser Gedanke erfüllte Vivian mit so großem Entsetzen, dass sie unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballte.

Sie lief los, ohne genau zu wissen, wohin. Wenn sie einfach weiterlief und sich nur fest konzentrierte, würde die Erinnerung vielleicht zurückkommen.

Schon bald fühlten sich ihre Beine schwer an, und sie war erleichtert, als sie an der Straßenecke eine Bank stehen sah. Vivian konnte sich nicht erklären, warum die Stadt gerade an dieser Stelle eine Bank aufgestellt hatte – es war nicht einmal eine Bushaltestelle in der Nähe. Was für eine Verschwendung von Steuergeldern. Wenn George das erfahren würde, wäre er sicher wütend. Er war Beamter gewesen, jahrelang. Richter am Kammergericht. Und er war gut, ein Mann mit Prinzipien und Charakter. Wie stolz Vivian auf ihn war.

Trotzdem war sie im Augenblick so erleichtert, sich setzen zu können, dass sie sich nicht beklagte. George hatte immer ganz frei seine Meinung zu den Bürgerpflichten geäußert und zu der „Vergeudung von Ressourcen durch das Rathaus“, wie er es nannte. Natürlich hatte sich Vivian die Ansichten ihres Mannes stets geduldig angehört, aber sie war nicht immer seiner Meinung. Sie hatte ihre eigenen Vorstellungen über politische Fragen und dergleichen, aber die diskutierte sie nicht mit George. Das war etwas, was sie schon früh in ihrer Ehe gelernt hatte. George wollte immer alle von der Richtigkeit seiner Einstellung überzeugen, und er ließ nicht locker, bis er jeden so weit hatte. Wenn Vivians Überzeugung sich also von Georges unterschied, hatte sie es für sich behalten.

Sie saß auf der Bank und blickte sie sich um in der Hoffnung, etwas Charakteristisches zu entdecken, das ihr half, sich zu erinnern. Oje, war das eine belebte Straße! So viele Autos rasten vorbei, und die Lichter blendeten Vivian, bis ihr ganz schwindelig wurde. Aber es tat gut zu sitzen. Sie fühlte sich nicht mehr ganz so müde und erschöpft. Jetzt musste sie genau nachdenken. Sie hasste es, wichtige Dinge zu vergessen, wie zum Beispiel ihre Adresse, ihre Telefonnummer, die Namen von Freunden und Bekannten. Seit George tot war, passierte das immer häufiger, und es machte sie unsicher.

Wenn sie die Augen für einen Moment schloss … vielleicht half das. Vivian versuchte, sich zu entspannen, den Kopf freizubekommen, denn all die Sorgen und Ängste machten ihre Erinnerung nur noch verschwommener.

Es wurde langsam kühl, nun, da die Sonne untergegangen war. Sie hätte einen Pullover mitnehmen sollen, aber sie hatte im Garten gearbeitet, und ihr war warm gewesen. Die Iris waren in diesem Frühling einfach zauberhaft, aber insgesamt war sie äußerst unzufrieden mit dem Zustand, in dem sich ihr Garten jetzt befand. Jahrelang hatte sie jede freie Minute in ihren Garten investiert, jetzt mochte sie ihn kaum noch anschauen. Vivian tat, was sie konnte, aber es gab einfach zu viel, das noch gemacht werden musste: jäten, beschneiden, die einjährigen Pflanzen setzen … Nach dem Abendessen hatte sie noch die Pflanzen gießen wollen, und dabei war ihr eingefallen, dass sie die Post noch gar nicht hereingeholt hatte. Deshalb war sie zum Briefkasten gelaufen. Und nun war sie hier, verloren, verwirrt und ängstlich.

Auf einmal spürte Vivian, dass sie nicht allein war. Jemand war in ihrer Nähe. Sie blickte auf und mochte ihren Augen kaum trauen.

„George?“

Der Mann, mit dem sie neunundfünfzig Jahre lang verheiratet gewesen war, stand im Schatten der Straßenlaterne neben ihr, und sein Lächeln wärmte sie. Freude durchströmte Vivian, und unwillkürlich straffte sie ihre Schultern. In ihren aufgerissenen Augen waren Erleichterung und Angst zu lesen. George war gekommen, um ihr zu helfen, um sie zu retten. Und Vivian betete, dass es kein Trugschluss sein möge.

„Du bist es doch, oder?“

George antwortete nicht, aber er stand klar und deutlich vor ihr. Er war immer ein gut aussehender Mann gewesen, dachte sie und betrachtete bewundernd seine breiten Schultern und die aufrechte Körperhaltung.

Sie kannten sich schon ein ganzes Leben lang und waren seit der Highschool ein Paar. Vivian war das glücklichste Mädchen auf der ganzen Welt, als George Leary sie fragte, ob sie seine Frau werden wolle. Fast drei Jahre lang waren sie getrennt voneinander, als er in Europa gekämpft hatte. Anschließend war George aufs College gegangen, um seinen Abschluss in Rechtswissenschaften zu machen. Die harte Arbeit hatte sich gelohnt, und nach ein paar Jahren im Beruf war er zum Richter berufen worden. George war die große und einzige Liebe ihres Lebens gewesen, sie vermisste ihn furchtbar. Und hier stand er nun – er war zu ihr gekommen, weil sie ihn brauchte.

Vivian streckte ihre Hand aus, um ihn zu berühren, aber George wich zurück. Bestürzt ließ sie ihre Hand sinken und biss sich auf die Unterlippe. Nein, natürlich – sie hätte es wissen müssen. Man kann die Toten nicht anfassen.

„Ich habe mich verirrt“, flüsterte sie. „Sei nicht ärgerlich, aber ich finde nicht mehr nach Hause zurück.“

Er lächelte wieder, und sie war erleichtert, dass er ihr nicht böse war. Sie hatte schon vor seinem Tod Dinge vergessen, und manchmal hatte ihn das aufgeregt, obwohl er sich immer bemühte, es zu verbergen. Sie kochte nicht einmal mehr, weil sie so viele der alten Rezepte einfach vergessen hatte. Und die Anleitungen in den Kochbüchern waren so schwer zu verstehen. Aber George hatte sich nie beklagt und oft Suppe für sie beide warm gemacht.

Vivian glaubte erklären zu müssen, was geschehen war. „Ich bin rausgegangen, um die Post zu holen, dann habe ich mich wohl entschieden, noch einen Spaziergang zu machen, und als ich mich irgendwann umgesehen habe, war ich weit weg von zu Hause.“

Er streckte seine Hand aus, und sie stand auf.

„Kannst du mich nach Hause bringen?“, fragte sie und verabscheute sich für ihren jammernden und hilflosen Tonfall.

Er antwortete nicht. Vivian fiel ein, dass Tote auch nicht sprechen konnten. Das war in Ordnung, solange George bei ihr blieb. Sechs Monate waren vergangen, seit er gestorben war, und jeder Moment war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen.

„Ich bin so froh, dass du da bist“, flüsterte sie und versuchte, ihrer zitternden Stimme einen festen Klang zu geben. „Oh, George, ich vermisse dich so.“ Sie gingen nebeneinander die Straße hinunter, und Vivian erzählte ihm von dem Garten, obwohl sie wusste, dass sie abschweifte. Er hatte es nie gemocht, wenn sie so viel redete, doch sie fürchtete, dass er bald wieder fortmusste, und es gab noch so vieles, was sie ihm sagen wollte. „George, ich bin mir sicher, dass Martha mich bestiehlt. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Jedes Mal, wenn sie zum Putzen kommt, beobachte ich sie mit Argusaugen, und trotzdem fehlen immer wieder Dinge. Ich kann doch nicht zulassen, dass sie mich bis aufs Hemd ausnimmt – und trotzdem kann ich sie nicht einfach feuern … nach all den Jahren. Was soll ich tun?“ Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass er antworten würde, und tatsächlich schwieg er.

Dann, plötzlich, sah sie ihr Haus. Sie waren in der Chestnut Avenue, in der sie seit 1961 lebten. Mühsam ging sie auf den Eingang zu, hielt sich am Geländer der Treppe fest und zog sich Stufe für Stufe hoch. Als sie sich umdrehte, um George für seine Hilfe zu danken, war ihr geliebter Ehemann verschwunden.

„Oh, George“, seufzte sie und konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. „Komm zurück zu mir … bitte. Bitte komm zurück.“

2. Kapitel

Susannah Nelson füllte den übrig gebliebenen Broccoli-Salat in eine Plastikschüssel, stellte sie in den Kühlschrank und schloss die Tür mit unnötigem Nachdruck. Brian, ihr siebzehnjähriger Sohn, war nach dem Abendessen einfach in sein Zimmer verschwunden und hatte sie mit dem schmutzigen Geschirr allein gelassen. Das war eigentlich nichts Neues mehr. Und jedes Mal hatte er eine andere Entschuldigung parat, um sich vor seinen Haushaltspflichten zu drücken.

„Bist du sauer?“, fragte ihr Ehemann von seinem Sessel im Wohnzimmer aus. Joe ließ die Zeitung sinken, aber alles, was Susannah von ihm sehen konnte, waren seine Augenbrauen und die Augen hinter den Gläsern seiner Lesebrille.

Sie zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich ist es dir gar nicht aufgefallen, aber dies ist das dritte Mal in Folge, dass Brian sich um den Abwasch drückt“, grollte sie und war selbst ein wenig erstaunt über den Unwillen in ihren Worten.

„Ich mache es“, bot er an.

„Darum geht es nicht. Du bist nicht dran mit Abwaschen“, erwiderte Susannah. „Und ich auch nicht.“

Joe faltete die Zeitung zusammen und legte sie zur Seite. „Es geht nicht um Brian, stimmt’s? Du bist wegen etwas anderem wütend.“

„Ich bin wütend darüber, dass er sich immer wieder aus der Verantwortung für den Haushalt stiehlt, aber du hast recht, das ist nicht alles.“ Seit Wochen war sie gereizt und fühlte sich niedergeschlagen. Sie konnte nur leider keinen genauen Grund für ihre Unzufriedenheit finden.

In der vergangenen Nacht hatte sie wieder von Jake geträumt. Seit einiger Zeit erschien ihr der Highschool-Freund beinahe jede Nacht im Traum, und das verwirrte sie sehr. Susannah war glücklich verheiratet, und trotz des jähen Endes dieser Jugendliebe gab es keinen Grund für sie, noch länger an Jake zu hängen. Ihre Ehe hatte den Krisen standgehalten, die in jeder guten Partnerschaft vorkamen. Die Kinder waren fast erwachsen – Chrissie ging aufs College und lebte ihr eigenes Leben, und Brian hatte einen Sommerjob in einer Baufirma, wo er genug Geld verdienen würde, um seine Autoversicherung selbst zu bezahlen. Nachdem die Kinder selbständiger geworden waren, hatte Susannah wieder angefangen, als Lehrerin zu arbeiten. Heute war der letzte Unterrichtstag gewesen, und ihre Klasse erwartete überglücklich die Sommerferien. Sie würde für die nächsten sieben Wochen freihaben. Ihr Leben war gut so. Warum also träumte sie nach mehr als dreißig Jahren von Jake? Es ergab keinen Sinn. Und trotzdem war er da und erfüllte ihre Gedanken mit der Erinnerung an eine längst vergangene Liebe.

„Die Schulferien stehen vor der Tür“, erinnerte Joe sie. „Das sollte dich ein wenig aufheitern.“

Er hatte recht – das sollte es. Susannah brauchte diese Pause. Vielleicht brauchte sie sogar mehr als eine Pause – eine Veränderung. Wie diese Veränderung aussehen sollte, wusste sie nicht. Sie würde im Sommer Zeit haben, um darüber nachzudenken.

„Du bist ruhelos, seit dein Vater gestorben ist“, bemerkte Joe behutsam. Er warf ihr einen Blick zu. „Vielleicht solltest du einmal mit jemandem darüber reden.“

„Willst du damit sagen, dass ich mich mit einem Psychologen unterhalten soll?“ Ihr missfiel der Gedanke, dass es so weit gekommen war. Ja, der Tod ihres Vaters war ein Schock gewesen, aber ihre Trauer war eher … förmlich gewesen. Beinahe abstrakt. Als hätte sie die Vorstellung betrauert, ihren Vater zu verlieren – viel mehr als den Menschen selbst. Sie hatte sich nie gut mit ihm verstanden. In Susannahs Augen war ihr Vater despotisch, anmaßend und arrogant. Gleich nach ihrem achtzehnten Geburtstag war sie ausgezogen, weg von ihm.

„Er war dein Vater, Susannah“, erinnerte Joe sie vorsichtig. „Ich weiß, dass ihr beiden euch nie nahestandet, aber er war dennoch dein Vater.“ Joe nahm seine Brille ab und fing an, sie mit einem Zipfel seines Hemdes zu putzen. „Vielleicht ist es genau das, was dich jetzt so aus der Bahn wirft. Dass er tot ist und ihr eure Differenzen nicht mehr klären und beseitigen könnt.“

Susannah schüttelte den Kopf. Die Beziehung zu ihrem Vater war schwierig gewesen. Kompliziert. Aber das hatte sie schon vor Jahren akzeptiert. „Es hat nichts mit ihm zu tun.“

Joe sah aus, als würde er mit ihr darüber diskutieren wollen, doch sie ließ es nicht zu. „Ja, sein Tod kam plötzlich, aber er war dreiundachtzig Jahre alt, und niemand lebt für immer.“ Tatsächlich hatten Vater und Tochter kaum noch miteinander gesprochen. Das schien ihn jedoch nicht gestört zu haben. Über die Jahre hatte Susannah immer wieder versucht, die Kluft, die zwischen ihnen bestand, zu überwinden, aber ihr Vater war offenbar nicht willens oder nicht imstande gewesen, ihre Beziehung zu vertiefen.

Wann immer sie anrief oder zu Besuch kam, sprach Susannah eigentlich nur mit ihrer Mutter. George Leary war ein anständiger Großvater – das musste sie zugeben. Chrissie und Brian hielten große Stücke auf Susannahs Vater. Sie dagegen … Es war besser, nicht darüber nachzudenken, wie sehr er sich in ihr Leben eingemischt hatte, besonders, als sie noch ein Teenager war. Ja, sie bedauerte seinen plötzlichen Tod, aber sie weigerte sich zu glauben, dass dieser Verlust etwas mit ihrer derzeitigen Stimmung zu tun haben könnte. Wenn jemand schuld an ihrem Zustand war, dann Jake. Aber das konnte sie Joe, ihrem wundervollen Ehemann, natürlich nicht sagen. Hey, Liebling, ich habe in letzter Zeit oft an einen anderen gedacht. Das würde nicht gut gehen – so verständnisvoll Joe auch sein mochte.

Ihr Ehemann betrachtete sie noch immer. „Auch wenn du mir nicht zustimmen willst“, sagte er langsam, „ich glaube schon, dass der Tod deines Vaters dich sehr mitgenommen hat. Erinnerst du dich nicht daran, wie es war, als meine Eltern starben?“

Susannah erinnerte sich noch sehr gut daran und musste sich eingestehen, dass sie um ihren Schwiegervater mehr getrauert hatte als um den eigenen Vater. Als ihre Schwiegermutter dann zehn Monate später ebenfalls starb, waren Susannah und Joe zutiefst erschüttert gewesen. Für sie als Familie war das eine sehr schwierige Zeit. Susannah war eifersüchtig auf Joes enge Bindung zu seinen Eltern, während das Verhältnis zu ihren Eltern, besonders zu ihrem Vater, so distanziert war.

„Sicher war es ein Schock, meinen Vater zu verlieren“, fuhr Susannah fort, „aber ich glaube nicht, dass die schlechte Stimmung …“

„Depression“, warf Joe ein. „Eine ganz normale Depression.“

„Ich leide nicht unter Depressionen.“ Aber noch während sie ihm widersprach, wusste sie, dass Joe recht hatte.

Ihr Ehemann hob die Augenbrauen. „Wenn du keine Depression hast, was ist es dann?“

Joe war ein zuverlässiger, starker, selbstsicherer Mann. Ehrenhaft. Nach vierundzwanzig gemeinsamen Jahren hatten sie sich so aneinander gewöhnt, dass sie häufig im Restaurant das Gleiche bestellten, dieselben Bücher lasen oder dieselbe Partei wählten. Sie konnte nicht verstehen, wie sie neben Joe im selben Bett liegen konnte, Nacht für Nacht, und von einem anderen Mann träumte. Das passte gar nicht zu ihr. Nicht ein einziges Mal in ihrer gesamten Ehe hatte sie auch nur daran gedacht, einen anderen Mann anzuschauen.

Es wäre verrückt, diese Ehe aufs Spiel zu setzen, um eine Highschool-Schwärmerei zu suchen. Die Geschichte mit Jake war lange vorbei. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, nicht mehr mit ihm gesprochen, seit sie siebzehn war, und das war … oh, mehr als dreiunddreißig Jahre her.

Joe setzte die Brille wieder auf. „In den letzten sechs Monaten hattest du eine Menge Stress. Der Tod deines Vaters, dein fünfzigster Geburtstag, ein schwieriges Jahr im Job …“

Er erzählte Susannah nichts Neues. Vielleicht waren das die Gründe für ihre Unzufriedenheit, für diesen Wunsch, etwas über Jake in Erfahrung zu bringen, aber sie bezweifelte es. Nicht einmal die Arbeit im Garten, ihre Lieblingsbeschäftigung, konnte sie beruhigen – oder ablenken. Obwohl sie nach außen hin abstritt, dass etwas nicht stimmte, war sie sich tief in ihrem Innern sicher, dass alles mit ihrem Highschool-Freund und der Art zusammenhing, wie ihre Liebe damals endete. Was sie brauchte, war ein endgültiger Abschluss – dieses lästige, zu oft gebrauchte Wort. Und doch gab es keine andere Erklärung. Jake war ein nicht abgeschlossenes Kapitel in ihrem Leben, ein Weg, den sie nicht zu Ende gegangen war.

So gesehen hatte tatsächlich der Tod ihres Vaters ihr Unbehagen ausgelöst, die Erinnerungen an Jake wieder heraufbeschworen, denn George Leary war verantwortlich für das Ende der Beziehung. Wie immer meinte er besser als alle anderen zu wissen, was gut und richtig war. Als Richter hatte er den ganzen Tag über Recht und Ordnung zu entscheiden. Das Problem war, dass er abends, wenn er zu seiner Familie zurückkehrte, nicht herunterkam von diesem Richterstuhl.

Susannah wollte nicht länger über ihren Vater nachdenken, wollte ihren negativen Gefühlen ihm gegenüber nicht noch mehr Raum geben. Doch aus Gründen, die sie nicht verstand, ließen die Erinnerungen an Jake sie nicht in Ruhe.

„Es wäre vielleicht eine gute Idee, wenn du in diesem Sommer ein paar Wochen mit deiner Mutter verbringen würdest. Vielleicht findest du dann einige Antworten auf die Fragen, die du in Bezug auf deinen Vater hast.“

„Ja, könnte sein“, stimmte Susannah zu, obwohl sie nicht wirklich daran glaubte. Sie hatte schon beschlossen, ihre Mutter zu Beginn der Ferien zu besuchen, um zu sehen, wie es ihr ging und ob sie zurechtkam.

Das Telefon klingelte, aber weder Joe noch Susannah machten Anstalten, den Hörer abzuheben. Ein Teenager mochte sich vor dem Abwasch drücken, das Telefon aber würde er nicht lange klingeln lassen.

Wie erwartet schob Brian nur wenig später den Kopf aus seiner Zimmertür und brüllte mit ohrenbetäubender Lautstärke: „Mom!“

Susannah wollte fragen, wer am Apparat war, aber Brian war so schnell wieder verschwunden, dass sie keine Möglichkeit dazu hatte. Seufzend ging sie zum Telefon in der Küche, nahm den Hörer ab und wartete darauf, dass Brian auflegte.

„Hallo?“

„Susannah, sind Sie das?“

Die weibliche Stimme am anderen Ende kam Susannah bekannt vor, aber sie konnte sie nicht einordnen.

„Hier spricht Martha West. Es tut mir leid, dass ich Sie stören muss.“

„Oh, das ist schon in Ordnung.“ Susannah spürte, wie sie sich unwillkürlich anspannte. Martha war seit Jahren Haushaltshilfe bei ihren Eltern. Wenn sie anrief, konnte das nur bedeuten, dass mit Susannahs Mutter etwas nicht in Ordnung war. „Geht es meiner Mutter gut?“ Das letzte Mal hatte Martha angerufen, um Susannah mitzuteilen, dass ihr Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte und gestorben war.

„Keine Sorge, es geht ihr gut“, versicherte Martha. „Vivian hat mir erzählt, dass Sie demnächst zu Besuch kommen, und ich wollte mit Ihnen sprechen, bevor Sie hierherkommen.“ Sie zögerte. „Es ist nicht einfach, das zu sagen.“ Wieder hielt sie inne. „Susannah, Ihre Mutter scheint zu glauben, dass ich … ihre Sachen an mich nehme. Ich hoffe, Sie wissen, dass ich so etwas niemals tun würde. Ich schwöre, dass ich mit den fehlenden Teelöffeln nichts zu tun habe.“

„Teelöffel?“

„Als ich heute Nachmittag im Hause war, um zu putzen, hat mich Ihre Mutter beschuldigt, vier ihrer Teelöffel entwendet zu haben.“

„Martha, ich weiß, dass Sie so etwas nicht tun.“ Die Frau war absolut vertrauenswürdig.

„Das hoffe ich doch“, stieß sie hervor. „Und Sie können mir glauben: Wenn ich stehlen würde, wären es keine Teelöffel!“

„Das klingt logisch.“

„Dann hat sie mich noch beschuldigt, ihre Geldbörse versteckt zu haben. Eine Stunde lang habe ich danach gesucht und sie schließlich hinter den Sofakissen gefunden. Und als ich sie ihr gezeigt habe, hat sie gesagt, ich selbst hätte die Börse hinter den Kissen versteckt.“

Susannah seufzte. „Oh, Martha, es tut mir leid.“

„Ich weiß nicht, was mit ihr los ist“, sagte die Haushaltshilfe und klang verärgert. „Seit Ihr Vater tot ist, ist nichts mehr so, wie es einmal war. Es gibt Tage, an denen ist sie ganz normal, und am nächsten Tag erkenne ich sie nicht mehr wieder. Sie hat mich gefragt, warum ich ihre Sachen nehme. Dabei würde ich das niemals tun! Das wissen Sie doch, oder? Teelöffel! Sie glaubt, ich wäre mit ihren Teelöffeln auf und davon – und, bei Gott dem Allmächtigen, obwohl ich überall gesucht habe, kann ich sie nicht finden. Aber ich habe sie nicht genommen!“

„Ich bin mir sicher, dass Sie sie nicht genommen haben. Ich werde mit ihr reden“, versprach Susannah.

„Also hat sie Ihnen noch nichts davon erzählt, dass ich ihre Sachen stehle?“, fragte Martha.

„Nein.“ Das stimmte nicht ganz. Während ihres letzten Telefonats hatte Vivian angedeutet, dass sie mit Susannah über Martha sprechen müsse. Susannah war davon ausgegangen, dass Martha in den Ruhestand gehen wolle. Martha kam nur noch zweimal in der Woche zum Putzen. Sie war schließlich auch nicht mehr die Jüngste.

„Ich werde mit ihr reden“, wiederholte Susannah – obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie mit Vivian über ein derart heikles Thema sprechen sollte.

„Bitte tun Sie das. Und wenn Sie sie nicht davon überzeugen können, dass ich eine absolut ehrliche und loyale Arbeitskraft bin, dann … dann sollte ich mich vielleicht nach einer anderen Arbeit umsehen.“

„Tun Sie das nicht“, bat Susannah. „Geben Sie mir die Chance, der Sache auf den Grund zu gehen.“

„Gut“, sagte Martha und klang beruhigt.

„Sobald ich da bin, werde ich mich bei Ihnen melden“, versprach Susannah, verabschiedete sich und legte auf.

„Worum ging es denn?“, fragte Joe, als er die Abendzeitung wieder zusammenlegte.

Susannah seufzte und erzählte ihm von dem Gespräch.

„Du sagtest, deine Mutter sei in der letzten Zeit sehr vergesslich gewesen.“

Susannah nickte. „Ich spreche beinahe jeden Tag mit ihr, aber am Telefon erfahre ich nicht alles, was passiert, geschweige denn, wie es ihr wirklich geht.“ Sie seufzte abermals. „Mom erzählt mir dieselben Geschichten wieder und wieder, aber ich dachte, das wäre so im Alter. Doch vielleicht ist es mehr als das.“ Viele ihrer Freunde kämpften mit denselben Sorgen um ihre Eltern.

„Und wenn du einen Bekannten von ihr einmal fragst?“, schlug Joe vor. Ihr Mann kam in die Küche und stellte sich vor sie. Er umfasste ihre Schultern und sah sie eindringlich an.

Sie begegnete seinem Blick mit einem resignierten Lächeln. „Ich werde Mrs. Henderson anrufen. Sie ist die Nachbarin von Mom und kennt sie seit Jahren.“

Susannah suchte die Nummer heraus und griff erneut zum Telefon. Nach ein paar freundlichen Worten zur Begrüßung kam Susannah schnell zum eigentlichen Grund ihres Anrufs. „Ich mache mir Sorgen um meine Mutter, Mrs. Henderson. Haben Sie in letzter Zeit mit ihr gesprochen?“

„O ja“, erwiderte Rachel Henderson. „Sie ist oft draußen in ihrem Garten und werkelt herum – nicht dass sie besonders viel schaffen würde.“

„Wie geht es ihr … geistig?“, fragte Susannah.

„Also, um ehrlich zu sein, seit Georges Tod ist sie nicht mehr dieselbe“, antwortete die Nachbarin zögernd. „Ich kann nicht genau sagen, was los ist … aber ich fürchte, dass irgendetwas mit Ihrer Mutter nicht stimmt.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Susannah. Joe ging zur Kaffeemaschine, um sich einen Becher einzuschenken. Er ließ seine Frau nicht aus den Augen.

Tief in ihrem Innern hatte Susannah gewusst, dass ihre Mutter ein ernsthaftes Problem hatte. Sie hatte die Veränderung schon gespürt, bevor ihr Vater gestorben war.

„Ich weiß, dass Sie oft mit Ihrer Mutter sprechen, und ich will meine Nase auch nicht in Angelegenheiten stecken, die mich nichts angehen. Al sagt, ich solle mich um meinen Kram kümmern, aber heute Abend …“

„Was ist denn heute Abend geschehen?“, erkundigte sich Susannah und spürte Angst in sich aufsteigen.

„Sie wissen ja, dass Vivian sich nicht mit Georges Tod abfinden kann.“

„Ja, ich weiß.“ Ihre Mutter war oft weinerlich und traurig und sprach unentwegt von George und davon, wie sehr sie ihn vermisste. Susannah war das letzte Mal in den Frühjahrsferien bei ihrer Mutter gewesen. Sie hatte leider nur vier Tage bleiben können. Vivian hatte sie angefleht, länger zu bleiben, aber Susannah musste wieder zurück. Allein Hin- und Rückfahrt nahmen zwei Tage in Anspruch, und Susannah war zu Hause nur noch ein Tag geblieben, um sich auf die Schule vorzubereiten.

Seither versuchte Susannah immer wieder, ihre Mutter davon zu überzeugen, nach Seattle zu ziehen, aber Vivian weigerte sich standhaft. Sie wollte Colville, die kleine Ortschaft nahe Spokane, nicht verlassen. In dieser Stadt war sie geboren und aufgewachsen. Außerdem lebten noch all ihre Freunde in der kleinen Stadt.

„Ist heute Abend etwas passiert?“, hakte Susannah nach.

„Ich fürchte, es wird Sie ein wenig schockieren, aber Ihre Mutter wollte, dass ich ihr helfe, George zu finden.“

„Wie bitte?“ Susannah starrte Joe an. „Sie glaubt, mein Vater sei am Leben?“

„Sie behauptet, ihn gesehen zu haben.“

„O nein“, stieß Susannah hervor.

„Sie lief die Straße entlang und wirkte ziemlich verwirrt. Ich habe mir Sorgen gemacht und bin ihr nachgelaufen. Plötzlich fing sie an, diesen Unsinn über George zu erzählen – er habe sie nach Hause gebracht und sei dann wieder verschwunden. Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?“

„Im März.“ Susannah wusste, dass sie viel öfter nach Colville fahren müsste, aber sie hatte es in den vergangenen Monaten einfach nicht geschafft. Zwischen Brians Sport, beruflichen Verpflichtungen, wie zum Beispiel einem Lehrworkshop, und ihrem sozialen Engagement war kein einziges freies Wochenende mehr übrig geblieben. Susannah fühlte sich schuldig. „Ich wollte an diesem Wochenende nach Colville kommen. Die Sommerferien haben begonnen, und ich will ein paar Wochen mit Mom verbringen.“

„Das ist gut“, sagte Mrs. Henderson. „Sie ist ja auch so dünn geworden, wissen Sie?“

Schon im März hatte ihre Mutter nur noch knapp fünfzig Kilo gewogen.

„Ich glaube, sie kocht nicht mehr“, fuhr die Nachbarin fort.

Bei ihrem letzten Besuch hatte Vivian sie jeden Abend gebeten, das Essen zu machen. Susannah machte das nichts aus, sie übernahm diese Aufgabe gern, denn die Regale waren voll von Lebensmitteln. Dabei hatte Susannah auch einige Delikatessen gefunden, die ihre Mutter früher nie gekauft hatte. Wie zum Beispiel ausgefallene Senfsorten. Oder ein Pesto aus sonnengetrockneten Tomaten.

„Was nimmt sie denn zu sich?“

„Nicht viel, soweit ich das beurteilen kann. Ich habe sie schon oft zum Essen eingeladen, aber sie lehnt jedes Mal ab. Ich bin allerdings nicht die Einzige, der sie des Öfteren einen Korb gibt. Sie scheint sich in ihrem Haus einzuigeln und kommt kaum noch raus – außer, um im Garten zu arbeiten.“

„Aber … warum?“ Ihre Mutter war früher immer gesellig gewesen, hatte die Anwesenheit anderer genossen und gerne Partys für George und ihre Freunde gegeben.

„Das müssen Sie sie selbst fragen.“

„Am Telefon klingt sie eigentlich immer so, als würde sie noch alles mitbekommen“, sagte Susannah. Es sah ihrer Mutter gar nicht ähnlich, zu lügen.

„O ja, wir unterhalten uns natürlich auch, wenn wir uns im Garten treffen, aber ich schwöre …“, Mrs. Henderson stockte, „manchmal bin ich mir nicht sicher, ob Ihre Mutter überhaupt weiß, wer ich bin.“

„Oje“, stieß Susannah hervor. Ihre schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. Ihre Mutter verlor ihr Gedächtnis, und es schien mehr dahinterzustecken als nur das Alter.

„Und noch etwas“, sagte Mrs. Henderson zögerlich.

„Ja?“, entgegnete Susannah.

„Neulich ging ich zu ihr, um nach ihr zu sehen. Ich fand sie – sie saß im Dunkeln. Es stellte sich heraus, dass sie vergessen hatte, die Stromrechnung zu bezahlen. Sie schämte sich deswegen, und ich bin mir sicher, dass sie nicht wollte, dass Sie etwas davon erfahren, aber ich denke, Sie sollten es wissen.“

Susannah stöhnte innerlich. Genau das waren die Dinge, die ihr Sorgen bereiteten: unbezahlte Rechnungen, ein angelassener Herd, Mahlzeiten und Termine, die einfach vergessen wurden.

„Machen Sie sich keine Gedanken“, beeilte sich Mrs. Henderson hinzuzufügen. „Ich habe ihr geholfen, die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen, und nun hat sie wieder Strom. Wie gesagt, sie hat mir erzählt, dass Sie bald zu Besuch kommen, und ich hatte mir vorgenommen, Sie dann auf diese Dinge anzusprechen. Aber diese Geschichte mit George – das hat mich wirklich beunruhigt …“

Es beunruhigte auch Susannah. Sie wünschte, Mrs. Henderson hätte sie schon früher benachrichtigt.

„Als ich im Frühling bei ihr war, habe ich versucht, Mom davon zu überzeugen, in ein Heim für betreutes Wohnen zu ziehen.“

„Ja, sie hat mir davon erzählt. Es hat sie furchtbar aufgeregt, weil sie glaubte, Sie wollten sie aus ihrem eigenen Haus vertreiben.“

„Das hat sie gesagt?“ Susannah spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Es tat ihr weh, dass ihre Mutter so etwas dachte und es dann auch noch einer Nachbarin erzählte.

„Ja, aber ehrlich gesagt, Susannah, ich glaube nicht, dass sie noch länger alleine wohnen sollte.“

Susannah bereute, nicht schon im März auf einer Lösung bestanden zu haben, aber damals hatte sie sich nicht getraut, ihre Mutter so bald nach dem schmerzhaften Verlust des Ehemannes aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen. Durch Georges Tod war Vivians Leben aus den Fugen geraten, und Susannah hatte ihr nicht noch mehr zumuten wollen. Doch offensichtlich war das ein Fehler gewesen.

Susannah fuhr sich mit der Hand durch die zarten Locken, die ihr Gesicht umspielten.

„Es wäre das Beste, wenn Sie so schnell wie möglich kommen würden“, fuhr Mrs. Henderson fort. „Ich hätte Sie ja angerufen, aber Al meinte, ich solle mich raushalten. Und nun, da Sie mich angerufen haben, dachte ich, sei es gut, Ihnen zu erzählen, was mit Ihrer Mutter los ist. Ich hoffe, das ist okay?“, fragte sie unsicher.

„Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mir alles gesagt haben“, erwiderte Susannah. „Ich werde losfahren, sobald ich kann.“

Susannah legte auf und wandte sich ihrem Mann zu. Joe lehnte an der Anrichte, drehte den Kaffeebecher zwischen seinen Händen und sah sie fragend an.

„Ich fürchte, es ist schlimmer, als ich angenommen habe“, sagte sie. „Offensichtlich irrt sie durch die Nachbarschaft und sucht nach meinem Vater.“

Joe stieß einen leisen Pfiff aus. „Fährst du dann gleich los?“ Eigentlich hatte Susannah bis zum Wochenende warten wollen.

„Das wäre wohl am besten.“ Dann sprach sie aus, was sie insgeheim schon lange geahnt hatte. „Ich sehe keine andere Möglichkeit, als sie in eine Einrichtung für betreutes Wohnen zu bringen.“

„Das sehe ich genauso.“

Nachdenklich massierte Susannah mit Daumen und Zeigefinger ihre Nasenwurzel. Sie fürchtete sich vor der unausweichlichen Auseinandersetzung – ihre Mutter würde ohne Zweifel dagegen ankämpfen, dessen war sich Susannah sicher.

„Möchtest du, dass ich dich begleite? Vielleicht schaffen wir es gemeinsam, deine Mutter von diesem Schritt zu überzeugen.“

Susannah schüttelte den Kopf.

„Bist du sicher?“ Er runzelte die Stirn, als sei er ein wenig enttäuscht. „Du warst einfach großartig, als meine Eltern gestorben sind, Suze. Ich möchte für dich da sein.“

Für einen Augenblick fürchtete Susannah, in Tränen ausbrechen zu müssen. „Nein … das muss ich alleine tun. Ich habe mich entschlossen“, sagte sie, und während sie sprach, nahm die Idee immer mehr Gestalt an, „für eine Weile in Colville zu bleiben.“ Vielleicht konnte sie bei der Gelegenheit auch herausfinden, wo Jake jetzt wohnte. Sie musste mit ihm sprechen, um endlich zu erfahren, was damals geschehen war. Susannah wusste, dass ihr Vater etwas mit dem Ende ihrer Beziehung zu tun hatte – sie kannte nur nicht die Details. Wenn sie die Wahrheit erfuhr, würde sie vielleicht endlich aufhören, von Jake zu träumen.

„Okay.“ Joe seufzte. „Aber wenn du sie davon überzeugt hast, umzuziehen, musst du dir auch überlegen, was mit dem Haus geschehen soll.“

Darüber hatte Susannah noch gar nicht nachgedacht. Plötzlich schien die Aufgabe sie zu überfordern.

„Wie lange, glaubst du, wird es dauern?“, fragte Joe.

Sie sah ihm nicht in die Augen, während sie darüber nachdachte, wie lange sie in Colville bleiben würde. „Drei Wochen sollten reichen, denke ich. Vielleicht auch ein Monat.“

„So lange?“

„Es wird nicht einfach werden, meine Mutter zu überreden, ihr Haus zu verlassen“, sagte sie. „Und ich weiß ja noch gar nicht, welche Einrichtung einen freien Platz hat. Das muss alles erst organisiert werden. Und das Haus muss ausgeräumt werden. Egal, ob ich mich entscheide, es zu vermieten oder zu verkaufen – leer geräumt und geputzt werden muss es auf alle Fälle.“

„Ich könnte dabei helfen. Brian auch.“

„Nein, das schaffe ich schon.“ Sie war dankbar für sein Angebot, aber sie wollte Zeit mit ihrer Mutter verbringen – nur sie beide allein. Und nicht nur das. Sie konnte ihrem Ehemann unmöglich zumuten, sie bei der Suche nach ihrer Jugendliebe zu begleiten. Sie hatte einen Plan, was Jake betraf, einen Plan, in den sie ihren Ehemann unmöglich einbeziehen konnte. Sie musste dieses Problem ganz allein lösen. Wenn Joe und Brian da waren, wäre sie zerrissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. „Vielleicht könnt ihr an den Wochenenden kommen, wenn ihr mögt.“ Als Zahnarzt war es Joe nicht möglich, seinen Terminplan spontan zu ändern.

„Brian und ich wollen nächsten Samstag angeln gehen, aber das können wir auch verschieben.“

„Nein, das müsst ihr nicht“, protestierte sie. Es geschah sowieso schon selten genug, dass die beiden Zeit miteinander verbrachten.

Joe nickte. „Dann versuchen wir, am Wochenende darauf zu kommen.“ Er stellte seinen Kaffeebecher ab und sah sie an. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich glaube, du wirst mehr aus der Angelegenheit lernen, als du denkst.“

Das glaubte Susannah auch.

3. Kapitel

Chrissie Nelson packte die letzten Kleidungsstücke in ihren Koffer und sah ungeduldig aus dem Fenster ihres Zimmers. Jason war spät dran. Er wollte gegen zehn Uhr bei ihr sein, um sie zum Flughafen zu bringen. Die Ferien hatten begonnen, und die meisten waren schon abgereist. Chrissie besuchte die Universität von Oregon in Eugene. Und heute würde sie zu ihren Eltern nach Seattle fliegen, um dort den Sommer zu verbringen. Sie freute sich nicht besonders über das Ende des Semesters – vor allem, weil sie den Sommer ohne Jason verbringen würde. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Freunde war sie nicht besonders erpicht darauf, nach Hause zu fahren. Im Gegenteil – es grauste Chrissie vor der Langeweile, die vor ihr lag.

Sie schob ihr langes blondes Haar über die Schulter zurück und unterdrückte einen tiefen Seufzer. Ihre Zimmergenossin, Katie Robertson, war schon am Abend zuvor abgereist, wie fast alle anderen Studenten auch. Jason hatte Katie zum Flughafen gebracht. Anschließend war er wieder im Wohnheim vorbeigekommen. Chrissie und er waren noch etwas trinken gegangen, und Jason hatte versprochen, früh genug da zu sein, damit sie ihren Flug um 11 Uhr 30 nicht verpasste. Und nun wurde es wirklich langsam knapp. Katie hatte er zwei Stunden vor ihrem Abflug abgeholt und die ganze Zeit mit ihr am Flughafen gewartet. Chrissie wurde das Gefühl nicht los, dass er um Katies Wohl besorgter war, als nötig gewesen wäre …

Das klang, als wäre sie eifersüchtig, aber das war sie nicht. Jason hatte Chrissie nie den geringsten Anlass gegeben, an seiner Hingabe zu zweifeln. Er war eben einfach sehr fürsorglich. Sie schloss ihren Koffer und zerrte ihn mit beiden Händen ächzend von der Matratze ihres Bettes, um ihn auf den Boden zu stellen.

Das Dumme an einem Sommer bei ihren Eltern – abgesehen davon, dass sie auf Jason verzichten musste – war, dass sie keinen Job hatte. Und inzwischen war es zu spät, einen anständigen Sommerjob zu ergattern.

Sie war beinahe zwanzig und immer noch abhängig von ihren Eltern. Chrissie hasste das. Die Vorstellung, acht oder zehn Wochen zu Hause zu sein und ihre Eltern um Geld bitten zu müssen, deprimierte sie. Sie wäre lieber in Eugene geblieben, aber ihr Teilzeitjob auf dem Campus endete mit dem Semester, und sie hatte sich nicht früh genug um etwas anderes gekümmert. Im nächsten Jahr musste das anders werden – dafür würde Chrissie sorgen. Dies würde ihr letzter Sommer in Seattle sein. Sie war erwachsen, und sie wollte ihr eigenes Leben leben.

Zu Hhause wollte sie ihren Eltern sagen, dass sie das Wohnheim verlassen würde. Zwei Freundinnen hatten sie gefragt, ob sie mit ihnen ein kleines Haus außerhalb des Campus beziehen wolle. Sie wollten sich die Miete teilen. Das wäre insgesamt billiger, als ein weiteres Jahr auf dem Campus zu wohnen. Ihre Eltern könnten eine Menge Geld sparen, und außerdem wäre es eine gute Erfahrung. Chrissie war sich sicher, dass sie gut klarkommen würde. Mit ihrem Vater würde sie darüber reden können, aber sie wusste nicht, ob sie auch auf ihre Mutter zählen konnte.

Jasons Honda Civic hielt am Bordstein. Chrissie lehnte sich aus dem Fenster und winkte. Ihr Freund stieg aus dem Wagen, sah hoch, lächelte und winkte zurück. „Ich bin gleich da“, rief er.

Das war typisch Jason – immer aufmerksam und entgegenkommend. Chrissie war froh, mit ihm zusammen zu sein. Sie hatten sich bei einem Blind Date kennengelernt, und er hatte sie vom ersten Moment an beeindruckt. Sie hatten viele Gemeinsamkeiten, was allerdings nicht bedeutete, dass sie einander ähnlich waren. Im Gegenteil, Jason war ausgesprochen konservativ. Er studierte Jura mit Schwerpunkt Wirtschaftsrecht. Seine Noten waren überdurchschnittlich und seine Arbeits- und Lernmethoden systematisch und diszipliniert. Chrissie dagegen war sorglos und abenteuerlustig. Sie lebte den Moment. Unangenehme Dinge, lästige Pflichten schob sie gerne vor sich her. Ihre Seminararbeiten schrieb Chrissie meistens in der Nacht vor dem letzten Abgabetermin. Andere Menschen verstanden das oft nicht, aber sie arbeitete nun einmal am besten unter Druck – was nicht hieß, dass sie vorher untätig war. Sie dachte wochenlang über das Thema nach und erarbeitete Informationen. Sie konnte gar nicht früher mit dem Schreiben beginnen.

Jason wartete nie bis zur letzten Minute, und ihre Art trieb ihn manchmal zur Verzweiflung. Trotzdem waren die beiden noch immer verrückt nacheinander. Manchmal versuchte er, sie zu ändern – und umgekehrt. Aber wenigstens nörgelte er nicht dauernd an ihrer Arbeitseinstellung herum, so wie ihre Eltern es taten. Chrissies Noten hatten sich im Vergleich zur Highschool nicht verschlechtert. Okay, sie war nicht herausragend, aber sie hatte auch nie eine schlechtere Zensur als eine Drei. Eigentlich ging sie nur zum College, weil alle ihre Freunde auch dort waren. Jeder erwartete von ihr, ihre Ausbildung weiterzuführen, und sie hatte keine Ahnung, was sie sonst hätte tun sollen.

Aber das soziale Leben war ihr wichtiger als die akademische Ausbildung – Chrissie genoss es, auf Partys zu gehen und mit Jungs zu flirten – bis sie Jason traf.

Mit seinen muskulösen Schultern hätte Jason ein Footballspieler sein können, doch Sport interessierte ihn nicht. Er zog sich für den Unterricht an, als würde er ins Büro gehen. Im Winter trug er Pullover und lange Hosen, im Sommer kurzärmelige Hemden und Dockers. Seine Haare waren kurz geschnitten, mit freien Ohren. Im Grunde genommen war er der Traum jeder Schwiegermutter. Und er war auch Chrissies Traum, obwohl sie nie gedacht hätte, sich in einen Typen wie ihn verlieben zu können.

Als sie ihn zum ersten Mal traf, hatte sie versucht, die Schale, die sie um ihn herum vermutete, zu knacken und den bad boy in ihm ans Tageslicht zu befördern. Sie war überzeugt davon, dass sich hinter dem anständigen Jungen ein wilder und leidenschaftlicher Mann versteckte, der nur darauf wartete, losgelassen zu werden, und sie wollte diejenige sein, die ihn befreite. Jason protestierte nicht. Doch sie hatte nur mäßigen Erfolg gehabt. Obschon sie unterschiedlich waren, kamen sie gut miteinander aus. Er schätzte ihre Spontaneität und Fröhlichkeit. Und auch wenn sie über alles – von Politik bis hin zu Filmen – streiten konnten, machte es beiden eine Menge Spaß, sich hinterher wieder zu versöhnen.

Natürlich waren ihre Eltern begeistert von Jason – alle Eltern wären das. Er entsprach nahezu perfekt dem Bild des vollkommenen Schwiegersohns. Sie und Jason hatten bisher noch nicht über Heirat gesprochen, aber es würde sie nicht überraschen, wenn er ihr zu Weihnachten einen Antrag machen würde.

Jason kam in ihr Zimmer, hievte den schweren Koffer hoch und schleppte ihn die Treppe hinunter – einen Lift gab es in dem Wohnheim nicht. Chrissie schulterte Rucksack und Tasche und ging hinter ihm her.

Unten am Auto warf Chrissie ihrem Freund einen kummervollen Blick zu. „Ich wünschte, ich müsste nicht fahren.“

„Ist schon okay“, erwiderte er, ohne sie anzusehen.

Vielleicht blickte er sie nur deshalb nicht an, weil er zu sehr damit beschäftigt war, das Gepäck in seinen Kofferraum zu manövrieren. Trotzdem traf sie seine achtlose Bemerkung. „Ist es das?“ Sie konnte es kaum glauben.

„Ich werde dich schrecklich vermissen, aber bevor wir uns versehen, bist du schon wieder da.“

Diese gleichmütige Einstellung, diese Ungerührtheit erschreckte sie. Sie wollte, dass er sich so traurig fühlte wie sie – aber offensichtlich tat er das nicht. Chrissie musterte Jason nachdenklich. Vielleicht legte sie zu viel Gewicht auf seine Äußerung. Sie wollte nicht wie eine weinerliche Zehnjährige klingen, doch seine Reaktion kränkte sie.

Sie entschied sich, gelassen zu reagieren. „Du hast natürlich recht. Ach, übrigens, ich komme dich über den vierten Juli sowieso besuchen.“

„Kannst du das denn?“

„Sicher, warum nicht?“, fragte sie.

„Wolltest du nicht Geld sparen fürs nächste Semester?“

Sie zuckte mit den Schultern. Finanzielle Fragen waren ihr ziemlich egal. Sie hatte sich vorgestellt, er würde begeistert auf ihren Vorschlag eingehen. Doch offensichtlich lag sie wieder falsch. Im nächsten Augenblick packte Jason Chrissie jedoch an den Schultern, zog sie an sich heran und überraschte sie mit einem langen und fordernden Kuss. Normalerweise waren ihm Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit unangenehm, aber an diesem Tag schien nichts so zu sein, wie es sonst war. Sie gab sich dem aufregenden Gefühl seiner Lippen auf den ihren hin. „Im nächsten Sommer …“, flüsterte sie.

„Im nächsten Sommer?“ Jason entließ Chrissie aus seinen Armen und sah sie fragend an.

„Im nächsten Sommer finde ich einen Weg, in Oregon zu bleiben.“

„Gut.“ Er nahm Chrissies Rucksack, verstaute ihn sorgfältig neben dem schweren Koffer und schloss den Kofferraum.

„Ich muss nur erst das andere Thema vom Tisch haben“, sagte sie, während Jason ihr die Beifahrertür aufhielt.

Er zögerte und sah sie stirnrunzelnd an.

„Ich muss meine Mutter für meinen Plan gewinnen, mit Joan und Katie zusammenzuziehen, bevor ich sie fragen kann, ob ich nächsten Sommer in Eugene bleiben kann“, erklärte sie.

„Mit deiner Mutter hast du es wirklich, was?“

„Wie meinst du das?“

„Du machst dir ständig Gedanken darüber, was sie wohl sagen könnte.“

Seine Beobachtung ärgerte sie. „Das ist nicht wahr.“ Sie wollte nicht streiten, aber er lag eindeutig völlig falsch.

„Also, gerade hast du gesagt, du müsstest deine Mutter davon überzeugen, aus dem Wohnheim auszuziehen“, murmelte er. „Seit letzter Woche, nein, schon seit den letzten Klausuren jammerst du darüber, dass du nach Hause fahren und mit deiner Mutter klarkommen musst. Deinen Vater hast du nicht ein einziges Mal erwähnt.“

„Mein Vater ist der Vernünftigere von den beiden.“ Sie war wütend, dass Jason ihr vorhielt, ein Problem mit ihrer Mutter zu haben.

„Soweit ich weiß, ist das gar nicht so selten, weißt du? Ein Mutter-Tochter-Konflikt, meine ich.“

„Tatsächlich?“, entgegnete Chrissie kühl. Sie stieg auf der Beifahrerseite ein und zog die Tür hinter sich zu, ohne Jasons Antwort abzuwarten.

„Du und deine Mutter, ihr scheint diese grundlegenden Probleme zu haben“, beharrte Jason, als er ins Auto stieg. Er steckte den Schlüssel in die Zündung und startete den Motor.

Chrissie starrte ihn an, wütend, dass er dieses Thema überhaupt weiter diskutierte. „Willst du einen Streit anfangen?“, fragte sie. Sie wollte sich in ihren letzten gemeinsamen Momenten nicht in eine Auseinandersetzung ziehen lassen.

Jason drehte sich zu ihr, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Nicht wirklich. Und du?“

„Nein.“

„Gut.“ Er fuhr los.

„Du wirkst nicht gerade so, als würdest du mich sehr vermissen, wenn ich weg bin“, stieß sie hervor und wünschte im selben Moment, sie hätte nichts gesagt. Die Worte ließen sie unsicher wirken, und das wollte sie nicht.

„Warum denkst du das?“

„Ach, nur so.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Ist es, weil ich dich nicht ermutigt habe, mich am vierten Juli zu besuchen? Falls es das sein sollte … ich wollte dir die teuren Flugkosten ersparen, und außerdem habe ich schon andere Pläne.“

„Hast du?“

„Meine Eltern haben mich gebeten, zu ihnen zu kommen, und ich habe es ihnen bereits versprochen.“

Es entging Chrissie nicht, dass ihr Freund sie nicht einlud, das Wochenende mit ihm zusammen bei seinen Eltern zu verbringen.

„Bist du froh, dass ich Eugene verlasse?“, fragte sie. Jason würde den Sommer über hierbleiben. Er hatte Glück – er hatte einen Job in einer angesehenen Anwaltskanzlei bekommen. Seine Familie lebte in Grants Pass, einige Stunden entfernt.

Jason seufzte leise, als würde sie sich wie ein nerviges Kind verhalten.

„Vergiss einfach, was ich gesagt habe“, platzte sie heraus. „Es war eine dumme Frage.“

„Das stimmt“, erwiderte Jason. Er ergriff das Steuer mit beiden Händen. „Warum bist du so empfindlich?“

Er hatte recht – sie reagierte über, obwohl sie sich vorgenommen hatte, genau das nicht zu tun. „Ich habe keine Lust, den Sommer in Seattle zu verbringen. Ich will lieber hier bei dir sein, als zehn Wochen lang mit meiner Mutter zusammen sein zu müssen.“ In dem Moment, als sie ihre Mutter erwähnte, wusste Chrissie, dass sie das Falsche gesagt hatte.

„Warum sprichst du nicht mal mit ihr?“

„Worüber? Über meine Beziehung zu ihr? Meine Mutter ist so in ihrer eigenen kleinen Welt verfangen, dass sie nicht auch noch mit meinen Problemen belästigt werden kann.“

Jason hielt an einer roten Ampel. „Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt.“

„Woher willst du das wissen? Du hast sie doch nur ein Mal getroffen.“ An Ostern hatte Chrissie Jason mit nach Hause gebracht, und er hatte drei Tage mit ihrer Familie verbracht. Der Besuch war ein voller Erfolg gewesen.

Noch die ganze Rückfahrt über hatte Chrissie in der Begeisterung ihrer Eltern geschwelgt. Die beiden hatten Jason sofort in ihr Herz geschlossen.

„Du hast wunderbare Eltern, Chrissie“, sagte Jason nun.

„Ja – aber meine Mutter wird mir in diesem Sommer das Leben zur Hölle machen. Sie ist sauer auf mich, weil ich keinen Job habe, obwohl sie das natürlich nie so offen sagen würde. Stattdessen findet sie tausend andere Kleinigkeiten, die sie an mir kritisieren kann.“

„Ich dachte, du wolltest dich schon in den Frühlingsferien um einen Sommerjob kümmern?“, erinnerte Jason sie.

„Das wollte ich ja auch, aber ich war so beschäftigt – die Zeit ist mir einfach davongelaufen. Jetzt fang du nicht auch noch an!“

„Chrissie …“

„Du hast keine Ahnung, was das für ein Sommer für mich wird.“

„Ach, komm schon, Chrissie. Es ist ja nicht so …“

„Ich will dir mal ein Beispiel geben“, unterbrach sie ihn. „Und das ist nicht aus der Luft gegriffen. Meine Mutter fragt mich, ob ich das Bad sauber machen kann. Das mache ich. Danach geht sie ins Bad und schrubbt das Waschbecken noch einmal. Das ist ihre Art, mir deutlich zu machen, dass ich ihren hohen Ansprüchen nicht genüge.“ Der Sommer lag vor Chrissie wie eine nicht enden wollende Übung in Toleranz und Geduld. „Wenn ihr die Weise, wie ich das Waschbecken putze, nicht gefällt, könnte sie doch einfach mit mir darüber reden – aber nein, o nein, nicht meine Mutter!“

Jason brummelte etwa Unverständliches.

„Brian hat einen Job“, fuhr sie fort. „Mom hat mir das schon an die fünfzig Mal erzählt. Er arbeitet für eine Baufirma.“

„Du bauschst die ganze Sache viel zu sehr auf.“

„Das denke ich nicht“, schimpfte Chrissie. „Ich weiß genau, was sie mir damit eigentlich sagen will: Wenn ich mich rechtzeitig – im Frühling, wie sie es wollte – um einen Job gekümmert hätte, würde nun einer auf mich warten.“ Sie konnte sich vorstellen, was für ein Trommelfeuer an Sticheleien auf sie wartete. Ihre Mutter konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Chrissie den Sommer über nichts tat, und hatte bereits angedroht, ihr Jobs als Babysitter zu besorgen. Babysitting mit fast zwanzig! Chrissie hielt das für eine grausame und viel zu harte Strafe.

„Sie hat keine Ahnung davon, wie schwer es ist, einen zeitlich begrenzten Job zu finden. Wenn ich Glück habe, bekomme ich vielleicht noch eine Stelle bei einer Fastfood-Kette, aber nicht einmal die Jobs sind noch so einfach zu haben wie früher. Außerdem habe ich, ehrlich gesagt, keine große Lust, den Sommer damit zu verbringen, Leute zu fragen, wie sie ihre Fritten gern hätten.“

„Tja …“ Es war augenscheinlich, dass er keine Lust hatte, mit ihr zu streiten.

„Falls alle Stricke reißen, kann immer noch mein Vater einspringen und mir einen Mitleids-Job verschaffen.“

„Einen was?“

„Er lässt mich in seiner Praxis arbeiten. Da darf ich dann niedere Dienste leisten, für die er mir einen Hungerlohn zahlt.“ Sie seufzte. „Es wird ein furchtbarer Sommer. So viel steht fest.“

„Es wird schön“, erwiderte Jason abwesend.

Chrissie spürte, dass er ihr gar nicht zugehört hatte. Offenbar war er mit seinen Gedanken ganz woanders. Sie sah ihn an und runzelte die Stirn. Was sollte sie davon halten? Irgendetwas zwischen ihnen war anders. Chrissie konnte es fühlen – hatte es von dem Moment an gefühlt, als er im Wohnheim angekommen war, um sie abzuholen. Jason war vorher noch nie zu spät gekommen.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie und fügte hinzu: „Zwischen uns, meine ich?“

Er warf ihr einen kurzen Blick zu und zuckte mit den Schultern. „Sicher. Warum sollte etwas nicht in Ordnung sein?“

Ihr Instinkt sagte etwas anderes. „Du hast Katie gestern Abend zum Flugplatz gefahren, stimmt’s?“

„Das weißt du doch.“

Chrissie bemerkte, dass sein Griff um das Steuerrad fester geworden war. Was war gestern zwischen ihm und Katie passiert? Sie hatte nicht gefragt, wie lange er am Flughafen geblieben war. Ursprünglich hätte sie mitfahren sollen, aber Katie hatte so viel Gepäck, dass Chrissie zu Hause geblieben war. Das war offenbar ein Fehler gewesen.

Was soll schon passiert sein, sagte Chrissie sich. Sie konnte nicht glauben, dass Jason sie jemals hintergehen würde. Und Katie war eine ihrer besten Freundinnen. Sie wollten nach den Sommerferien zusammenziehen. Katie würde ihr doch niemals den Mann ausspannen.

Nein, keiner von beiden würde mich betrügen, dachte Chrissie.

Die restliche Fahrt verlief schweigend.

Jason hielt am Bordstein vor dem Terminal, und Chrissie stieg aus, sobald der Wagen zum Stehen gekommen war. Ohne ein Wort zu sagen, sprang Jason aus dem Auto, öffnete den Kofferraum und hob ihr Gepäck heraus.

„Der Sommer geht in null Komma nichts vorbei“, sagte er mit gespielter Fröhlichkeit. „Du sollst mal sehen, wie schnell du wieder hier bist.“

„Klar“, sagte sie in demselben falschen Ton. „Total schnell.“

Jason nickte. „Ich rufe dich bald an.“

Sie nickte ebenfalls und griff nach ihrem Koffer. „Ich denke, ich sollte jetzt besser hineingehen.“

„Ich wünsche dir einen schönen Sommer.“

Sie versuchte, zu lächeln. „Das wünsche ich dir auch.“

Jason beugte sich zu ihr, um sie zu küssen, aber es fühlte sich anders an als die Küsse, die sie einander sonst gegeben hatten. Chrissie hatte Angst, Jason zu verlieren, und es zerriss ihr beinahe das Herz.

4. Kapitel

Susannah freute sich nicht auf ihre Reise nach Colville. Die Gemeinde im Osten des Staates Washington unterschied sich in nichts von zahllosen anderen kleinen Städten im Land. Als sie am Rathaus vorbeifuhr, fiel ihr Blick auf die Turmuhr. Colville mit seinem JCPenney – Geschäft an der Hauptstraße war für viele der kleineren Ortschaften im Umland die „Großstadt“. Früher hatte Colville die einzige Ampelanlage in Stevens County. Mittlerweile gab es sogar einen Kreisverkehr.

Hier zeigte sich das kleinstädtische Amerika von seiner besten Seite.

Und von seiner schlechtesten.

Die Fahrt dauerte sieben Stunden. Susannah unterbrach sie nur für eine kleine Pause zum Mittagessen. Als sie die Randbezirke der Stadt erreichte, spürte sie, wie ihre Anspannung wuchs. Susannah drehte die Musik lauter und hoffte, vom Beat der Rolling Stones abgelenkt zu werden. Das erste Gebäude, an dem sie vorbeikam, war der Burger King, der seine Pforten geschlossen hatte. Dies war wahrscheinlich die einzige Filiale der gesamten Kette, die jemals bankrottgegangen war. Als Nächstes kam die Bowling Alley. Auf der Tafel war das Special des Tages angezeigt: Frühstück mit zwei Eiern, Toast und Kaffee für 2,99 Dollar – als sie noch ein Kind gewesen war, hatte es nur 1,99 Dollar gekostet. Solange Susannah zurückdenken konnte, war genau dieses Frühstück das Special des Tages gewesen.

Sie fuhr an der Leichenhalle von Colville vorbei. Früher gehörte sie ihrem inzwischen verstorbenen Onkel Henry. Susannah war mit zahllosen Cousinen und Cousins aufgewachsen. Aber keiner von ihnen hatte sich in der Gegend angesiedelt. Es hatte wohl auch für sie keinen Grund gegeben, in Colville zu bleiben.

Während Susannah die Hauptstraße weiter entlangfuhr, spürte sie, wie das Unbehagen wuchs. Ihre Mutter in eine Einrichtung für betreutes Wohnen zu bringen, würde keine einfache Aufgabe werden. Die Beklemmung, die sie empfand, rührte aber noch von etwas anderem her. Seit Susannah aus Colville weggegangen war, um zum College zu gehen, hatte sie nicht mehr zurückgeblickt. Sicher, sie war in den vergangenen Jahren das eine oder andere Mal zu Besuch gewesen, aber wann immer sie hierhergekommen war, war auch die ihr so vertraute Traurigkeit zurückgekehrt. Das hing vor allem mit dem Tod ihres Bruders Doug zusammen. Er war in dem Jahr, als sie achtzehn wurde, bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Susannah war damals in einem französischen Internat gewesen. Ihr Vater hatte es so gewollt. Ein Anruf aus Amerika bedeutete schlechte Neuigkeiten. Und so war es. Das Telefonat kam mitten am Tag, und es brachte die schlimmsten Nachrichten ihres Lebens. Ihr Bruder, drei Jahre älter als sie, war bei einem Autounfall in einer berühmt-berüchtigten Kurve vor Colville getötet worden.

In dem Augenblick hatte sich Susannahs Welt für immer verändert. Und als wäre der Tod ihres Bruders nicht schon schlimm genug gewesen, hatte ihr Vater sich auch noch geweigert, ihr den Flug nach Hause zu bezahlen, damit sie an der Beerdigung teilnehmen konnte. Das hatte sie ihm niemals verziehen. Ihr ganzes Leben war wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Nach diesem Verlust war Susannah nicht mehr dieselbe. Und auch ihre Eltern hatten sich von dem Tod ihres Sohnes nicht mehr erholt.

Es kam Susannah so vor, als sei die ganze Freude, die ihre Eltern empfinden konnten, nach Dougs Unfall einfach verschwunden. Das Glück war fort, und zurück blieben ihre Eltern in einer Ehe, die von Ödnis und Leere geprägt war. So empfand es jedenfalls Susannah, auch wenn ihre Mutter eine andere Sichtweise vertrat – doch Susannah glaubte, dass dabei Verdrängung eine große Rolle spielte. Denn wie sonst hätte Vivian, wenn sie ehrlich mit ihrer Unzufriedenheit und ihrem Unglück – und mit dem Anteil, den George daran hatte – umgegangen wäre, bei ihrem Ehemann bleiben können?

Als Susannah nach einem Jahr aus Frankreich zurückgekommen war, hatte sie es kaum ertragen können, im selben Haus wie ihr Vater zu leben. Sie war froh, als das College anfing und sie ausziehen konnte, und hatte nie mehr darüber nachgedacht, zurückzukehren.

Aber Dougs Tod war nicht die einzige Erinnerung, die Susannah mit sich herumtrug. Sie konnte nicht nach Colville kommen, ohne auch an Jake zu denken – besonders jetzt, da er beinahe jede Nacht in ihren Träumen erschien. In den vergangenen Jahren hatte sie immer wieder ab und zu an ihn denken müssen, aber nie so intensiv wie in den letzten Monaten. Jake war ihre erste große Liebe gewesen. Und ihr Vater hatte sie zerstört.

Susannah hoffte, dass Jake ein glückliches und erfolgreiches Leben führte. Vielleicht war er verheiratet, hatte Kinder. Es hatte sie viel Zeit und Kraft gekostet, über ihn hinwegzukommen – doch es war ihr gelungen. Dachte sie jedenfalls.

Susannah schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen, und trat auf die Bremse, um das vorgeschriebene Fünfunddreißig-Meilen-Limit nicht zu überschreiten. Sie fuhr an Bennys Motel vorbei und an dem Safeway, dem Lebensmittelgeschäft, in dem ihre Mutter seit fünfzig Jahren einkaufte. Der Stadtpark lag hinter dem Motel. Etwas weiter die Straße entlang befand sich das Ole King Cole’s – Restaurant. An jedem Muttertag hatte ihr Vater ihre Mutter zum Essen ausgeführt. Entweder in dieses Restaurant oder in das Acorn’s.

Um nicht von den Erinnerungen an die Vergangenheit überwältigt zu werden, zwang Susannah sich, geradeaus zu blicken. Als sie das Ende der Hauptstraße erreicht hatte, fuhr sie den Hügel hinauf zur Chestnut Avenue. Dort stand das Haus ihrer Kindheit.

Das Licht brannte, obwohl es nicht einmal fünf Uhr und noch hell war. Susannah fuhr die Auffahrt hinauf und stellte den Motor ab. Sofort wurde die Haustür geöffnet, als hätte ihre Mutter hinter dem Fenster gestanden und auf ihre Ankunft gewartet.

Das Haus war aus Stein gebaut. Damals, in den sechziger Jahren, hatte es zu den modernsten Gebäuden der Stadt gezählt. Es war eines dieser aufwendigen Häuser im Ranch-Stil mit vier Schlafzimmern, von denen ihre Mutter eines als Handarbeitsraum benutzte, einem ausgebauten Kellergeschoss und einer großen Waschküche.

Und natürlich gab es einen Garten, einen wundervollen Garten, in dem ihre Mutter so gerne am Abend saß, um zu lesen oder zu stricken. George hatte aus diesem Grund auf der hinteren Terrasse extra eine Lampe installiert.

„Susannah!“ Vivian breitete die Arme aus, als ihre Tochter aus dem Wagen stieg.

Während Susannah die Stufen hinaufging, bemerkte sie erschrocken, wie zerbrechlich ihre Mutter wirkte. Bei ihrem letzten Besuch im März hatte sie noch nicht so hinfällig ausgesehen. Sie schien um Jahre gealtert zu sein. Mrs. Henderson hatte recht – Vivian hatte an Gewicht verloren, die Kleidung war viel zu groß geworden. Ihre Kittelschürze hing wie ein Sack um sie herum, und die Strumpfhosen schlugen an den Beinen Falten. Susannah schlang die Arme um ihre Mutter und fühlte sich mit einem Mal schuldig. Sie hätte viel früher herkommen sollten, hätte viel früher erkennen müssen, wie schlecht es ihrer Mutter ging.

„Ich bin so froh, dass du da bist“, sagte Vivian.

„Ich bin auch froh, hier zu sein“, erwiderte Susannah. Joe würde ganz gut ein paar Wochen ohne sie auskommen. Die Kinder auch. Aber Susannahs Mutter brauchte sie.

„Komm herein“, bat Vivian. „Ich habe Eistee gemacht.“

Susannah umfasste die schmale Taille ihrer Mutter, und gemeinsam gingen sie hinein. Auf den Stufen lagen Zeitungen herum, die sich immer noch in ihren Schutzhüllen befanden. Das sah ihrer sorgfältigen und ordentlichen Mutter gar nicht ähnlich.

Das Haus sah genauso aus, wie sie es von ihrem letzten Besuch in Erinnerung behalten hatte. Der Sessel, in dem ihr Vater jeden Abend ferngesehen hatte, stand verlassen im Wohnzimmer. Das gehäkelte Zierdeckchen auf der Rückenlehne lag immer noch unverändert an seinem Platz.

Selbst als ihr Vater schon längst in Pension war, durfte der Fernseher nicht vor den Fünf-Uhr-Nachrichten eingeschaltet werden. George hatte diese Anordnung erlassen, und niemand hatte je gewagt, seine Entscheidung anzufechten – am wenigsten ihre Mutter. Susannah fragte sich, ob Vivian nun, da ihr Mann tot war, auch tagsüber fernsah. Sie glaubte es nicht. Alte Angewohnheiten ließen sich nur schwer ablegen.

Der Küchentisch war mit Tellern und Besteck gedeckt. „Du hast doch kein Abendessen gemacht, oder?“, fragte Susannah.

Ihre Mutter, die am Kühlschrank stand, wandte sich zu ihr um und runzelte die Stirn. „Du hast mir nicht gesagt, dass ich das tun soll.“

„Ich wollte dich nämlich eigentlich zum Essen ausführen – wohin du willst.“

„Oh, gut. Ich dachte schon, ich hätte etwas falsch gemacht.“

„Nein, Mom. Du hast nichts falsch gemacht.“

Ihr Lächeln wirkte so vorsichtig, so unsicher. Nach den langen Jahren ihrer Ehe war ihre Mutter ohne George völlig hilflos. Sie war geradezu abhängig von ihm. Susannah hatte keine Schuld daran, sie machte ihren Vater dafür verantwortlich.

„Setz dich und erzähl mir von den Kindern“, sagte ihre Mutter und zog einen Küchenstuhl für Susannah vor. Der runde Eichentisch war mittlerweile total veraltet und unmodern – genau wie die Stühle.

Vivian ging zur Anrichte und schenkte Eistee in zwei hohe Gläser, die sie anschließend zum Tisch brachte. Dann setzte auch sie sich und blickte Susannah erwartungsvoll an.

Susannah nippte an ihrem Tee. „Brian hat einen Sommerjob in einem Bauunternehmen. Ihm gefällt es, und die Bezahlung ist wirklich gut.“

Ihre Mutter lächelte zufrieden. „Und Christine?“

„Joe holt sie heute vom Flughafen ab.“

Das Lächeln auf Vivians Gesicht wich einem erstaunten Ausdruck. „Sie war weg?“

„In der Schule, Mom. Chrissie geht aufs College und verbringt den Sommer zu Hause.“

„Oh, natürlich. Chrissie geht woanders auf die Schule, stimmt’s?“

„Das stimmt. Nach dem Sommer wird sie ins dritte Jahr kommen.“

„Hat sie auch einen Sommerjob?“

Susannah hätte mit dieser Frage rechnen müssen. „Nein, noch nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie einen finden wird.“ Susannah wurde klar, dass das nicht der Wahrheit entsprach.

Ihre Mutter nickte. „Ja, sie wird schon etwas finden. Sie ist so ein hübsches junges Mädchen.“ Susannahs Blick fiel auf das alte Buffet im Wohnzimmer, wo die Familienfotos standen. Sie entdeckte Chrissies Abschlussfoto aus der Highschool. Chrissie lächelte in die Kamera, ihre langen blonden Haare fielen bis über die Schultern. Direkt daneben stand Susannahs Abschlussfoto. Es war nach ihrer Rückkehr aus Frankreich aufgenommen worden war. Auch ihr Haar war lang und blond gewesen, aber lockiger als das von Chrissie. Über die Jahre waren Susannahs Haare nachgedunkelt und mittlerweile hellbraun geworden. Irgendwann hatte sie es kurz schneiden lassen. Auf ihrem Abschlussfoto trug Susannah Kappe und Mantel und hielt ihr Diplom so vorsichtig in Händen, als wäre es ein wertvolles und unersetzbares, ersehntes Schriftstück. Nichts als Show!

„Chrissie ist genau wie du, als du in ihrem Alter warst.“

Autor

Debbie Macomber
<p>SPIEGEL-Bestsellerautorin Debbie Macomber hat weltweit mehr als 200 Millionen Bücher verkauft. Sie ist die internationale Sprecherin der World-Vision-Wohltätigkeitsinitiative Knit for Kids. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Wayne lebt sie inmitten ihrer Kinder und Enkelkinder in Port Orchard im Bundesstaat Washington, der Stadt, die sie zu ihrer <em>Cedar Cove</em>-Serie inspiriert hat.</p>
Mehr erfahren