Die Farben der Herzen

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Neben Lydia Goetz' Wollladen "A Good Yarn" hat gerade der kleine Blumenladen "Susannahs Garden" eröffnet. Lydia freut sich über die neuen Nachbarn. Doch was verbirgt Susannahs Angestellte, die mysteriöse Colette? Als die beiden neuen Frauen der Blossom Street beschließen, einen Strickkurs bei Lydia zu besuchen, treffen sie dort auf eine liebenswerte Frauenrunde, in der jede mit ihrem Schicksal hadert. Werden sie gemeinsam lernen, die verworrenen Muster ihrer Leben neuzustricken?

Eine Komposition an unangreifbaren Wohlfühlmomenten rund um die schönen Seiten von Freundschaft, Toleranz und Stricken.
Publishers Weekly


  • Erscheinungstag 10.07.2017
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783955766603
  • Seitenanzahl 480
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

„Eines der bestgehüteten Geheimnisse in der Welt des Strickens ist, dass das Stricken von Spitzenbordüren viel schwieriger erscheint, als es tatsächlich ist. Wenn du eine rechte Masche und eine linke Masche stricken, die zwei Maschen zusammennehmen und die Wolle um die Nadel legen kannst, um eine neue Masche aufzunehmen, dann kannst du Spitzenbordüren stricken.“

– Myrna A. I. Stahman, Rocking Chair Press, Designerin, Autorin und Herausgeberin von Stahman’s Shawls und Scarves – Lace Faroese-Shaped Shawls From The Neck Down and Seamen’s Scarves und dem demnächst auf dem Markt erscheinenden The Versatility of Lace Knitting – Variations on a Theme

Lydia Goetz

Ich liebe das A Good Yarn, und ich bin dankbar für jede Minute, die ich in meinem kleinen Laden in der Blossom Street verbringen darf. Ich liebe es, die Wollstränge in den unterschiedlichsten Farben zu betrachten und ihre verschiedenen Texturen unter meinen Händen zu spüren. Ich liebe die Strickkurse, die ich geben darf, und ich bin dankbar für die Freunde, die ich dadurch gewonnen habe. Ich liebe es, Musterbücher zu studieren. Ich liebe es, aus meinem Fenster zu schauen und die Energie und die Aktivität in der Innenstadt von Seattle zu sehen und zu spüren. Eigentlich liebe ich alles an diesem Leben und der Welt, die ich mir aufgebaut habe.

Das Stricken war meine Rettung.

Ich weiß, das sage ich häufig, aber es ist einfach die Wahrheit. Noch heute, nach zehn krebsfreien Jahren, bestimmt das Stricken mein Leben. Dank meines Wollladens bin ich Teil einer Gemeinschaft von strickenden Menschen und Freunden geworden.

Mittlerweile bin ich mit meiner großen Liebe Brad Goetz verheiratet. Wie das A Good Yarn die erste wirkliche Chance war, die ich in meinem Leben bekam, war Brad die erste Chance, die ich in der Liebe hatte.

Zusammen ziehen Brad und ich unseren neunjährigen Sohn groß. Ich sage bewusst, dass Cody unser Sohn ist – denn das ist er einfach. Für mich ist er genauso mein Kind, wie er Brads Kind ist. Ich könnte Cody nicht noch mehr lieben, wenn ich ihn selbst zur Welt gebracht hätte. Es stimmt, dass er eine leibliche Mutter hat, und ich weiß, dass Janice ihn liebt und sich um ihn sorgt. Aber Brads Exfrau ist … nun, ich zögere ein wenig, den Ausdruck zu benutzen, doch egoistisch ist das Wort, das mir unweigerlich in den Sinn kommt, wenn ich an sie denke. Janice taucht ab und an in Codys Leben auf, wenn ihr danach ist oder wenn es ihr gerade gelegen kommt – trotz der Besuchsregelung, die sie bei der Scheidung unterschrieben hat. Leider besucht sie ihren Sohn nur ein- oder zweimal im Jahr. Ich weiß, dass dieser mangelnde Kontakt Cody belastet. Und Janices rücksichtslose Einstellung zum Muttersein ärgert auch mich, doch wie mein Sohn spreche ich nicht über diese Kränkung. Cody braucht mich nicht, um Janice in Schutz zu nehmen oder sie schlecht zu machen – er ist durchaus in der Lage, sich seine eigene Meinung zu bilden. Für ein Kind ist er bemerkenswert belastbar und einfühlsam.

An diesem Februarmorgen strahlte mein Lädchen mit all seiner Wärme und den vielen Farben eine besondere Gemütlichkeit aus.

Der Teekessel pfiff, und ich goss das kochende Wasser in eine Kanne, in die ich zuvor einige Teebeutel gegeben hatte. Wie so oft im Winter fielen schwere Regentropfen aus dem wolkenverhangenen, düsteren Himmel.

Ich hatte mich dazu entschlossen, einen neuen Strickkurs anzubieten.

Im Moment leite ich einige fortlaufende Kurse und Wohltätigkeits-Strickgruppen und biete vier- bis fünfmal im Jahr neue Workshops an.

Als ich über meinen neuen Kurs nachdachte, schweiften meine Gedanken zu meiner Mutter. Sie hatte sich einigermaßen mit dem Leben in einer Einrichtung für betreutes Wohnen arrangiert. Manchmal denke ich, dass ihr Umzug für meine Schwester Margaret und mich schwieriger war als für sie selbst. Obwohl meine Mutter es hasste, ihre Eigenständigkeit aufgeben zu müssen, schien sie doch erleichtert zu sein, sich nicht mehr um das Haus und den Garten kümmern zu müssen. An dem Tag, als das Haus verkauft wurde, habe ich geweint – und obwohl sie mich ihre Tränen niemals sehen lassen würde, bin ich davon überzeugt, dass auch Margaret geweint hat. Das Haus zu verkaufen bedeutete, die Kindheit und die Erinnerungen an unser Aufwachsen in dem Haus endgültig loszulassen. Der Verkauf war das Ende eines Lebensabschnitts – sowohl für uns Schwestern als auch für unsere Mutter.

Während ich nun an meinem Tee nippte, blätterte ich die Seiten mit den neuesten Strickmustern durch, die am Tag zuvor angekommen waren. Das Erste, das meine Aufmerksamkeit fesselte, war ein Gebetsschal. In der vergangenen Zeit hatte ich einige Muster für diese Schals gesehen, manche aufwendiger als andere. Ich konnte mir gut vorstellen, einen solchen Schal für meine Mutter zu stricken.

Gebetsschals sind in den letzten Jahren immer beliebter geworden – nicht nur aus religiösen Gründen. Sie stehen für Behaglichkeit und Wärme, emotional wie auch körperlich.

Ich hatte bereits mehrere Anfragen für Gebetsschals bekommen und mir überlegt, dass es eine interessante Aufgabe für einen Strickkurs sein könnte, einen Schal anzufertigen. Und so entschloss ich mich, meine Idee mit meiner Schwester Margaret zu diskutieren.

Margaret hat einen ausgeprägten Geschäftssinn und ein gutes Gespür dafür, welches Projekt ich in einem Strickkurs anbieten sollte. Bevor sie in mein Geschäft einstieg, wusste ich diese Fähigkeiten nicht zu schätzen. Meine Schwester arbeitete am Anfang nur stundenweise für mich. Mittlerweile ist daraus eine Vollzeitbeschäftigung geworden. Sie kann vielleicht nicht so gut mit Menschen umgehen wie ich, aber sie kennt sich mit Wolle aus und ist – was ich nicht für möglich gehalten hätte – ein guter und wertvoller Mitarbeiter geworden. Und sie ist meine Freundin. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich das nicht behaupten können. Wir mögen vielleicht Schwestern sein, doch die Spannungen zwischen uns waren manchmal unerträglich. Unsere Beziehung zueinander hat sich sehr zum Positiven verändert, und ich danke A Good Yarn dafür.

Margaret würde erst in einer halben Stunde kommen, denn der Laden öffnete offiziell erst um zehn Uhr. Eigentlich hatte ich noch einiges zu erledigen, wie Rechnungen zu bezahlen oder neue Wolle zu bestellen. Doch statt meine Aufmerksamkeit diesen Dingen zu widmen, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und drehte gedankenverloren die Teetasse zwischen meinen Händen.

Ich fühlte mich so unendlich gesegnet.

Natürlich hatte ich nicht immer so empfunden. Ich war nicht immer so ruhig und gelassen gewesen.

Als ich Anfang zwanzig war, kehrte meine Krebserkrankung mit einer Bösartigkeit zurück, die mich ins Taumeln brachte. Ich überlebte den Rückfall – doch mein Vater schaffte es nicht. Er hatte mit all seiner Kraft für mich gekämpft. Als es so aussah, als würde ich den Krebs besiegen können, starb er plötzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt. Es schien beinahe, als bedeutete meine Genesung für ihn, dass er gehen und mich allein lassen konnte.

Bevor ich meinen Dad verlor, neigte ich dazu, mein Leben eher zögerlich anzugehen. Ich fürchtete das Glücklichsein, hatte Angst vor dem, was kommen würde. Die Zukunft lag leer und finster vor mir und erfüllte mich mit Panik.

Dad war derjenige, der mir Kraft gab.

Und als er nicht mehr an meiner Seite war, wusste ich, dass ich die Verantwortung für mein Leben nun ganz allein trug.

Ich hatte also eine Entscheidung zu fällen und wählte ganz frech … die Unabhängigkeit. Dadurch entschloss ich mich, wieder ein Teil der Welt zu werden, aus der ich mich Jahre zuvor zurückgezogen hatte.

Die Decke über mir knarzte, und ich wusste, dass Colette aufgestanden war.

Colette Blake hatte das kleine Apartment über meinem Laden gemietet. In den ersten zwei Jahren war das mein Zuhause gewesen – mein erstes eigenes Heim, weit weg von der Familie. Nachdem ich Brad geheiratet hatte, war ich mir nicht sicher, was ich mit der Wohnung machen sollte. Eine Zeit lang stand sie leer. Dann traf ich Colette und wusste sofort, dass sie die perfekte Mieterin für mich war – und ich war mir sicher, dass sie in dem Apartment Trost finden würde. Es sollte ihr Zeit und Raum geben, ihr emotionales Gleichgewicht wiederzufinden.

Und ein Bonus – für mich – ist, dass sie an meinen freien Tagen auf Whiskers, meinen Kater, aufpasst. Er gehört praktisch zum Inventar des Lädchens, das er als sein Zuhause ansieht. Ich hatte schon Kunden, die nur vorbeikamen, um ihn zu besuchen. Oft macht er im Schaufenster ein Nickerchen, rollt sich zusammen und genießt die Nachmittagssonne. Whiskers bietet immer Gesprächsstoff – und zaubert ein Lächeln auf die Gesichter meiner Kunden. Tiere haben die Fähigkeit, den Menschen die einfachen Freuden des Lebens ins Gedächtnis zu rufen.

Colette erinnerte mich an mich selbst vor drei Jahren, als ich den Laden eröffnet hatte.

Ich habe sie kurz vor Weihnachten das erste Mal getroffen, als Susannah Nelson, die Besitzerin des Blumenladens nebenan, sie mitgebracht hatte, um mich kennenzulernen.

Bei ihr war es nicht der Krebs, der ihre Welt in den Grundfesten erschüttert hatte.

Es war der Tod.

Colette ist einunddreißig Jahre alt und Witwe. Ihr Ehemann Derek, Polizist in Seattle, starb vor etwas mehr als einem Jahr. Wenn ich davon erzähle, denken die meisten Menschen, dass er während eines Einsatzes ums Leben kam. Doch das stimmt nicht. Nach einem für Seattle so typischen Platzregen war er auf das Dach seines Hauses geklettert, um eine undichte Stelle zu reparieren. Niemand weiß, wie es genau geschah, doch offensichtlich rutschte Derek aus und fiel. Zwei Tage später erlag er im Krankenhaus seinen schweren Kopfverletzungen.

Seit Colette vor einigen Wochen eingezogen war, hatte sie nur ein einziges Mal über den Unfall gesprochen – so als wäre es zu schmerzhaft, über ihren Ehemann zu reden. Nach und nach lernte ich sie nun kennen und fand heraus, dass sie eine unbekümmerte Frau war, die gern und viel lachte – und dennoch schien ihr Schmerz manchmal beinahe greifbar zu sein. Überwältigend. Und ich verstand, wie sie sich fühlte. Ich erinnerte mich genau an die Qualen und an die Panik, die mich während meiner Krankheit erfassten, wenn ich mich fragte, was am nächsten oder übernächsten Tag geschehen würde. Colette ging voller Angst an ihr Leben heran – so wie ich es früher getan hatte. Ich wollte ihr Sicherheit geben und hoffte, dass meine Freundschaft ihr Freude und Trost vermittelte. Freundinnen wie Jacqueline und Alix hatten schließlich dasselbe für mich getan.

Susannah Nelson hatte Colette eingestellt, gleich nachdem sie das Geschäft, das früher als Fannys Floral bekannt gewesen war, erstanden hatte. Colettes Mutter besaß früher selbst einen Blumenladen, und Colette hatte als Schülerin an der Highschool dort gejobbt.

Da ihr Haus praktisch direkt, nachdem es inseriert worden war, verkauft wurde, hatte Colette Hals über Kopf ausziehen müssen. Mein kleines Apartment verfügt über einen separaten Eingang nach draußen sowie über eine Tür, durch die man direkt in den Laden gelangt. Und es stand zu der Zeit leer, also trafen wir sofort eine Vereinbarung. Ich nahm an, dass sie nicht lange bleiben würde. Der Großteil ihrer Habseligkeiten war in einem Lagerraum untergebracht, und sie wollte sich während der folgenden Monate die Zeit nehmen, zu entscheiden, wo sie leben und was sie tun wollte.

Die Stufen knarrten, als sie herunterkam.

Seit Colette in die Wohnung gezogen war, teilten wir uns ab und an am Morgen eine Kanne Tee. Sie richtete sich nach meinem Zeitplan und kam vor der Arbeit kurz vorbei, um ein Tässchen zu trinken und zu reden. Ich genoss unsere gemütlichen, lockeren Gespräche.

„Der Tee ist fertig.“ Ich angelte mir eine saubere Tasse. Ohne zu fragen, schenkte ich ein und reichte Colette das dampfende Getränk.

„Danke.“ Colette lächelte, als sie es entgegennahm.

Sie war dünn – zu dünn. Ihre Kleidung war ein bisschen zu groß, doch mit ihrem Geschick bei der Auswahl ihrer Kleider und dem Styling gelang es ihr, das zu verbergen. Mir fiel es trotzdem auf, denn ich hatte früher dasselbe getan.

Ich mochte an Colette, dass sie entzückend war, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Abgesehen von vorübergehenden Phasen, in denen sie sehr still sein konnte, war Colette warmherzig und freundlich. Ich ahnte, dass ihr alles glückte – was auch immer sie anfasste. Sie hatte nicht viel über den Job gesprochen, den sie aufgegeben hatte. Doch ich nahm an, dass es eine sehr viel anspruchsvollere Tätigkeit gewesen war, als Kunden in einem Blumengeschäft zu beraten.

Dass sie ihren alten Job aufgab, hing offenbar mit dem Tod ihres Mannes zusammen. Sie hatte mir erzählt, dass er vor einem Jahr, am vierzehnten Januar, gestorben war. Dieses Jahr hatte sie verstreichen lassen, bevor sie umwälzende Veränderungen in ihrem Leben angegangen war – sie verkaufte ihr Haus, war umgezogen, kündigte ihren Job. Einerseits wirkten diese Entscheidungen drastisch, doch andererseits vollkommen verständlich.

Colette trug ihr langes dunkles Haar in der Mitte gescheitelt. Es fiel ihr bis auf die Schultern, wo es wundervolle Locken bildete. Bei ihr schien das Haar von ganz allein so zu fallen – anders als bei anderen Frauen, die Stunden damit zubrachten, ihre Haare mit Gel und Spray zu bändigen.

In der kurzen Zeit, die sie jetzt bei uns war, hatte Colette bei allen Menschen, die sie kennenlernten, einen positiven Eindruck hinterlassen.

Bei allen Menschen – außer meiner Schwester.

Margaret – ganz sie selbst – hielt instinktiv Abstand zu Colette und misstraute ihr.

Meine Schwester ist eben so. Sie neigt dazu, immer schwarzzusehen.

Sie behauptete steif und fest, dass es ein großer Fehler gewesen war, das Apartment über dem Laden zu vermieten. Margarets Meinung nach konnte man einem Mieter grundsätzlich nicht vertrauen. Sie schien tatsächlich zu glauben, dass Colette sich mitten in der Nacht in den Laden schleichen könnte, um jedes Wollknäuel, das ich besaß, zu stehlen, es anschließend auf der Straße zu verhökern und das Geld für Drogen zu verwenden.

Ich musste jedes Mal lachen, wenn ich darüber nachdachte. Denn ich vertraute Colette. Und außerdem besaß ich eine ziemlich teure Alarmanlage.

Margaret ist – gelinde gesagt – besorgt um mich. Sie ist älter und neigt dazu, mehr Verantwortung zu übernehmen, als sie muss. Es hat lange gedauert, bis ich meine Schwester verstanden habe, und noch länger, bis ich sie zu schätzen lernte. Aber das ist eine andere Geschichte …

Colette hob die Teetasse an ihre Lippen und hielt inne. „Derek wäre heute dreiunddreißig geworden“, sagte sie leise. Sie starrte ins Nichts und wandte mir dann unvermittelt den Blick zu.

Ich nickte und versuchte, sie ohne Worte und ohne Drängen zum Weitersprechen zu ermuntern. Bisher hatte sie mir nur ein einziges Mal von Derek erzählt. Durch meine eigenen Erfahrungen wusste ich, dass der Schmerz erträglicher wurde, je mehr man ihn teilte.

„Derek wollte immer Kinder haben … Wir haben es probiert, aber ich bin nicht schwanger geworden, und jetzt …“

„Ich bin mir sicher, dass du eines Tages Kinder haben wirst“, sagte ich. Denn ich war ehrlich davon überzeugt, dass sie nicht für den Rest ihres Lebens allein bleiben, sondern wieder heiraten und vielleicht auch Kinder haben würde.

Ihr Lächeln wirkte traurig. „Derek und ich haben an jenem Morgen über ein Baby gesprochen. Das Nächste, an was ich mich klar erinnere, ist, dass ich seinen Sarg aussuchte. Das nennt man wohl Ironie des Schicksals, oder?“

Ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte, also beugte ich mich vor und umarmte sie einfach.

Sie schien durch meine Sympathiebekundung ein wenig verlegen zu sein und starrte auf den Boden. „Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Denn ich wollte dir nicht den Start in den Tag verderben und dich traurig machen. Eigentlich war ich ja auch nicht traurig, bis ich einen Blick auf den Kalender auf deinem Schreibtisch warf und das Datum erkannte.“

„Ist schon gut, Colette. Es tut mir nur so leid.“

„Danke“, entgegnete sie und zuckte ganz leicht die Schultern. „Das Leben ist manchmal so, weißt du?“

„Ja …“ Das wusste ich nur zu gut.

Colette stellte die leere Teetasse in meine Spüle.

Die hintere Tür wurde geöffnet und laut wieder ins Schloss geworfen. Es war Margaret – natürlich –, die über das Wetter schimpfte. Nachdem Colette eingezogen war, hatte Margaret es sich angewöhnt, in der kleinen Seitenstraße zu parken – offensichtlich, um ein Auge auf das Kommen und Gehen meiner Mieterin zu haben. Jetzt warf sie ihre große Handtasche aus Filz auf den Tisch, zögerte kurz und verspannte sich beim Anblick Colettes unwillkürlich.

„Guten Morgen“, sagte ich fröhlich, denn trotz ihrer schlechten Laune freute ich mich, sie zu sehen. „Was ist es doch für ein schöner Morgen, nicht wahr?“ Ich konnte mir eine Prise Sarkasmus nicht verkneifen.

„Es regnet“, erwiderte sie und musterte Colette, als wäre sie ein Einbrecher.

„Regnerisches Wetter ist ideal zum Stricken“, erinnerte ich sie. Für mich gab es nichts Schöneres, als mich an einem regnerischen Nachmittag mit einer Tasse heißen Tees zurückzuziehen und an meinem aktuellen Strickprojekt zu arbeiten. Die meisten Menschen wollen etwas Sinnvolles tun, wenn es schon regnet, und das beinhaltet – zum Glück für mich – manchmal auch das Stricken.

Margaret schlüpfte aus ihrem Mantel und hängte ihn an den Haken neben der Hintertür. „Julia hat mich heute Morgen hier abgesetzt“, erzählte sie im Vorbeigehen.

Ich verstand die Bedeutung ihrer Worte auf Anhieb. „Du lässt Julia den neuen Wagen fahren?“ Erst einen Tag zuvor hatte Margaret erzählt, dass ihre älteste Tochter, die in ihrem letzten Jahr an der Highschool war, sie gebeten hatte, den Wagen für eine Spritztour ausleihen zu dürfen. Wenn ich mich recht entsinne, lauteten Margarets exakte Worte: „Nicht in diesem Leben!“

Margarets nagelneuer Wagen war das erste wirklich neue Auto für die Familie, denn sie und Matt hatten bisher immer gebrauchte gekauft. Margarets vorheriges Fahrzeug war nicht mehr zu reparieren gewesen, und sie hatte sich sehr darauf gefreut, ein brandneues Auto zu besitzen. Wochenlang hatten sie sich informiert, bevor sie sich für einen Wagen entschieden, der gern gekauft wurde und dem eine hervorragende Laufleistung bescheinigt wurde. Als die Entscheidung gefallen war, mussten sie noch zwei Monate warten, bis das Fahrzeug endlich bei ihnen ankam – und das tat es, in all seiner metallicblauen Pracht.

„Ich weiß, ich weiß“, grummelte Margaret. „Ich habe gesagt, dass ich ihr den Wagen nicht geben werde, aber ich konnte nicht anders. Sie muss nach der Schule noch etwas erledigen und hat es irgendwie geschafft, mich davon zu überzeugen, dass ihre gesamte schulische Zukunft davon abhängt, heute dieses Auto zur Verfügung zu haben.“ Ihre Mundwinkel zuckten, als sie daran dachte, wie leicht Julia ihre Einwände beiseitegeschoben und sie überlistet hatte. „Der Wagen ist noch keine hundertsechzig Kilometer gelaufen“, sagte Margaret. „So schnell hat sie meinen Widerstand zum Bröckeln gebracht. Traurig, oder?“

Colette lachte. „Kinder können das.“

Margaret erwiderte ihren Kommentar mit einem geringschätzigen Nicken, ohne sie jedoch großartig zu beachten.

Colettes Blick traf mich. „Wir holen das später nach, Lydia“, sagte sie leise und verschwand in Richtung Hintertreppe.

Margaret sah Colette hinterher. „Du magst sie, oder?“

„Sie ist großartig.“ Ich wünschte, meine Schwester würde Colette eine Chance geben. In der Hoffnung, dass vielleicht der Mitleidsfaktor zog, fügte ich hinzu: „Heute ist der Geburtstag ihres verstorbenen Mannes. Sie erzählte mir gerade davon, als du kamst.“

Margaret hatte wenigstens so viel Anstand, betreten zu wirken. „Das ist hart“, entgegnete sie und ließ ihren Blick wieder zur Treppe wandern. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, und Whiskers kam die Stufen herunter.

„Ich weiß, dass die Mieteinnahmen hilfreich für dich sind. Aber ich traue ihr einfach nicht“, stellte Margaret fest.

Ich seufzte. Diese Worte hatte ich nun schon so oft gehört, doch sie ergaben noch immer keinen Sinn für mich.

„Und warum nicht?“, fragte ich knapp.

„Denk doch einmal nach“, antwortete Margaret. „Colette ist offensichtlich zu viel mehr imstande, als sie nach außen hin zeigt. Warum arbeitet sie also in einem Blumenladen? Sie könnte überall einen Job bekommen.“

„Sie hat gerade erst ihren Ehemann verloren“, murmelte ich.

„Vor einem Jahr. Okay, das ist traurig, und es tut mir wirklich leid, aber das bedeutet doch nicht, dass sie sich verstecken muss, oder?“

„Sie versteckt sich nicht“, erwiderte ich. Zwar wusste ich das nicht mit Sicherheit, aber ich war bereit, mich mit Margaret auseinanderzusetzen, weil ich Colette mochte. Meine Schwester reagierte über, und es ärgerte mich, dass sie in allen Menschen nur das Schlechteste vermutete.

„Aber warum arbeitet sie nebenan für einen Hungerlohn?“, beharrte Margaret. „Ich bin sicher, dass mehr dahintersteckt und dass sie ein Geheimnis hat. Und bis wir nicht herausgefunden haben, was es ist, finde ich es nicht richtig, sich mit ihr anzufreunden.“

„Jeder Mensch geht mit seiner Trauer anders um“, begann ich zu erklären, obwohl ich Margaret nicht die Antworten geben konnte, nach denen sie suchte. Es stimmte, dass Colette in sehr kurzer Zeit sehr viele umwälzende Veränderungen in ihrem Leben vorgenommen hatte. Und es stimmte auch, dass ich nicht viel über ihre Lebensumstände wusste.

„Ich bezweifele trotzdem, dass ihre Entscheidungen etwas mit ihrem Ehemann zu tun haben“, sagte Margaret und blickte noch immer in Richtung Treppe. „Merke dir meine Worte: Colette verheimlicht etwas.“

Meine Schwester sagte manchmal Dinge, die ich kaum glauben konnte. „Oh, um Himmels willen, das ist lächerlich!“

Margaret hob die Schultern. „Vielleicht, aber ich glaube das nicht. Irgendetwas an ihr gefällt mir nicht. Ich weiß, dass du sie magst, und offensichtlich mag Susannah sie auch. Aber ich halte mich zurück, bis wir mehr wissen.“

Stur schüttelte ich meinen Kopf. Mein Instinkt sagte mir, dass Colette ein guter Mensch war.

Margaret runzelte ob meines Schweigens die Stirn. „Versprich mir einfach, dass du vorsichtig bist.“

Vorsichtig? Bei ihr hörte es sich an, als wäre Colette ein Sträfling auf der Flucht. „Du liest zu viele Krimis“, spöttelte ich, denn ich wusste, wie sehr meine Schwester es liebte, spannende Bücher zu lesen. Sie hatte immer einen Roman in ihrer Tasche, den sie ab und an herausholte, um die Handlung mit mir zu diskutieren. Ich bevorzuge Hörbücher – auf diese Weise kann ich „lesen“ und gleichzeitig stricken. Das verstehe ich unter Multitasking.

„Hat Colette jemals erwähnt, wo sie gearbeitet hat, bevor sie in Susannah’s Garden anfing?“, wollte Margaret wissen.

„Nein … aber warum sollte sie auch?“

Margaret warf mir einen Blick zu, der mir eindeutig zu verstehen gab, dass ich viel zu vertrauensvoll war.

Offensichtlich hatte Margaret eine lebhaftere Vorstellungskraft als ich. „Ich glaube nicht, dass sie in einem Zeugenschutzprogramm ist, falls es das ist, worauf du hinauswillst.“ Ich ging zur Eingangstür des Ladens, zog die Jalousie hoch und drehte das Schild um, auf dessen Rückseite „Geöffnet“ zu lesen war. Durch das Fenster sah ich, dass der Regen stärker geworden war. Whiskers sprang auf die Fensterbank, wo er sich zusammenrollte und behaglich schnurrte.

„Eigentlich wollte ich mit dir über einen neuen Strickkurs sprechen“, sagte ich und erinnerte mich an die Idee, die mir am frühen Morgen gekommen war. Ich schaltete das Licht ein. Durch die beschlagenen Fensterscheiben des French Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich Alix Townsend, die dort als Bäckerin arbeitete. Der Regen kam in wahren Sturzbächen vom Himmel – schwere Tropfen prasselten auf den Gehweg, und das Wasser schoss durch die Gosse. Es waren bestimmt zwei Wochen vergangen, seit Alix und ich uns das letzte Mal unterhalten hatten, und sie fehlte mir. Ich wusste, dass sie nicht viel Freizeit hatte, denn sie steckte mitten in den Vorbereitungen für ihre Hochzeit.

Vieles hatte sich verändert, seit ich in die Blossom Street gekommen war. Es gab nun das French Café, und Susannah’s Garden. Drei Häuser weiter hatte ein Buchladen eröffnet. Und direkt gegenüber des Ladens befand sich ein altes Bankhaus, das komplett umgebaut worden war und in dem sich nun exklusive Eigentumswohnungen befanden. Die Apartments waren so schnell verkauft worden, dass sogar die Makler überrascht waren. Einige der Bewohner hatten Strickkurse bei mir belegt, und ich begann langsam, sie kennenzulernen.

„Vielleicht werde ich heute Morgen mal rübergehen, um Alix zu besuchen“, sagte ich beiläufig. Zwar frühstückte ich nicht oft, doch mir stand der Sinn nach etwas Süßem. Und – wer weiß – mit ein wenig Glück hatte Alix möglicherweise gerade Pause und konnte mir bei einem Muffin und einer Tasse Kaffee Gesellschaft leisten.

„Du wechselst schon wieder das Thema“, erklang hinter mir Margarets Stimme.

„Wirklich?“ Ich versuchte, mich daran zu erinnern, worüber wir gesprochen hatten. „Das wollte ich nicht. Ich musste nur daran denken, was sich in der Blossom Street alles verändert hat.“

Margaret blickte mich an. „Alles begann mit dir und dem A Good Yarn“, sagte meine Schwester. „Du hast der Wohngegend deine Note verliehen. Und die Menschen fühlen sich hier wohl.“

Ein Lob aus Margarets Mund war selten, und ich spürte, wie mich ihre Worte mit Freude und Stolz erfüllten.

Trotz des Regens und unserer unterschiedlichen Ansichten, was Colette betraf, wusste ich, dass es ein guter Tag werden würde.

2. Kapitel

Alix Townsend

Es regnete – schon wieder. Alix Townsend hastete über die Straße. Sie war schon jetzt vollkommen durchnässt vom Regen, der seit vergangenem Donnerstag ununterbrochen vom Himmel fiel. Und sie brauchte eine Zigarette. Dringend. Obwohl sie vor zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte, überraschte es sie, wie heftig das Verlangen war. Es hatte sie aus heiterem Himmel getroffen. Die verdammte Hochzeit – das war das Problem. Ein ganzer Schwall an Schimpfwörtern schoss ihr durch den Kopf. In weniger als vier Monaten, am zweiten Juni, würde sie Reverend Jordan Turners Ehefrau werden – und offen gesagt versetzte sie dieser Gedanke in Panik.

Alix Townsend die Frau eines Pfarrers! Das war schon beinahe lächerlich. Zwar wussten nur wenige Menschen davon, aber Alix’ Mutter war wegen einer ganzen Reihe an Gesetzesverstößen im Gefängnis – und darunter waren Delikte wie Fälschung, die Verwendung ungedeckter Schecks und versuchter Mord. Und es war zudem nicht ihr erster Gefängnisaufenthalt.

Tom, Alix’ einziger Bruder, war an einer Überdosis Drogen gestorben, und zu ihrem Vater hatte sie seit ihrem zwölften Lebensjahr keinen Kontakt mehr. Soweit sie wusste, hatte er die ganze Zeit über keine Anstalten gemacht, sie zu treffen. Wenn es um das Thema Familie ging, fühlte Alix sich definitiv benachteiligt.

Sie betrachtete sich nicht als die typische Kandidatin für eine einzigartige Trauung in der Kirche. Doch irgendwie – beinahe ohne es zu bemerken – war sie in diese ganze verrückte Sache hineingerutscht. In diese … diese überbordende Inszenierung einer Hochzeitsfeier.

„Alix!“, rief Jordan. Er rannte ihr quer über die Blossom Street hinterher. Das Regenwasser spritzte hoch, als er sich seinen Weg zwischen den unzähligen Pfützen hindurch bahnte.

Sie hatte Jordan während ihrer Mittagspause in seinem Büro besucht. Eigentlich hatte es keinen Streit zwischen ihnen gegeben – obwohl sie kurz davorgestanden hatten … Alix gefiel es nicht, was aus der Hochzeit geworden war. Sie hasste es, keine Kontrolle darüber zu haben und dass ihr niemand zuhören wollte. Nicht einmal Jordan. Als sie bei ihrem Besuch vorhin bemerkte, dass er sie nicht hörte, sie einfach nicht verstand, war sie mit einem dicken Kloß im Hals aus seinem Büro gestürmt. Die Tränen, die in ihren Augen brannten, hatten sie ebenso überrascht wie der Wunsch nach einer Zigarette.

Sie ignorierte Jordans Rufen. Dank des Regens und des Windes konnte sie einfach behaupten, ihn überhört zu haben.

„Alix!“, schrie er und tauchte einen Moment später an ihrer Seite auf.

Sie verlangsamte ihren Schritt, und er ging neben ihr her. „Was war denn gerade los?“, fragte er. Offensichtlich hatte die Art und Weise, wie sie Hals über Kopf aus dem Büro gestürzt war, ihn verwirrt.

„Was genau meinst du?“, fragte sie, verärgert darüber, dass er selbst nicht darauf kam.

„Warum bist du einfach abgehauen? Wir waren mitten in einer Unterhaltung, und plötzlich bist du verschwunden.“

„Du hast mir nicht zugehört“, erwiderte sie und sah ihn an. Dass der Regen ihr kurzes Haar vollkommen durchnässt hatte und das Wasser ihr übers Gesicht lief und das Kinn hinuntertropfte, störte sie nicht.

„Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst“, begann er. „Ich …“

„Du weißt es nicht?“, schrie sie und bemühte sich, ihre aufwallenden Gefühle unter Kontrolle zu halten. „Sollte ich nicht bei meiner eigenen Hochzeit auch ein Wörtchen mitreden dürfen?“

„Aber das darfst du doch.“ Er wirkte noch immer völlig durcheinander. „Ich erinnere mich, dass du erzählt hast, Jacqueline und Reese würden den Empfang in ihrem Country Club organisieren.“

„Und glaubst du, dass das eine gute Idee ist?“, fragte sie ihn.

„Ich glaube, dass das sehr großzügig ist.“

„Das stimmt, aber …“ Jacqueline und Reese hatten sich einfach wundervoll verhalten – in jeder Hinsicht. Alix schuldete ihnen mehr, als sie jemals würde zurückgeben können.

Sie hatte Jacqueline während eines Strickkurses im A Good Yarn kennengelernt, und nach einigen Anlaufschwierigkeiten hatte Jacqueline Alix unter ihre Fittiche genommen. Alix hatte sich für den Kurs eingetragen, um die Sozialstunden abzuarbeiten, die sie für eine angebliche Drogengeschichte aufgebrummt bekommen hatte. Sie entschloss sich dazu, eine Babydecke zu stricken und sie für wohltätige Zwecke zu spenden. Ihr Bewährungshelfer hatte das Projekt genehmigt, und das war der Beginn ihrer Freundschaft zu den Donovans gewesen.

Durch Reese Donovans Geschäftsbeziehungen und den Rotary Club hatte Alix die Chance bekommen, eine Kochschule zu besuchen. Und die Donovans boten ihr einen Teilzeitjob an – wann immer sie Hilfe benötigten, sprang Alix als ihr Hausmädchen ein. Schließlich hatten sie ihr sogar erlaubt, in ihr Gästehaus zu ziehen, in dem sie nun noch immer wohnte. Jacqueline und Reese waren für Alix zu einer Familie geworden – und hatten ihr dadurch mehr gegeben, als sie sich jemals erhofft hatte. Sie gaben ihr die Liebe, den Zuspruch und die Unterstützung, die ihre eigenen Eltern sie nie hatten spüren lassen, und Alix liebte sie dafür. Deshalb hatte sie Jaquelines Schwiegertochter Tammie Lee gebeten, ihre Trauzeugin zu sein. Jordans Trauzeuge sollte sein Bruder Bret werden.

„Meine Mutter hat mir erzählt, dass Jacqueline all ihre Überredungskünste aufbieten musste, um den Country Club an einem Samstag im Juni zu bekommen“, sagte Jordan.

„Ich weiß.“ Das Schuldgefühl war beinahe noch stärker als ihr Verlangen nach einer Zigarette. „Aber, Jordan – der Country Club?“

Ihr Verlobter legte seinen Arm um ihre Schultern. „Lass uns ins Trockene gehen.“ Er führte sie unter die Markise vor dem French Café. Der Regen trommelte auf den Stoff, und das Wasser stürzte unablässig über den Rand auf den Boden.

„Mom hat sich ehrlich gefreut, als sie erfahren hat, was Jacqueline plant“, fuhr Jordan fort.

Alix senkte den Kopf. Jordans Mutter war ein Thema, das sie besser mieden. Susan Turner hatte sich für ihren Sohn eine etwas „klassischere“ Braut gewünscht. Ihre zukünftige Schwiegermutter hatte nicht direkt etwas dergleichen gesagt oder getan, aber Alix war nicht dumm. Sie wusste es einfach. Jordan und seine Eltern hatten ein sehr inniges Verhältnis, und so entschied Alix sich, ihm nichts über ihre Zweifel und Vermutungen zu sagen.

„Küss mich.“

Jordan riss die Augen auf. „Hier? Jetzt?“ Er blickte über seine Schulter durch das Fenster ins Café, das voll besetzt mit Gästen war.

Alix nickte. Ihr war es egal, wer sie sah oder was irgendjemand dachte. „Und zwar kein Küsschen auf die Wange. Ich brauche einen richtigen Kuss.“

„Also gut.“ Er ergriff mit beiden Händen ihre Schultern, beugte sich vor und verschloss mit seinem Mund den ihren. Seine Lippen waren warm und feucht, als er sie berührte. Er hatte den Mund leicht geöffnet. Alix genoss seine Nähe und entspannte sich ein wenig. Sie tat ihr Bestes, sich selbst davon zu überzeugen, dass eine große, ausgefallene Hochzeit vielleicht nicht das war, was sie sich wünschte, aber dass ein solches Fest eine Menge Menschen glücklich machen würde – Menschen wie Jordan und seine Familie oder Jacqueline und Reese. Sie würde es einfach tun – auch wenn es nicht unbedingt ihrer Vorstellung von einer Hochzeitsfeier entsprach. Mit dieser Erkenntnis schlang sie die Arme um Jordans Nacken und schmiegte sich an ihn. Sie wollte, dass er wusste, wie sehr sie ihn liebte. Und sie musste ihn schon sehr lieben, wenn sie bereit war, mit ihm diesen Wahnsinn zu überstehen.

Als er sich schließlich von ihr löste, seufzte sie. Sie fühlte sich besser.

„Du musst mit mir reden, Alix“, flüsterte er, hielt sie in seinen Armen und liebkoste ihren Hals. „Sag mir, wenn du dir über irgendetwas Sorgen machst …“

„Das habe ich doch. Du hast mir nicht zugehört.“

„Ich habe es versucht“, sagte er leise. „Möchtest du die Hochzeit abblasen? Ist es das?“

„Nein!“ Ihre Antwort kam schnell und heftig. „Ich liebe dich. Und ich will, dass wir heiraten.“

Er strich ihr das nasse Haar aus der Stirn und blickte sie eindringlich an. „Und ich liebe dich auch.“

Sie senkte den Blick, denn die Liebe, die in seinen Augen stand, brachte sie durcheinander und machte es ihr schwer, weiterzusprechen. „Als du mir den Verlobungsring an den Finger gesteckt hast, hätte ich wissen sollen, dass sich alles ändern wird.“

„Wie meinst du das?“, fragte er.

„Vorher … vorher gab es nur dich und mich – und natürlich die Jugendlichen, die du betreut hast.“ Als Jugendseelsorger plante und organisierte Jordan kirchliche Aktivitäten mit den Teenagern in seiner Gemeinde. Alix begleitete ihn oft, um zu helfen. Es stand außer Frage, dass Alix, wenn sie verheiratet waren, Jordan auch weiterhin unterstützen würde. Damit war sie einverstanden, denn es machte ihr Spaß, mit den Kids zu arbeiten. Sie verstand viele der Versuchungen, denen sich die Jugendlichen stellen mussten. Und sie war in der Lage, einige von ihnen davon abzuhalten, die falschen Entscheidungen zu treffen – Entscheidungen, die sie selbst als Teenager getroffen hatte und die sie mittlerweile bereute.

Doch in dem Augenblick, als er ihr den Verlobungsring an den Finger steckte, hatte sich ihr bisheriges Leben auf einen Schlag verändert.

Sobald Jacqueline von der Neuigkeit erfuhr, hatte sie von nichts anderem mehr als von dieser Hochzeit geredet. Tatsächlich schenkte sie Alix zu Weihnachten sogar ein Buch mit dem Titel Wie plane ich die perfekte Hochzeit?.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Alix noch keinen Gedanken an die bevorstehende Hochzeit verschwendet.

Sie hatte sich einfach nur vorgestellt, Jordan im Kreise der Familie und einiger Freunde zu heiraten. Jeder könnte schenken, was er wollte, anschließend aßen sie Kuchen und das war es.

Junge, wie falsch sie damit gelegen hatte.

Die Hochzeit weitete sich zu einer Inszenierung aus, die einem Broadway-Musical oder Ähnlichem durchaus das Wasser reichen konnte. Allein das Menü kostete pro Person mehr, als Alix früher in einem Videoshop in der Woche verdient hatte.

Und das war noch nicht alles. Das Kleid – nein, vielmehr die Robe – wurde zu einem der Hauptstreitpunkte. Bisher hatte sie nur Kleider gesehen, die mit kostbarer Spitze verziert oder mit Hunderten von winzigen Perlen bestickt waren. Oder beides. Jacqueline hatte sie in eine Boutique entführt, und Alix beging den schweren Fehler, einen Blick auf eines der Preisschilder zu werfen – woraufhin sie beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Man konnte Autos für weit weniger Geld kaufen, als für diese Kleider verlangt wurde!

„Können wir nicht einfach durchbrennen?“, flehte sie und legte ihren Kopf an Jordans Brust. Sie kannte die Antwort – und dennoch: Sie musste ihn fragen.

„Süße, das kann ich nicht machen.“

„Warum nicht?“ Sie sah ihn an und hoffte, dass er ihr die Zuversicht geben würde, die sie brauchte, um das alles zu überstehen. Die Akzeptanz – oder die Resignation –, die sie kurz zuvor noch gespürt hatte, war verschwunden. Sie war sich nicht länger sicher, ob sie „Alix Townsend, die perfekte Braut“ sein konnte. Die Hochzeit würde in vier Monaten stattfinden. Und sie spürte schon jetzt, wie Panik in ihr aufstieg.

Sie wünschte sich doch nichts sehnlicher, als Jordans Frau zu werden.

Schon als sie in der sechsten Klasse gewesen waren, hatte sie sich in ihn verliebt. Er hatte alles verkörpert, was sie sich für ihr Leben erträumte.

Dann traf sie ihn vor drei Jahren wieder – kurz nachdem sie mit dem Strickkurs begonnen hatte.

Sie erinnerte sich noch genau an den Jordan aus der Schule.

Und sie erinnerte sich an seine Familie …

Seine Mom und sein Dad liebten einander und sorgten gut für ihre Kinder. Sie waren keine Alkoholiker und Versager wie ihre Eltern. Die Familie hatte feste Essenszeiten eingehalten, bei den Mahlzeiten gemeinsam am Tisch gesessen und sich über die Erlebnisse des Tages ausgetauscht.

Bei Alix zu Hause hatte niemand irgendetwas mit dem anderen zusammen gemacht. Wenn ihre Mutter einmal geneigt gewesen war, etwas zu kochen, blieben die Töpfe auf dem Herd stehen, und jeder verzehrte seine Mahlzeit für sich.

An den meisten Abenden hatte Alix allein vor dem Fernseher gegessen, während sich ihre Eltern im Hintergrund stritten.

Sie hatte nicht gezählt, wie oft die Streitigkeiten in handfesten Auseinandersetzungen endeten und sie sich im Schrank verstecken musste, wo sie sich in ihre ganz eigene Welt geträumt hatte – eine Welt, in der es eine ganze Schar von Eltern und Geschwistern gegeben hatte. Wie im Fernsehen. Oder wie bei Jordan zu Hause …

Doch das waren noch nicht alle Unterschiede zwischen ihrem und Jordans Leben gewesen.

Alix’ Mutter hatte irgendwann im Streit auf Alix’ Vater geschossen und war dafür ins Gefängnis gegangen. Als Alix die Schule schließlich verließ, hatte sie bereits in einigen Pflegefamilien gelebt. In dieser Zeit hatte auch sie immer wieder in Schwierigkeiten gesteckt. Erst als ihr Bruder Tom an einer Überdosis starb, war sie „aufgewacht“. Sein Tod hatte sie tief getroffen. Alix wusste, dass auch ihr dieses Schicksal blühte, wenn sie ihr Leben nicht änderte. Und von dem Moment an hatte sie den Drogen abgeschworen. Mehr als einmal war sie in der Folgezeit in Versuchung geraten, doch sie hatte immer die Kraft gefunden, zu widerstehen.

„Die Hochzeit ist nur ein Tag in unserem Leben“, erklärte Jordan.

Alix seufzte. Vierundzwanzig Stunden – tatsächlich sogar weniger – würde sie vielleicht überstehen können. Die Zeremonie sollte um fünf Uhr am Nachmittag stattfinden, danach würde es ein Essen und einen Empfang im Country Club geben. Jordan hatte für ihre Flitterwochen ein Zimmer in einem Hotel in Victoria, der Hauptstadt der kanadischen Provinz British Columbia, reserviert. Wenn dieses Hochzeitsritual zu überstehen bedeutete, dass sie am Ende des Tages Jordans Ehefrau war, dann würde sie es eben klaglos über sich ergehen lassen.

„Ich weiß, dass dir das alles nicht so ganz passt“, sagte Jordan und küsste sie auf die nassen Haare. „Die Wahrheit ist, dass für mich nur zählt, am Ende mit dir verheiratet zu sein.“

„Wirklich?“

Er lächelte. „Wirklich.“

„Warum heiraten wir dann nicht ganz allein und stellen die anderen vor vollendete Tatsachen?“ Schon während sie diese Worte aussprach, wusste Alix, dass das niemals geschehen würde.

„Das können wir nicht, Süße. Es tut mir leid. Meine Mutter würde sich von uns betrogen fühlen und … man würde über uns reden.“

„Über uns reden“, wiederholte sie tonlos.

„Ich arbeite für die Kirche“, erinnerte er sie überflüssigerweise. „Durchzubrennen ist kein gutes Vorbild für die Kinder der Gemeinde. Vermutlich ist es dir nicht bewusst, aber sie beobachten alles, was wir sagen und tun.“

Das war Alix nicht neu, denn sie bemerkte sehr wohl, wie die Jugendlichen zu Jordan und folglich auch zu ihr aufschauten. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie Jordan mit einer Gruppe Jugendlicher auf der Rollschuhbahn sah. Er hatte sie an den Rattenfänger von Hameln erinnert, dem die Kinder durch die Stadt gefolgt waren. Diese Kinder hielten große Stücke auf ihn. Für sie war er ein Vorbild – und sie hatten ihr damals ab und zu Blicke zugeworfen, die unmissverständlich deutlich machten, dass sie nicht nachvollziehen konnten, warum er mit ihr zusammen war.

Und da waren sie nicht die Einzigen.

Es hatte lange gedauert, bis Alix selbst glauben konnte, dass Jordan sie wirklich liebte. Auch jetzt noch überfielen sie manchmal Zweifel und sie fragte sich, was an ihr Jordan angezogen hatte. Was immer es auch war – sie empfand tiefe Dankbarkeit.

„Es wird eine kleine Hochzeit“, versprach Jordan.

Sie nickte. Auf ihrer Gästeliste standen lediglich ein paar Freunde, von denen sie die meisten durch die Strickkurse kennengelernt hatte. Vielleicht zwanzig Personen.

„Mom stellt diese Woche ihre Liste zusammen.“

Bei der Erwähnung seiner Mutter verkrampfte Alix sich unwillkürlich. Sie mochte Jordans Mutter, doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie eine Enttäuschung für Susan Turner darstellte. Und in Wahrheit warf Alix ihr das nicht vor. Sie war entschlossen, alles dafür zu tun, um ein entspanntes und gutes Verhältnis zwischen ihr und ihrer Schwiegermutter zu schaffen.

Es beruhigte sie ein wenig, dass Jacqueline ihre Schwiegertochter zuerst auch nicht gemocht hatte. Jacqueline hatte damals nicht verstanden, warum Paul, ihr einziger Sohn, eine Frau wie Tammie Lee heiraten wollte, deren Südstaaten-Herkunft und Erziehung so ganz anders war als seine eigene.

Wenn Alix sich recht entsann, hatte Jacqueline sich für Paul eine andere Frau gewünscht. Tammie Lee jedoch hatte durchgehalten und mit ihrer Freundlichkeit und ihrem Charme schließlich Jacquelines Herz erobert. Als ihr erstes Enkelkind geboren wurde, hatte sie Tammie Lee schließlich voll und ganz akzeptiert. Mittlerweile standen die beiden Frauen einander so nahe wie … ja, wie Familienmitglieder eben. Und Alix betrachtete Tammie Lee als eine ihrer besten Freundinnen.

Susan Turner hatte für ihren jüngsten Sohn wahrscheinlich auch eine andere Frau im Auge gehabt. Wenn dem so war, sprach Jordan allerdings nie über diese andere.

Doch Alix hatte so ein Gefühl …

An einem Sonntag vor drei Jahren war sie, ohne dass Jordan es wusste, durch eine Hintertür in die Kirche gekommen. Während der Messe hatte er damals ein Duett mit einer hübschen blonden Frau gesungen – die sich als seine Cousine entpuppte. Aber ihn mit einer anderen zu sehen – auch wenn es in der Kirche gewesen war – hatte Alix wütend gemacht. Und Jordan war anschließend wütend auf sie gewesen, weil sie so vorschnell ihre eigenen Schlüsse gezogen hatte. Mit diesem Vorwurf hatte er recht gehabt. Denn nicht einmal in der Zeit ihres Kennenlernens lieferte Jordan ihr auch nur den Hauch eines Grundes dafür, zu glauben, dass er an einer anderen Frau interessiert sein könnte.

Das bedeutete jedoch nicht, dass auch Jordans Mutter seine Entscheidung für Alix nachvollziehen konnte und seine Gewissheit teilte.

Dennoch war Susan Alix gegenüber immer freundlich, wenn auch ein wenig unterkühlt.

Jordan verstand sich außergewöhnlich gut mit seinen Eltern, und das Letzte, was Alix wollte, war, dieses Verhältnis zu zerstören.

„Du brauchst etwas, das dich ein bisschen von diesem Vorbereitungsstress für die Hochzeit ablenkt“, sagte Jordan.

„Und was soll das sein?“ Sie würde alles tun, was ihr half, die nächsten Monate zu überstehen.

„Wie wäre es mit einem weiteren Strickkurs?“

Alix kaute an ihrer Unterlippe, während sie sich die Idee durch den Kopf gehen ließ. Langsam nickte sie. „Lydia war neulich bei mir im Café, und wir haben uns ein bisschen unterhalten. Sie hat ständig Kurse laufen, und demnächst startet ein neues Projekt: Die Teilnehmer des Kurses sollen einen Gebetsschal stricken.“

„Was für eine tolle Idee.“

„Und wem sollte ich den fertigen Schal geben?“, fragte Alix.

„Wie wäre es mit Großmutter Turner?“

Alix wusste sofort, dass das ein wundervoller Vorschlag war. Sie hatte seine Großmutter zum ersten Mal in den Weihnachtsferien getroffen, kurz nachdem Jordan ihr den Verlobungsring geschenkt hatte. Sie spürte gleich, dass sie etwas Besonderes mit der alten Dame verband. Die beiden hatten sich stundenlang unterhalten, herausgefunden, dass sie in vielen Dingen ähnlich dachten, und über dieselben abgedroschenen Witze gelacht. Obwohl sie schon über achtzig war, lebte Grandma noch allein und kümmerte sich um ihren großen Blumengarten. Alix hatte Grandma Turner seither einige Male angerufen und sie im vergangenen Monat zusammen mit Jordan besucht.

„Ich werde mich gleich nach der Arbeit für den Kurs eintragen“, sagte Alix.

„Gut.“ Er seufzte, als wäre er erleichtert, dass sie vorerst eine Lösung gefunden hatten und das Thema erst einmal vom Tisch war.

Alix schmiegte sich an Jordan und küsste ihn. Sie wollte, dass er spürte, wie froh sie war, dass er ihr hinterhergelaufen war. Vorher war sie aus dem Büro gestürzt, bevor er begonnen hatte, ihr wirklich zuzuhören. Bevor er ihre Zweifel und Ängste angesichts der Hochzeit ernst genommen hatte. Aber jetzt hörte er zu.

Sie hatte offenbar ein bisschen mehr Gefühl in den Kuss gelegt, als ihr bewusst gewesen war. Denn als sie sich von Jordan löste, war er vollkommen atemlos.

Er räusperte sich. „Das war schön.“

„Ja“, stimmte sie mit sanfter Stimme zu. „Das war es.“

Jordan zog sie wieder in seine Arme. „Wenn es nach mir geht, kann der Juni nicht schnell genug kommen.“

„Das sehe ich genauso“, sagte Alix und lachte.

3. Kapitel

Colette Blake

Vermutlich hatte Margaret nicht gewollt, dass Colette die Unterhaltung der Schwestern im Laden und Margarets Kommentar über sie hörte.

Jedenfalls nahm Colette das an.

Doch Margaret hatte Recht. Die Wahrheit war, dass sie tatsächlich wegrannte.

Sie versteckte sich … vor Christian Dempsey, vor ihrer Vergangenheit und – am meisten – vor sich selbst.

Colette hatte die Hälfte der Stufen zu ihrem Apartment zurückgelegt, als Margarets Worte sich ihr wie Messer in den Rücken gebohrt hatten. Und auch jetzt noch – eine Woche später – versetzte es ihr einen Stich.

Sie verspürte den überwältigenden Drang, sich zu erklären. Doch sie widerstand diesem Verlangen. Wie sollte sie diesen beiden Frauen verständlich machen, dass sie seit einem Jahr Witwe war – und seit zwei Monaten schwanger?

Das Leben steckte – gelinde gesagt – voller Überraschungen. Voller bitterer Überraschungen …

Drei Jahre lang hatten sie und Derek vergeblich versucht, ein Baby zu bekommen. Dann … ein Ausrutscher. Ein One-Night-Stand. Und hier stand sie nun – schwanger von einem Mann, den sie hoffte, nie mehr wiederzusehen.

Der bloße Gedanke an Christian Dempsey versetzte sie in Panik. Wie hatte sie fünf Jahre lang als seine persönliche Assistentin arbeiten und nicht merken können, was für ein Mensch er wirklich war?

Zuerst hatte sie Derek verloren, dann die entsetzlichen Entdeckungen über Christian gemacht und schließlich auch noch die vollkommen unerwartete Schwangerschaft festgestellt – das reichte, um so ziemlich jeden Menschen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu bringen.

Die Erinnerung an ihren verstorbenen Ehemann war noch immer qualvoll. Der Verlust sollte nach einem Jahr eigentlich nicht mehr so furchtbar wehtun, doch es schmerzte wie am ersten Tag. Sein Tod war einfach so sinnlos. Und die Schuldgefühle, die sie plagten, weil sie sich kurz vor seinem Unfall noch gestritten hatten (wieder einmal darüber, warum sie keine Kinder hatten und wie sie damit umgehen wollten), machte die Situation für sie nicht leichter.

Trotzdem war ihr Mann tot, und sie musste diese Tatsache endlich akzeptieren.

Sie hasste es.

Und sie hasste jede einzelne Sekunde, die sie ohne Derek weiterleben musste.

Es war so dumm gewesen, dass er hatte sterben müssen. So unfassbar dumm. In den ersten Wochen hatte ihre Wut über die Ungerechtigkeit sie beinahe aufgefressen. Zuerst einmal hätte Derek gar nicht auf dieses Dach klettern müssen. Ein simpler Telefonanruf hätte genügt, und ein professioneller Dachdecker wäre vorbeigekommen, um sich um die undichte Stelle zu kümmern. Es war nicht Dereks Aufgabe gewesen, es überhaupt zu probieren. Dennoch hatte er darauf bestanden, es selbst zu tun, weil er der Meinung gewesen war, dass jede Verzögerung den Schaden nur noch verschlimmert hätte. Und außerdem hatte er geglaubt, dass es ein „Kinderspiel“ wäre, das undichte Dach zu reparieren. Bevor sie ihn von seinem waghalsigen Plan abbringen konnte, hatte er bereits die Leiter gegen die Regenrinne gelehnt und sich seinen Werkzeuggürtel umgeschnallt. Es war die erste Möglichkeit gewesen, seine neuen Werkzeuge, die er zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, auszuprobieren. Sie fragte sich noch immer, ob das der eigentliche Grund war oder nur einer von vielen. Zwecklos. Töricht.

Wenn es etwas gab, für das Colette dankbar war, so war es die Tatsache, dass sie seinen Sturz nicht gesehen hatte. Ein Freund aus der Nachbarschaft war bei Derek gewesen und hatte sich mit ihm unterhalten, als er plötzlich den Halt verlor und vom Dach auf die Einfahrt stürzte. Der Nachbar hatte den Notruf bereits betätigt, bevor Colette überhaupt bemerken konnte, dass etwas nicht stimmte. Derek war mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht worden, doch das Bewusstsein hatte er nicht mehr erlangt.

Zunächst stand Colette unter Schock. Dann, als die Nebel sich lichteten und ihre Taubheit langsam schwand, wurde sie zornig. Es war ein tiefer, alles verschlingender Zorn. Dann verwandelte er sich in Trauer und ein überwältigendes Gefühl des Verlustes.

Aber all das war keine Entschuldigung für das, was sie vor einigen Monaten getan hatte.

Ihre Wangen röteten sich vor Scham, als sie sich an den runden Eichentisch in ihrer Küche setzte. Sie stützte den Kopf in die Hände und erinnerte sich an die Nacht der Weihnachtsfeier ihrer Firma …

Zu der Zeit hatte Colette bereits fünf Jahre als die persönliche Assistentin von Christian Dempsey gearbeitet.

Und auch zu dem Job war sie vollkommen unerwartet gekommen.

Nachdem sie einige Zeit bei Dempsey Imports in der Zollabfertigung tätig gewesen war, hatte man sie in ein anderes Stockwerk, in die Nähe der Chefetage der Firma, versetzt.

Gerade frisch verheiratet, freute sie sich über ihren Aufstieg zur Brokerin und die Gehaltserhöhung, die damit einherging. Sie und Derek wünschten sich ein eigenes Haus, und bei den Ausgaben für die Flitterwochen und die Hochzeit, die sie selbst getragen hatten, war die Gehaltserhöhung ein wahrer Segen.

Obwohl sie schon seit zwei Jahren für die Firma arbeitete, hatte Colette Mr. Dempsey erst einmal im Vorbeigehen gesehen. Er war ein Mann, der Autorität und Macht ausstrahlte. Regelmäßig war er auf Geschäftsreisen im Ausland, und wann immer er im Büro auftauchte, wirkte er seltsam abwesend und mit seinen Gedanken ganz woanders. Das hatte wahrscheinlich zu dem geheimnisvollen Nimbus geführt, der ihn umgab. Und auch die Tatsache, dass er über eins neunzig groß war, durchtrainiert und außergewöhnlich gut aussehend, trug zu seiner besonderen Aura bei. Wenn er einen Raum betrat, drehte man den Kopf nach ihm. Er schien seiner Umgebung diesen Respekt und diese Aufmerksamkeit abzunötigen.

An Colettes erstem Arbeitstag in der neuen Abteilung – sie war gerade erst angekommen – war Mr. Dempsey in der Firma aufgetaucht, und Colette, die im Flur zwischen seinem Büro und ihrer Abteilung stand, hatte ihn gegrüßt.

„Guten Morgen, Mr. Dempsey.“

Diese vier Worte hatten den Verlauf ihrer Karriere für immer verändert – und auch den weiteren Verlauf ihres Lebens.

Er ging an ihr vorbei und nahm ihren Gruß nur am Rande wahr.

Erst in dem Moment bemerkte sie, dass alle sie anstarrten.

Sie wartete, bis Christian Dempsey in seinem Büro verschwunden war, und blickte sich um. Die Leute starrten einfach nur. Jenny, ihre Vorgesetzte, hatte ihren Kaffeebecher angehoben, um daraus zu trinken, und dann mitten in der Bewegung innegehalten. Ungläubig blickte sie Colette an. Und Mark Taylor stand vor einem Aktenschrank und schüttelte nur wortlos den Kopf.

„Warum sehen mich alle so an?“, fragte Colette.

Jenny setzte ihren Kaffeebecher auf ihrem Schreibtisch ab und flüsterte: „Niemand spricht Mr. Dempsey an!“

„Niemand“, wiederholte Mark.

Colette konnte nicht verstehen, warum das so war. Er war ebenso aus Fleisch und Blut wie jeder andere Mensch. Ihm einen guten Morgen zu wünschen, erschien doch nur höflich. Doch als sie die anderen nach dem Grund für dieses merkwürdige „Gebot“ fragte, bekam sie keine zufriedenstellenden Antworten. „Weil er … weil …“, stammelte Jenny und verstummte. Und Mark sagte: „Also, er ist sehr beschäftigt, verstehst du?“ Keine dieser Antworten erklärte die eingeschüchterte – oder war es eine ängstliche? – Reaktion der Kollegen.

Eine Stunde später kam Mr. Dempseys Assistent zu ihr, fragte sie, ob sie die Person sei, die Mr. Dempsey an diesem Morgen gegrüßt hätte, und lud sie in sein Büro vor.

Ihre Kollegen warfen ihr mitfühlende Blicke zu, als Colette sich erhob und Dempseys Assistenten in das „Heiligtum“ folgte. Als sie einen Blick über ihre Schulter warf, bemerkte sie, wie Jenny sich auf die Unterlippe biss. Mark winkte ihr zu, als würde er Lebewohl sagen. Karen Christie und die anderen zuckten bedauernd die Achseln. Colette wusste nicht, was sie erwarten sollte … außer dem Schlimmsten.

Christian arbeitete an seinem Computer, als sie in sein Büro geführt wurde. Sein Assistent meldete ihren Namen, zog sich zurück und ließ sie stehen. Mr. Dempsey sah nicht einmal auf.

Colette fühlte sich wie ein Lakai, der hereingerufen worden war und darauf wartete, dass man ihm Beachtung schenkte. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie musste sich mühsam zusammenreißen, um nicht herauszuplatzen, dass sie ihren Job liebte und ihn nicht verlieren wollte. Mit hängenden Schultern stand sie vor ihm. Angespannt ballte sie die Hände zu Fäusten.

Als er ihr endlich seine Aufmerksamkeit zu schenken geruhte, sah er ihr direkt in die Augen. „Sind Sie die Frau, die mich heute Morgen angesprochen hat?“, fragte er.

„Ja, Sir.“ Vermutlich hätte sie sich dafür entschuldigen sollen, doch sie konnte sich nicht dazu durchringen. Der Gedanke, ihren Job zu verlieren, nur weil sie freundlich zu ihrem Chef gewesen war, erschien ihr einfach lächerlich. Und dennoch … Sie und Derek hatten ein Angebot für ein Haus gemacht, und sie brauchten ihr Einkommen, um kreditwürdig zu bleiben. Wenn sie den Job verlor, würde ihr Traum zerplatzen.

„Warum?“

„Warum ich Ihnen einen guten Morgen gewünscht habe?“, wiederholte sie, um sicherzugehen, dass sie die Frage richtig verstanden hatte.

Er nickte leicht.

„Also“, murmelte sie, „ich wollte einfach nur höflich sein.“

„Sind Sie neu in der Firma?“

„Ich arbeite seit zwei Jahren hier.“ Ihr Hals fühlte sich rau an. Doch sie wollte sich nicht räuspern, damit er nicht bemerkte, wie nervös sie war. Dempsey Imports war derzeit die größte Importfirma in Seattle und eine der größten an der Westküste.

Er runzelte skeptisch die Stirn. „Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“

Colette straffte die Schultern. „Ich bin befördert worden – von der Zollabfertigung im fünften Stock zum Zollmakler.“

Schweigend musterte er sie. Plötzlich fragte er: „Ist das ein Ehering an Ihrem Finger?“

Überrascht über diese Frage blickte sie ihn an. „Ich habe vor ein paar Monaten geheiratet.“

„Herzlichen Glückwunsch.“

„Danke.“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Egal, was sie erwidern würde – es konnte als Überschreiten der Grenze zwischen professioneller Distanz und unangemessener Aufdringlichkeit missverstanden werden.

„Peter beendet demnächst sein Arbeitsverhältnis hier, und ich bin auf der Suche nach einem neuen persönlichen Assistenten. Sie wären perfekt.“

„Ich?“ Colette schlug erschrocken die Hand vor die Brust. „Was ist mit der Personalabteilung? Sollten die Ihnen nicht mögliche Kandidaten zum Vorstellungsgespräch schicken?“

„Wollen Sie den Job oder nicht?“

„Ich … Sicher. Nur …“

„Ich ziehe es vor, mir meine persönlichen Assistenten selbst auszusuchen. Also, was ist? Sind Sie interessiert?“

In dem Moment hätte sie eine ganze Reihe Fragen stellen sollen – doch stattdessen nickte sie nur.

„Gut. Peter wird Sie einarbeiten. Ich weiß nicht, welchen Stundenlohn Sie erhalten, aber von jetzt an sind Sie fest angestellt.“ Er nannte einen Betrag, der dreimal höher war als ihr bisheriges Einkommen. Colette fiel beinahe in Ohnmacht.

„Danke“, brachte sie hervor. Bevor sie das Büro verließ, musste sie sich zusammennehmen, um keinen Knicks vor Christian zu machen – so sehr hatte er sie beeindruckt.

So hatte es damals angefangen …

In den folgenden fünf Jahren hatte sie die Reisevorbereitungen für Christian Dempsey getroffen, Telefonanrufe entgegengenommen und weitergeleitet, seine geschäftliche Briefpost erledigt, Recherchen betrieben, Verträge geprüft und Übersetzer eingestellt. Sie hatte auch seine Golfzeiten im örtlichen Country Club gebucht, Reservierungen für seine Treffen zum Dinner gemacht und sämtliche Verabredungen koordiniert.

Wenn es um das Geschäft ging, war sie sich sicher, über jedes Detail Bescheid zu wissen. Das nahm sie jedenfalls an. Sie besorgte für ihn sogar die Weihnachtsgeschenke für die Mitarbeiter.

Worüber sie jedoch so gut wie nichts wusste, war seine Familie. Seine Mutter war tot – doch woher sie diese Information hatte, konnte sie nicht mehr s...

Autor

Debbie Macomber
<p>SPIEGEL-Bestsellerautorin Debbie Macomber hat weltweit mehr als 200 Millionen Bücher verkauft. Sie ist die internationale Sprecherin der World-Vision-Wohltätigkeitsinitiative Knit for Kids. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Wayne lebt sie inmitten ihrer Kinder und Enkelkinder in Port Orchard im Bundesstaat Washington, der Stadt, die sie zu ihrer <em>Cedar Cove</em>-Serie inspiriert hat.</p>
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