Der Engelmörder

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Kitt Lindgren hat eine schwere Zeit hinter sich, als ihr nach fünf Jahren die Dienstmarke zurückgegeben wird: Eine unaufgeklärte Mordserie an jungen Mädchen hatte die Polizistin an den Rand ihrer psychischen Belastbarkeit gebracht. Der Alkohol trieb sie an den sozialen Abgrund. Kaum aber hat sie ihr Leben wieder im Griff - da beginnt das Grauen von neuem. Kitts ambitionierte Kollegin glaubt an die Rückkehr des Killers, Kitt dagegen ist überzeugt, dass jemand anderes seine blutigen Verbrechen nachahmt. Aber wer? Und warum? Erneut wird Kitt auf eine harte Probe gestellt und verfolgt bei ihren Ermittlungen eine Spur, die näher an ihr eigenes Leben heranführt, als sie es sich in ihren dunkelsten Albträumen vorgestellt hat.


  • Erscheinungstag 12.07.2007
  • ISBN / Artikelnummer 9783862783762
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

VORBEMERKUNG DER AUTORIN

Als ich mich dazu entschied, Der Engelmörder in Rockford, Illinois, spielen zu lassen – der Stadt, in der ich meine Kindheit verbracht hatte –, da war mir nicht so ganz bewusst, welch großartigen Schauplatz dieser Ort bieten würde. Und ich hätte auch nicht damit gerechnet, dass mir diese „Heimkehr“ so viel Spaß bereiten könnte. Und erst recht wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass ich den Roman dank einer Teufelin namens Katrina sogar in Rockford abschließen würde.

Ich musste feststellen, dass sich in den Jahren, die ich nicht dort gewesen war, vieles verändert hatte – doch vieles war noch immer so wie damals. Es ist nach wie vor eine Stadt, in der die Menschen zusammenhalten, hart arbeiten und sich nie großspurig geben. Die Familie kommt da an erster Stelle, die Menschen sind freundlich, und fast jeder Häuserblock hat seine eigene fantastische Pizzeria. Mit diesen Dingen im Hinterkopf muss ich mich auch gleich dafür entschuldigen, dass in diesem Roman Menschen sterben, dass Stadtviertel genannt werden, in denen sich Morde ereignen, und dass einer aus dieser Stadt der Täter sein muss – aller Beschaulichkeit zum Trotz.

Im Rockford Police Department wurde ich von allen freundlich empfangen, und jeder, mit dem ich sprach, erwies sich als absoluter Profi auf seinem Gebiet. Mein besonderer Dank gilt Deputy Chief of Detectives Dominic Iasparro, Officer Carla Redd und Detective Gene Koelker von der Spurensicherung.

Ein großes Dankeschön geht an meine Schwägerin Pam Schupbach, die großzügigste Frau, die ich kenne. Sie war nicht nur Hotelier, Stadtführerin und Chauffeur, als ich mich aufs Neue mit Rockford vertraut machte. Sie nahm mich auch erneut bei sich auf und sprang als Babysitterin ein, damit ich diesen Roman fertigstellen konnte, nachdem Hurrikan Katrina uns zur Flucht gezwungen hatte.

Ferner gilt mein Dank Mariea Sweitzer, Deputy des Sheriffs von St. Tammany, die mir in Sachen Fangschaltungen Auskunft gab – eine unschätzbare Hilfe für jeden, der so wie ich mit der Technik auf Kriegsfuß steht.

Abschließend möchte ich natürlich auch noch all den Menschen in meinem Leben danken, die mir Tag für Tag zur Seite stehen: meinem Agenten Evan Marshall, meiner Redakteurin Dianne Moggy und ihrer Assistentin Kari Williams. Und last but not least geht mein Dank an meine Familie für all ihre Liebe, die sie mir schenkt, und an Gott für all seinen Segen.

1. KAPITEL

Rockford, Illinois

Dienstag, 5. März 2001

1:00 Uhr

Das Haar des Mädchens glänzte seidig. Wie er sich doch danach sehnte, es berühren zu können. Wären da bloß nicht die verdammten Latexhandschuhe gewesen, die ihm jedes Gefühl in den Fingern nahmen. Doch er konnte nicht darauf verzichten.

Die Strähnen hatten die Farbe von Maisfasern. Ungewöhnlich für ein Kind von zehn Jahren. Allzu oft dunkelte das Blond mit den Jahren nach, bis es einen Farbton annahm, der an trübes Spülwasser erinnerte. Dann half nur noch, das Haar zu bleichen.

Zufrieden über seine Wahl legte er den Kopf ein wenig schräg und betrachtete das Mädchen. Es war sogar noch schöner als das letzte. Schöner und vollkommener.

Noch weiter beugte er sich vor und strich der Kleinen über das Haar. Ihre blauen Augen starrten ihn leblos an. Er atmete tief durch die Nase ein, um den süßen Geruch des Kindes in sich aufzunehmen.

Vorsichtig … ganz vorsichtig …

Ich darf keine Spuren zurücklassen.

Der Andere bestand auf Perfektion und gab niemals Ruhe. Immerzu forderte er mehr und mehr.

Ständig beobachtete der Andere ihn. Bei jedem noch so flüchtigen Blick über die Schulter war der Andere da und schaute zu.

Mit gerunzelter Stirn sah er auf ihn hinab, und schnell bemühte sich der Mann, sich nichts anmerken zu lassen.

Er selbst bemerkte auf einmal, wie er die Stirn runzelte, und bemühte sich sofort, diesen verräterischen Ausdruck wieder von seinem Gesicht verschwinden zu lassen. Der Andere mochte es nicht, wenn er ihm seine Gefühle ansehen konnte.

Mein hübsches Baby. Was für ein wunderschönes Geschöpf.

Mein schlafender Engel.

Diese Polizistin, Kitt Lundgren, hatte ihm den Namen „Engelmörder“ gegeben, und die Medien waren darauf sofort angesprungen.

Ihm gefiel der Name.

Der Andere dagegen mochte ihn nicht, aber den konnte man ohnehin nie zufriedenstellen.

Zügig führte er sein Werk zu Ende. Ihr Haar, das Nachthemd mit den rosafarbenen Satinschleifen, das er für sie ausgesucht hatte – alles musste stimmen. Es musste perfekt sein.

Und nun die Krönung des Ganzen. Er zog ein Fläschchen aus der Tasche und trug mit einem Pinsel eine dünne Schicht blassrosa Lipgloss auf die Lippen des Mädchens auf, wobei er darauf achtete, dass die Farbe gleichmäßig verteilt war.

Nachdem er fertig war, betrachtete er lächelnd sein Werk.

Gute Nacht, mein kleiner Engel. Schlaf gut.

2. KAPITEL

Dienstag, 5. März 2001

8:25 Uhr

Detective Kitt Lundgren vom Morddezernat stand in der Tür des Kinderzimmers und verspürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Wieder war ein Mädchen im eigenen Bett ermordet worden, während die Eltern nur ein paar Zimmer weiter schliefen.

Der schlimmste Albtraum, den sich Eltern ausmalen konnten – und für diese Eltern, diese Familie war er schreckliche Wirklichkeit geworden.

Um Kitt herum herrschte die gleiche Geräuschkulisse wie an jedem Tatort. Das Klicken einer Kamera, das Klingeln eines Mobiltelefons, gedämpfte Gespräche, ein gemurmelter Fluch.

Geräusche, die ihr vertraut waren, seit sie vor Jahren ihre Überempfindlichkeit gegenüber den Schauplätzen von Verbrechen überwunden hatte.

Aber das Opfer war ein Kind, das zweite innerhalb von sechs Wochen, und ebenfalls ein zehnjähriges Mädchen.

Genauso alt wie ihre Sadie.

Der Gedanke an ihre Tochter raubte ihr einen Moment lang den Atem. Kitt kämpfte gegen dieses Gefühl an und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit dem Kind zuzuwenden und das Monster zu finden, das für den Mord verantwortlich war.

Am ersten Tatort hatte der Killer nicht eine einzige Spur hinterlassen. Jetzt bekamen sie eine zweite Chance. Vielleicht war der Mistkerl diesmal nicht ganz so gründlich gewesen.

Kitt betrat das Kinderzimmer und ließ ihren Blick schweifen. Die Wände waren in einem zarten Roséton gestrichen. Weiße Bauernmöbel, ein Himmelbett. Geraffte weiße Vorhänge, die zum Stoff des Betts passten. Ein Regal mit American Girl-Puppen. Sie erkannte Felicity wieder, eine Puppe, die auch Sadie besaß.

Das Zimmer hätte fast eine Kopie von Sadies Kinderzimmer sein können. Das Bett müsste nur auf der linken statt der rechten Seite stehen, in einer Ecke fehlte der Schreibtisch, und die Wandfarbe hätte Pfirsich anstelle Rosa sein müssen.

Jetzt konzentrier dich schon, Kitt. Hier geht es nicht um Sadie. Mach deine Arbeit.

Sie sah nach rechts zu ihrem Partner Brian Spillare, der vor ihr eingetroffen war. Er stand neben Detective Scott Snowe von der Spurensicherung, deren Abteilung insgesamt aus neun Detectives und einem Chief bestand. Anders als bei großstädtischen Polizeibehörden waren die Kriminaltechniker des Rockford Police Department vereidigte Polizisten, die auf allen Gebieten der Beweissicherung geschult waren. Sie suchten den Tatort nach Fingerabdrücken und anderen Spuren ab, stellten Proben von Blutspritzern ebenso wie Kugeln und Patronenhülsen sicher und nahmen ballistische Untersuchungen vor. Außerdem sammelten sie die Insekten und Larven ein, die sich an den Leichen fanden, da sie anhand des Lebenszyklus dieser Tiere den Zeitpunkt des Todes feststellen konnten, wenn beim Verstorbenen bereits der Verwesungsprozess eingesetzt hatte. Daneben kümmerten sich die Jungs auch darum, den Tatort zu fotografieren und zu vermessen, und sie waren bei jeder Autopsie anwesend, um dort ebenfalls Fotos zu machen.

Für diese Truppe hörte der Spaß einfach nie auf.

Sichergestellte Beweisstücke wurden ans kriminaltechnische Labor geschickt, das nur ein paar Blocks vom Public Safety Building – kurz PSB – entfernt war, wie sie das Gebäude nannten, weil dort nicht nur das Police Department untergebracht war, sondern auch der Sheriff seinen Sitz hatte. Das städtische Gefängnis und den Gerichtsmediziner fand man ebenfalls dort, also allesamt Einrichtungen, die auf die eine oder andere Weise der öffentlichen Sicherheit dienten.

Der Deputy Chief of Detectives hatte seine ganze Abteilung zum Tatort geschickt, was Kitt nicht wunderte. Immerhin waren zwei tote Kinder innerhalb von sechs Wochen keine Nebensache für eine von ihrer Industrie geprägte Stadt, in der vorwiegend Familien lebten und die Mordstatistik kaum mehr als fünfzehn Fälle im Jahr auswies. Nie zuvor hatte es dabei jemand auf blonde Mädchen mit blauen Augen abgesehen, die friedlich schlafend diesem grausamen Verbrechen zum Opfer fielen.

Kitts Partner sah zu ihr, woraufhin sie auf das Bett wies. Er bedeutete ihr, einen Moment zu warten, und nachdem er sein Gespräch mit dem anderen Detective beendet hatte, kam er zu ihr.

„Dieser Kerl kotzt mich allmählich an“, sagte er.

Brian wirkte vom Typ her wie ein großer Teddybär – in seinem Fall ein Teddybär mit Sommersprossen und roten Haaren. Sein gutmütiges Auftreten sollte aber nicht über sein äußerst beeindruckendes Temperament hinwegtäuschen. Wer sich mit ihm anlegte, bereute es anschließend bitterlich.

Es würde ihr gefallen, wenn Brian den Kerl in die Finger bekäme.

„Schon lange hier?“, fragte sie.

„Eine Viertelstunde, würde ich sagen.“ Er sah kurz zu dem toten Mädchen, dann wandte er sich wieder Kitt zu. „Glaubst du, er macht es auch noch ein drittes Mal?“

„Ich will’s nicht hoffen. Vielleicht schnappen wir ihn ja, bevor er es wieder versuchen kann.“

Brian nickte, dann berührte er sie am Arm und beugte sich vor: „Wie geht’s Sadie?“

Sie stirbt. Ihre Tochter, ihr einziges Kind stirbt. Kitt verspürte einen Kloß im Hals, als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging. Vor fünf Jahren war bei Sadie lymphatische Leukämie diagnostiziert worden. Sie hatte sich seitdem so oft aufgerafft, von Chemo- und Strahlentherapien bis hin zu einer Knochenmarkstransplantation, die erfolglos verlaufen war, doch nun spürte Kitt die Resignation ihrer Tochter. Sadie besaß einfach nicht mehr die Kraftreserven, um noch länger durchzuhalten.

Da ihre Stimme versagte, schüttelte Kitt nur den Kopf, woraufhin Brian ihren Arm drückte. Er hatte verstanden. „Und was ist mit dir?“, fügte er an. „Du hältst dich tapfer auf den Beinen?“

Sie hielt sich auf den Beinen, auch wenn es ihr eher so vorkam, als würde sie jemand mit Waffengewalt dazu zwingen. „Ja“, brachte sie heraus, doch ihr kurzes Stocken verriet ihm, wie es wirklich in ihr aussah. „So gut es geht.“

Zum Glück hakte Brian nicht weiter nach. Abgesehen von ihrem Mann Joe war er der Einzige, der verstand, was sie durchmachte.

Noch einmal drückte Brian mitfühlend ihren Arm, dann ließ er sie los. Gemeinsam näherten sie sich dem Bett. Kitt verdrängte alle Vermutungen, welcher Anblick sich ihr bieten würde. Zwar schien es sich um den gleichen Täter zu handeln, der auch das andere Mädchen ermordet hatte, doch sie musste die Szene unvoreingenommen betrachten. Ein guter Ermittler ließ immer den Tatort und die Beweise erzählen, was sich zugetragen hatte. Sobald ein Detective zu reden begann, anstatt zuzuhören, verlor er den unverstellten Blick auf die Dinge und damit die Chance, das Verbrechen frühzeitig aufzuklären.

Der erste Blick auf das tote Mädchen traf sie wie ein brutaler Schlag.

So wie beim ersten Mord war auch dieses Opfer hier von einer fast schmerzhaften Unschuld. Wären da nicht die grausamen Anzeichen für den Tod gewesen – bläuliche Verfärbung der Haut, Blutflecken in Augen und Lippen und die einsetzende Leichenstarre –, hätte man glauben können, dass die Kleine schlief.

Ein schlafender Engel.

So wie beim ersten Mal.

Das blonde Haar war offensichtlich vom Täter wie ein Strahlenkranz auf dem Kopfkissen ausgebreitet worden. Und auf die Lippen des Kindes hatte er auch wieder das rosa Lipgloss aufgetragen.

„Sieht so aus, als hätte er sie erstickt“, überlegte Brian. „So wie beim letzten Mal.“

Das Fehlen jeglicher Anzeichen für äußere Gewalteinwirkung und die Blutflecken in Augen und Lippen sprachen für Tod durch Ersticken. Kitt nickte. „Also hat der Mörder das Lipgloss nach der Tat aufgetragen.“ Sie warf ihrem Partner einen kurzen Blick zu. „Was ist mit dem Nachthemd?“

„Genauso wie beim letzten Mal. Die Mutter sagt, es gehört dem Mädchen nicht.“

Kitt legte die Stirn in Falten. Es war ein hübsches Nachthemd: weiß, mit Rüschen und kleinen pinkfarbenen Satinschleifen. „Und der Vater?“

„Nichts Neues. Keiner von beiden hat die Leiche angerührt. Die Mutter kam ins Zimmer, um die Kleine für die Schule zu wecken, sah sie und begann zu schreien. Der Vater rief direkt die Polizei an.“

Eigentlich hätte Kitt Anstoß daran genommen, dass keiner der beiden das tote Mädchen gestreichelt, geschüttelt oder überhaupt berührt hatte, aber durch den Medienrummel nach dem ersten Mord hatte ihnen ein Blick auf die Kleine wohl genügt, um zu wissen, dass sie dem gleichen Ungeheuer zum Opfer gefallen war.

„Wir müssen sie überprüfen“, sagte Brian.

Kitt nickte bestätigend. So unvorstellbar es sich auch anhörte, fanden sich doch bei den meisten Morden an Kindern die Täter in der eigenen Familie. Dass es viel seltener fremde Menschen waren, die ein Kind ermordeten, war für Cops eine traurige Realität, mit der sie sich abfinden mussten.

Dennoch wussten sie beide, dass diesmal die Chancen äußerst gering waren, einem Fall von häuslicher Gewalt auf die Spur zu kommen. Das hier war das Werk des Unbekannten, der schon einmal getötet hatte. Und der vielleicht wieder töten würde.

„So wie beim letzten Mal sieht es danach aus, dass er durchs Fenster eingedrungen ist“, erklärte er.

„War es nicht verschlossen?“

„Sieht nicht danach aus. Das Glas ist heil, und am Rahmen sind keine Spuren zu finden. Snowe sagt, sie werden sich das ganze Fenster vornehmen.“

„Fußabdrücke auf der anderen Seite?“ Kitt stellte ihre Fragen automatisch. Es hatte seit einer Woche nicht geregnet, der Boden vor dem Fenster würde knochentrocken sein.

„Nichts. Das Fliegengitter wurde feinsäuberlich aufgeschnitten.“

Sie legte eine Hand in den Nacken. „Was hat das zu bedeuten, Brian? Was will er uns damit sagen?“

„Dass er ein kranker Drecksack ist, dem man bei lebendigem Leib die Haut abziehen sollte.“

„Und davon abgesehen? Wieso das Lipgloss? Und das teure Nachthemd? Und warum diese kleinen Mädchen?“

Aus dem Nebenzimmer war auf einmal ein lautes Schluchzen zu hören, das Kitt viel zu naheging.

Wie sollte sie ohne Sadie weiterleben?

Brian sah sie an, seine Miene war vor Zorn wie versteinert. „Ich habe auch Töchter. Wenn ich mir vorstelle, ich würde eines Morgens aufwachen und dann …“ Er ließ den Satz unvollendet und drückte stattdessen seine Finger durch, bis sie knackten. „Wir müssen diesen Bastard schnellstmöglich dingfest machen.“

„Das werden wir auch“, murmelte Kitt mit zusammengebissenen Zähnen. „Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, aber ich werde den Hurensohn zur Strecke bringen.“

3. KAPITEL

Rockford, Illinois

Dienstag, 7. März 2006

8:10 Uhr

Das schrille Klingeln des Telefons ließ Kitt hochschrecken, die am Abend zuvor eine Schlaftablette genommen hatte. Sie suchte nach dem Telefon, fand es und ließ zweimal beinahe den Hörer fallen, bis sie ihn endlich am Ohr hatte. „Hm?“

„Kitt, hier ist Brian. Beweg deinen Hintern aus dem Bett.“

Sie blinzelte in die Sonne, die durch die Jalousie ins Zimmer fiel und in ihren Augen schmerzte. Ihr Blick wanderte zum Wecker, und als sie die Uhrzeit sah, setzte sie sich widerwillig auf.

Offenbar hatte sie den Wecker abgestellt.

Einen Moment lang schaute sie auf Joes Seite des Betts und wunderte sich, warum er sie nicht geweckt hatte, doch dann kehrte die Erinnerung zurück. Auch nach mittlerweile drei Jahren kam es ihr immer noch so vor, als sei er ganz in ihrer Nähe.

Kein Ehemann, kein Kind.

Jetzt war sie ganz allein.

„Was verschafft mir denn die Ehre, so früh aus dem Schlaf gerissen zu werden, Lieutenant Spillare?“, meinte sie, während sie versuchte, den letzten Rest von Müdigkeit abzuschütteln. „Muss ja schon was wirklich Weltbewegendes sein.“

„Der Bastard ist wieder da. Weltbewegend genug?“

Sie wusste sofort, wer mit dem Bastard gemeint war: der Engelmörder. Der Fall, den sie völlig vergebens mit solcher Besessenheit verfolgt hatte, dass sie darüber beinahe ihre Karriere und ihr Leben zerstört hätte.

„Aber was …?“

„Ein totes kleines Mädchen. Ich bin bereits am Tatort.“

Ihr schlimmster Albtraum.

Nach fünf Jahren Pause hatte der Engelmörder wieder zugeschlagen.

„Wer bearbeitet den Fall?“

„Riggio und White.“

„Wo?“

Er nannte ihr die Adresse des Tatorts. Der lag in einem Arbeiterviertel von Rockford, einer Gegend, die schon bessere Zeiten erlebt hatte.

„Kitt?“

„Ja?“ Sie war inzwischen aufgestanden und suchte ihre Kleidung zusammen.

„Geh es behutsam an. Riggio ist …“

„… etwas schwierig?“

„Sie mag es bloß nicht, wenn sich jemand in einen ihrer Fälle einmischt.“

„Schon verstanden, mein Freund … danke.“

4. KAPITEL

Dienstag, 7. März 2006

8:25 Uhr

Detective Mary Catherine Riggio, die von allen – bis auf ihre Mutter – nur M.C. genannt wurde, drehte sich um und nickte Lieutenant Spillare zu, als der an den Tatort zurückkehrte. Keiner der anderen anwesenden Kollegen wäre angesichts dieser knappen Geste auf den Gedanken gekommen, die beiden verbinde mehr als nur ihre dienstliche Beziehung. In Wahrheit gab es da aber eine kurze, Hals über Kopf begonnene Affäre in jener Zeit, als Spillare von seiner Frau getrennt gelebt hatte.

Die Affäre nahm ein schnelles Ende, er kehrte zu seiner Frau zurück, und M.C. kam zur Besinnung. Sie war damals noch jung, hatte eben erst ihren Polizeidienst begonnen, und sie war von Brian Spillare geblendet gewesen. Der schon zu dieser Zeit für hervorragende Leistungen ausgezeichnete Detective, der kurz davor stand, beim Police Department Karriere zu machen, war ihr überlebensgroß erschienen. Seine Anekdoten aus dem Polizeidienst wirkten auf sie wie ein Aphrodisiakum. Während andere Frauen dahinschmolzen, wenn man ihnen Schmeicheleien ins Ohr hauchte, wurde M.C. von Geschichten über Schießereien, Blut und böse Jungs auf Touren gebracht.

Allerdings hatte ihr auch niemals irgendjemand vorgeworfen, so zu sein wie andere Frauen.

Nach der Affäre war ihr Herz unversehrt geblieben, und sie hatte etwas Wichtiges gelernt: Ein Verhältnis mit einem Vorgesetzten führte nicht dazu, dass man ernst genommen wurde. Damals hatte sie sich geschworen, nie wieder in eine solche Situation zu geraten.

M.C. ging durch den Raum zum Lieutenant, und sofort schloss ihr Kollege Detective Tom White sich ihr an. Er war Afroamerikaner, um die dreißig, groß und schlank und hatte feine Gesichtszüge. Seine Frau hatte vor Kurzem ihr drittes Kind zur Welt gebracht, und ihm war anzusehen, wie wenig Schlaf er seit einigen Nächten bekam. Obwohl M.C. noch nicht lange mit ihm zusammenarbeitete, war es eine gute, solide Beziehung. Er war ein verdammt guter Detective, tat sich ihr gegenüber aber nicht wichtig, und er respektierte ihre Fähigkeiten und Instinkte.

In dem einen Jahr im Morddezernat hatte M.C. bereits einige Kollegen verschlissen. Sie wusste, sie war anstrengend und ehrgeizig. Ihr war auch klar, dass ihre Kollegen besser auf sie zu sprechen sein würden, wenn sie sich änderte und sich etwas sanfter gab. Doch dazu konnte sie sich einfach nicht durchringen. Wenn sie ihrer Ansicht nach im Recht war, dann stand sie zu ihrer Überzeugung, ganz gleich, wie andere darüber dachten – selbst wenn es ein Vorgesetzter wie Brian Spillare war.

Lieb und nett zu sein, das war etwas für kleine Enten und für Häschen.

„Sieht bekannt aus, nicht wahr?“, sagte sie.

Der Lieutenant nickte. „Leider ja.“

Fünf Jahre zuvor war Rockford, gut neunzig Meilen westlich von Chicago gelegen, von drei Morden erschüttert worden. Drei Mädchen, alle mit blondem Haar und blauen Augen, hatte ein Unbekannter in deren eigenem Zimmer umgebracht, während die Eltern ein paar Türen weiter fest schliefen. Das Gefühl, in Rockford sicher leben zu können, war zutiefst erschüttert worden. M.C. war damals im Streifendienst unterwegs gewesen, und die Bürger hatten auf die Morde so verunsichert reagiert, dass sie schon bei dem kleinsten Geräusch die Polizei gerufen hatten.

Dann nahm die Mordserie ein abruptes Ende, und mit der Zeit kehrte wieder Ruhe ein.

Nun aber schien es jedoch so, als sei der Mörder zurückgekehrt.

Mit leicht verkniffenem Blick betrachtete sie Brian. Er arbeitete längst nicht mehr in ihrer Abteilung, sondern hatte seit seiner Beförderung die Einsatzleitstelle unter sich. Die nahm alle beim Police Department eingehenden Anrufe an, war für sämtliche Unfallberichte zuständig und führte eine Liste aller Sexualstraftaten.

Doch M.C. war klar, warum ihn dieser Mord interessierte: Er hatte zusammen mit Kitt Lundgren die Untersuchungen der damaligen Mordserie geleitet.

M.C. konnte sich an einige Details des Falls ebenso erinnern wie an Detective Lundgrens Rolle bei den Ermittlungen. Die Ergreifung des Engelmörders hatte für das Department höchste Priorität gehabt, und Lundgrens Verhalten war bei allen Kollegen das Gesprächsthema schlechthin gewesen. Sie war derartig von der Mordserie besessen gewesen, dass sie andere Fälle vernachlässigt, sich gegen ihren Vorgesetzten gestellt und ausdrückliche Befehle ignoriert hatte. Angeblich ließ sie sogar den Mörder entwischen. M.C. erinnerte sich an Gerüchte über fahrlässig verwischte Spuren am Tatort, Alkoholmissbrauch und eine vorübergehende Beurlaubung, zu der auch ein Aufenthalt in einer Entzugsklinik gehört haben soll.

Von dieser denkwürdigen Beurlaubung war Kitt Lundgren erst vor Kurzem zurückgekehrt.

„Das wird Lundgren sicherlich interessieren“, meinte Brian beiläufig.

M.C. machte eine skeptische Miene. „Die ist doch durchgeknallt.“

„Ich weiß“, gab er zurück. „Aber nach allem, was sie durchgemacht hat, ist das auch kein Wunder. Geh etwas nachsichtiger mit ihr um.“

Tom White kam dazu. „Der Pathologe ist hier.“

In der Gerichtsmedizin waren zwei Pathologen in Vollzeit beschäftigt, die jeden Tatort aufsuchten, offizielle Erklärungen zu Todesfällen herausgaben, Leichen untersuchten, fotografierten und für die Autopsie ins Leichenschauhaus brachten.

Frances Roselli war der ältere der beiden, ein kleiner, eleganter Mann von italienischer Abstammung.

„Frances“, sagte Brian und ging ihm entgegen. „Ist schon eine Weile her.“

„Aber nicht lange genug“, meinte der Mann. „Verstehen Sie das nicht falsch, Lieutenant.“

„Schon klar. Die Detectives Riggio und White kennen Sie ja schon.“

Er nickte den beiden zu. „Detectives. Und was haben wir hier?“

„Totes Mädchen“, antwortete M.C. „Zehn Jahre alt, Tod vermutlich durch Ersticken.“

Sein Blick wanderte zu Brian, als erwarte er von ihm eine Bestätigung. „Klingt ganz nach dem Engelmörder.“

„Leider sieht es auch nach ihm aus.“

Der Pathologe seufzte. „Ich hätte für den Rest meines Lebens sehr gut auf einen weiteren von diesen entsetzlichen Fällen verzichten können.“

„Tja, das können Sie laut sagen.“ Brian schüttelte den Kopf. „Für die Medien ist das ein gefundenes Fressen.“

M.C. sah zu ihrem Partner. „Wir sollten in der Nachbarschaft nachfragen, ob jemand letzte Nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt hat.“

„Ich werde ein paar Streifenpolizisten darauf ansetzen“, meinte Tom zustimmend.

„Das Haus steht zum Verkauf. Ich brauche eine Liste aller Makler und aller potenziellen Käufer, die sich hier umgesehen haben.“

„Sieht aus, als wäre es erst vor Kurzem frisch gestrichen worden“, überlegte Tom. „Wir sollten uns auch die Namen des Malers und aller anderen Handwerker geben lassen, die hier am Haus gearbeitet haben.“

M.C. nickte bestätigend und wandte sich dem Pathologen zu: „Wann werden Sie Ihren Bericht fertig haben?“

„Nicht vor heute Abend.“

„Okay“, sagte sie. „Ich rufe Sie an.“

5. KAPITEL

Dienstag, 7. März 2006

8:40 Uhr

Kitt stellte ihren Ford Taurus in zweiter Reihe vor dem bescheidenen Haus ab. Um Schaulustige fernzuhalten und um Platz für die Einsatzfahrzeuge zu schaffen, hatten die ersten Polizisten am Tatort einen Bereich von gut dreißig Metern in beide Richtungen abgesperrt. Sie sah die Fahrzeuge des Gerichtsmediziners und der Spurensuche, dazu ein halbes Dutzend Streifenwagen und etwa noch mal genauso viele Zivilfahrzeuge.

Ihr Blick wanderte zu dem Haus, einem kleinen kastenförmigen Bau, in Blau gestrichen, vermutlich nicht mal hundert Quadratmeter Wohnfläche. Die Verlagerung von Produktionen an andere Standorte und das Herunterfahren der Kapazitäten hatte Rockford schwer getroffen. Unternehmen wie Rockwell International und U.S. Filter, einst die wichtigsten Arbeitgeber in der Region, existierten nicht mehr. Kleinere Unternehmen schleppten sich dahin, doch ihre Aussichten waren nicht erfreulicher. Das letzte Mal, als sie eine aktuelle Zahl gehört hatte, hieß es, Rockford und Umgebung seien dreißigtausend Stellen verloren gegangen. Fuhr man durch die Stadt, fand man eine Zahl in dieser Größenordnung schnell bestätigt, reihte sich doch eine stillgelegte Fabrik an die andere.

Kitt hatte ihr ganzes Leben hier in dieser Stadt verbracht, deren Bevölkerung zu einem großen Teil italienischer und schwedischer Abstammung war. Weder nach Sadies Tod noch nach ihrer Scheidung war ihr ernsthaft der Gedanke gekommen, in eine andere Stadt zu ziehen. Rockford war ihre Heimat. Sie mochte es, hier zu leben. Niemand spielte sich hier auf, alle paar Häuserblocks gab es eine hervorragende Pizzeria, und wenn ihr wirklich mal nach Glanz und Glamour war, musste sie nur ins eine Autostunde entfernte Chicago fahren.

Doch danach war ihr nur selten. Vielmehr zählte sie zu der Sorte Mensch, der sich in einer vertrauten Umgebung in der Mittelschicht wohlfühlte.

Sie stieg aus dem Wagen und fand sich von einem grauen, kühlen Tag umgeben. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und sie zog den Kopf ein, um mehr von der wärmenden Jacke zu haben. Im Norden von Illinois waren die Winter streng, der Frühling kam viel zu langsam, und der Sommer war zu kurz. Aber der Herbst war prachtvoll. Das hatten sich die Einwohner auch verdient, wenn sie es den Rest des Jahres hier aushielten.

Beim ersten Officer auf dem abgesperrten Gelände trug sie sich in die Liste der Anwesenden am Tatort ein, wobei sie die neugierigen Blicke ihrer Kollegen ignorierte. Ihnen konnte man nicht verdenken, dass sie so reagierten, immerhin war Kitt erst seit acht Wochen wieder im Dienst und musste sich seitdem mit stupiden Fällen von Körperverletzung und Ähnlichem befassen.

Sie war sich ihrer eigenen emotionalen Stärke zunächst nicht sicher gewesen, wusste aber, dass sie mit dieser Arbeit keine Schwierigkeiten haben würde. Sie war in erster Linie dankbar, dass Sal Minelli – der Deputy Chief of Detectives – sie in den Dienst zurückkehren ließ, obwohl sie wiederholt solchen Mist gebaut hatte. Durch ihr Verhalten wären beinahe Fälle ungeklärt geblieben, Kollegen waren in Gefahr geraten, und den Ruf des Departments hatte sie dadurch zu allem Überfluss auch noch aufs Spiel gesetzt.

Sal hatte sich ebenso für sie eingesetzt wie Brian, und sie selbst würde für immer in deren Schuld stehen. Denn was hätte sie sonst machen sollen? Sie war ein Cop, sie war es schon immer gewesen – ein Cop, und nichts anderes.

Nein, widersprach sie sich im Geiste. Sie war auch mal Ehefrau gewesen. Und Mutter.

Hastig verdrängte sie diesen Gedanken ebenso wie die Erinnerungen und den Schmerz, die damit einhergingen.

Kitt betrat das gut geheizte Haus. Die Eltern des Kindes saßen auf der Couch, doch Kitt vermied einen Blickkontakt mit den beiden. Stattdessen sah sie sich flüchtig in dem aufgeräumten Zimmer um. Die Möbel waren billig, der Teppichboden hatte seine beste Zeit schon lange hinter sich. Die Wände waren in ansprechendem Salbeigrün gestrichen.

Den Stimmen ihrer Kollegen folgend gelangte sie ins Kinderzimmer. Zu viele Leute in diesem kleinen Zimmer. Detective Riggio sollte besser darauf achten, wer sich alles Zutritt verschafft.

Es überraschte sie nicht, dass Brian anwesend war, auch wenn er längst nichts mehr mit dieser Abteilung zu tun hatte. Als habe sie Kitts Anwesenheit gespürt, drehte sich Mary Catherine Riggio um und starrte sie an. Während der achtzehn Monate, die Kitt nicht im Dienst gewesen war, hatte man einige Officers zum Detective befördert, darunter auch Riggio. Soweit sie wusste, galt diese Frau als intelligent, ehrgeizig und unnachgiebig – und das über alle Maßen.

Kitt sah ihr in die Augen, nickte kurz und ging weiter zum Bett.

Ein Blick auf das Opfer genügte, um Brians Worte zu bestätigen: Er war tatsächlich wieder da.

Sie musste schlucken, um nicht von ihren aufkeimenden Schuldgefühlen überwältigt zu werden – Schuldgefühle, dass sie den Dreckskerl nicht schon vor fünf Jahren gefasst und er damit die Gelegenheit bekommen hatte, wieder zu töten.

Am liebsten hätte sie den Blick abgewandt, doch es ging einfach nicht. Verzweiflung überkam sie, vor sich sah sie ihre Tochter, erinnerte sich an deren letzte Tage.

Ein Aufschrei wollte sich den Weg aus ihrem Innersten heraus bahnen, aber sie konnte ihn zurückhalten. Der Tod ihrer Tochter und die Taten des Engelmörders waren in ihrem Verstand auf eine schreckliche Weise untrennbar miteinander verbunden.

Der Grund dafür war ihr klar. Mit ihrem Therapeuten hatte sie bis zum Erbrechen darüber diskutiert: Der erste Mord an einem Kind ereignete sich, als Sadie den Lebensmut verlor. Der unerbittliche Kampf, ihre Tochter am Leben zu erhalten, war ein Spiegelbild ihrer verzweifelten Bemühungen gewesen, den Engelmörder aufzuhalten und weitere Morde zu verhindern.

Doch sie war an beiden Fronten gescheitert.

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Hände des Opfers in eine andere Position gebracht worden waren als bei den früheren toten Kindern. Ursprünglich hielten die Mädchen die Hände ordentlich gefaltet vor die Brust, doch hier waren die Finger seltsam gekrümmt. Mit einer Hand schien das Mädchen auf sich selbst, mit der anderen Hand auf jemanden vor ihr zu zeigen.

Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten, vielleicht war es nur eine Variante des Rituals. Immerhin waren seit dem letzten Opfer fünf Jahre verstrichen.

Aber das hielt sie für unmöglich. Der damalige Engelmörder war äußerst präzise vorgegangen, er hatte alle drei Morde exakt gleich ausgeführt und der Polizei nie irgendetwas hinterlassen, was als Anhaltspunkt hätte dienen können.

Aufgeregt drehte sie sich um und rief Brian zu sich. Riggio und White folgten ihm.

Die andere Frau gab Kitt gar nicht erst die Gelegenheit, etwas zu sagen. „Hallo, Detective Lundgren.“

„Detective Riggio“, gab sie knapp zurück.

„Freut mich, dass Sie herkommen konnten, um mich Ihre Meinung wissen zu lassen.“

„Danke, Detective“, sagte Kitt, auch wenn Mary Catherine Riggio keineswegs so wirkte, als würde es sie tatsächlich freuen. Sie wandte sich wieder ihrem ehemaligen Partner zu. „Die Haltung der Hände weicht ab.“

Brian nickte, seine Miene nahm einen bewundernden Ausdruck an. „Das hatte ich ganz vergessen.“ Er schaute M.C. an. „Bei den früheren Morden waren die Hände immer nahe dem Herzen vor der Brust gefaltet.“

Roselli warf ihnen über die Schulter einen Blick zu. „Die Hände stellen übrigens ein sehr interessantes Element dar.“

M.C. runzelte die Stirn. „Wieso denn das?“

„Die Haltung ist eindeutig unnatürlich. In diesem Fall hat der Mörder sie nach der Tötung in diese Stellung gebracht.“

„Das überrascht mich nicht. Was soll daran …“

„… interessant sein? Nun, interessant ist daran, wie lange er damit gewartet hat.“

„Ich verstehe nicht“, sagte Kitt. „Er musste doch schnell handeln, ehe die Leichenstarre einsetzte.“

Der Pathologe schüttelte den Kopf. „Irrtum, Detective. Er musste warten, bis die Leichenstarre eingesetzt hatte.“

Sekundenlang erwiderte niemand etwas darauf. M.C. war die Erste, die der Stille ein Ende machte: „Von welchem Zeitrahmen reden wir hier?“

„Von einem recht kurzen. Je nach Umgebungstemperatur setzt die Leichenstarre zwei bis sechs Stunden nach dem Tod ein. Da die Heizung läuft und es hier im Haus relativ warm ist, würde ich auf drei bis vier Stunden tippen.“

Kitt wollte ihren Ohren nicht trauen. „Wollen Sie sagen, er saß hier und wartete darauf, dass ihr Körper steif wurde?“

„Genau das will ich damit sagen. Und damit sich seine Mühe lohnt, musste der Körper gefunden werden, bevor die Leichenstarre nachließ, was zehn bis zwölf Stunden nach dem Tod geschieht.“

Brian stieß einen leisen Pfiff aus und sah zu Kitt. „Dann ist die Stellung der Hände für ihn sogar extrem wichtig.“

„Er macht damit eine mutige Aussage … eine arrogante Aussage.“

„Die meisten Mörder verschwinden nach der Tat, so schnell sie können.“

„Die meisten einigermaßen schlauen Mörder“, präzisierte Kitt. „Und der ursprüngliche Engelmörder war sogar verdammt intelligent.“

„Und was soll die Stellung der Hände bedeuten?“

„Du und ich“, überlegte White.

Kitt nickte. „Wir und sie. Drinnen und draußen.“

„Oder sie bedeutet gar nichts“, warf M.C. gereizt ein.

„Das wohl kaum, wenn man bedenkt, welches Risiko er einging, um diese Haltung zu erreichen.“ Brian sah zu Kitt. „Fällt dir sonst noch etwas auf, das anders ist als damals?“

Sie schüttelte bedächtig den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Jedenfalls noch nicht.“ Dann wandte sie sich an Detective Riggio: „Fehlt irgendetwas?“

„Wie?“

„Der damalige Engelmörder nahm nie eine Trophäe seines Opfers mit, was natürlich gar nicht zum Profil des typischen Serienmörders passte.“

M.C. und White schauten sich an. „Wir müssen die Eltern des Mädchens befragen, um das festzustellen“, sagte sie schließlich.

White nickte und machte sich eine Notiz.

„Macht es etwas aus, wenn ich mich hier noch etwas gründlicher umsehe?“ Um die andere Frau friedlich zu stimmen, richtete Kitt die Frage an Riggio, auch wenn Brian es ihr sofort gestattet hätte, da er von allen Anwesenden der Ranghöchste war und seine Entscheidung von niemandem angefochten worden wäre.

Doch es war Detective Riggios Fall, und Kitt merkte ihr an, dass sie darauf aus war, sich zu beweisen. Sie war eine von diesen Polizistinnen, von denen Kitt mehr als genug erlebt hatte. Polizeiarbeit war immer noch was für Jungs, und Frauen mussten darum kämpfen, ernst genommen zu werden. Bis dahin galten sie als Menschen zweiter Klasse. Viele Frauen reagierten darauf, indem sie die humorlose, harte Tour einschlugen, dabei aber schweren Testosteronneid erkennen ließen. Oder anders ausgedrückt: Diese Frauen verhielten sich, als seien sie Männer. Kitt wusste genau, dass es so war – sie selbst hatte es nicht anders gemacht.

Inzwischen war ihr längst klar, was eine Polizistin auszeichnete: nämlich die Tatsache, dass sie eben kein Mann war. Ihre Instinkte, die Art, wie sie reagierte, wie sie mit anderen umging – das unterschied eine Polizistin von einem männlichen Kollegen.

„Gerne“, antwortete M.C. „Lassen Sie mich wissen, wenn Ihnen etwas auffällt.“

Nichts an diesem Tatort sprang ihr ins Auge, und nach vierzig Minuten verließ Kitt das Haus. Es war eigenartig, von hier wegzugehen, ohne die Eltern zu befragen, die Nachbarschaft zu durchforsten und nach anderen möglichen Zeugen Ausschau zu halten.

Verdammt! Das hier sollte ihr Fall sein! Sie hatte vor fünf Jahren wie eine Irre geschuftet, um den Mörder zu finden. Jedes kleine Detail war in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Aber sie hatte den Fall auch verbockt, und das war das Schlimmste gewesen.

„Lundgren!“

Kitt blieb stehen und drehte sich um. Riggio kam mit entschlossener Miene auf sie zu. „Ich wollte noch was klarstellen, bevor Sie gehen.“

Das war zu erwarten gewesen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin ganz Ohr.“

„Hören Sie, ich kenne Ihre Vergangenheit. Ich weiß, wie wichtig Ihnen der Engelmörder ist und wie Sie sich fühlen müssen, weil Sie jetzt ausgeschlossen sind.“

„Ach, ich bin davon ausgeschlossen?“

„Hören Sie mit diesen Spielchen auf, Lundgren. Es ist mein Fall, und ich möchte Sie bitten, das zu respektieren und Ihre persönlichen Gefühle außen vor zu lassen.“

„Mit anderen Worten, ich soll mich raushalten.“

„Ja.“

Kitt zog eine Augenbraue hoch, erstaunt darüber, mit welcher Arroganz diese Frau auftrat. „Darf ich Sie daran erinnern, Detective, dass ich mit jedem Detail des Engelmörders vertraut bin? Sollte es sich hierbei um seinen vierten Mord handeln, dann wäre mein Wissen für Sie von unschätzbarem Wert.“

„Und darf ich Sie daran erinnern, Detective, dass ich Zugriff auf jedes einzelne Detail dieses Falls habe?“

„Aber meine Instinkte …“

„… taugen nichts. Und das wissen Sie.“

Sie musste sich zwingen, Ruhe zu bewahren, da Riggio es sonst so empfinden würde, als hätte sie ihre Gefühle nicht im Griff. „Ich kenne diesen Kerl“, entgegnete sie gelassen. „Er ist klug, und er ist vorsichtig. Er plant seine Taten bis ins kleinste Detail. Er rühmt sich seines Intellekts und der Tatsache, dass er seine Verbrechen ganz ohne Gefühlsregung begeht. Er beobachtet die Kinder, macht sich mit ihrem Tagesablauf vertraut, weiß, wann sie zu Bett gehen. Er kennt die Lage des Schlafzimmers. Er sucht sich die aus, die verwundbar sind.“

„Und was macht sie verwundbar?“

„Unterschiedliche Dinge. Die Situation der Eltern, ihr soziales Umfeld.“

„Was macht Sie so sicher?“

„Weil ich in den letzten fünf Jahren an nichts anderes als an diesen Kerl gedacht habe.“

„Und warum haben Sie ihn dann nicht gefasst?“

Darauf wusste Kitt keine Antwort. Einmal war sie ihm ganz dicht auf den Fersen gewesen, und dann hatte sie es in letzter Sekunde verbockt.

Riggio lehnte sich vor. „Hören Sie, Lundgren. Ich habe nichts gegen Sie. Ich bin selbst lange genug Cop, um zu wissen, wie der Job einem manchmal zusetzen kann. Wie ein bestimmter Fall einem zusetzen kann. Aber das Problem habe ich nicht. Das hier ist mein Fall. Halten Sie sich zurück und lassen Sie mich den Kerl schnappen.“

„So arrogant habe ich auch mal gedacht.“

Riggio wandte sich ab. „Wie Sie meinen.“

„Wäre es nicht von Vorteil, wenn wir zusammenarbeiten?“, fragte Kitt, während sie die andere Frau am Ärmel fasste. „Wäre meine Erfahrung mit dem Engelmörder nicht hilfreich? Wenn Sie mit Sal sprechen, wird …“

„Auf gar keinen Fall, tut mir leid.“

Das nahm Kitt ihr nicht ab. Sie ließ sie los und machte einen Schritt nach hinten. „Vergessen Sie eines nicht, Riggio. Es geht hier nicht um Sie, es geht hier nur darum, diesen Kerl zu fassen, und zwar um jeden Preis.“

Die andere Frau verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Das ist mir durchaus bewusst, Detective Lundgren. Ich schlage vor, Sie halten sich das mal selbst vor Augen.“

„Dann gehe ich zum Deputy Chief.“

„Viel Vergnügen. Wir wissen doch beide, was er dazu sagen wird.“

Kitt sah der Frau nach, wie sie fortging, dann setzte sie sich in den Wagen. Das Problem war, sie konnte sich tatsächlich gut ausrechnen, was er sagen würde. Doch das sollte sie nicht davon abhalten, es zumindest zu versuchen.

6. KAPITEL

Dienstag, 7. März 2006

Mittag

Salvador Minelli, der Deputy Chief of Detectives, saß da und hörte sich in aller Ruhe an, was Kitt ihm zu sagen hatte. Er war ein außerordentlich gut aussehender Mann mit silbergrauem Haar und einem Gesicht, das auch mit einundfünfzig Jahren kaum Falten aufwies. Er kleidete sich elegant, und sein Gang wies den Hauch eines Hüftschwungs auf. Inzwischen war Sal – wie ihn fast jeder im Police Department nannte – in gleichem Maß Politiker und Polizist. Die meisten, die ihn kannten, sahen in ihm den aussichtsreichsten Anwärter auf den Posten des Chiefs, wenn der in ein paar Jahren in den Ruhestand ging.

Für Kitt war Sal immer ein guter Freund gewesen. Auch vor fünf Jahren hatte er ihr als ihr Vorgesetzter allen Rückhalt gegeben, den ein Mann in seiner Position geben konnte, und vielleicht sogar eine Spur mehr. Er hatte sich vehement für sie eingesetzt und sich dabei die Missbilligung des Chiefs zugezogen.

Vielleicht lag es daran, dass er Vater von fünf Kindern war, vielleicht auch, weil er aus einer Familie stammte, in der der Zusammenhalt wichtiger war als alles andere. Von Joe und Brian abgesehen schien er der Einzige zu sein, der verstand, wie sehr Sadies Tod sie getroffen hatte.

„Ich kenne diesen Kerl“, argumentierte Kitt. „Ich bin mit dem Engelmörder-Fall besser vertraut als jeder andere, und das wissen Sie. Detective Riggio soll ruhig das Sagen haben, das macht mir nichts aus. Aber lassen Sie mich assistieren.“

Eine Weile saß er nur da, schwieg und legte die Fingerspitzen aneinander. „Warum tun Sie das?“, fragte er schließlich.

„Weil ich das Schwein schnappen will. Ich will, dass er hinter Gitter kommt. Und weil mein Wissen bei der Ermittlung von Nutzen ist.“

„Ich vermute, Detective Riggio sieht das anders.“

„Detective Riggio ist jung und zu selbstsicher. Sie braucht mich.“

„Sie hatten Ihre Chance, Kitt. Er ist Ihnen entwischt.“

„Dieses Mal wird ihm das nicht gelingen.“

Er redete weiter, als hätte sie gar nichts gesagt: „Sie wissen selbst, wie nützlich es manchmal sein kann, wenn jemand völlig unvoreingenommen an einen Fall herangeht.“

„Ja, aber …“

Sal hob eine Hand, damit sie innehielt. „Detective Riggio ist gut, verdammt gut sogar.“

Vor langer Zeit hatte er von ihr genauso gesprochen, das stand außer Frage. Sie bezweifelte, dass diese Zeit für sie wiederkehren würde.

In gewisser Weise war sie für ihn zu einer Belastung geworden.

„Sie ist stur und zu ehrgeizig“, hielt Kitt dagegen.

Er lächelte darüber. „White ist dafür aber ein guter Gegenpol.“

„Wie kann ich Ihnen beweisen, dass ich damit umgehen kann?“

„Tut mir leid, Kitt. Aber Sie sind zu sehr in den Fall verstrickt, und Sie sind noch viel zu verletzlich.“

„Bei allem Respekt, Sal, aber finden Sie nicht, dass ich das besser beurteilen kann?“

„Nein“, gab er zurück und beugte sich vor. „Haben Sie schon mal überlegt, dass der Fall zu viel für Sie werden könnte und Sie auf einmal wieder zur Flasche greifen?“

„Das wird nicht passieren.“ Sie sah ihm in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich bin trocken – seit fast einem Jahr, und das soll auch so bleiben.“

Er senkte seine Stimme, als er anfügte: „Ich kann Sie nicht noch einmal beschützen, Kitt. Sie wissen, was ich meine.“

Sie hatte den Engelmörder entkommen lassen.

Sal hatte sich schützend vor sie gestellt, weil er sich zum Teil mitverantwortlich fühlte.

Und weil Sadies Gesundheitszustand ihr so zu schaffen gemacht hatte.

„Ich werde Riggio und White bitten, Sie auf dem Laufenden zu halten und sich Ihre Meinung anzuhören. Mehr kann ich nicht tun.“

Als sie aufstand, stellte sie mit Schrecken fest, wie sehr ihre Hände zitterten. Noch schockierender war aber die Erkenntnis, dass sie sich nach einem Drink sehnte, um dieses Zittern in den Griff zu bekommen.

Diesem Verlangen durfte sie niemals wieder nachgeben.

„Danke“, sagte sie und ging zur Tür.

„Wie geht’s Joe?“, rief er ihr nach, bevor sie das Zimmer verlassen konnte.

Ihr Exmann. Ihre große Liebe seit der Highschool. Ihr bester Freund. „Wir reden nicht oft miteinander.“

„Sie wissen, wie ich darüber denke.“

Ja, das wusste sie. Sie selbst dachte nicht anders darüber.

„Wenn Sie ihn sehen, grüßen Sie ihn von mir.“

Sie versprach es ihm und ging aus dem Zimmer. Mit einem Mal sah sie Joe sehr deutlich vor ihrem geistigen Auge.

7. KAPITEL

Dienstag, 7. März 2006

17:30 Uhr

„Hallo, Joe.“

Ihr Ex mann sah von den Bauzeichnungen auf dem Schreibtisch auf. Sein blondes Haar war über die Jahre ergraut, doch seine Augen leuchteten immer noch so kraftvoll blau wie am Tag ihrer Heirat. Heute Abend allerdings war seinem Blick eine Spur Zurückhaltung anzusehen.

Sie konnte es ihm nicht verübeln, immerhin hatte sie schon lange nicht mehr „einfach so“ bei ihm vorbeigeschaut.

„Hallo, Kitt“, grüßte er sie. „Das ist allerdings eine echte Überraschung.“

„Flo ist schon fort“, sagte sie. Flo hieß die Frau, die für ihn Sekretärin und Büroleiterin zugleich war. „Darum bin ich gleich durchgegangen. Und? Wie läuft das Geschäft?“

„Es kommt wieder in Gang. Zum Glück haben wir endlich Frühling.“

Joe leitete sein eigenes Bauunternehmen, Lundgren Homes, und die Winter im nördlichen Illinois stellten für jeden in der Branche eine Durststrecke dar. In dieser Zeit wollte niemand mit dem Hausbau beginnen, stattdessen versuchte jeder, bis zum Herbst so viele Rohbauten wie möglich fertigzustellen, um sich in der kalten Jahreszeit mit dem Innenausbau zu befassen. In manchen Wintern waren Joes Einnahmen verdammt dürftig ausgefallen.

„Du siehst müde aus.“

„So fühle ich mich auch.“ Joe fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Nach der Beule im Stoff zu urteilen, bist du endlich wieder im Dienst.“

Ihr Schulterhalfter. Joe hatte sich nie so ganz daran gewöhnen können, dass sie eine Waffe trug. „Sal lässt dich herzlich grüßen.“

Er sah ihr weiter in die Augen. „Und der Alkohol? Wie …?“

„Nach wie vor trocken. Seit elf Monaten, und wenn es nach mir geht, sollen es noch mehr werden.“

„Freut mich, das zu hören, Kitt.“

Sie wusste, er meinte es ehrlich. Er hatte gesehen, wie sie am Alkohol fast zugrunde gegangen war, und auch wenn sie inzwischen geschieden waren, sorgte er sich noch immer um sie – so wie sie sich um ihn sorgte.

„Es ist etwas passiert“, sagte sie, nachdem sie sich geräuspert hatte. „Der Engelmörder … es sieht ganz so aus, als sei er zurück.“

Joe sagte nichts, regte sich nicht. Nur sein Gesicht verriet, wie er mit seinen Gefühlen kämpfte.

„Ein kleines Mädchen namens Julie Entzel“, fuhr sie fort. „Man fand sie heute Morgen.“

„Das tut mir leid.“ Er senkte den Blick und sah auf seine Baupläne. „Hat Sal dir den Fall gegeben?“

„Nein, er findet, ich hätte nicht genug Distanz. Und ich sei zu … zu verwundbar.“

Wieder schaute er sie an. „Aber du teilst seine Meinung nicht?“

Sein Tonfall hatte etwas Schneidendes, was Kitt dazu veranlasste, sich zu versteifen. „Hört sich an, als würdest du Sals Meinung teilen.“

Mit einem teils frustrierten, teils verärgerten Schnauben erwiderte er: „Du hast dich damals für den Fall und gegen unsere Ehe, gegen mich entschieden. Ich würde sagen, dass das ‚nicht genug Distanz‘ ist.“

„Lass uns nicht wieder damit anfangen, Joe.“

Als er aufstand, sah sie, dass er die Fäuste geballt hatte. „Selbst nachdem kein weiterer Mord mehr geschah, konntest du nicht aufhören. Nicht mal, nachdem Sal den Fall für abgeschlossen erklärt hatte.“

Das stimmte. Sie war von dem Fall völlig vereinnahmt worden, was sie schließlich dazu brachte, zur Flasche zu greifen und sich über ausdrückliche Befehle hinwegzusetzen. Doch es war keine Entscheidung gegen Joe gewesen, und das hatte sie ihm gesagt.

Sein Lachen klang verbittert. „Dein ganzes Leben drehte sich nur noch um den Fall. Es hätte sich aber um mich, um unsere Ehe, um unsere Familie drehen sollen!“

„Welche Familie?“ Im gleichen Moment, in dem sie diese Worte aussprach, bereute sie sie auch schon. Sie sah, wie sehr sie ihn damit verletzte.

Sie wollte sagen, es tue ihr leid, doch er war eine Spur schneller: „Warum bist du hier?“

„Ich dachte, du würdest es wissen wollen. Das mit dem kleinen Mädchen.“

„Wieso?“

„Ich verstehe nicht“, erwiderte sie ratlos.

„Julie Entzel war nicht unsere Tochter, Kitt. Keines dieser Mädchen war unsere Tochter. Ich habe nie eines dieser Kinder kennengelernt. Aber genau das hast du nie begreifen wollen.“

„Oh, das habe ich sehr wohl begriffen, Joe. Aber ich empfinde eine Verantwortung, die dir offensichtlich gänzlich abgeht. Ich verspüre dieses unstillbare Verlangen, zu helfen und etwas zu tun … irgendetwas.“

„Meinst du, mir tut dieses Mädchen nicht leid? Denkst du, ich habe kein Mitgefühl mit den Eltern? Ich weiß, was es heißt, ein Kind zu verlieren. Und dass irgendein Ungeheuer hingeht und kleine Mädchen ermordet, macht mich krank. Es macht mich wütend!“ Er räusperte sich. „Aber die Kleine war nicht Sadie. Sie war nicht unsere Tochter. Du musst mit diesem Teil deines Lebens abschließen und nach vorn schauen.“

„So wie du es gemacht hast?“, fuhr sie ihn an.

„Ja, in dieser Art.“ Er hielt inne, und als er weitersprach, klang seine Stimme tonlos. „Ich werde wieder heiraten, Kitt.“

Sekundenlang konnte sie nur dastehen und ihn anstarren, dann ließ sie sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch sinken. Ganz bestimmt hatte sie sich nur verhört, etwas anderes war gar nicht möglich. Joe wollte wieder heiraten?

„Du kennst sie nicht“, fuhr er fort, bevor sie etwas fragen konnte. „Sie heißt Valerie.“

Kitts Kehle war wie ausgetrocknet, und sie fühlte sich benommen. Was denn? Hatte sie etwa erwartet, er würde ihr für alle Zeit nachtrauern?

Ja, ganz genau.

Es fiel ihr sehr schwer, eine gelassene Miene zu wahren. „Ich wusste nicht, dass du eine Frau kennengelernt hast, mit der es dir so ernst ist.“

„Es gibt auch keinen Grund, warum du davon wissen solltest.“

Keinen Grund? Sie konnte genügend Gründe vortragen, die für ein ganzes Leben reichten! „Wie lange seid ihr schon zusammen?“

„Vier Monate.“

„Vier Monate? Das ist nicht sehr lang. Bist du dir sicher, dass …“

„Ja.“

„Wann ist der große Tag?“ Ihre Stimme hörte sich sogar in ihren Ohren bemüht freundlich an.

„Ein Datum haben wir noch nicht festgelegt, aber es wird bald sein. Alles im kleinen Rahmen, nur ein paar Angehörige und einige gute Freunde.“

„Verstehe.“

Er wirkte sichtlich frustriert. „Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“

„Nein.“ Sie stand auf, während ihr Tränen kamen, die er aber nicht sehen sollte. „Ich hoffe, ihr beide werdet glücklich miteinander.“

8. KAPITEL

Mittwoch, 8. März 2006

12:10 Uhr

Kitt saß an ihrem Schreibtisch, neben ihr stand die braune Papiertüte mit ihrem Mittagessen, das sie bislang nicht angerührt hatte. Vor ihr lagen die Akten über die erste Mordserie. Obwohl sie alle Daten auch im Computer hätte abrufen können, bevorzugte sie die Papierform.

Sie zog das Foto des ersten Opfers aus der Mappe. Mary Polaski. Es schmerzte, das Bild zu betrachten. Kitt hatte die Kleine enttäuscht, und ihre ganze Familie dazu.

Es gelang ihr, diese Gedanken zu verdrängen. Stattdessen sah sie sich auch die anderen Fotos an und verglich sie mit denen von Julie Entzel. Warum hatte er ihre Hände in diese Stellung gebracht? Und warum war er das Risiko eingegangen, so viele Stunden am Tatort zu bleiben? Was war ihm so wichtig gewesen?

Das Telefon klingelte, und sie nahm gedankenverloren den Hörer ab, ohne den Blick von den Bildern zu nehmen. „Detective Lundgren.“

„Detective Kitt Lundgren? Dieselbe, die vor fünf Jahren den Engelmörder gejagt hat?“

„Genau die. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“

„Ich glaube eher, ich kann Ihnen behilflich sein.“

Ein derartiger Anruf konnte sie nicht überraschen. Am Morgen lautete der Aufmacher der Zeitung Engelmörder ist zurück! Viel verwunderlicher war, dass sich erst jetzt jemand bei ihr meldete, der etwas gesehen hatte – oder der glaubte, etwas gesehen zu haben. „Ich freue mich über jede Hilfe. Wie heißen Sie?“

„Ich bin jemand, den Sie schon seit Langem kennenlernen wollten.“

Der amüsierte Unterton störte sie. Sie hatte keine Zeit für Verrückte, und sie wollte auch nicht, dass jemand mit ihr irgendwelche Spielchen trieb. Genau das sagte sie ihm auch.

„Ich bin der Engelmörder.“

Eine Sekunde lang überlegte sie, ob das stimmen und ob es so einfach sein könnte.

Nein, das war einfach unmöglich.

„Sie sind also der Engelmörder“, wiederholte sie. „Und Sie wollen mir helfen.“

„Ich habe dieses Mädchen nicht umgebracht. Das, von dem heute in der Zeitung berichtet wird.“

„Julie Entzel meinen Sie?“

„Ja, richtig.“ Sie hörte ein leises Pfeifen, als würde der Mann an einer Zigarette ziehen. Rasch notierte sie ihren Eindruck. „Jemand hat mich kopiert.“

„Kopiert?“

„Jemand ahmt mich nach. Und das mag ich gar nicht.“

Kitt sah sich um, doch keiner ihrer Kollegen war am Platz. Einige waren dienstlich unterwegs, andere in der Mittagspause. Sie stand auf und winkte, weil sie hoffte, dass jemand im Flur von ihr Notiz nahm. Eine Fangschaltung! Der Anruf musste zurückverfolgt werden!

„Ich will, dass Sie dieses Arschloch fassen, damit das endlich aufhört.“

„Ich möchte Ihnen gern helfen“, sagte sie. „Aber auf der anderen Leitung wartet noch ein Gespräch. Bleiben Sie einen Moment dran.“

„Oh, wer treibt jetzt hier irgendwelche Spielchen?“, gab er zurück. Sie hörte, wie er laut ausatmete. „Hier sind die Regeln: Ich werde mich nur mit Ihnen unterhalten, Kitt. Ich darf Sie doch Kitt nennen, oder?“

„Ja, natürlich. Wie soll ich Sie nennen?“

„Netter Name“, ging er über ihre Frage hinweg. „Kitt … Kitty … klingt nach einem Kätzchen. Feminin. Sexy. Passt aber nicht zu einem Cop.“ Wieder eine Pause, abermals holte er tief Luft. „Aber natürlich nennt Sie bestimmt jeder nur Detective. Oder einfach nur Lundgren. Stimmt’s?“

„Das stimmt“, antwortete sie. „Aber es gibt ein Problem. Ich bearbeite nicht den Fall Entzel. Ich verbinde Sie mit dem zuständigen Team.“

Erneut ignorierte er sie. „Regel Nummer zwei: Erwarten Sie nicht, dass Sie von mir etwas gratis erhalten. Und es wird auch nicht leicht sein. Alles hat seinen Preis, und den bestimme ich.“

Seine tiefe Stimme klang noch relativ jung, und falls er wirklich rauchte, war es ihm so nicht anzuhören. Sie schätzte ihn auf fünfundzwanzig bis fünfunddreißig. „Gibt es auch noch eine Regel Nummer drei?“

„Vielleicht. Das habe ich noch nicht entschieden.“

„Und wenn ich nicht nach Ihren Regeln spielen will?“

Er lachte auf. „Doch, das wollen Sie. Sonst werden noch mehr kleine Mädchen sterben.“

Verdammt, war denn kein Mensch in der Nähe? „Okay, dann liefern Sie mir irgendeinen Beweis, dass Sie nicht bloß ein Spinner sind, der sich einen üblen Scherz erlaubt. Ich muss meinem Vorgesetzten etwas vorlegen, das …“

„Auf Wiederhören, Kitty.“

Er legte auf. Fluchend wählte Kitt die Nummer der Leitstelle. Da alle im Department eingehenden Telefonate über eine Zentrale liefen, musste eine Fangschaltung entweder manuell oder auf einen Anruf hin installiert werden. Allerdings wurde die Nummer jedes Anrufers festgehalten.

„Hier ist Lundgren, ich habe gerade einen Anruf erhalten, und ich brauche umgehend die Nummer.“

Zwei Minuten später kam der Rückruf. Brian persönlich war am Apparat. „Es war eine Mobilfunknummer, Kitt. Was ist denn los?“

Ein Mobiltelefon! Einen Anruf aus dem Festnetz konnte man zurückverfolgen, wenn die Verbindung wenigstens zehn Sekunden dauerte. Aber für ein Handy waren mindestens fünf Minuten nötig. Wenn der Kerl schlau war, wusste er, dass man bei den neuesten Modellen dank eines GPS-Chips nur zehn Minuten benötigte, um den exakten Standort des Anrufers festzustellen. Bei älteren Modellen, die noch nicht über diese Technologie verfügten, dauerte es Stunden, um die Position zu bestimmen. In der Zeit konnte ein Anrufer bereits hundert Meilen in eine beliebige Richtung zurückgelegt haben.

Sie sah auf ihre Uhr. Das Gespräch hatte nicht länger als drei Minuten gedauert, was bedeuten musste, dass der Typ mit Fangschaltungen vertraut war.

„Da hat jemand behauptet, er sei der Engelmörder“, sagte sie. „Der echte Engelmörder. Julie Entzel will er nicht ermordet haben.“

Brian stieß einen leisen Pfiff aus. „Ich schätze mal, du hättest nun gern den Namen und die Adresse, die zu der Nummer gehören.“

„So schnell es geht.“ Sie sah zum Büro ihres Sergeants und stellte fest, dass er auch noch nicht zurück war. „Ruf mich auf meinem Handy an.“

Sie legte auf, ordnete ihre Notizen und wollte eben den Raum verlassen, als sie Riggio und White hereinkommen sah. „Das wird Sie interessieren“, sagte sie zu den beiden und zeigte auf Sals Büro.

Als sie dort ankam, waren die beiden Detectives dicht hinter ihr. Sie klopfte an die offene Tür und trat ein, woraufhin der Deputy Chief von seiner Arbeit aufblickte und sie zu sich winkte.

„Ich wurde eben von einem Mann angerufen, der sich für den Engelmörder ausgab“, begann sie ohne Vorrede. Sie sah, dass ihr alle zuhörten, und fuhr fort: „Er behauptet auch, er habe Julie Entzel nicht getötet.“

„Warum ruft er Sie an?“, wollte Riggio wissen.

Kitt sah ihr in die Augen. „Er will, dass ich den Trittbrettfahrer ausfindig mache und aufhalte.“

„Sie?“

„Ja.“

„Wieso?“

„Keine Ahnung.“

Sal machte eine nachdenkliche Miene. „Was konnten Sie sonst noch in Erfahrung bringen?“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass er Raucher ist. Sein Alter schätze ich auf fünfundzwanzig bis fünfunddreißig. Er sagte …“ – sie warf einen Blick auf ihre Notizen – „… ‚Jemand hat mich kopiert. Jemand ahmt mich nach. Und das mag ich gar nicht.‘“

„Haben Sie den Anruf zurückverfolgen lassen?“

„Außer mir war niemand im Büro. Als ich ihn in die Warteschleife legen wollte, warnte er mich, ich solle keine Spielchen mit ihm treiben.“

„Sie haben die Leitstelle angerufen …?“

„Sofort, nachdem er aufgelegt hatte. Der Anruf kam von einem Mobiltelefon. Ich warte noch auf die Rückmeldung, wem es gehört.“

„Und erwähnte der Anrufer sonst noch etwas?“

„Er nannte zwei Regeln. Wenn ich sie nicht befolge, werden weitere Mädchen sterben und …“

Bevor sie aussprechen konnte, fiel White ihr ins Wort. „Ich denke, er hat behauptet, nicht Julie Entzels Mörder zu sein. Woher weiß er dann, dass noch mehr Mädchen sterben werden?“

„Das hat er mir nicht gesagt, darüber kann ich nur Vermutungen anstellen.“

„Vielleicht weiß er ja, wer der Nachahmer ist“, überlegte White.

„Vielleicht“, stimmte Riggio ihm zu. „Vorausgesetzt, wir können ihm überhaupt ein Wort glauben.“

Kitt sah die Frau fragend und verärgert zugleich an. „Wollen Sie sich nicht noch anhören, was er außerdem gesagt hat?“

Riggio nickte knapp.

„Er hat mir zwei Regeln genannt. Erstens: Er spricht nur mit mir, mit niemandem sonst.“

„Also bitte!“

Der höhnische Einwurf kam von Riggio, doch Kitt ging darüber hinweg.

„Und zweitens?“, fragte Sal.

„Wir sollen nicht erwarten, dass wir von ihm etwas gratis erhalten. Es wird auch nicht leicht sein. Alles hat seinen Preis, den er bestimmen wird.“

„Heißt das, er will Geld?“, wunderte sich White.

Kitt schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass er das meint, wenn er von einem Preis spricht. Allerdings hat er bis jetzt noch keinerlei Forderungen aufgestellt.“

„Und ob er das gemacht hat.“ Sal sah zwischen den dreien hin und her. „Er verlangt, dass Sie den Fall übernehmen.“ Er griff nach dem Telefonhörer und rief seine Sekretärin Nan Baker an. „Nan, ist Sergeant Haas aus der Pause zurück?“ Eine kurze Unterbrechung. „Gut, dann schicken Sie ihn zu mir.“

Vor seiner Beförderung zum Abteilungsleiter war Sergeant Jonathan Haas Brians Partner gewesen, und man kannte ihn als einen guten und zuverlässigen Cop.

Der große blonde Sergeant betrat Sals Büro und trug den Geruch von Hamburgern und Fritten herein. Es sah aus, als sei ihm etwas Soße auf die Krawatte getropft. Auch wenn die beiden Männer in ihrer Art nicht unterschiedlicher hätten sein können, verstanden Sal und Haas sich gut. Ganz zu Beginn ihrer Karriere waren sie sogar mal Partner gewesen.

Während Sal ihm die Ereignisse schilderte, klingelte Kitts Mobiltelefon. „Lundgren.“

„Kitt, Brian hier. Schlechte Neuigkeiten. Die Nummer gehört zu einem Prepaid-Telefon. Ich habe allerdings den Namen des Geschäfts, in dem das Gerät gekauft wurde.“

Nicht nur schlau, sondern gerissen! „Das wird erst mal genügen müssen. Vielleicht landen wir ja einen Treffer.“

Während sie ihr Telefon wegsteckte, wandte sich der Sergeant ihr zu. Sie ließ ihn und die anderen wissen, was sie erfahren hatte.

Haas nickte. „Ich möchte jeden Anruf zurückverfolgen, der für Sie eingeht, hier im Department und bei Ihnen zu Hause. Und ich will, dass sie alle aufgezeichnet werden.“ Dann sah er zu Riggio. „Liegt der Autopsiebericht vor?“

„Ja, Sergeant, den habe ich gestern Abend noch abgeholt. Leider keine neuen Erkenntnisse. Sie wurde erstickt, so wie es auch bei den drei ersten Opfern der Fall war. Unter den Fingernägeln war nichts zu finden. Keine Anzeichen für irgendwelche sexuellen Handlungen. Keine Verletzungen, die darauf hindeuten könnten, dass sich das Mädchen zur Wehr gesetzt hat. Nur der Bluterguss an der Stirn.“

„Könnte das weiterhelfen?“, wollte Sal wissen.

„Der Pathologe hält es für einen Daumenabdruck.“

„Der Kerl ist so leise wie eine Katze“, warf White ein. „Niemand in der Nachbarschaft hat etwas bemerkt.“

„Der Makler will mir noch heute eine Liste der Leute geben, die sich das Haus angesehen haben“, fügte Riggio hinzu.

„Fingerabdrücke?“

„Die Spurensuche arbeitet noch daran, aber bislang ist alles mit den drei früheren Morden identisch.“

„Bis auf die Hände“, hielt Kitt dagegen. „Und das ist ein ganz erheblicher Unterschied.“

Im Zimmer machte sich Schweigen breit, bis Detective Riggio erklärte: „Wir haben keinen Beweis dafür, dass der Anrufer nicht bloß ein Spinner ist. Im Register Star wird auf der Titelseite und weiter hinten ausführlich über den Fall berichtet. Der Typ war vielleicht bloß der Erste, der sich getraut hat, eine solche Behauptung aufzustellen, aber er wird wohl kaum der Letzte sein.“

„Gutes Argument, Detective Riggio. Aber ich würde nicht darauf wetten, dass es wirklich so ist. Sie etwa?“

„Nein, Sir.“

„Lundgren?“

„Chief?“

„Lassen Sie es uns wissen, wenn er sich wieder meldet. Und kümmern Sie sich um die Fangschaltung.“

Sie nickte und griff nach ihrem Handy. „Und was soll ich ihm sagen, wenn er anruft?“

„Alles, was nötig ist, damit er so lange wie möglich in der Leitung bleibt.“

Damit war die Besprechung beendet, und die Gruppe verließ das Büro. Als sie außer Hörweite ihres Vorgesetzten war, beugte sich Riggio zu ihr herüber. „Sieht ja ganz aus, als hätten Sie bekommen, was Sie wollten. Sie sind wieder mit von der Partie.“

„Haben Sie was dagegen?“

„Vergessen Sie nur nicht, wer hier das Sagen hat, Lundgren. Das hier ist nämlich mein Fall.“

„Ich glaube kaum, dass Sie mir eine Gelegenheit geben werden, das zu vergessen, Detective Riggio.“ Die Frau schien etwas erwidern zu wollen, doch Kitt ließ ihr keine Chance. „Wenn Sie mich dann entschuldigen würden. Ich muss mich um eine Fangschaltung kümmern.“

9. KAPITEL

Mittwoch, 8. März 2006

18:40 Uhr

M.C. fürchtete sich vor jedem Mittwochabend, insbesondere vor den Stunden zwischen halb sieben und halb neun – die „Pasta-Zeit“, wie sie sie nannte. Es war die Zeit, wenn sie zusammen mit ihren fünf Geschwistern zum Abendessen bei ihrer Mutter antrat. Dort wurde jeder von ihnen zu allen Aspekten seines Lebens ausgefragt.

M.C. glaubte schon jetzt, die glühenden Kohlen zu spüren, als die sie die Fragen ihrer Mutter empfand. Immerhin war M.C. an diesen Abenden von allen Gängen der, den sich Mama Riggio mit dem größten Genuss vornahm.

Nichts von dem, was M.C. tat, fand die Zustimmung ihrer Mutter – ganz gleich, was es war. Früher hatte sie sich daran gestört, doch inzwischen scherte sie sich nicht mehr darum. Hätte sie so werden wollen, wie es sich ihre Mutter immer gewünscht hatte, dann wäre es sicherlich auch dazu gekommen.

So aber nahm M.C. Woche für Woche die Kritik und die spitzen Bemerkungen hin, auch wenn sie sich von Zeit zu Zeit einen Mordfall herbeisehnte, der ihr Erscheinen verhindern würde.

Vor dem alten einstöckigen Farmhaus, in dem sie aufgewachsen war, stellte sie den Wagen ab und musste auf einmal an Kitt Lundgren und diesen anonymen Anrufer denken.

Hatte diese Frau ihn vielleicht nur deshalb erfunden, um aktiv an den Ermittlungen teilnehmen zu können? Würde sie wirklich so weit gehen?

Ja, das würde sie, zumindest wenn es stimmte, was M.C. über Lundgrens Besessenheit in dem Fall zu Ohren gekommen war.

Dieser plötzliche Verdacht löste bei ihr Unbehagen aus, und mehr beiläufig sah sie zur Veranda. Ihre Brüder Michael und Neil standen dort und waren in ein Gespräch vertieft. Unwillkürlich begann sie zu lächeln, als ihr die liebevollen Spitznamen in den Sinn kamen, die sie ihren fünf Geschwistern gegeben hatte: der Überflieger, der Schleimer und die drei Arschkriecher.

Michael, der Überflieger, war der Älteste. Ein Chiropraktiker. In der Welt ihrer Mutter gab es nur eines, was noch besser war als ein Sohn, der mit „Dr. Riggio“ angeredet wurde – ein Sohn, den man mit „Father Riggio“ ansprach. Doch Michael begeisterte sich so wie die anderen Riggio-Jungs viel zu sehr für Frauen und Sex, als dass er Geistlicher hätte werden wollen. Und so musste sich Mama Riggio damit zufriedengeben, von „ihrem Sohn, dem Doktor“ zu erzählen.

Neil, der Schleimer, unterrichtete Mathematik an der Boylan Central Catholic High School, und er trainierte das Wrestlingteam. Alles ganz normal. Er hatte seiner Mutter auch eine Schwiegertochter präsentiert und sie zur Großmutter gemacht – zum ersten und bislang einzigen Mal.

Die drei jüngsten Söhne – Tony, Max und Frank – hatten ihre Ressourcen mit Mamas Rezepten kombiniert und Mama Riggio’s eröffnet, ein italienisches Restaurant. Das Trio hatte eben erst ein zweites Lokal aufgemacht, und schon jetzt wurde über ein drittes nachgedacht, das näher an Chicago gelegen sein sollte. Der Name ihres Restaurants hatte ihnen von M.C. den Beinamen „die drei Arschkriecher“ eingebracht.

M.C. liebte ihre Brüder, sie bewunderte sie sogar. Sogar den einen, dessen Idee es gewesen war, die Restaurants mit alten Familienfotos zu dekorieren – darunter auch eines, das sie mit Zahnspange, Pickeln und wirklich schrecklicher Frisur zeigte.

Es war ein Foto, auf das sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit aufmerksam machten: „Und das ist unsere einzige Schwester, Mary Catherine. Sie ist noch ledig, falls Sie interessiert sind.“

Zum Brüllen komisch.

Sie stieg aus ihrem Geländewagen. „Hallo, Jungs.“

„Yo, M.C.“, rief Neil ihr zu. „Siehst ja verrucht aus.“

„Danke“, gab sie zurück und warf die Wagentür zu. „Vielleicht gelingt’s mir ja, Mama zu erschrecken.“

Die Chancen standen gut, immerhin war sie komplett in Schwarz gekleidet, und ihre Haare hatte sie streng nach hinten gekämmt und zum Pferdeschwanz zusammengebunden.

„Bist du bewaffnet?“, fragte Michael spöttisch.

„Immer. Pass also lieber auf.“

Von all ihren Brüdern stand sie Michael am nächsten. Vielleicht, weil er sich immer nett verhalten hatte gegenüber dem kleinen Mädchen, das ihm ständig hinterherlief, vielleicht aber auch, weil sie sich in ihrer Denkweise so ähnlich waren.

Sie ging zu ihm, umarmte ihn und küsste ihn auf die Wangen, dann wiederholte sie bei Neil das Ritual.

Als sie sich von den beiden löste, meinte Neil grinsend: „Deine Waffe solltest du wohl besser an der Garderobe abgeben. Mama ist heute etwas seltsam drauf. Du könntest dich versucht fühlen, sie zu erschießen.“

„Es wäre ein absolut gerechtfertigter Mord“, gab sie zurück. „Kein Richter in der ganzen Stadt würde mich dafür verurteilen.“

In diesem Moment kam Neils dreijähriger Sohn Benjamin aus dem Haus gestürmt, dicht gefolgt von seiner Mutter Melody. Als sich Neil mit ihr verlobte – einer gertenschlanken, protestantischen Blondine mit blauen Augen –, war er von Mama Riggio unter Beschuss genommen worden. Eine Frau von anderem Glauben und anderer ethnischer Herkunft zu heiraten, war für sie so empörend gewesen, dass sie tatsächlich Herzbeschwerden ins Spiel gebracht hatte.

Für gut sechs Monate war damit M.C. nicht mehr das vorrangige Opfer ihrer Mutter gewesen, doch dann hatte Melody ihr alle Hoffnungen auf eine noch längere Schonzeit zunichtegemacht, indem sie erst zum katholischen Glauben übertrat und schließlich auch noch Benjamin zur Welt brachte.

M.C. war von Schleimern umzingelt.

Benjamin erblickte M.C. und quietschte vergnügt. Sie ging in die Hocke und empfing ihn mit ausgestreckten Armen, woraufhin er zu ihr rannte und sich umarmen ließ. Dass sie in ihrer Tasche etwas Süßes für ihn hatte, wusste er ganz genau. Heute war es eine Packung Kekse in Tierform.

„Du verwöhnst ihn zu sehr“, sagte ihre Schwägerin.

M.C. richtete sich auf und gab lächelnd zurück: „Was willst du dagegen unternehmen? Mich festnehmen lassen?“

Neil hob seinen Sohn hoch und half ihm dabei, die Packung zu öffnen. „Wie ist die Stimmung drinnen?“, fragte er seine Frau.

„Bewölkt mit Gefahr eines Donnerwetters. Du kennst ja Mama.“

Sie alle kannten Mama. Die Blicke, die sie wechselten, wirkten so, als überlegten sie, wessen Hals an diesem Abend in der Schlinge stecken würde.

Michael sah auf seine Armbanduhr. „Die drei Nudelkocher sind spät dran.“

„Wissen die nicht, dass Kohlenhydrate out sind?“, gab M.C. zurück. „Wieder mal.“

„Ich glaube eher, sie sind wieder in“, murmelte Neil. „Wieder mal.“

In diesem Augenblick trafen ihre drei Brüder ein, jeder in seinem eigenen Wagen. M.C. sah, dass sie alle während der Fahrt telefonierten, dann stiegen sie aus und telefonierten weiter, wobei sie heftig stritten – miteinander!

Sie eilten die Stufen hinauf, jeder steckte sein Telefon weg, und im nächsten Moment war M.C. von der raubeinigen Truppe umringt. Der Geräuschpegel stieg prompt an, als sich die Geschwister untereinander begrüßten.

Oh Gott, wie sehr liebte sie doch diese Dummköpfe!

„Können wir jetzt ins Haus gehen?“, unterbrach Melody die gute Stimmung. „Mama wird sonst …“

„… noch richtig sauer werden“, führte Neil den Satz zu Ende. „Ja, das ist eine gute Idee.“

Sie begaben sich nach drinnen und riefen ausgelassen „Mama!“.

Diese kam gerade aus der Küche. „Ihr seid alle zu spät, nur Michael und Neil nicht!“, schimpfte sie und warf M.C. einen wütenden Blick zu. „Meine einzige Tochter, und sie ist mir überhaupt keine Hilfe.“

Offenbar war sie an diesem Abend wieder die Zielscheibe für ihre Mutter. Eine Überraschung war das nicht.

„Tut mir leid, Mama“, sagte sie und küsste ihre Mutter auf die fast faltenlosen Wangen. „Ich hatte noch Arbeit.“

Als Reaktion kam ein Laut, der eine einzigartige Kreuzung aus Schnauben und einem Stoßgebet darstellte. „Ach ja, deine Arbeit.“

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