Bestsellerautorin Erica Spindler 2

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WENN DIE LIEBE ERBLÜHT: JASMINDUFT IN DER NACHT

Immer wenn Hunter den Duft von Nachtjasmin riecht, erinnert er sich an Aimée. Einst hatte er eine wilde Affäre mit ihr. Getrieben von Neugier, was aus ihr geworden ist, reist Hunter zu Aimée - und erlebt eine Überraschung!

MAGNOLIENTRÄUME

Annabelle liebt den Sommer auf Ashland - vor allem, weil dann der alte Magnolienbaum auf ihrer Plantage blüht. In dem süßen Duft von all den Frauen zu träumen, die dort der Sage nach einen Heiratsantrag von ihrer großen Liebe bekamen, ist einfach so viel romantischer als ihr eigenes Leben: Noch nie hat es ein Mann ernst mit ihr gemeint. Doch dann begegnet sie Rush Cousins. Er will ihr Herrenhaus restaurieren - und sieht so verheißungsvoll gut aus wie einer der Männer aus ihren Magnolienträumen. Was macht es da schon, dass er Geheimnisse zu haben scheint? Mehr als Annabelle anfangs glaubt …


  • Erscheinungstag 21.01.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783955765361
  • Seitenanzahl 272
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Erica Spindler

Bestsellerautorin Erica Spindler 2

Erica Spindler

Wenn die Liebe erblüht…: Jasminduft in der Nacht

Aus dem Englischen von Patrick Hansen

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:

Night Jasmine

Copyright © 1993 by Erica Spindler

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Maya Gause

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, Köln

ISBN eBook 978-3-86278-955-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Die Aprilsonne brannte warm vom Himmel und wurde grell und gleißend vom Pflaster zurückgeworfen. Hunter Powell ärgerte sich, dass er seine Sonnenbrille im Kongresszentrum gelassen hatte. Er drängte sich zusammen mit seinen Arztkollegen zwischen den Touristen hindurch, die die Bürgersteige des French Quarter von New Orleans bevölkerten, und fragte sich, warum er sich das hier zumutete. Hochprozentige Drinks hinunterzukippen und durch T-Shirt-Läden zu hetzen war nicht gerade das, was er sich unter Erholung vorstellte.

Aber genau das tat er jetzt.

Die Gruppe bahnte sich ihren Weg durch die schickere und nicht ganz so stark besuchte Royal Street. Hier war selbst der Lärm weniger intensiv – die klappernden Absätze eines Straßentänzers, das Wispern der Brise, vermischt mit dem verlockenden Duft von gegrillten Meeresfrüchten, hin und wieder ein belustigtes Auflachen.

Alles hier erinnerte ihn an Aimée.

Hunter hielt den Atem an, als ihr Bild in seiner Erinnerung auftauchte. Aimée – mit ihren großen, dunklen Augen und der tiefen, erotischen Stimme. Aimée, die so gern und viel lachte und ihn mit ihrer ansteckenden Fröhlichkeit aus seiner Zurückhaltung holte. Aimée in seinen Armen, seinem Bett, seinem Leben.

Die Erinnerung war so deutlich, dass er unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballte. Seit sein Flugzeug vor zwei Tagen auf dem Internationalen Flughafen von New Orleans gelandet war, hatte er nicht mehr aufhören können, an sie zu denken. Immer wieder hatte er sich dabei ertappt, wie er nach ihr Ausschau hielt, nach ihrer Stimme suchte.

Er schüttelte den Kopf. Warum konnte er sie nicht mehr vergessen? Weil sie aus einem Cajun-Fischerdorf nicht weit von hier stammte? Nur weil sie oft über den Namen des Dorfs gelacht hatte – La Fin, „das Ende“, auf Französisch?

Hunter zog die Augenbrauen zusammen. Es war jetzt dreieinhalb Jahre her, dass sie aus seinem Leben verschwunden war. Genauer gesagt, dass er sie aus seinem Leben vertrieben hatte. Und in der ganzen Zeit hatte er nie daran gezweifelt, das Richtige getan zu haben. Sicher, er hatte oft an sie gedacht, sie vermisst. Aber er hatte nie daran gedacht, sie zurückzuholen.

Er hatte ihr nichts geben können. Er konnte ihr noch immer nichts geben.

Hunter rief sich zur Ordnung. Hör auf, befahl er sich. Es bringt nichts, dich damit zu quälen. Es ist reine Zeitverschwendung und grenzt an Selbstmitleid.

Er würde ins Hotel zurückkehren und noch einmal den Vortrag durchgehen, den er morgen halten sollte. Er hatte Aimée vor dreieinhalb Jahren aus seinem Leben verdrängt, er würde es auch jetzt schaffen.

Hunter kehrte in die Gegenwart und damit zu den anderen Teilnehmern des Ärztekongresses zurück. „Ich sehe euch beim Abendessen“, sagte er. „Ich gehe jetzt ins Hotel.“

„Ach, kommen Sie, Hunter“. Jack, ein Orthopäde aus Des Moines, der schon ein paar exotische Drinks zu viel genossen hatte, meinte: „Nur Arbeit und kein Vergnügen, wie langweilig.“

„Genau“, stimmte ein anderer Kollege zu, an dessen Namen Hunter sich nicht erinnern konnte.

„Lasst ihn in Ruhe, Leute“, rief Sheila, eine Internistin aus Hunters Klinik in Kalifornien. „Hunter hat recht. Ich kann kaum noch laufen.“ Sie sah ihn an. „Ich schaue noch mal kurz in dieses Geschäft, dann komme ich mit.“

Hunter warf einen Blick auf das Geschäft, vor dem sie standen. „Kleine Wunder“ stand auf dem Schild. „Antiquitäten und Krimskrams.“ Er nickte Sheila zu und ging mit ihr hinein.

Im Inneren war es kühl, es roch ein wenig muffig und nach Mottenkugeln. Hunter lehnte sich gegen den Verkaufstresen, um zu warten, während Sheila sich umsah. Dabei stieß er mit dem Ellenbogen gegen etwas, das am Rand des Tresens stand. Hastig drehte er sich um und fing es auf, bevor es zu Boden fallen konnte.

Es war eine Spieluhr. Hunter betrachtete sie. Antiquitäten interessierten ihn nicht. Er hatte sein Zuhause sachlich und modern eingerichtet. Schlicht. Kein Schnickschnack.

Die Spieluhr, die er in den Händen hielt, war mit ihren Goldverzierungen und der Porzellanfigur eindeutig Schnickschnack. Eigentlich sollte er sie zurückstellen und in Zukunft besser aufpassen, stattdessen hielt er die Uhr hoch und sah sie sich genauer an.

Die zarte Porzellanfigur stellte eine Südstaatenschönheit mit Reifrock und prächtigem Hut dar. Ihre Miene war kokett, und in den Händen hielt sie einen Strauß weißer, sternförmiger Blüten. Vorsichtig drehte Hunter den Schlüssel. Eine romantische Melodie von Brahms ertönte, und die Figur kreiste auf dem Sockel der Spieluhr mit ausgestreckten Händen, als wollte sie ihm ihre Blumen überreichen.

Hunter starrte auf die zarte Gestalt und musste wieder an Aimée denken. So lebendig, so sinnlich war die Erinnerung, dass er glaubte, ihr verführerisches Lachen hören und ihre Lippen an seiner Haut spüren zu können. Er packte den glänzenden Holzsockel der Spieluhr noch fester. Aimée hatte nach Sonnenschein und exotischen Blüten geduftet. So süß wie …

„Nachtjasmin“, sagte eine Frau hinter ihm. Ihre Stimme klang heiser und ein wenig belustigt.

Hunter fuhr herum. Für einen Moment hatte er geglaubt, Aimée zu hören, und nicht die kleine Frau mit dem flammend roten Haar und dem leicht spöttischen Lächeln, die hinter ihm stand. Nachtjasmin. Sprachlos starrte Hunter die Geschäftsinhaberin an, in Gedanken noch immer bei Aimée. Aimée hatte ihm oft vom Nachtjasmin erzählt, der wild in der Nähe ihres Zuhauses wuchs, und von seinem berauschenden Duft an den warmen Frühlingsabenden in den Sümpfen.

„Wie bitte?“, brachte er nach einem Moment heraus.

„Die Blumen“, sagte die Frau und zeigte auf die Figur. „Es ist Nachtjasmin. Schon mal davon gehört?“

„Ja. Jemand, den ich mal kannte …“ Hunter verstummte, sah wieder auf die Spieluhr. „Es ist ein wunderschönes Stück. Aber ich interessiere mich nicht für Antiquitäten.“

„Nein?“ Mit einem tiefen Lachen nahm die Frau ihm die Spieluhr ab und zog sie wieder auf. „Aber dies ist keine gewöhnliche Antiquität. Dies ist etwas ganz Besonderes. Diese Spieluhr stammt von Ashland, einer der bekanntesten Plantagen im Mündungsgebiet des Mississippi. Schon mal davon gehört?“

Hunter schüttelte den Kopf. „Nein, ich komme aus Kalifornien und interessiere mich wirklich nicht für …“

„Es ist eine traurige Geschichte. Die Plantage und das Herrenhaus haben den Bürgerkrieg überstanden, aber nicht die Zeiten. Wie auch immer, dieses Stück wurde für Annabelle Carter gearbeitet, als sie sich mit Beauregard Ames, dem Herrn von Ashland, verlobte.“ Die Geschäftsinhaberin strich sich über die roten Locken, und ihre silbernen Armbänder klirrten. „Es ist der Familie sehr schwergefallen, die Spieluhr wegzugeben … aber Sie wissen ja, wie es ist. Manches lässt sich nicht ändern.“

Sheila berührte seinen Arm. „Können wir gehen, Hunter?“

Er sah sie an, als hätte er sie vollkommen vergessen. „Ja … nein. In einer Minute. Ich komme … in einer Minute.“ Er wandte sich wieder der Frau zu. Er brauchte das Ding nicht. Er wollte es nicht einmal. Wirklich nicht. Und trotzdem konnte er sich nicht davon losreißen. „Wie viel kostet es?“

„Wie können wir der Geschichte einen Preis geben?“ Die kleine Frau seufzte dramatisch. „Aber natürlich müssen wir es tun. Für achthundert ist diese Spieluhr so gut wie geschenkt.“

„Achthundert?“, wiederholte Hunter und schüttelte den Kopf. „Danke für Ihre Mühe, aber ich glaube nicht …“

„Sie werden es immer bereuen, wenn Sie sie nicht nehmen.“ Sie sah ihm tief in die Augen. „Sie ist etwas sehr Besonderes.“

Hunter wich ihrem Blick aus und dachte an all die Dinge, die er in seinem Leben schon bereut hatte. Und an Aimée und ihr kleines Fischerdorf. Nicht zum ersten Mal, seit er in New Orleans angekommen war, fragte er sich, wie weit das Dorf von der Stadt entfernt lag und ob Aimée dort war.

„Sie haben noch Fragen, cher?“

Cher. Das bedeutete „mein Lieber“. So hatte Aimée ihn immer genannt. Nur Aimée. Hunter zog die Augenbrauen zusammen und sah die Frau wieder an. „Haben Sie je von einem Dorf namens La Fin gehört?“

„Aber natürlich.“ Die kleine Frau strich über den Sockel der Spieluhr, und ein Lächeln umspielte ihren Mund. „Es ist etwa eine Stunde von hier entfernt. Eine schöne Fahrt. Ich werde Ihnen den Weg beschreiben.“

Hunter sah auf die Spieluhr und gestand sich ein, dass das, was ihm gerade durch den Kopf ging, überhaupt nicht zu ihm passte. Es war absolut unvernünftig. Dachte er wirklich daran, Aimée zu besuchen? Nach all dieser Zeit? Selbst wenn sie tatsächlich in La Fin war, würde sie ihn auf der Stelle hinauswerfen.

„Manchmal, cher, müssen wir unserem Herzen folgen.“ Die Frau legte den Kopf zur Seite. „Finden Sie nicht auch?“

Hunter zog die Stirn kraus. Das Gefühl, das die Frau seine Gedanken lesen konnte, beunruhigte ihn. Am liebsten hätte er ihr widersprochen. Aber er tat es nicht, denn sie hatte recht. „Ich gebe Ihnen siebenhundertfünfzig dafür.“

Die kleine Frau lächelte zufrieden. „Sie sind ein harter Mann, cher. Aber ich bin einverstanden.“

1. KAPITEL

„Dieses kleine Schweinchen ging zum French Market“, summte Aimée Bodreaux, während sie mit dem großen Zeh ihres dreijährigen Sohns Oliver spielte. Oliver quietschte vergnügt und versuchte, seinen Fuß wegzuziehen. Lachend hielt Aimée ihn fest und griff nach dem nächsten Zeh. „Dieses kleine Schweinchen blieb zu Hause am Bayou.“

Oliver kicherte und wand sich, dann legte er den Kopf auf die Seite und schob mitfühlend die Unterlippe vor. „Armes, kleines Schweinchen“, sagte er traurig.“ Ganz allein.“

Aimée küsste ihn auf den großen Zeh. „Maman würde Oliver nie allein am Bayou lassen.“

„Nein.“ Oliver schüttelte ernst den Kopf. „Und ich gehe nie ohne dich oder pépère dorthin.“

„Das ist richtig.“ Sie kitzelte ihn an der Fußsohle, dann nahm sie den dritten Zeh. „Dieses kleine Schweinchen aß Roastbeef auf Weißbrot …“

„Batard! Fornicateur!“

Erstaunt sah Aimée in die Richtung, aus der die Schimpfwörter kamen. Sie kamen aus dem Geschäft, in dem ihre Familie Angelzubehör und Köder verkaufte. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Ihr Vater war temperamentvoll, und es kam schon mal vor, dass er und ein Freund heftig aneinandergerieten. Jedenfalls war es früher vorgekommen. Vor der Krankheit. Aber seitdem …

Ein weiterer wütender Ausbruch folgte, und Aimée sprang auf. Sie streckte die Hand nach Oliver aus. „Komm, Baby. Wir sehen besser mal nach deinem pépère. Wir essen und spielen nachher weiter.“

Oliver folgte ihr mit besorgter Miene. „Warum schreit pépère so?“

„Ich weiß es nicht, Liebling“, sagte sie, schon unterwegs zum Laden. „Wir sehen einfach …“

„Aimée!“, rief ihr Vater von innen. „Bring mir meine Schrotflinte! Beeil dich!“

Schrotflinte! Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie Oliver auf den Arm nahm und losrannte. Statt der Treppe nahm sie die Rampe, die für ihren Vater gebaut worden war, und riss die Fliegentür auf. Dann stellte sie Oliver ab, schob ihn behutsam zur Seite und rannte hinein. „Papa! Was ist los? Was ist …“ Wie angewurzelt blieb sie stehen und verstummte.

Hunter. Sie traute ihren Augen nicht.

Aber er war es wirklich. Er stand im Laden, und seine Miene war eisig.

Aimée holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Hunter hatte ihr das Herz und den letzten Rest ihrer jugendlichen Naivität gestohlen. Er hatte ihr die schönste Zeit ihres Lebens geschenkt, aber er hatte ihr auch gezeigt, dass das Leben einem nur selten das gab, was man sich erhoffte. Sie hatte ihn einmal so leidenschaftlich geliebt, wie sie ihn später hasste.

Sie hatte geglaubt, sie würde ihn nie wiedersehen.

Sie atmete noch einmal durch. So wie er aussah, wirkte er noch immer wie eine Mischung aus kalifornischem Surfer und ernstem Akademiker. Er war schlank, muskulös, gebräunt, hellblond, wie jemand, der sich oft am Strand aufhielt. Wie gern hatte sie in seinem Haar gewühlt und es wie goldene Seide durch die Finger gleiten lassen.

Aber seine Miene und seine Augen verrieten, dass er kein so einfacher Mensch war. Wie oft hatte er sie aus diesen blauen Augen angesehen, nachdenklich, verschlossen und durchdringend. Immer hatte er ein wenig Abstand von ihr und ihrer Welt gehalten.

Anstatt sich durch diese Zurückhaltung abschrecken zu lassen, hatte sie sich angezogen gefühlt. Auch von dem Schmerz, den er dahinter versteckte.

Sie war noch so jung gewesen, so unglaublich naiv. Sie hatte geglaubt, ihn aus der Reserve locken, ihn und sein Leben ändern zu können. Aber sie hatte auch geglaubt, alle ihre Träume verwirklichen zu können, allein durch ihre Willenskraft.

Sie war so dumm gewesen.

Aimée hob das Kinn. Das war noch keine vier Jahre her, aber es kam ihr vor wie ein ganzes Leben. Falls er erwartete, das fröhliche, zuversichtliche Mädchen zu finden, dessen Herz er so mühelos erobert und gebrochen hatte, so würde er sich gewaltig wundern.

Hunter drehte sich zu ihr um, langsam, vorsichtig, als hätte er Angst, ihren Vater aus den Augen zu lassen. Als er sie ansah, war es, als würde die Zeit stillstehen, als gäbe es auf der Welt nur noch ihren Blickkontakt. Wie aus weiter Ferne hörte sie, dass ihr Vater in seiner Wut etwas murmelte, wie sein Rollstuhl leise quietschte, als er zum Lagerraum rollte.

Hunter hatte sich in den dreieinhalb Jahren nicht verändert. Seltsam. Wenn sie in den Spiegel sah, sah sie, wie sehr sie selbst sich verändert hatte.

„Hallo, Aimée.“

„Hunter.“

„Wie geht es dir?“

„Gut.“

„Maman?“ Oliver streckte den Kopf durch die Tür. „Kann ich jetzt hereinkommen?“

Aimée drehte sich zu ihrem Sohn um und rang sich ein gelassenes Lächeln ab. „Natürlich, Baby. Komm herein.“ Sie streckte den Arm aus, und Oliver kam angerannt, um sich an ihr Bein zu klammern. Sie strich ihm beruhigend über den Kopf, bevor sie Hunter mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. „Was kann ich für dich tun?“

„Kein Hallo für einen alten Freund?“

Für einen alten Freund? dachte Aimée. Sie hatte ihn einmal so sehr geliebt, dass sie geglaubt hatte, nicht mehr ohne ihn leben zu können. Aber er hatte ihre Liebe nie erwidert. „Nein“, sagte sie nur. „Nicht mehr. Nicht nach all dieser Zeit.“

„Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich dir wehgetan habe.“

Sie straffte die Schultern. Er war immer direkt auf den Punkt gekommen. Es hatte Zeiten geben, in denen sie das an ihm gehasst hatte. „Wirklich?“

„Ja.“

Ungläubig sah sie ihn an, und er ließ seinen Blick kurz zu Oliver hinüberwandern. „Hübscher Junge.“

„Danke.“ Aimée zog Oliver noch fester an sich. Was sah Hunter, wenn er ihren Sohn betrachtete? Sah er in dem kräftigen Jungen etwas von sich selbst? Sicher nicht in der schokoladenbraunen Farbe seiner Augen und Haare, und auch nicht in der Haut, die von der Sonne Louisianas tief gebräunt war. Aber sah Hunter die Ähnlichkeit in den Gesichtern von Vater und Sohn? In den großen, nachdenklich blickenden Augen? In der kleinen Furche am Kinn? In der hohen, breiten Stirn?

Hunter betrachtete Oliver. „Wie alt ist er?“

Aimée erstarrte. Die Frage machte ihr angst. Unnötigerweise, sagte sie sich rasch. Hunter hatte kein Interesse, den Vater zu spielen.

Sie ignorierte seine Frage und stellte eine eigene. „Warum bist du gekommen, Hunter?“

Er zögerte, und zum ersten Mal erkannte Aimée, wie nervös er war. „Ich war in der letzten Woche auf einem Ärztekongress in New Orleans und ich … dachte an dich. Ich wollte dich sehen.“ Er sah kurz zur Seite. „Ich wollte mich davon überzeugen, dass es dir … gut geht.“

Er hatte an sie gedacht? Nach drei Jahren wollte er sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging? „Nun ja“, sagte sie kühl, „wie du siehst, geht es mir gut. Wenn das alles war, werden Oliver und ich wieder zu unserem Picknick gehen.“

„Geht es dir gut, Aimée?“ Er machte einen Schritt auf sie zu. „Wirklich?“

Seine Stimme war leise, fast intim. Voll der Besorgnis, die man nur um jemanden empfand, mit dem man die persönlichste und intensivste aller Beziehungen gehabt hatte. Und diese besorgte Stimme ging ihr so ans Herz, wie sie es nach all dieser Zeit nie erwartet hätte. „Warum fragst du? Sehe ich krank aus, Doktor?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Du siehst gut aus. Schön, genauer gesagt. Aber du … hast dich verändert.“

Sie straffte die Schultern. „Es ist lange her.“

„Ja, das ist es. Dreieinhalb Jahre.“

Aimée legte die Hand auf Olivers Schulter. „Nun ja, jetzt hast du mich gesehen. Du kannst wieder gehen.“

„Ich kann verstehen, dass du wütend bist.“

Plötzlich begriff sie. Sein schlechtes Gewissen hatte ihn hergebracht.

Verdammt, dachte sie zornig. Sie wollte sein schlechtes Gewissen nicht. Sie wollte seine Reue nicht. Sie hatte selbst genug von beidem.

„Dafür kommst du etwas zu spät“, sagte sie leise. „Ich bin nicht wütend. Nicht mehr. Wenn du Vergebung suchst, musst du sie dir woanders holen.“

Ihr Vater kam aus dem Lager gerollt, die Schrotflinte über den Beinen. „Geh zur Seite, Aimée“, befahl er. „Bring meinen Enkel zu seinem Picknick zurück.“

„Papa?“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Was tust du?“

„Das hier ist Männersache.“ Er legte die großen Hände um die Waffe. „Geh jetzt.“

Sie hob die Hände, versuchte ihn zu beruhigen. „Leg die Waffe weg. Das ist nicht …“

„Genug!“ Ihr Vater hob die Flinte und richtete sie auf Hunters Brust. „Was haben Sie mit meiner Aimée vor?“, fragte er und spannte den Hahn.

Aimée machte einen Schritt auf ihren Vater zu. „Das ist doch lächerlich, Papa. Leg das Gewehr weg. Du verstehst es nicht.“

Er warf ihr einen Blick zu. „Ich bin vielleicht alt, chère, aber manche Dinge ändern sich nie.“ Mit zusammengekniffenen Augen musterte er Hunter. „Was wollen Sie denn nun für meine Aimée und ihren Sohn tun?“

Für einem Moment herrschte Stille. Dann sah Hunter von Aimée zu Oliver und wieder zu ihr zurück. Ungläubiges Staunen glitt über sein Gesicht. „Aimée?“

Sie räusperte sich. „Hunter, ich …“

„Wie alt ist er, Aimée?“

Mit heftig klopfendem Herzen drehte Aimée sich wieder zu ihrem Vater um. „Papa, überlass das bitte mir. Bitte nimm Oliver mit nach draußen.“

Hunter griff nach ihrem Arm. Ihr Vater hob die Schrotflinte ein Stück an, und Hunter ließ den Arm wieder los. „Wie konntest du … es mir nur verschweigen?“

Aimée begann zu zittern und fuhr zu Hunter herum. Vor diesem Moment hatte sie Angst gehabt. Sie hatte von ihm geträumt. Sie hatte nie wirklich geglaubt, dass er kommen würde. Jetzt war er da, und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie ihm sagen sollte.

„Oliver“, befahl sie, „nimm deinen pépère mit zum Picknick. Beeil dich, bevor die Eichhörnchen alles wegessen.“

Verängstigt klammerte er sich an ihre Beine. „Du musst auch mitkommen.“

Sein Flehen war wie ein Stich ins Herz. Er spürte, was in ihr vorging. Sie hätte ihn längst auf sein Zimmer schicken sollen.

Sie zwang sich, ihn aufmunternd anzulächeln und strich ihm über den Kopf. „Ich komme gleich, Baby. Es ist alles gut.“

Widerwillig ging Oliver zu seinem Großvater, der sich von seinem Enkel nach draußen bringen ließ, aber nicht ohne Aimée vorher noch einen zornigen Blick zugeworfen zu haben.

Aimée sah den beiden nach und seufzte. Wenn sie mit Hunter fertig war, würde sie sich der Verwirrung ihres Sohnes und dem Zorn ihres Vaters stellen müssen – und seiner Enttäuschung.

Als die Fliegentür hinter ihnen zuknallte, drehte sie sich zu Hunter um. In seiner Miene spiegelte sich keine Überraschung mehr, sondern nur noch Wut.

„Der Junge ist von mir?“, fragte er scharf.

„Der Junge hat einen Namen“, entgegnete sie ebenso scharf. „Oliver.“

„Ist er … wirklich … von mir?“

Aimée verschränkte die Arme vor dem Körper. „Ja.“

Hunter murmelte etwas Unverständliches und kehrte ihr abrupt den Rücken zu. Lange starrte er auf die Tür. Sie starrte auf seinen Rücken, die gestrafften Schultern, und das Schweigen zwischen ihnen schien kein Ende zu nehmen.

Schließlich fuhr er wieder herum. „Wie konntest du es wagen, Aimée?“

„Was?“, fragte sie. „Schwanger zu werden? So etwas passiert eben, Hunter. Wusstest du das nicht?“ Sie lachte verbittert. „Vor allem naiven Mädchen.“

„Augenblick mal!“ Er machte einen schnellen, fast drohenden Schritt auf sie zu. „Du warst kein Teenager mehr. Du warst nicht mal unberührt.“

Noch nie hatte sie ihn richtig wütend erlebt. In all der Zeit, die sie zusammen gewesen waren, war er höchstens verärgert gewesen. Sie atmete tief durch und blieb, wo sie war, obwohl sie am liebsten davongerannt wäre. „Wäre es anders zwischen uns gekommen, wenn ich unberührt gewesen wäre?“

„Hör auf. Du warst schon immer gut darin, die Realität so lange zu verdrehen, bis sie in dein Bild passte.“ Er ballte die Hände zu Fäusten. „Wir reden darüber, warum du mir verschwiegen hast, dass du schwanger warst. Versuch nicht, das Thema zu wechseln.“

„Schön.“ Sie sah ihm in die Augen. „Du hattest mir bereits klar gesagt, dass du mich nicht wolltest. Dass du kein Kind wolltest. Warum hätte ich dir sagen sollen, dass ich schwanger war?“ Ihr Blick wurde durchdringend. „Oder hast du etwa gelogen?“

„Du weißt, dass ich nicht gelogen habe.“

Seine deutliche Antwort war keine Überraschung. Trotzdem war sie wie ein Messerstich. „Ich wiederhole, warum hätte ich es dir sagen sollen? Ich wollte dich nicht zu einer Vernunftehe zwingen. Ich wollte dir nicht wehtun oder dir Schuldgefühle einimpfen.“

Hunter stieß ein halb frustriertes, halb zorniges Brummen aus. „Du hättest es mir sagen sollen, weil ich ein Recht hatte, es zu erfahren.“

„So habe ich es nicht gesehen. Ich sehe es noch immer nicht so.“

„Es gehören zwei dazu, schwanger zu werden, Aimée. Das Kind ist halb von mir.“

Sein Ton erschreckte sie so sehr, dass sie zurückwich. Er hatte kein Recht auf Oliver. Nicht dieser Mann, der erklärt hatte, nie wieder ein Kind haben zu wollen.

„Oliver gehört mir“, sagte sie leise, aber bestimmt. „Es hat immer nur ihn und mich gegeben. Er ist glücklich. Es würde ihn verwirren, wenn plötzlich …“ Es war ihr unmöglich, den Gedanken zu Ende zu bringen. „Unter anderen Umständen hätte ich es dir gesagt. Ich hätte es dir gesagt, wenn ich hätte glauben können, dass du jemals wieder Vater werden wolltest. Aber so ist es mir lieber, Oliver hat keinen Vater, als einen, der ihn nicht will. Ich dachte, es wäre besser, wenn er dich nicht kennt. Das denke ich noch immer.“

Hunter schien protestieren zu wollen, ließ es aber. Eine Mischung aus Schmerz und Erleichterung stieg in ihr auf. Erleichterung darüber, dass sie jetzt keine Angst mehr vor Hunters Auftauchen zu haben brauchte. Schmerz darüber, dass er ihren gemeinsamen Sohn gesehen hatte und ihn nicht liebte.

Aimée rieb sich müde den Nacken. „Mit dem hier tun wir uns nichts Gutes. Wir haben uns nie etwas Gutes getan.“

„Aimée, das ist nicht wahr. Ich will nicht, dass du …“

Mit einem Kopfschütteln unterbrach sie ihn. „Ich möchte, dass du jetzt gehst. Was immer wir miteinander hatten, ist schon lange vorbei.“ Sie ging zur Tür. „Ich wünsche dir ein angenehmes Leben, Hunter Powell.“

„Habe ich das getan?“, fragte er leise.

Sie blieb stehen und sah ihn an. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den sie an ihm nicht kannte. „Was hast du getan?“

„Habe ich dich so verändert? Habe ich dir so sehr weh getan?“

In ihr rangen die unterschiedlichsten Gefühle miteinander. Schmerz. Zorn. Trauer. Verzweiflung. Bis heute hatte sie geglaubt, nichts mehr für Hunter Powell zu empfinden. Nicht einmal Zorn. Warum war er zurückgekommen und hatte Erinnerungen geweckt, die sie nicht haben wollte?

„Habe ich das, Aimée?“, fragte er nach.

Ja, wollte sie schreien. Du hast mir so sehr weh getan, dass ich glaubte, ich würde mich nie davon erholen. Aber sie schüttelte nur den Kopf und sah ihm ruhig in die Augen. „Du überschätzt dich, Hunter. Au revoir.“

Sie drehte sich um und ging davon. Sie wollte ihm keine Gelegenheit zum Antworten geben, denn sie konnte die Tränen kaum noch zurückhalten. Er rief ihren Namen, ganz leise, und sie hielt den Atem an. Würde er ihr folgen? Sie hoffte, dass er es tun würde, und betete, dass er es nicht tun würde.

Er tat es nicht.

Sie zuckte zusammen, als die Ladentür knallte. Ein Motor sprang an, dann knirschten Reifen im Kies der Einfahrt.

Sie schluckte. Hunter war ihr nie nachgelaufen, warum sollte er es jetzt tun? Es war besser so. Es war das, was sie wollte.

Aimées Hand zitterte, als sie sie an den Mund hob. Wie lange hatte sie davon geträumt, dass er kam, ihr seine Liebe gestand, ihr sagte, dass er ohne sie nicht mehr leben konnte? Und als dieser Traum verblasst war, hatte sie einen anderen geträumt. Einen, in dem sie kühl und unnahbar war, unbeeindruckt von seinem Flehen und seinen Versprechungen. Einen, in dem sie ihm so weh tat, wie er ihr wehgetan hatte.

Sie hatte sich ausgemalt, wie sie reagieren würde, wenn er kam. Und wie immer in ihren Träumen, war sie ihm überlegen gewesen.

Aber wie früher, so war auch diesmal Hunter der Kühle und Überlegene gewesen.

Aimée starrte zu ihrem Vater und Oliver hinüber, die im Schatten der riesigen, alten Eiche saßen. Sie sah ihrem Vater an, dass er wütend auf sie war. Er würde nicht verstehen, warum sie ihn angelogen hatte. Genauer gesagt, er würde das, was sie ihm erzählt hatte, als Lüge ansehen. Aber sie hatte nicht gelogen. Sie hatte ihm damals erzählt, dass Hunter verheiratet war und nichts mehr von ihr und Oliver wissen wollte. Und keins von beidem war eine Lüge gewesen, denn obwohl Hunters Frau damals schon tot war, war er im Grunde noch immer mit ihr verheiratet gewesen.

Ungeduldig wischte Aimée sich die Tränen von den Wangen. Also hatte sie ihrem Vater wieder wehgetan. Und ihn wieder enttäuscht. Irgendwie schien das bei ihr zur Regel geworden zu sein.

Besorgt sah Oliver zum Laden herüber. Sie hörte, wie er seinen pépère nach ihr fragte, und atmete tief durch. Für Tränen und Selbstvorwürfe war später noch Zeit. Jetzt brauchte ihr Sohn sie.

Sie eilte nach draußen und über den Rasen. „Habt ihr Mommy etwas übrig gelassen?“, rief sie und setzte ein fröhliches Lächeln auf.

„Maman!“ Oliver sprang auf und rannte ihr entgegen.

Er warf sich in ihre ausgebreiteten Arme, und sie hob ihn hoch. „Hi, Baby. Habt ihr Spaß, du und pépère?“

Oliver nickte und schmiegte sich an sie. Halb war er noch Baby, halb schon Junge, und ihr wurde warm ums Herz. Was sollte sie tun, wenn sie ihn verlor? Sie küsste sein seidiges Haar. „Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“ Er wühlte mit seinen vom Essen klebrigen Fingern in ihrem Haar. „Ist der Mann weg?“

„Mmmm.“ Sie rieb ihre Nase an seiner. „Das war nur ein alter Freund, Baby. Er kommt nicht wieder.“

Ihr Vater gab einen missmutigen Laut von sich, und sie warf ihm einen strafenden Blick zu. Er erwiderte ihn mit fragender, vorwurfsvoller Miene.

„Nicht jetzt, Papa“, flüsterte sie. „Oliver muss jetzt schlafen. Wir reden später darüber.“

Wortlos fuhr ihr Vater in seinem Rollstuhl zum Laden zurück. Traurig sah Aimée ihm nach.

Einige Meilen entfernt stand Hunter am Ufer des Bayou und starrte auf das dunkle Wasser hinaus. Er hatte einen Sohn. Er war Vater. Das, von dem er sich geschworen hatte, dass es nie passieren dürfte, war geschehen. Und es war geschehen, ohne dass er davon gewusst hatte.

Ein Sohn. Hunter presste die Handballen auf die Augen, während er an einen anderen kleinen Jungen, seinen anderen Sohn denken musste. Der Schmerz, den diese Erinnerung auslöste, war überwältigend. Anders als Aimées Junge war Pete blond gewesen, mit großen, blauen Augen. Er war groß für sein Alter und dauernd zu Streichen aufgelegt gewesen, nicht so ernst und anhänglich wie Aimées Sohn.

Er und Ginny hatten Pete über alles geliebt. Er war der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Und Pete hatte sich in dieser Liebe gesonnt, wie es nur ein Baby konnte – ohne Zweifel und Fragen, voller Zuversicht in sich selbst und seine kleine Welt.

Hunter schloss die Augen. Wenn er tief genug in seiner Erinnerung suchte, konnte er Petes Babystimme hören. „Ich liebe dich, Daddy.“ Wenn er noch tiefer suchte, konnte er die kleinen Arme um seinen Hals spüren, das Gewicht seines Kindes auf seinen Armen.

„Aber warum können wir denn nicht fahren, Daddy? Ich werde ganz artig sein.“

Hunter holte tief Luft, als der Schmerz ihn durchfuhr. Es war so sinnlos gewesen. Warum Pete? Warum sein kluger, hübscher Junge? Es gab so wenig Wunder auf dieser Welt und so viel Schlechtes. Sein kleiner Junge war ein Wunder gewesen. Sein kleiner Junge war Licht und Liebe und Güte gewesen.

Und Ginny? Verzweifelt ballte Hunter die Hände zu Fäusten. So liebenswert war sie gewesen, so sanft, so freundlich zu allen. Was hatte sie getan, um ein solches Schicksal zu verdienen? Welchen Sinn hatte es, dass sie ihm genommen worden war?

Er hörte ihre Stimme. „Keine Sorge, Liebling. Uns wird nichts passieren. Vergiss nicht, dass ich dich liebe.“

Vergessen. Wenn er das doch nur könnte. Seit fünf Jahren versuchte er es jetzt schon. Bisher hatte er alles nur verdrängen und sich immer wieder gegen die Erinnerungen wehren können.

Aber der Schmerz fand immer wieder einen Weg in sein Bewusstsein, und die Erinnerungen nutzten jeden Spalt in dem Panzer, den er um sein Gedächtnis zu legen versucht hatte.

Hunter öffnete die Augen und starrte wieder aufs Wasser hinaus. Er atmete tief durch, bis die Erinnerungen verblassten. Der Schmerz ebbte ab, bis er nur noch Leere zurückließ. Und Kälte. Eine lähmende, tödliche Kälte.

Er fuhr sich mit der Hand über die feuchten Wangen und versuchte, nur noch die Gerüche und Geräusche des Bayou wahrzunehmen. Magnolien, Mimosen und süße Oliven. Das Rascheln der Blätter, das Rauschen des Windes im Schilf, das Plätschern, wenn ein Frosch oder eine Schildkröte ins Wasser glitt, der schrille Ruf einer Zikade.

Hunter ging näher ans Wasser. Dies hatte er als erstes gesehen, als er damals Aimées Welt betreten hatte. Wasser und ein Grün, das nicht aufzuhören schien. Und eine unglaubliche Lebendigkeit. Intensiv. Vibrierend. Wie Aimée selbst.

Er hatte nie vergessen, wie es gewesen war, sie zu berühren, sie zu lieben. Würde es auch jetzt so sein? fragte er sich, während er einem aufsteigenden Reiher nachblickte.

Würden Aimées Berührungen ihm noch immer so unter die Haut gehen wie damals? Würde er sich auch heute noch schuldig fühlen, weil sie in ihm etwas auslöste, das er bei keiner anderen Frau empfunden hatte, nicht einmal bei Ginny?

In den Jahren, die seitdem vergangen waren, war Aimée reifer geworden. Wie bei einer voll aufgeblühten Blume waren ihre Formen weicher und sinnlicher, ihr Gesicht mehr das einer Frau als eines Mädchens. So unmöglich es ihm auch vorkam, sie war sogar noch schöner als damals.

Aber sie hatte sich auch in anderer Hinsicht verändert. Sie war nicht mehr so sanft, nicht mehr so nachgiebig. Hunter bückte sich und hob einen Stein auf. Er hielt ihn in der Hand, wog ihn, strich mit den Fingern darüber, fühlte die feinen Risse in der Oberfläche. Das Mädchen, das ihn in den Sog ihrer nicht zu bremsenden Lebensfreude gezogen hatte, gab es nicht mehr. Das Mädchen, das voller Zuversicht ihrer Zukunft entgegengestürmt war und ihm ein paar atemberaubende Monate des Glücks geschenkt hatte, war verschwunden.

Aimée war jetzt härter. Sie hatte scharfe Kanten, an denen man sich schneiden konnte. Natürlich war sie auch noch sanft und zärtlich – wenn sie ihren Sohn ansah, wenn sie mit ihrem Vater sprach. Aber die Aimée, die er gekannt hatte, war nie zynisch oder sarkastisch gewesen. Sie hatte lachen können, war übermütig gewesen, manchmal zu übermütig, aber sie war immer liebenswert gewesen. Und ehrlich.

Hunter verspürte einen Anflug von Trauer um das Mädchen, das sie einmal gewesen war. Und ein Schuldgefühl. Denn er wusste, dass auch er dafür verantwortlich war, dass sie anders geworden war. Aber vielleicht sollte er sich nicht schuldig fühlen. Schließlich hatte er ihr damals von Anfang an gesagt, dass er ihr nichts bieten konnte und es für sie kein Happy End geben würde. Aber auch das änderte nichts daran, dass er ihr wehgetan hatte. Dass sie ein Kind von ihm bekommen hatte.

Hunter holte aus und warf den Stein in den Bayou. Er landete im ruhig daliegenden Wasser, und die Wellen breiteten sich kreisförmig um die Stelle aus, an der er versunken war.

Er war verantwortlich. Er hatte Verantwortung. Ihr gegenüber. Ihrem Sohn gegenüber.

Hunter drehte sich um und ging zu seinem Mietwagen zurück. Ob es ihm gefiel oder nicht, er war Vater. Oliver war sein Sohn. Er zweifelte nicht an Aimées Wort. Sie würde nicht lügen.

Und jetzt, da er wusste, dass er einen Sohn hatte, konnte er Aimée nicht einfach den Rücken kehren. Das war nicht seine Art. Er würde ihr finanzielle Hilfe anbieten. Er würde darauf bestehen, dass sie sie annahm. Das war er ihr schuldig.

Hunter schloss die Wagentür auf und stieg ein. Aimée würde sich nicht freuen, ihn zu sehen. Aber er würde trotzdem hinfahren. Es war das Mindeste – und das Beste –, was er tun konnte.

2. KAPITEL

Aimée war allein im Laden, als Hunter eintrat. Sie stand hinter dem Tresen und zählte das Geld in der Kasse. Sie hörte ihn nicht, und er blieb in der Tür stehen, um sie in Ruhe betrachten zu können.

Sie trug ein weißes T-Shirt und abgeschnittene Bluejeans. So hatte sie sich auch in Kalifornien angezogen, und was die anderen trugen, hatte sie nie interessiert. Diese Unabhängigkeit hatte er an ihr bewundert – und er hatte immer gefunden, dass sie in T-Shirt und Jeans sensationell aussah. Eine Frau, die wusste, wie gut sie aussah, und sich entsprechend kleidete, war ungemein sexy.

Sie hielt den Kopf gesenkt, und das glatte Haar fiel ihr über die Schulter und vors Gesicht, wie ein dunkler, seidiger Vorhang. Sie hob die Hand und schob die Strähnen hinters Ohr. Wie oft hatte er diese Haare über seine Finger gleiten lassen.

Hunter trat vor. „Aimée?“

Die Münzen fielen ihr aus der Hand und landeten klappernd in der Kasse. Sie sah hoch, und er las in ihren Augen Überraschung und Wachsamkeit, aber auch einen Anflug von Trauer.

Sie legte die Hände auf die Kasse. „Ich dachten, wir hätten uns Lebewohl gesagt.“

Es sollte hart klingen, aber es klang sanft. Unglaublich sanft. Er ging auf sie zu. „Ich konnte nicht wegfahren. Nicht so, nicht bevor …“ Er räusperte sich. „Ich möchte dir helfen. Finanziell. Für Oliver.“

Sie schloss die Kasse und fuhr herum. „Wir kommen auch so zurecht, danke.“

Er stand jetzt vor dem Tresen. „Wenigstens ein Sparbuch, damit er später aufs College gehen kann.“

Sie schüttelte den Kopf, und das dunkle Haar fiel ihr um die Schultern. „Nein.“

Hunter bemühte sich, nicht verärgert zu reagieren, sondern die Sache aus Aimées Sicht zu sehen. „Ich verstehe deine Befürchtung. Ich hatte auch mal … eine Familie. Und natürlich will ich Oliver in keiner Weise schaden. Er braucht ja nicht zu erfahren, woher das Geld kommt. Wir können …“

„Nein.“ Aimée kam hinter dem Tresen hervor und ging zum Lichtschalter. Sie legte die Hand darauf und sah Hunter an. „Ich schließe jetzt.“

Hunter zog die Augenbrauen zusammen. „Warum bist du so halsstarrig?“

„Ich finde nicht, dass ich halsstarrig bin. Es macht keinen Sinn, etwas anzunehmen, das wir nicht brauchen. Uns fehlt es an nichts. Und jetzt muss ich wirklich nach meiner Gumbo-Suppe sehen.“

Sie lächelte, aber Hunter ließ sich nicht täuschen. Ihr Lächeln war gezwungen, und plötzlich hatte er das Gefühl, dass sie Angst hatte.

Er sah sich im Laden um, der alles von Angelzubehör bis zu selbst gemachten Bonbons, Getränken und Snacks enthielt. Lebten sie allein von dem, was der Laden abwarf?

Das Haus war schlicht, aber solide. Mit seinen Wänden aus Zypressenholz, dem spitzen Dach und der Veranda, die rund ums Haus lief, sah es aus, als könnte es jedem Unwetter trotzen.

Er dachte an ihren Vater, an das zerfurchte Gesicht, dem ein Leben voll harter Arbeit anzusehen war. Ihr Vater war ein Mann, der für seine Familie gesorgt hatte. Das bewunderte Hunter. Er respektierte Menschen, die von kaum mehr als dem leben konnten, was die Natur ihnen lieferte.

Aber wenn Oliver nun mehr wollte?

Aimée entging sein kritischer Rundblick nicht. „Uns geht es gut, Hunter. Du brauchst dich nicht verantwortlich oder schuldig zu fühlen.“

„Aber ich bin verantwortlich.“

Sie seufzte, und es traf ihn ins Herz. Rasch ging er zu ihr. „Ich kann es mir leisten, Aimée. Ich möchte es.“

Sie hob das Kinn. „Ich will dein Geld nicht. Ich will kein Almosen.“

Er hielt sie am Arm fest, als sie sich abwenden wollte. „Was willst du dann?“

Einen Moment lang erwiderte sie gar nichts. „Nichts“, sagte sie schließlich. „Ich will nur, dass du mich – uns – in Ruhe lässt.“

Die Worte trafen ihn wie ein Stich, und er klammerte sich an die Vernunft, die ihm so lange gute Dienste geleistet hatte. „Du lässt dich von deinen Gefühlen leiten. Denk doch nach, Aimée. Vielleicht möchte Oliver eines Tages in Harvard studieren. Oder in Juillard. Oder am Cal Tech. Wer weiß? Das Geld würde es ihm ermöglichen, seine Träume zu verwirklichen.“ Er senkte die Stimme. „Du hattest auch mal Träume, Aimée. Erinnerst du dich?“

Sie riss sich los. „Ich werden einen Weg finden. Allein. Vielleicht will er ja auch lieber hierbleiben und so leben, wie wir Cajuns es seit Generationen tun.“

„Du wolltest das auch nicht.“

„Es war falsch von mir, von hier fortzugehen.“ Sie funkelte ihn an. „Und über mich reden wir nicht.“

„Nein?“ Er stellte sich vor sie, bis sie nur noch ihn ansehen konnte. „Ich finde nicht, dass es falsch von dir war. Du warst mehr als gut. Deine Fotos waren etwas Besonderes. Du hattest echtes Talent.“

Er gab der Versuchung nach, streckte die Hand aus und berührte ihre gerötete Wange. Ihr Haut war warm und unglaublich weich. Er dachte an die Zeit, in der er sie hatte berühren dürfen, wann immer er es gewollt hatte. Dann verdrängte er die Erinnerung wieder, zog seine Hand aber nicht zurück. „Was ist aus deinen Träumen geworden, Aimée? Fotografierst du noch?“

„Ich bin nur ein Mädchen aus den Sümpfen“, flüsterte sie. „So haben die Kritiker mich doch genannt, erinnerst du dich?“

Er ließ ihr Haar durch die Finger gleiten. „Du bist eine begabte Künstlerin.“

Sie wich seinem Blick aus und biss sich auf die Lippe.

Ihre Selbstzweifel ärgerten ihn, aber es stand ihm nicht zu, Aimée zu trösten oder ihr Mut zu machen. Er war nur aus einem Grund hier, und dieser Grund war Oliver. Er ließ die Hand sinken. „Ich will helfen“, sagte er. „Denk an Oliver. Gib ihm diese Chance.“

„Denk an Oliver?“, wiederholte sie aufgebracht. Ihre Augen blitzten zornig. „Was glaubst du denn, was ich Tag und Nacht tue?“ Sie stieß ihn von sich. „Wie kannst du es wagen, hier hereinzuschneien und mir zu sagen, wie ich mich um meinen Sohn kümmern soll? Was fällt dir ein, mir zu erklären, was mein Sohn braucht oder nicht braucht?“

Hunter schüttelte den Kopf. „Aimée, ich wollte dir nicht unterstellen, dass du keine gute Mutter bist.“

„Nein? Was tust du denn? Er bedeutet dir nichts, Hunter. Nichts.“ Abwehrend hob sie die Hände. „Aber mir bedeutet er alles. Ich liebe ihn so sehr, dass ich …“

Sie schloss die Augen. „Ich will nicht, dass ihm wehgetan wird. Und wenn ich dein Geld nehme, wird er eines Tages von dir erfahren. Eines Tages wird er erfahren, dass du ihn nicht wolltest.“

Ihre Worte trafen ihn wie ein Faustschlag. Er war es nicht gewöhnt, so sehr aus der Fassung gebracht zu werden. Gefühle waren etwas, das er sich nie gestattete. Aber jetzt war er zutiefst erschüttert. „Ich kann nicht einfach wieder wegfahren. Ich werde es auch nicht tun.“

„Warum nicht?“, fragte sie erregt und riss die Augen auf. „Gestern wusstest du noch nicht einmal, dass es Oliver gibt, und es ging dir gut. Es ging ihm gut. Was ist denn jetzt anders? Fahr nach Kalifornien zurück. Vergiss heute, vergiss uns.“

„Das kann ich nicht“, erwiderte er. „Jetzt, da ich es weiß, ist alles anders.“

Sie starrte durchs Fenster in die Abenddämmerung. Als sie sich schließlich zu ihm umdrehte, glitzerten Tränen in ihren Augen. „Ich verstehe es nicht“, flüsterte sie und griff nach seinen Händen. „Warum tust du das, Hunter? Warum kannst du nicht einfach alles so lassen, wie es ist?“

Er legte die Finger um ihre, und die Berührung war viel zu intim für die Fremdheit, die zwischen ihnen herrschte. Trotzdem ließ er sie nicht wieder los.

Er sah auf ihre Hände hinab, dann in ihr Gesicht. „Ich verstehe es selbst nicht ganz“, gestand er leise. „Aber ich kann nicht einfach wegfahren. Er ist mein Sohn. Ich kann ihn nicht lieben, aber ich kann ihn auch nicht einfach im Stich lassen.“

Aimée stieß einen halb verzweifelten, halb verärgerten Laut aus, bevor sie seine Hände aus seinen zog und herumfuhr. „Wie kannst du jemanden im Stich lassen, zu dem du nie gehört hast?“

„Das war nicht meine Entscheidung, Aimée. Es war deine.“

Sie antwortete nicht. Er wartete eine Weile, dann murmelte er etwas Unverständliches, ging zur Tür und riss sie auf.

„Lebewohl, Hunter“, sagte sie.

„Wie kommst du darauf, dass dies ein Abschied ist?“, erwiderte er scheinbar kühl und ungerührt, bevor er hinausging und die Tür vorsichtig hinter sich schloss. Als er die Veranda verließ, sah er, dass Aimées Vater ihn erwartete. Der alte Mann saß neben dem Mietwagen, direkt vor der Fahrertür. Ruhig saß er da, im Licht der untergehenden Sonne, die großen Hände auf den Lehnen des Rollstuhls. Hunter stellte erleichtert fest, dass er seine Schrotflinte nicht dabeihatte.

Hunter ging auf ihn zu. Vor dreieinhalb Jahren hatte Aimée ihren Vater als vital und fit beschrieben, als einen Mann, der seinen Lebensunterhalt mit Jagen, Angeln und Shrimps-Fang bestritt. Sie hatte ihn als knorrig und starrsinnig beschrieben, als Menschen, der sich nur schwer an Neues gewöhnte.

Doch der Mann, den Hunter jetzt vor sich sah, war ein anderer als der, den Aimée damals beschrieben hatte. Sein rechtes Augenlid hing ein wenig herab, und als Arzt vermutete Hunter sofort, dass er eine Gehirnblutung gehabt hatte. Er fragte sich, wie lange es her war.

Roubin starrte Hunter entgegen, und Hunter musste wieder an den Stolz denken, der die Menschen dieser Gegend auszeichnete. „Sie und ich“, sagte Roubin, „wir haben noch etwas zu erledigen.“

„Sieht so aus“, murmelte Hunter und blieb so weit entfernt vor dem Rollstuhl stehen, dass er alte Mann den Kopf nicht in den Nacken zu legen brauchte, um ihn anzusehen.

„Meine Aimée ist ein hartnäckiges Mädchen.“

„Das hat sie von Ihnen, nehme ich an.“

Roubin lachte leise. „Wir Cajuns hätten es nicht so weit gebracht, wenn wir nicht so hartnäckig wären.“ Dann schüttelte er den Kopf und hob einen Finger. „Aber Sie, mon ami, können es sich in dieser Sache nicht so leicht machen. Non.“

„Nein, das kann ich nicht“, stimmte Hunter zu.

„Sind Sie bereit, diese Sache in Ordnung zu bringen?“

„So gut ich kann. Aber es ist kompliziert.“

Roubin zog die Augenbrauen hoch und lächelte spöttisch. „So kompliziert nun auch wieder nicht, finde ich. Sie haben einen Sohn.“

„Ich liebe dich, Daddy“, hörte Hunter die Stimme aus der Vergangenheit. Er atmete tief durch. „Sieht so aus.“

„Ich habe gehört, was Aimée dort drinnen zu Ihnen gesagt hat.“ Roubin schüttelte erneut den Kopf. „Manchmal ist meine Aimée nicht nur zu trotzig, sondern auch zu unvernünftig.“ Der alte Mann starrte zum Himmel hinauf, als über ihm ein Vogel zwitscherte, dann sah er Hunter nachdenklich an. „Aber ich finde auch, dass Sie ihr sehr weh getan haben.“

Hunter dachte wieder daran, wie sehr Aimée sich seit damals verändert hatte. Und er wusste, dass er für diese Veränderung mitverantwortlich war. Plötzlich bereute er, was er getan hatte, und fühlte sich schuldig. „Ich habe es nicht absichtlich getan.“

„Natürlich nicht.“

„Hören Sie …“ Hunter seufzte. „Ich gebe nicht auf. Ich will etwas tun. Aimée will meine Hilfe nicht, also werde ich mir etwas einfallen lassen müssen.“

Roubin überlegte eine Weile, dann schlug er mit der Hand auf die Lehne des Rollstuhls. „Hinter dem Laden ist ein Zimmer. Das vermiete ich manchmal an Jäger. Es ist sauber und hat ein festes Bett. Ich werde es Ihnen vermieten, bis diese Sache erledigt ist. Fünfzig Dollar pro Woche, Mahlzeiten eingeschlossen.“

Hunter hörte, wie die Ladentür aufging, und drehte sich um. Aimée stand auf der Veranda, die Wangen vor Zorn gerötet. Zweifellos hatte sie das Angebot ihres Vaters gehört und erwartete, dass Hunter es ablehnte.

Hunter sah wieder Roubin an. Er würde mit seinen Kollegen reden müssen. Sie würden seine Patienten übernehmen müssen. Termine mussten abgesagt und verschoben werden. Einiges war nicht zu verschieben. Es würde verdammt schwierig werden.

Hunter nickte. „Danke. Ja, ich würde das Zimmer sehr gern nehmen. Ich hole meine Sachen aus New Orleans und bin heute Abend zurück.“

„Bon.“ Roubin nickte und fuhr in seinem Rollstuhl zur Seite, damit Hunter die Wagentür öffnen konnte.

Aimée beobachtete, wie Hunter einstieg und davonfuhr. Als der Wagen außer Sicht war, ging sie zu ihrem Vater. „Wie konntest du nur?“, fragte sie wütend. „Du weißt, wie ich darüber denke.“

Er warf ihr einen ernsten Blick zu. „Wie könnte ich das wissen, chère?“

„Ich habe dich nicht angelogen, Papa. Nicht wirklich.“

„Nicht wirklich?“ Er lachte bitter. „Es gibt Wahrheit, und es gibt Unwahrheit. Schwarz oder weiß. Also, chère, was von beidem hast du mir erzählt, als du damals nach Hause kamst?“

Sie und ihr Vater waren nur selten einer Meinung. Warum sollte das jetzt anders sein? „Es ist nicht immer so einfach, Papa.“

„So?“ Er drehte den Rollstuhl, bis er ihr in die Augen sehen konnte. „Sag’s mir. Wieso ist das hier nicht entweder schwarz oder weiß?“

Sie holte tief Luft. Sie wusste nicht, was mehr wehtat, sich der Vergangenheit zu stellen oder dem Zorn ihres Vaters. Sie zögerte das Unausweichliche noch einen Moment hinaus. „Soll ich dich nach oben schieben?“

Er nickte, und sie schob ihn langsam auf die Veranda. „Ist Oliver noch bei seinen Cousins?“, fragte sie.

„Oui.“

„Gut.“ Aimée lehnte sich gegen eine der schlichten Holzsäulen und starrte in die Dämmerung. „Hunter war wirklich verheiratet. Er hatte ein Kind. Einen Jungen. Sein Sohn und seine Frau sind gestorben.“

„Eine Tragödie.“

„Ja.“ Aimée kehrte ihrem Vater den Rücken zu, damit er ihre Tränen nicht sehen konnte. Sie legte den Kopf gegen die Säule. „Ich habe dir damals gesagt, dass er verheiratet war, weil er es im Herzen noch immer war, Papa. Er hat seine Frau noch immer geliebt. Er konnte sie nicht loslassen. Und seinen Sohn auch nicht.“

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen brannten. „Er wollte mich nicht. Er hat mich nicht geliebt. Aber er war ehrlich und hat mir nichts vorgemacht.“

Erst jetzt sah sie ihren Vater an. „Aber ich wollte nicht glauben, was er mir sagte. Ich habe mir eingeredet, dass er sich schon noch in mich verlieben würde. Irgendwann. Dann wurde ich schwanger.“

Sie lachte, und selbst in ihren Ohren klang es gequält und traurig. „Ich war sicher, dass alles gut werden würde. Ich dachte, ich würde ihn dazu bringen, mich zu lieben. Ich dachte, wenn er erst von dem Baby wüsste, würde alles anders werden. Ich wusste ja, wie sehr er seinen ersten Sohn vergöttert hatte.“

Ihr Vater zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Aber du hast es ihm nicht erzählt?“

Sie legte die Hände um die Säule. „Nein.“

„Bon Dieu! Warum nicht?“

Aimée wischte sich die Tränen von den Wangen. Wie konnte sie es ihrem Vater erklären? Er hatte ihr verboten, La Fin zu verlassen, hatte gesagt, dass sie zu ihrer Familie gehörte. Sie war trotzdem gegangen, aber vorher hatte er ihr noch erklärt, dass sie für ihn erst dann wieder leben würde, wenn sie zu ihm und ihren Leuten zurückkehrte. Aimée hatte ihm nicht geglaubt.

Und sie hatte auch Hunter nicht geglaubt, als er ihr sagte, dass er sie nie lieben würde.

Sie war so unglaublich naiv gewesen.

Aimée sah ihren Vater an. „Ich habe es ihm nicht erzählt, weil ich langsam begriff, dass er die Wahrheit sagte. Dass er mich wirklich nie lieben würde. Er würde das Baby nicht wollen. Und wenn ich ihm von dem Kind erzählt hätte, hätte er sich schuldig und mir verpflichtet gefühlt. Das wollte ich nicht. Das will ich noch immer nicht.“

„Das war falsch von dir, chère“, sagte ihr Vater nachdenklich. „Ein Mann sollte die Folgen seines Tuns kennen. Ein Mann sollte die Chance bekommen, sich als echter Mann zu erweisen. Für das zu sorgen, was ihm gehört. Für seine Familie.“

„Hast du ihn deshalb hierher eingeladen?“, fragte sie ungläubig. „Weil du findest, er sollte für mich und Oliver sorgen?“ Sie konnte es nicht glauben. Ihr Vater war immer so stolz auf seine Unabhängigkeit gewesen.

„Es gibt nur einen Weg, für seine Familie zu sorgen.“

Er glaubt, Hunter wird mich heiraten, dachte Aimée verblüfft. Ihr Vater fand, dass Hunter dazu verpflichtet war. Und wenn Hunter ein Mann war, ein Ehrenmann, dann würde er das auch so sehen und das einzig Richtige tun. Er hatte Hunter das Zimmer angeboten, um ihm den richtigen Weg zu zeigen.

„Oh Papa … du verstehst nicht. Solche Dinge geschehen heutzutage dauernd. Viele Frauen ziehen ihre Kinder allein auf. Außerdem würde ich Hunters Heiratsantrag gar nicht annehmen. Ich liebe ihn nicht mehr. Ich will keinen Mann, der mich nur heiratet, weil er sich dazu verpflichtet fühlt.“

Roubin runzelte die Stirn. „Ich bin altmodisch, was? Ich gehöre gar nicht in diese Zeit, was? Vielleicht solltest du mich in den Sumpf werfen, damit die Alligatoren um mich kämpfen.“

Aimée ging zu ihm und beugte sich hinab, um seine Hände in ihre zu nehmen. „Seine Frau und sein Sohn sind gestorben. Auf schreckliche Weise. Er wird nie wieder heiraten. Er wird nie wieder ein Kind haben. Ganz bestimmt nicht, Papa.“

„Du irrst dich, chère.“ Roubin drückte lächelnd ihre Hände. „Er hat schon ein Kind. Einen hübschen, kräftigen Jungen.“

Wie schon immer, so machte seine einfache Sicht der Dinge sie auch diesmal wütend. „Und was ist mit Oliver?“, fragte sie scharf. „Das hier könnte ihm wehtun. Es wird ihm wehtun.“

„Er braucht einen Vater.“

„Er hat dich. Und unsere Familie. Alle lieben ihn. Du brauchst ihn nur anzusehen, um zu wissen, wie glücklich er ist.“

„Er ist noch jung.“

Aimée seufzte verärgert. „Schön. Wir werden uns nicht einig. Du hast Hunter das Zimmer vermietet, und er wird kommen und bleiben. Aber ich werde meine Meinung nicht ändern, Papa.“

Sie wollte sich aufrichten, aber Roubin hielt ihre Hände fest. „Ich bin kein Vorbild für Oliver“, sagte er traurig. „Vielleicht war ich es mal, aber jetzt bin ich es nicht mehr. Und unsere Angehörigen? Die kommen und gehen. Oliver braucht einen Mann um sich, jeden Tag. Einen Mann, auf den er sich verlassen kann. Einen Mann, der ihm das beibringen kann, was er wissen muss.“

Sie legte die Finger um seine. Die Haut ihres Vaters war hart und schwielig von den arbeitsreichen Jahren, die er hinter sich hatte. „Er kann sich auf dich verlassen, Papa. Und du kannst ihm alles beibringen, was einen Mann ausmacht.“

Roubin schüttelte verbittert den Kopf. „Sieh mich an. Die Frauen müssen sich um mich kümmern. Ich verkaufe Ramsch an Touristen. Früher, da wäre ich mit den Männern dort draußen gewesen.“ Er zeigte zum Bayou hinüber. „Früher habe ich für unser Essen gejagt und gefischt.“

Aimée hob seine Hand an ihre Wange. Sie konnte es nicht ertragen, wie verbittert und unglücklich er war. „Dr. Landry meint, du wirst wieder gehen können. Er sagt, wenn du dir Mühe gibst, könntest du …“

„Am Stock gehen“, unterbrach Roubin sie mit gerötetem Gesicht. „Im besten Fall. Nicht gut genug, um zu jagen oder zu angeln. Nicht gut genug, um so für meine Familie zu sorgen, wie ein Mann es sollte.“

Sie hatten schon oft darüber gestritten. Obwohl sein Arzt es ihm empfohlen hatte und sie ihn immer wieder dazu drängte, weigerte er sich strikt, die Übungen zu machen, die ihn wieder auf die Beine bringen würden. Er versuchte es nicht einmal.

„Aber du wärst wieder etwas beweglicher“, sagte sie. „Wäre das nicht gut? Sieh doch mal, was du schon für Fortschritte gemacht hast, seit …“

„Es wäre besser gewesen, wenn ich diese Krankheit nicht überlebt hätte.“

„Sag so etwas nie wieder!“ Aimée brach in Tränen aus. „Ich liebe dich. Oliver liebt dich. Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte. Allein hätte ich es vielleicht gar nicht durchgestanden. Du bist stark, Papa, du hältst uns alle zusammen, so wie immer. Ohne dich …“

Roubin ließ ihre Hand los und strich über ihre Wange. „Nein. Du hast mich nie gebraucht, chère. Selbst als du ein petit bébé warst, hast du auf deinen eigenen zwei Beinen gestanden.“

„Nein, Papa, ich …“

Er schüttelte den Kopf und küsste sie auf die Stirn. „Oliver wird bald hier sein und Hunger haben. Komm. Deine Gumbo-Suppe ist bestimmt schon fertig.“

3. KAPITEL

Es war schon spät, als Hunter wieder in La Fin eintraf. Er hatte erst aus dem Hotel auschecken und in seiner Klinik anrufen müssen. Seine Assistentin war überrascht gewesen. Sie hatte erwartet, dass er am nächsten Morgen aus New Orleans zurückkehren würde. Er hatte ihr nicht erklärt, warum er noch bleiben wollte, sondern sie nur gebeten, alles Notwendige zu erledigen.

Sie musste glauben, dass er den Verstand verloren hatte. Und wenn er ehrlich war, war er selbst nicht ganz sicher, ob sie damit nicht vielleicht recht hatte.

Hunter stieg aus dem Wagen, die sorgfältig verpackte Spieluhr in der Hand. Es war still, nur die Gerüche und Geräusche des Bayou erfüllten die schwüle Abendluft. Er holte seinen Kleidersack aus dem Kofferraum und warf ihn sich über die Schulter.

Etwa fünfzehn Meter vom Laden entfernt stand ein zweites Haus. Dort wohnte Aimée. Dort war sie aufgewachsen, dort lebte sie mit ihrem Vater und ihrem Sohn.

Hunter ging darauf zu. Vor den Fenstern hingen Kästen mit bunten Blumen, auf der Veranda standen eine Hollywoodschaukel und zwei Schaukelstühle, und neben dem Haus erstreckte sich ein großer Gemüsegarten.

Er musste lächeln. Aimée hatte immer einen grünen Daumen gehabt. Sie war damals in sein Haus gezogen und hatte sofort jeden Tisch und jede Ecke mit Pflanzen vollgestellt. Sie hatte sich um seinen Garten gekümmert, und selbst der Gärtner hatte einiges von ihr gelernt.

Nachdem sie gegangen war, waren die Pflanzen vertrocknet. Und einen Monat später waren die Tische und Ecken wieder leer. Statt des lebendigen Grüns hatte wieder ein steriles Weiß vorgeherrscht.

Hunter schüttelte verärgert den Kopf. Er hatte nicht erwartet, dass das Wiedersehen mit Aimée ihn so nostalgisch stimmen würde, dass es ihn so verwirren würde. Und schon gar nicht, dass es in ihm Verantwortungsgefühl und Beschützerinstinkte wecken würde.

Aber er hatte auch nicht erwartet, plötzlich einen Sohn zu haben.

Im Cottage brannten einige Lichter, und Hunter fragte sich, ob Aimée aufgeblieben war, um auf ihn zu warten. Er blieb vor der Treppe stehen und starrte zur Tür hinauf. Dann atmete er entschlossen durch und ging die Stufen hinauf.

„Du runzelst die Stirn.“

Erstaunt blieb Hunter stehen und sah dorthin, wo die Veranda im Dunkeln lag. Aimée saß auf der Hollywoodschaukel, mit angezogenen Knien, einen Kaffeebecher in den Händen. Er konnte ihre Miene nicht erkennen, aber er spürte ihren Zorn. Und ihre Trauer.

„Wirklich?“, fragte er.

„Ja.“ Sie hob den Becher an die Lippen und trank. „Wenn du hier so unglücklich bist, warum fährst du nicht einfach wieder?“

„Das kann ich nicht. Lass uns nicht wieder davon anfangen, ja?“ Er ging zu ihr. „Es tut mir leid, Aimée.“

Sie legte den Kopf zurück und sah ihm in die Augen. „Wirklich?“

„Ja. Ich weiß, du willst mich nicht hier haben. Aber ich muss es tun.“

„Das sagtest du bereits.“ Sie stellte den Becher ab und stand auf. „Ich zeige dir dein Zimmer.“

Sie wollte an ihm vorbeigehen, aber er hielt sie am Arm fest. Sie sah ihn verärgert an, und er nahm den Duft ihres Parfüms wahr. Es war nur ein Hauch, doch er erregte seine Sinne so sehr wie an dem Abend, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

Der Abend, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Es war einer jener Zufälle gewesen. Zwei Menschen, die sich unter normalen Umständen nie begegnet wären, hatten sich kennengelernt. Er war nur deshalb zu der Ausstellung gegangen, weil Ginny den Künstler bewundert hatte. Er hatte nur mal kurz vorbeischauen wollen. Dann hatte er einen redseligen Kollegen getroffen.

Während er sich mit dem anderen Arzt unterhielt, sah er plötzlich Aimée. Sie lachte und verzauberte Jet-Set-Typen aus der Kunstszene, die sich angeblich von nichts und niemandem verzaubern ließen. Sie hatte etwas Ungewöhnliches an sich, etwas Besonderes. Etwas atemberaubend Lebendiges.

In einem Raum voller Menschen, die sich für einzigartig hielten, war sie die einzige, die es wirklich war.

Er beobachtete sie, fühlte sich von ihr angezogen. Er hatte nicht vorgehabt, irgendjemanden kennenzulernen. Außer Ginny interessierte ihn keine Frau.

Doch dann drehte Aimée sich zu ihm um, und ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte. Er lächelte zurück.

Und es war um ihn geschehen.

„Hunter?“ Aimée versuchte, ihren Arm aus seinem Griff zu befreien.

Blinzelnd kehrte Hunter in die Gegenwart zurück. Er ließ die Hand an ihrem Arm hinabgleiten und umfasste ihre Handgelenk. Er konnte ihren Pulsschlag fühlen.

„Erinnerst du dich an den Abend, an dem wir uns kennengelernt haben?“, fragte er mit plötzlich heiserer Stimme.

Aimée zögerte, dann nickte sie. „Natürlich. Warum?“

„Ich habe gerade daran gedacht. An dich und mich und … das Schicksal.“ Er strich über ihr Handgelenk. „Vielleicht hätten wir uns nie begegnen dürfen.“

Sie schwieg lange. Schließlich räusperte sie sich. „Das darf ich nicht sagen, Hunter. Das darf ich nicht einmal denken. Wie könnte ich auch? Wenn wir uns nicht begegnet wären, hätte ich jetzt Oliver nicht. Und ich liebe ihn über alles.“

Aimée machte sich los und ging über den Hof zum Laden. Hunter sah ihr nach.

„Ich liebe dich, Daddy.“

„Ich liebe dich auch, Pete. Über alles.“

Hunter wurden die Knie weich, und er hielt sich an einer Säule fest.

Pete lachte. „Mehr als Schokoladenmilch?“

„Aber sicher, Kumpel. Sogar mehr als Pizza.“

„Warum darf ich dann nicht auch mit? Ich werde artig sein, Daddy. Ich verspreche es.“

„Hunter? Ist alles in Ordnung?“

Aimée stand vor dem Haus und sah fragend zu ihm hinauf. Für einen Moment sah Hunter nicht sie, sondern Pete. Hunter atmete tief durch, so tief, dass es fast weh tat. Dann nickte er und lächelte gequält. „Alles in Ordnung.“

Er eilte die Stufen hinab und ging zu ihr. Schweigend überquerten sie den Hof. Aimée führte ihn zu einer kleinen Veranda an der Rückfront des Ladens. Sie gingen hinauf, und Aimée schloss die Tür auf, bevor sie ihm den Schlüssel gab.

Das Zimmer, das Roubin ihm vermietet hatte, war schlicht und sparsam eingerichtet, aber einladend. Es enthielt ein Doppelbett, eine kleine Kommode, einen alten Ohrensessel, einen Tisch und eine Lampe. Eine Tür führte in ein kleines Badezimmer. Wie der Laden, so war auch dieses Zimmer nicht klimatisiert, und die Fenster standen weit auf, um die kühle Abendluft hereinzulassen. An der Decke drehte sich ein Ventilator. Auf dem ungemachten Bett lag frische Bettwäsche.

„Hast du das gemacht?“, fragte Hunter und ging zu dem Schwarz-Weiß-Foto, das neben dem Sessel an der Wand hing.

„Ja.“

Er beugte sich vor. Das Foto zeigte einen Bayou, über dem gespenstisch der Nebel schwebte. Der Anblick war unheimlich. Und unvergesslich. „Es ist wunderschön.“

„Danke“, erwiderte sie leise und warf einen Blick auf das Foto. „Das habe ich vor langer Zeit gemacht.“

Hunter zog die Augenbrauen zusammen und musterte sie. Wusste sie, wie sehnsüchtig sie in diesem Moment aussah? War ihr klar, wie viel ihre Augen ihm verrieten? Vermutlich nicht. Denn sonst würde sie sich mehr bemühen, ihre Gefühle vor ihm zu verstecken. Diese Aimée war nicht so offen wie die, die er damals gekannt hatte.

Aimée sah ihn an, und der sehnsüchtige Ausdruck verschwand. „Wir frühstücken um acht Uhr morgens, essen mittags und um fünf Uhr nachmittags. Wenn du eine Mahlzeit verpasst, musst du dich selbst versorgen.“

Hunter stellte die Spieluhr auf den Tisch und legte den Kleiderbeutel aufs Bett. „In Ordnung.“

„Wenn du etwas brauchst, frag einfach.“

„Das werde ich.“

„Gut.“ Sie ging zur Tür und blieb dort stehen. „Wir sehen uns morgen früh.“

„Bis dann.“

Aimée schob die Fliegentür auf. Dann drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Gibt es keine Möglichkeit, dir das hier auszureden?“

„Nein.“

„Was versprichst du dir davon?“ Sie verschränkte die Arme. „Wir haben doch schon festgestellt, dass wir uns nicht einigen werden.“

Er packte die Spieluhr aus, betrachtete sie und dachte daran, was die Frau im Antiquitäten-Geschäft zu ihm gesagt hatte. Dass man manchmal seinem Herzen folgen musste. Er lächelte. „Ich werde dich dazu bringen, die Dinge so zu sehen wie ich.“

„Und ich habe dir bereits gesagt, dass du das nicht schaffen wirst“, entgegnete sie.

„Dein Vater hat recht. Du bist starrköpfig. Ich kann kaum glauben, dass ich das damals nicht bemerkt habe.“

„Hör auf damit, Powell“, sagte sie streng, aber sie konnte ein Lächeln nicht ganz unterdrücken. Es umspielte ihren Mund, ließ ihre Augen aufleuchten, und er musste wieder an das Mädchen denken, das sie einmal gewesen war.

Am liebsten hätte er sie jetzt geküsst, bis sie beide alles um sich herum vergaßen. Bis sie sich so ineinander verloren, wie sie es früher getan hatten.

Aimée entging sein Blick nicht. Sie hielt den Atem an. Es war so lange her, dass ein Mann sie berührt hatte. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie es war, von einem Mann so angesehen zu werden. Wie eine Frau, eine Frau mit Sehnsüchten.

Aimée tastete nach dem Türgriff und hielt sich daran fest. Wann war sie zuletzt etwas anderes als Mutter oder Tochter gewesen? Wann hatte sie sich das letzte Mal eingestanden, dass auch sie Bedürfnisse hatte? Wann hatte sie sich das letzte Mal gestattet, eine Frau zu sein?

Sie kannte die Antwort auf alle drei Fragen. Es war dreieinhalb Jahre her.

Sie starrte auf Hunters Mund und ließ den Blick an seinem Körper hinabwandern. Sie wusste noch, wie er nackt aussah. Schlank und muskulös und ganz Mann. Sie wusste, wie seine Haut sich anfühlte. Fest und glatt und heiß.

Verlangen durchzuckte sie.

„Aimée“, flüsterte er und machte einen Schritt auf sie zu.

Verwirrt hob sie den Blick. Was fiel ihr ein? Sie liebte ihn nicht mehr. Wirklich nicht.

Aber Liebe hatte mit dem, was sie jetzt fühlte, nichts zu tun. Ihr Körper hatte immer so auf ihn reagiert. Gleich vom ersten Abend an hatte ein Blick von ihm, ein Wort oder ein Lächeln ausgereicht, und sie war ihm in die Arme und in sein Bett gefallen.

Sie hob das Kinn. Das war lange her. Ein ganzes Leben. Sie war nicht mehr so naiv. Sie war nicht mehr so leicht zu beeindrucken.

„Falls du hergekommen bist, weil du denkst, wir könnten einfach dort weitermachen, wo wir …“

„Aufgehört haben?“, unterbrach er sie kopfschüttelnd. „Auf die Idee wäre ich nie gekommen.“

„Gut. Dann hör auf damit.“

„Womit? Ich sehe dich doch nur an.“

Das reicht ja schon. Genau das ist das Problem. „Dann hör auf, daran zu denken.“

Hunter lachte und machte noch einen Schritt auf sie zu. Sie wich zurück und ärgerte sich, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen.

„Vielleicht hast du recht“, fuhr er fort. „Aber manche Gedanken … kommen einem eben.“

Er machte noch einen Schritt auf sie zu. Jetzt stand er so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem an ihrer Wange spürte. Sie kämpfte gegen das Verlangen, das immer stärker wurde.

„Ich habe nie vergessen, wie es war, dich zu berühren“, flüsterte er. „Wie es war, mit dir zu schlafen. Ich wollte es vergessen. Glaub mir, ich habe es versucht.“

Auch Aimée hatte es versucht. Immer wieder. Ohne Erfolg. Sie hielt den Atem an, als er mit den Fingerspitzen über ihre Wange strich. Sie wusste nicht, ob sie es genießen oder davor weglaufen sollte. Sie fühlte sich, als wäre sie zu neuem Leben erwacht, als hätte sich tief in ihr eine Quelle aufgetan, aus der neue Kraft strömte. Sie seufzte leise.

„Es ist schwer, nicht daran zu denken“, sagte er. „Noch viel schwerer, als ich dachte.“

Es gab nur einen Weg, ihr Verlangen zu bekämpfen, und sie nahm ihn. Sie dachte daran, dass Hunter weder sie noch ihren Sohn wirklich wollte.

„Wenn es so schwer ist, halt dich von mir fern“, fuhr sie ihn an und wich zurück. „Zwischen uns ist nichts mehr.“ Sie schüttelte den Kopf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. „Nichts.“

Hunter blieb, wo er war. „Da irrst du dich. Zwischen uns ist alles. Vergangenheit. Enttäuschung. Sex. Ich brauche dich nur anzusehen, und mir fällt alles ein, was wir miteinander geteilt haben.“

Er hat recht, dachte Aimée. Zwischen ihnen war zu viel gewesen, um es zu ignorieren. Es würde Kraft kosten, sich von ihm fernzuhalten. Aber sie würde diese Kraft aufbringen.

„Na gut“, sagte sie kühl. „Denk, was du willst, aber behalt es für dich.“

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