St. Piran's: Das Krankenhaus mit Herz - Teil 5-8 der Miniserie

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DIESER KUSS VERÄNDERT ALLES von ALISON ROBERTS

Anna träumt jede Nacht davon, den attraktiven Dr. Davenport zu küssen. Als er eines Tages unter Schock steht, verfolgt von dunklen Erinnerungen, kann Anna nicht anders: Sie gibt dem neuen Leiter der St. Piran's-Chirurgie einen Kuss – einen Kuss, der alles verändert …

EIN KLEINES LÄCHELN FÜR DAS GROSSE GLÜCK von KATE HARDY

Die schüchterne Schulschwester Flora ist überzeugt: Tom Nicholson, umschwärmter Held von Penhally Bay, ist bestimmt der Falsche für sie! Doch sie verliert ihr Herz – an den kleinen Joey, Toms elternlosen Neffen. Und wo Joey ist, ist Tom nicht fern …

EIN NEUANFANG FÜR SCHWESTER BRIANNA? von MAGGIE KINGSLEY

„Wir sind immer noch verheiratet, Brianna.“ Als ob Brianna das jemals vergessen könnte! Vor zwei Jahren hat sie ihren Ehemann in einer dunklen Stunde verlassen. Doch jetzt taucht er plötzlich im St. Piran Krankenhaus auf. Und in ihrem Leben …

LIEBESFINALE IN PENHALLY BAY von ALISON ROBERTS

Wie gebannt blickt Josh auf Megan, die in der Klinik plötzlich vor ihm steht. Die Ärztin war offenbar zufällig am Strand, als seine Mutter dort kollabierte. Ausgerechnet sie, seine große Liebe, der er einst so weh tun musste! Ist sie tatsächlich aus Afrika nach Cornwall zurückgekehrt? Und wenn ja: Hat er nun noch die Chance, alles wiedergutzumachen?


  • Erscheinungstag 20.02.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536912
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

Dieser Kuss verändert alles erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

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Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Jennifer Galka
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2011 by Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „St Piran’s: The Brooding Heart Surgeon“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 42 - 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Michaela Rabe

Umschlagsmotive: GettyImages_Vasyl Dolmatov_

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783733729387

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Wenn Blicke töten könnten …

Dr. Anna Bartlett geruhte endlich, im OP zu erscheinen, und wirkte alles andere als begeistert, dass Luke ohne sie angefangen hatte.

Natürlich hatte er ihre Nachricht erhalten, dass sie in der Notaufnahme aufgehalten wurde, weil sie bei einem schwer verletzten Unfallopfer eine Thorakotomie durchführen musste. Aber was erwartete sie? Dass er die Operation verschob, bis sie hier auftauchte?

Bestimmt nicht. Sein Patient wartete schon zu lange darauf. Außerdem hatte Luke nicht ahnen können, wie lange Dr. Bartlett mit dem Notfall beschäftigt sein würde. Deshalb hatte er das einzig Logische getan – und sich einen anderen Assistenten besorgt. Kinderherzchirurg James Alexander hatte Zeit gehabt und war gern bereit gewesen, dem zurückgekehrten leitenden Chefarzt der Abteilung zur Seite zu springen.

Luke war achtzehn Monate weg gewesen, und in der Zeit hatte James am Krankenhaus St. Piran angefangen. Er wohnte ganz in der Nähe, seine Frau Charlotte arbeitete als Oberärztin in der Kardiologie. Das war nur eine von vielen Veränderungen, die Luke bei seiner Rückkehr vorgefunden hatte … schwer vorstellbar, dass er einmal Teil dieser Welt gewesen war. Aber er hatte auf schmerzhafte Weise erfahren müssen, dass sich das Leben von einer Minute zur anderen schlagartig veränderte.

Erschüttert durch den Tod seines jüngeren Bruders hatte Luke beschlossen, als Arzt zur Armee zu gehen. Damals war ihm klar, dass nichts mehr so sein würde, wie es war, und doch war er wieder da, am selben Platz, im selben Job.

Um die Scherben seines alten Lebens aufzusammeln und zu kitten?

Wenn es ihm selbst schon merkwürdig vorkam, so war es kein Wunder, dass Anna Bartlett in ihm einen Störenfried sah. Jeder hier im Krankenhaus hatte gewusst, dass seine Stelle nur vorübergehend neu besetzt worden war, doch augenscheinlich hatte niemand damit gerechnet, dass er schon so bald aus dem Kriegsgebiet zurückkehren würde. Vielleicht hatte Anna insgeheim gedacht, er käme vielleicht gar nicht wieder?

Obendrein war es nicht das erste Mal, dass Luke ihr einen Posten wegschnappte. Vor drei Jahren, als es um die Leitung der Herzchirurgie ging, hatte man sich gegen sie und für ihn entschieden.

Oh ja, das könnte den tödlichen Blick erklären, mit dem sie ihn bedachte, als sie nun den OP betrat. Einen Schritt vom Team entfernt, das sich um den OP-Tisch versammelt hatte, blieb sie stehen. Sie trug Mundschutz und sterile Kleidung und hielt die Hände sorgsam vom Körper weg.

Anna Bartlett war schlank und für eine Frau sehr groß. Und auch wenn ihre grünen Augen ihn im Moment an harte, ungeschliffene Smaragde erinnerten, so waren es Augen, die ein Mann nicht so schnell vergaß. Das Gleiche galt für ihre Haltung. Dr. Bartlett stand vollkommen ruhig da, eine Ärztin, die sich ihrer Kompetenz bewusst und zu eiserner Disziplin fähig war.

Das hatte James vorhin im Waschraum auch zu ihm gesagt. Die Chirurgin galt als erfahren und nahezu penibel, eine Frau, die keine Kompromisse machte, wenn es um das Wohl ihrer Patienten ging. Single, und das freiwillig. Wahrscheinlich, weil kein Mann mit dem Beruf mithalten konnte, dem sie sich mit Leib und Seele verschrieben hatte.

„Sie ist gut“, hatte James hinzugefügt. „Sehr gut. Sie können sich freuen, dass sie als Ihre Assistentin dableibt. Mit dem Ruf, den sie sich hier erworben hat, könnte sie überall hingehen.“

Jetzt begrüßte James sie als Erster. „Anna! Das ging aber schnell.“ Er warf ihr einen prüfenden Blick zu und runzelte die Stirn. „Nichts mehr zu machen, hm?“

„Nein.“ Der Versuch, einen Notfallpatienten zu retten, war fehlgeschlagen. Mit einem einzigen Wort hakte Anna Bartlett das Thema ab und wandte sich dem nächsten zu. „Möchten Sie, dass ich übernehme?“

„Wenn Luke nichts dagegen hat, gern. Eigentlich hätte ich längst Visite machen müssen, und heute Nachmittag habe ich eine volle OP-Liste.“ James verschloss mit dem Elektrokauter ein Blutgefäß und blickte dann auf. „Luke? Haben Sie Anna schon kennengelernt?“

„Nein.“ Seine Antwort war genauso lakonisch wie ihre.

Er fuhr mit der langen, vertikalen Inzision in der Brust des Patienten fort und sah nicht auf, bis James sich vorbeugte, um die Blutung zu kontrollieren.

Anna stand jetzt näher am Tisch. Der Mundschutz bedeckte ihre untere Gesichtshälfte, und ihre Haare waren von der grünen Kappe verborgen. Luke sah nur diese ausdrucksvollen grünen Augen – und den vorwurfsvollen Ausdruck darin.

Okay, schon verstanden, dachte er grimmig. Gestern hätte er sie kennenlernen sollen, die Frau, die ihn anderthalb Jahre lang vertreten hatte. Aber er musste sich mit einem Wasserrohrbruch herumschlagen und hatte außerdem Probleme mit dem Stromanschluss, nachdem sein Haus so lange leer gestanden hatte. Deshalb konnte er sein Handy nicht aufladen, als der Akku den Geist aufgab.

Dr. Bartlett hatte nicht gewartet, obwohl er höchstens eine Dreiviertelstunde später kam als verabredet. Stattdessen war sie nach Hause gegangen, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen, von seiner OP-Liste für heute einmal abgesehen.

Und jetzt erdolchte sie ihn mit Blicken, obwohl sie zu spät war! Hätte er ihr den roten Teppich ausrollen sollen? Nun, für solche Mätzchen hatte er keine Zeit.

„Wenn Sie assistieren wollen, sollten Sie jetzt anfangen“, sagte er scharf. „Ich unterbreche meine Operationen nicht gern, und ich ziehe es vor, dann anzufangen, wann ich es für richtig halte.“

Betretenes Schweigen breitete sich aus, als James zurücktrat und Anna seinen Platz einnahm. Luke wandte sich an die Instrumentierschwester, die neben dem Rollwagen stand.

„Sternumsäge, bitte.“

Sie zuckte unter dem herrischen Ton zusammen, reichte ihm aber schnell das Gewünschte. Gleich darauf zerstörte das hohe Sirren der Säge die Stille im OP.

Das also war Luke Davenport.

Der Kriegsheld, von dem sie in den letzten Tagen so viel gehört hatte. Nicht genug damit, dass sie als bisherige Leiterin der Abteilung ins zweite Glied zurücktreten musste, so rieb nun jeder Salz in die Wunde, indem er ihr erzählte, wie großartig Luke war. Ein hoch talentierter Chirurg. Ein tapferer Soldat. Ganz allein hatte er seine Kameraden aus tödlicher Gefahr gerettet, nachdem sie unter Beschuss geraten waren. Hatte sie aus dem brennenden Fahrzeug gezerrt und trotz seiner komplizierten Beinfraktur Erste Hilfe geleistet, bis Verstärkung kam.

Anna zweifelte nicht daran, dass er dazu fähig war. Ein Blick in seine Augen hatte ihr gezeigt, dass Luke Davenport genauso ehrgeizig und willensstark war wie sie. Zwei feine senkrechte Falten zwischen den dunklen Brauen verstärkten noch den intensiven Ausdruck dieser unglaublich blauen Augen. Unwillkürlich hatte Anna kurz den Atem angehalten.

Dass er sie wie eine Medizinstudentin behandelte, passte ihr zwar nicht, aber es überraschte sie auch nicht. Dieser Mann hatte Dinge gesehen, die sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte.

Alle waren glücklich, dass er wieder da war. Anna hingegen hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Aber sie lächelte und tat, als wäre sie heilfroh über die Chance, einem solchen Helden assistieren zu dürfen.

Kein Wunder, dass der Kerl ein Ego von hier bis zum Mond hatte. Er hatte es gestern nicht einmal für nötig gehalten, sich persönlich vorzustellen. Sie war wenigstens so höflich gewesen und hatte ihn benachrichtigt, dass sie nicht pünktlich zur OP kommen konnte. Und wie reagierte er darauf? Mit einem Tadel, vor dem gesamten Team! Ich unterbreche meine Operationen nicht gern . Anna hörte wieder seine tiefe Stimme und die scharfen, fast feindseligen Worte. Luke Davenport war es nicht nur gewohnt, Befehle zu geben, sondern auch, dass sie ausgeführt wurden!

Anna war schon niedergeschlagen gewesen, weil sie trotz aller Anstrengungen das Leben des Notfallpatienten nicht hatte retten können. Aber jetzt sank ihre Stimmung auf den Nullpunkt. Aus früherer Erfahrung mit schwierigen Situationen wusste sie, dass es nur eins gab, um wieder aus diesem Tief zu kommen: Sie musste sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Ausschließlich auf ihre Arbeit.

Was in diesem Fall nicht schwer war. „Du meine Güte“, entfuhr es ihr, als die Rippenspreizer positioniert waren und den Grund für diese Operation freilegten. „Sehen Sie sich das an.“

Das Perikard, die Membran, die das Herz wie ein Beutel umschloss, war zu einem dicken weißen Panzer geworden. Diese Vernarbung, Folge einer Virusinfektion, hinderte das Herz daran, normal zu schlagen, und Luke würde eine Perikardektomie vornehmen, um die harte Schicht vom Herzgewebe zu entfernen. Es war ein hoch komplizierter Eingriff, den Anna schon oft gesehen, aber noch nie selbst durchgeführt hatte.

Sie hätte es vorgezogen, erst einen Bypass zu legen, um den Eingriff am ruhenden Herzen vorzunehmen. Luke hingegen ersparte dem Patienten die Risiken, die mit dem Anschluss an eine Herz-Lungen-Maschine verbunden waren. Das bedeutete jedoch, dass er das Skalpell am schlagenden Herzen führen musste.

„Ihre Untersuchungen haben das Ausmaß der Verkalkung gezeigt.“ Luke klang erstaunt nach ihrem überraschten Ausruf. „Es ist ein Wunder, dass das Herz überhaupt funktioniert.“

„Vor drei Wochen ist er bei der Arbeit zusammengebrochen. Vorher gab es nicht die geringsten Anzeichen, wie ernst sein Zustand ist.“

Anna beobachtete, wie Luke das Skalpell ansetzte. Das scharfe Instrument verschwand fast in seiner großen Hand, aber er kontrollierte es meisterhaft, übte gerade so viel Druck aus, dass er das harte weiße Gewebe durchschnitt, ohne dem darunter pochenden Herzen zu nahe zu kommen.

Der undefinierbare Laut, den er ausstieß, konnte ein Ausdruck der Zufriedenheit sein beim Anblick des gesunden rosigen Gewebes, das nun sichtbar wurde. Aber Anna wurde das dumme Gefühl nicht los, dass Kritik dahintersteckte. Eine kaum verhohlene Kritik daran, dass es so lange gedauert hatte, den Patienten zu diagnostizieren und lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen.

Das fand sie unfair. Colin Herbert war seit Jahren nicht zum Arzt gegangen und hatte seine Atemnot dem Umstand zugeschrieben, dass er keinen Sport trieb und daher nicht besonders fit war. Die Müdigkeit erklärte er damit, dass er und seine Frau zwei kleine Kinder hatten und oft nicht genug Schlaf bekamen. Auch bei den ersten Untersuchungen gab es keine Hinweise, dass der Siebenunddreißigjährige herzkrank war. Erst nach einem CT und einer Herzkatheteruntersuchung konnte man den recht seltenen Zustand zweifelsfrei feststellen. Danach stand Anna vor der Entscheidung, selbst zu operieren oder Colin an einen Kollegen zu überweisen, der über mehr Erfahrung verfügte.

Dann machte die Nachricht von Luke Davenports Rückkehr die Runde, sodass das Team nach sorgfältiger Abwägung beschlossen hatte, den Eingriff noch etwas aufzuschieben. Wenn Colin im St. Piran, in der Nähe seiner Familie, bleiben konnte, würde das seine Genesung beschleunigen. Und auch für seine Frau bedeutete das weniger Stress, da sie ihren Mann jederzeit besuchen konnte, ohne erst lange fahren oder eine Betreuung für ihre Kinder organisieren zu müssen.

Luke hatte begonnen, das Perikard vom Herzmuskel zu schälen. Wie alle anderen blickte auch der Anästhesist fasziniert auf das Operationsfeld.

„Sieht aus wie Plastik“, meinte jemand.

Wieder dieser fast mürrische Laut, der alles Mögliche bedeuten konnte, dann herrschte erneut Schweigen im OP. Wenn Luke Instrumente verlangte oder Anweisungen gab, dann knapp und präzise. Dass Anna ihm assistierte, schien er kaum wahrzunehmen.

Sie seufzte stumm. Operieren mit diesem Mann dürfte alles andere als entspannt sein. Nicht dass er sich nicht voll konzentrieren sollte, nein, das meinte sie nicht. Aber Anna bezog ihr Team immer mit ein, wenn sie operierte. Sie bat um Meinungen und gab ihr Wissen weiter, so wie es von ihren früheren Lehrmeistern gewohnt war.

Als Dr. Davenports Assistentin würde sie karrieretechnisch auf der Stelle treten. Immer die Zweitbeste sein, die neue Verfahren und Methoden nur durch Zusehen lernte. Anna spürte, wie die vertraute Frustration sie packte. Selbst wenn sie sich auf eine andere Chefarztstelle bewarb, würden die meisten Mitbewerber Männer sein und das entscheidende Gremium aus Männern bestehen. Aus hoch angesehenen, mächtigen Alphatieren wie der Mann auf der anderen Seite des OP-Tisches, die sich nicht so leicht davon überzeugen ließen, dass eine Frau das Gleiche leisten konnte wie sie.

Diese Unzufriedenheit, auf dem Weg an die Spitze immer wieder gegen eine Wand zu laufen, hatte Anna während ihrer gesamten Laufbahn begleitet. Wie ein störendes Kratzen im Hals, das inzwischen chronisch geworden war. So war es auch jetzt, und trotzdem nahm unerwartet ein anderer Gedanke Gestalt an, während sie Luke bei der Arbeit zusah.

Von diesem Mann konnte sie allein durch Beobachtung tatsächlich etwas lernen. Mit einem exzellenten Timing nutzte er die Momente, in denen sich das Herz mit Blut füllte, und löste wieder ein Stückchen des Panzers. Schlug es, um Blut in den Kreislauf zu pumpen, hielt Luke das Skalpell still.

Ausrüstung und Personal standen bereit, um den Patienten, falls nötig, jederzeit an die Herz-Lungen-Maschine anzuschließen. Luke wollte kein Risiko eingehen, denn der schwierigste Teil der Operation, nämlich das verhärtete Gewebe von der Unterseite des Herzmuskels zu entfernen, stand noch bevor.

Bisher ging jedoch alles glatt. Das Team arbeitete sehr effizient, und über Dr. Bartlett konnte er sich auch nicht beschweren. Sie war gut, hatte sich seiner Vorgehensweise so perfekt angepasst, dass es ihm vorkam, als hätte er plötzlich zwei Hände mehr. Kleinere zwar, aber auch sehr geschickt. Vielleicht wäre es besser, wenn sie die Arbeit an der Unterseite übernahm.

Es blieb bei dem flüchtigen Gedanken, Luke widmete sich seiner Aufgabe. Während Anna die Ränder des Perikards hielt, setzte er feine Schnitte, immer möglichst dicht an dem beengenden Panzer. Kaum ein Millimeter Spielraum. Luke war sich der angespannten Atmosphäre im Raum bewusst. Er hätte sie ein bisschen auflockern können, indem er gelegentlich etwas sagte, aber daran lag ihm nichts.

Alle beobachteten ihn genau, fast mit angehaltenem Atem, so schien es. Es war seine erste Operation, seit er die Leitung der Abteilung wieder übernommen hatte. Man würde ihn beurteilen und sich wahrscheinlich fragen, ob ihn die Zeit im Kriegsgebiet verändert hatte … als Chirurg und persönlich.

Sicher. Er hatte viel gelernt. Die Fähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren, egal, was um ihn herum vorging, gehörte auch dazu. Es interessierte ihn nicht im Geringsten, was andere, Anna Bartlett eingeschlossen, über ihn dachten. Entscheidend war einzig und allein ein gutes Ergebnis für den Patienten. Luke konzentrierte sich auf sein Skalpell, genau auf die feine Spitze, den einzigen Teil der Klinge, den er benutzte.

Das Blut kam wie aus dem Nichts. Bisher hatte es kleinere Blutungen gegeben, die Anna sofort wieder gestoppt hatte, aber jetzt ergoss sich ein Schwall der roten Flüssigkeit über das Skalpell, strömte über Lukes Fingerspitzen und bildete eine Lache. Der Herzmuskel pumpte weiter, wurde kurz sichtbar, dann verschwand er wieder unter dem Blutstrom, der Luke die Sicht nahm.

Rot.

So rot.

Und warm. Er spürte die Wärme auf der Haut. Unaufhörlich strömte das klebrige Blut, war überall.

Leben, das im Sand versickerte.

Er hörte Schreie, Schüsse, und plötzlich roch es verbrannt.

Er musste etwas tun.

Aber er konnte sich nicht bewegen.

Anna sah, wie die Skalpellspitze die kleine Arterie anritzte. Mit dem Elektrokauter würde sie hier nichts ausrichten können. Abklemmen und abbinden sollte aber nur einen Moment dauern. Sie griff zu einer Klemme, bereit, sie Luke zu reichen, und warf einen Blick auf das Nahtmaterial, das er brauchen würde.

Doch er verlangte keine Klemme. Die Hand, die das Skalpell hielt, bewegte sich nicht … wie zu Stein erstarrt.

Und dann blickte er auf, und Annas Herz setzte einen Schlag aus. Luke sah sie zwar an, aber er nahm sie nicht wahr, so als hätte er etwas völlig anderes vor Augen, das nichts mit diesem Raum zu tun hatte und auch nicht mit dem Patienten, dessen Herz er operierte.

Luke Davenport sah etwas … Schreckliches?

Anna handelte sofort. Sie klemmte das Gefäß ab und stillte die Blutung. Für die anderen musste es so aussehen, als hätte Luke sie nur mit einem Blick stumm aufgefordert, das lästige Leck zu schließen. Da er bisher ziemlich wortkarg gewesen war, würde sich niemand darüber wundern.

Doch Anna hatte das Entsetzen in seinen Augen gelesen und buchstäblich gespürt, dass er unfähig war, sich zu rühren. Einen so verstörenden Moment wie diesen hatte sie im OP noch nicht erlebt.

Die Arterie war schnell geflickt, und eine Schwester saugte das Blut aus dem Operationsfeld. Anna hörte, wie Luke einatmete, und blickte auf. Er blinzelte, und es war, als würde ein Schalter umgelegt. Die Operation ging weiter, als wäre nichts geschehen.

Trotzdem hatte sich etwas verändert. Vielleicht war ihm bewusst, dass Anna die Situation gerettet hatte. Oder es stellte sich allmählich die Verbindung her, die ein gutes Team zusammenschweißt.

„Wenn ich das Herz ankippe“, sagte Luke kurz darauf, „dann sind Sie in einer besseren Position, den Teil an der Unterseite abzulösen. Sie haben meine Technik gesehen, kommen Sie damit zurecht?“

„Ja.“

Dass ihr Puls in die Höhe ging, hatte nichts mit Furcht zu tun. Sie liebte Herausforderungen, und jetzt bekam sie die Chance, etwas Neues auszuprobieren, etwas zu lernen, das niemand ihr so gut beibringen konnte wie er. Plötzlich verschwand ein wenig von dem Groll gegen den Mann, der sich seinen Job wiedergeholt hatte – eine Position, die Anna zu gern behalten hätte.

Trotz der Aufregung war ihre Hand ruhig, als sie das Skalpell übernahm. Noch viel schöner waren allerdings seine ermunternden Worte.

„Ausgezeichnet“, lobte er. „Machen Sie weiter so. Je mehr wir entfernen können, umso besser für unseren Patienten.“

Es sah gut aus für Colin Herbert, als sie die Operation schließlich beendeten. Luke trat vom Tisch zurück, streifte sich die Handschuhe ab und bedankte sich beim Team. Während er sich abwandte, um den Raum zu verlassen, zog er an seinem Mundschutz, die Bänder rissen, und zum ersten Mal bekam Anna mehr von seinem Gesicht zu sehen als seine durchdringend blauen Augen.

Es war ein ernstes Gesicht, mit kantigen Zügen und tiefen Furchen von der Nase bis zu den Mundwinkeln. Luke Davenport war kein klassisch schöner Mann, aber es fiel schwer, den Blick von ihm abzuwenden. Die harte, raue Männlichkeit, die er ausstrahlte, war faszinierend. Die beiden steilen Falten zwischen den Brauen hatten sich nicht geglättet, was den düsteren, grüblerischen Ausdruck noch verstärkte.

Mit energischen Schritten ging Luke auf die Schwingtüren zu und entledigte sich dabei seines blutbefleckten Kittels. Anna sah gebräunte, muskulöse Männerarme und hatte kurz den Eindruck, als öffneten sich die Türen allein durch seine Willenskraft. Was natürlich Unsinn war, aber allein mit seiner stattlichen Größe und der geschmeidigen Art, sich zu bewegen, beherrschte Luke seine Umgebung.

Sichtlich beeindruckt folgte ihm auch jedes andere weibliche Wesen im OP-Saal mit Blicken. Anna war jedoch die Einzige, die mehr als verwirrt war.

Ja, Luke Davenport war seinem Ruf, ein begnadeter Chirurg zu sein, gerecht geworden. Mit bewundernswerter Technik und außerordentlichem Geschick … aber, was zum Teufel war mit ihm los gewesen, als die Blutung auftrat?

Hatte er überhaupt gemerkt, dass er kurzzeitig wie gelähmt gewesen war? Mit keinem Wort, nicht einmal mit einem Blick hatte er erkennen lassen, dass sie die Situation gerettet hatte. Er war im Kriegsgebiet verwundet worden, anscheinend schwer genug, um aus der Armee ausscheiden zu müssen. Vielleicht betrafen die Verletzungen nicht nur sein Bein? Wenn er nun wegen einer Kopfverletzung epileptische Anfälle bekam? Krampfzustände, in denen der Betroffene nichts um sich herum wahrnahm, einfach erstarrte, bis zu einer Minute, und sich später nicht mehr daran erinnerte. Wenn das der Fall war, durfte er auf gar keinen Fall mehr operieren!

Die Erklärung war jedoch nicht ganz stimmig. Bei einem Krampfanfall war der Blick leer, wie tot. Doch so hatte es bei Luke nicht ausgesehen. Im Gegenteil, er wirkte … gehetzt, wie unter Schock, gefangen in einer persönlichen Rückblende, der er nicht entkommen konnte.

Aber selbst wenn, so war es genauso unverzeihlich.

Nicht auszudenken, wenn er die Lungenarterie getroffen hätte. Oder schlimmer noch, die Aorta! Selbst eine um nur wenige Sekunden verzögerte Reaktion hätte katastrophale Folgen haben können.

Anna befand sich in einem Dilemma. Anscheinend hatte außer ihr niemand etwas bemerkt. Allerdings wusste jeder am St. Piran, dass sie den Chefarztposten der Abteilung seinetwegen nicht bekommen hatte. Mit der Rüge vor dem Team, nachdem sie zu spät zur Operation erschienen war, hatte er noch Öl ins Feuer gegossen. Wenn sie jetzt den Vorfall meldete, könnte man ihr unterstellen, dass sie ihm eins auswischen wollte. Sich auf diese Art zu rächen, wäre höchst unprofessionell, und Anna wusste, wie schnell ein guter Ruf am Krankenhaus dahin war.

Ihr blieb nur eins übrig, wenn sie fair bleiben wollte: Sie musste Luke darauf ansprechen. Vielleicht hatte er ja eine plausible Erklärung und konnte ihr versichern, dass so etwas nicht wieder vorkommen würde.

Anna hatte sowieso geplant, ihre Mittagspause zu nutzen, um Luke eine ausführliche Visite vorzuschlagen, damit er sämtliche Patienten der Abteilung kennenlernte. Es wäre eine gute Gelegenheit, den Vorfall zur Sprache zu bringen. Schließlich musste sie dem Mann, mit dem sie zusammenarbeiten würde, auch weiterhin vertrauen können.

Doch plötzlich verspürte sie eine ungewohnte Scheu, ihren grantigen Chef auf etwas Persönliches anzusprechen.

Betrachte es als professionelle Herausforderung, sagte sie sich. Du kannst es weder unter den Tisch fallen lassen noch beschönigen, also trau dich! Anna nickte entschlossen, als sie dem Bett mit Colin Herbert zur Intensivstation folgte. Luke an ihrer Stelle würde nicht zögern, sie auf einen gravierenden Patzer aufmerksam zu machen. Wahrscheinlich sofort, nachdem es passiert war, ohne ihr die Demütigung vor den Kollegen zu ersparen.

Vielleicht konnte sie ihm auf diese Weise zu verstehen geben, dass sie nicht nur eine gute Chirurgin, sondern vor allem menschlich feinfühliger war als er.

Auf einmal war die Aussicht auf ein Gespräch unter vier Augen mit Dr. Davenport nicht mehr beängstigend.

Im Gegenteil, Anna konnte es kaum erwarten.

2. KAPITEL

Der Drang, zu entkommen, war überwältigend.

Und doch konnte er ihm unmöglich nachgeben.

Luke riss sich im Umkleidetrakt die OP-Kleidung vom Körper und ging unter die Dusche. Was hätte er darum gegeben, sich auch die Erinnerung an jene wenigen Sekunden während der Operation an Colin Herbert von der Seele zu waschen … Das warme Wasser brachte nicht die gewohnte Entspannung, und selbst der eiskalte Strahl zum Schluss, mit dem er sonst seine Albträume vertrieb, half nicht.

Gereizt zog er sich an. Sogar die Hose und das Hemd fühlten sich falsch an, zu weich an seiner Haut, die den dicken, rauen Stoff von Tarnkleidung gewohnt war. Wenigstens brauchte er sich keine Krawatte umzubinden – wie die Schleife an einem hübschen verpackten Geschenk! Es wäre ihm lächerlich vorgekommen, hätte er es doch vorgezogen, die Bänder einer kugelsicheren Weste straff zu ziehen, das Gewicht der Panzerung und der ausgebeulten Taschen zu spüren, in die er alles gestopft hatte, was er an der Front jederzeit schnell zur Hand haben musste.

Luke fühlte sich zu leicht, als er mit langen Schritten den OP-Trakt verließ, fast, als würde er schweben.

Haltlos.

Verloren.

Die Flure waren voller Menschen, die ihrer Arbeit nachgingen, aber es kam ihm unendlich langsam, beinahe wie in Zeitlupe vor. Keine drängende Eile, niemand hetzte von einem Punkt zum anderen, während er Betten und Rollstühle bewegte oder sich auf den Weg zu einer neuen Aufgabe machte. Die Leute hatten Zeit, stehen zu bleiben, kurz miteinander zu reden. Er sah manche lächeln, hörte sogar Gelächter. Jemand grüßte ihn, und Luke zwang sich zu einem Lächeln, aber es war anstrengend.

Er gehörte nicht mehr hierher. Das Ganze war ein Witz, aber einer, der überhaupt nicht lustig war. Wie das zivile Leben insgesamt, ein sinnloses Spiel, wo jeder sich etwas vormachte.

Draußen ging es ihm ein bisschen besser. Als Luke über das Krankenhausgelände marschierte, kam ein Rettungshubschrauber schnell näher. Er steuerte den Landeplatz an, zweifellos, um einen schwer verletzten Patienten zur Notaufnahme zu bringen.

Luke beobachtete die Maschine, horchte auf das Knattern der Rotoren. Allein das Geräusch sollte einen Flashback hervorrufen können, diese schlagartige Rückblende auf traumatische Erlebnisse.

Nichts passierte, und er wusste auch, warum. Luke kannte die Schlüsselreize und war gewappnet, er hatte alles unter Kontrolle. Trotzdem testete er sich selbst, behielt den Helikopter im Blick, bis er wieder abhob und in der Ferne verschwand.

Die Ferne, die etwas Verlockendes hatte. Es drängte Luke, weiterzugehen, immer weiter, über das Kopfsteinpflaster in den Straßen der malerischen Kleinstadt und weiter, bis er irgendwann einen Strand erreichte. Er hätte es gebraucht, sich in die Brandung zu stürzen, seine Kräfte mit der Natur zu messen. Nur dort gelang es ihm, Körper und Verstand zu betäuben und für eine Weile frei zu sein von allem, was ihn quälte. Die Wirkung war um ein Vielfaches besser als eine kalte Dusche.

Aber es war Dezember, das Meer eisig, und sein Neoprenanzug hing zum Trocknen auf der Veranda, nachdem Luke heute Morgen schon in aller Frühe schwimmen gewesen war. Außerdem schmerzte sein Bein vom stundenlangen Stehen im OP.

Und schließlich musste er arbeiten. Eigentlich sollte er froh sein, dass er diesen Job hatte. Er war sein Anker, etwas, worauf er bauen konnte – und das Einzige, was er hatte. Mit der Zeit würde er vielleicht wieder einen Sinn entdecken in dem, was er tat. Dass es wichtig und wertvoll war …

Angesichts dessen, was ihm während des Eingriffs unterlaufen war, schien er davon allerdings weiter entfernt zu sein als je zuvor. Wenigstens ging es dem Patienten, der das Pech gehabt hatte, ihm als Erster unters Messer zu kommen, gut!

Eine Stunde später betrat Luke die Intensivstation. Colin war wach, aber noch benommen.

Die Krankenschwester, die an seinem Bett stand, sah Luke mit einem strahlenden Lächeln entgegen. „Ich habe schon alles über die Operation gehört“, zwitscherte sie. „Ich wünschte, das hätte ich sehen können. Man sagt, Sie sind fantastisch gewesen.“

Fantastisch? Wohl kaum.

Colin schlug die Augen auf, sah den Chirurgen und lächelte matt. „Bin noch da“, krächzte er. „Danke, Doc.“

Luke erwiderte das Lächeln. „Vorerst müssen wir Sie hier behalten, aber wir versuchen, Sie so schnell wie möglich auf die Station zu verlegen. Haben Sie Fragen?“

„Ich bin ein bisschen von der Rolle, aber meine Frau hat schon mit Dr. Bartlett gesprochen. Die hat gesagt, dass die Operation wunderbar verlaufen ist. Dass Sie erstklassige Arbeit gemacht haben.“

Das überraschte ihn. Oder beschönigte Anna die Wahrheit nur, um einen Patienten zu beruhigen?

„Meine Frau ist nach unten gegangen, um meine Mutter abzulösen. Mum hat auf unsere Kinder aufgepasst. Ach, hatte ich mich bei Ihnen bedankt?“

„Hatten Sie.“

Ihm war bewusst, wie schroff sich das angehört hatte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er den erstaunten Blick der Schwester.

„Wo ist Dr. Bartlett?“, fragte er sie, während er eine Ergänzung der Medikation auf der Patientenkarte eintrug. „Ich muss sie sprechen.“

„Wieder im OP, denke ich.“

Natürlich. Er hatte es ja auf der Weißwandtafel gelesen. Wahrscheinlich arbeitete sie mit demselben Team wie bei Colin. Würde Anna versuchen herauszufinden, ob außer ihr noch jemand den Vorfall bemerkt hatte? Sie konnte Verstärkung gebrauchen, wenn sie an höherer Stelle Bedenken über ihn äußern wollte.

Als es passierte, hatte sie keinen Ton gesagt, ihm nicht einmal einen fragenden Blick zugeworfen. Vorher war sie mit anklagenden Blicken nicht gerade sparsam gewesen. Ließ sie sich deshalb nichts anmerken, weil sie den richtigen Moment abwarten wollte, ehe sie zuschlug?

Verdammt! Wie hatte ihm so etwas nur passieren können? Nächtliche Albträume war er gewohnt, aber ein Flashback am helllichten Tag, ausgerechnet bei einer Herzoperation? Luke hatte keine Ahnung, wie lange er die Konzentration verloren hatte, aber er konnte sich ausmalen, was passiert wäre, wenn Anna nicht sofort reagiert hätte.

Es wird nicht wieder vorkommen, sagte er sich. Wahrscheinlich lag es daran, dass es nach der Entlassung aus dem Militär seine erste OP in einem zivilen Krankenhaus gewesen war. Verglichen mit der Arbeit in einem irakischen Feldlazarett oder bei einem Rettungseinsatz an der Front war es ein Unterschied wie zwischen Himmel und Hölle. Hier war Geduld gefragt, langsames, bedächtiges Vorgehen, so ganz anders als die hektischen, fieberhaften Versuche, Leben zu retten oder Schwerverwundete zu versorgen. Und das unter haarsträubenden Bedingungen.

Er war in einen mentalen Hinterhalt geraten, verursacht durch den unerwarteten Schwall Blut, die rote Lache, die sich rasch gebildet hatte.

Was auch immer, das würde ihm nicht noch einmal passieren. Jetzt war er vorbereitet, ein zweites Mal verlor er nicht die Kontrolle. Davon war Luke überzeugt.

Aber ob Anna ihm glauben würde?

Er sah ihre Augen vor sich, smaragdgrün, mit langen schwarzen Wimpern. Kein Mascara, dafür ein ärgerlicher, vorwurfsvoller Blick. Wie würde es sein, wenn ihn diese Augen warm und vertrauensvoll anblickten?

Ein verführerischer Gedanke, doch Luke bezweifelte, dass er das je erleben würde. Dabei sollte es ihm eigentlich wichtig sein, Annas Vertrauen zu gewinnen. Aber diese unterschwellige Spannung zwischen ihnen war sehr viel faszinierender. Sie gab ihm das Gefühl, lebendig zu sein, etwas, das er nicht mehr empfunden hatte, seit man ihn nach Hause geflogen hatte.

Da war er, drüben am Fenster.

In Gedanken versunken, fast grüblerisch, saß Luke Davenport vor seinem Teller und verzehrte sichtlich lustlos sein Mittagessen. In der Kantine war es voll und laut, doch er saß als Einziger allein am Tisch. Anna hatte nicht den Eindruck, dass er gern hier war. Warum hatte er sich dann kein Sandwich und einen Salat geholt, wie sie es meistens tat, um ungestört im eigenen Zimmer zu essen?

Hoffte er auf Gesellschaft? Sicher kannte er hier unzählige Leute, aber es gab eine Hierarchie, und vielleicht war noch keiner der Chefärzte anwesend. Anna stand in der langen Schlange vor der Essensausgabe und hoffte, dass sich jemand zu ihm gesetzt hatte, bis sie an der Reihe war. Dann müsste sie kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie einen Bogen um ihn machte.

Natürlich wollte sie mit ihm sprechen, aber die überfüllte Krankenhauskantine war nicht gerade der richtige Ort für die Unterhaltung, die sie im Sinn hatte. Und die Aussicht auf einen Smalltalk mit diesem Mann war alles andere als verlockend. Außerdem wäre es unehrlich, weil ein viel wichtigeres Thema im Raum stand. Solche Spielchen hatte Anna noch nie gemocht.

Andererseits wirkte Luke unnahbar, so als wäre er sich selbst genug und bräuchte niemanden. Dass er nicht gerade an mangelndem Selbstvertrauen litt, hatte sie bereits erfahren. Und wenn er wusste, dass man ihn hier in höchsten Tönen lobte, dann bildete er sich vielleicht auch etwas darauf ein. Vielleicht wollte er gar keine Gesellschaft?

„Hi, Anna!“

Hinter ihr hatte sich der nächste Pulk hungriger Kollegen angestellt, und der Gruß war von Charlotte Alexander gekommen. Die Kardiologin stand hinter zwei Krankenschwestern, die sich vorbeugten, um das Sushi-Angebot in der Kühltheke zu inspizieren.

Anna suchte grundsätzlich keinen persönlichen Kontakt zu Kollegen. Aber falls sie sich mit jemandem hätte anfreunden wollen, dann mit Charlotte. Doch obwohl sie freundlich, fast herzlich miteinander umgingen, hielt Anna Abstand. Sie hatte zwar bemerkt, dass Charlotte zugenommen hatte und seit Neuestem locker fallende Kleidung trug, aber sie wäre nie so indiskret gewesen, sie zu fragen, ob sie schwanger war.

Frauengespräche, einander das Herz ausschütten, sich Geheimnisse anvertrauen, über Hochzeiten und Babys reden, all das kam für Anna genauso wenig infrage wie Make-up, hübsche Kleidung oder die Haare offen zu tragen. Das war Mädchenkram, Ausdruck von Weiblichkeit, der die gleichberechtigte Anerkennung in einer männerdominierten Welt nur behinderte.

Frauen wie Charlotte allerdings gelang es, ihre feminine Seite vorteilhaft zur Geltung zu bringen und trotzdem von Kollegen und Patienten geachtet zu werden. Wie sie das schafften, blieb Anna ein Rätsel.

Dann hatte sie immer das Gefühl, eine gespaltene Persönlichkeit zu haben. Sie wusste nicht, welche von beiden ihr wahres Ich war: die Anna zu Hause oder Dr. Bartlett im Krankenhaus. Das Einzige, was ihr ziemlich sicher erschien, war, dass die beiden sich nie begegnen würden!

Manchmal allerdings, so wie jetzt, kam ihr der Gedanke, dass ihr berufliches Ich nur eine Rüstung war, die ihre weiblichen, verletzlichen Züge verbarg.

Ihr Blick glitt zu der einsamen Gestalt am Fenster. Was war an Luke Davenport, dass sie sich auf einmal zu wenig weiblich vorkam mit ihrem streng zum Knoten geschlungenen Haar, dem schlichten knielangen Rock und der kühlen weißen Bluse? Nahezu unattraktiv.

Anna straffte die Schultern. Gut, dass sie ihre Rüstung hatte. Wahrscheinlich würde sie sie in nächster Zeit dringender benötigen als je zuvor.

Charlotte hatte anscheinend keine Lust mehr zu warten. Sie ging um die beiden Schwestern herum, die sich nicht zwischen Hühnchen Teriyaki und Räucherlachs entscheiden konnten, und trat zu Anna.

„Hallo“, sagte sie lächelnd. „Wie geht’s?“

„Sehr gut, danke. Für heute bin ich mit den Operationen fertig, und beiden Patienten geht es gut. Gerade habe ich die Sternumdrähte bei Ihrer Patientin entfernt. Violet Perry. Damit sollten die Reizungen aufhören, und sie dürfte bald schmerzfrei sein.“

„Wunderbar.“ Charlotte musterte die Sandwichs. „Hmm. Huhn und Camembert hört sich lecker an. Oder Truthahn und Cranberry … Nein, das bekommen wir in nächster Zeit noch oft genug. Haben Sie gesehen, wie weihnachtlich es hier auf manchen Stationen schon ist?“

„Viel zu früh, finde ich.“ Anna hielt sowieso nichts davon, den Arbeitsplatz mit Engeln, Sternen, Osterhasen, Valentinsherzen oder anderen Dekorationen zu schmücken. Für sie waren es Brücken ins Privatleben. Unnötige Brücken.

„Kochschinken und Feldsalat“, entschied sich Charlotte und nahm sich eine der dreieckigen Klarsichtboxen. „Ach …, waren Sie nicht heute Morgen mit Davenport im OP? Bei Colin Herberts Perikardektomie?“

„Ja.“ Wieder glitt Annas Blick zu Luke hinüber.

„Wie ist es gelaufen?“

Im ersten Moment war Anna versucht, Charlotte einzuweihen. Ihr zu erzählen, dass Luke mitten in der Operation wie erstarrt gewesen war, und dass sie einspringen musste. Doch das wäre ein Schritt, den sie nicht wieder zurücknehmen konnte. Es war nicht auszuschließen, dass die Information die Runde machte. Charlotte würde es ihrem Mann James erzählen und so weiter.

Als hätte er ihren Blick gespürt, hob Luke den Kopf und sah Anna an. Ihre Blicke verfingen sich, und für wenige Sekunden nahm sie um sich herum nichts mehr wahr. Stattdessen spürte sie den Gefühlen nach, die plötzlich in ihr wach wurden.

Vielleicht ist er gar nicht so mürrisch und verschlossen, dachte sie, bevor sie schnell wieder wegsah. Seltsam, einen Augenblick lang hatte sie geglaubt, Luke sei unglücklich.

Welchen Grund könnte er haben?

War er nicht wegen seiner Verwundung gezwungen gewesen, den Militärdienst zu quittieren? Vielleicht wollte Luke genauso wenig hier sein, wie Anna ihn hier haben wollte?

Sie hatte zwar den Blick abgewandt, aber vorher noch ein Unbehagen verspürt. Etwas, das ihr das Herz schmerzlich zusammenzog. Anna wusste genau, wie es sich anfühlte, wenn man unglücklich war.

Einsam.

Sollte sie wirklich jemanden treten, der schon am Boden lag … drastisch gesprochen? Maß sie dem Vorfall eine zu hohe Bedeutung bei? Schließlich hatte sie die Situation sofort im Griff gehabt, und es war ja nichts passiert. Es konnte nicht schaden, die Sache noch einmal zu überdenken.

„Es war beeindruckend“, hörte sie sich auf Charlottes Frage antworten, während sie abwesend nach einem Hühnchensandwich griff. „Eine derart präzise Technik hatte ich bisher nicht gesehen. Ich habe ein Stück unter der linken Herzkammer entfernt, und das war nicht einfach.“

„Schade, dass ich mir das nicht ansehen konnte.“ Charlotte seufzte. „Wussten Sie, dass er die Zuschauergalerie geschlossen hatte?“

Die Enttäuschung war ihr deutlich anzumerken. Für Anna eine Gelegenheit, sie auf ihre Seite zu ziehen, indem sie eine kritische Bemerkung über Luke machte. Seltsamerweise hatte sie jedoch das Bedürfnis, ihn zu verteidigen.

„Vermutlich mag es nicht jeder, dass ihm eine Menge Leute auf die Finger sehen, wenn er nach langer Abwesenheit seine erste Operation durchführt.“

„Sie haben recht. Wie geht es Colin?“

„Sehr gut. Falls er weiterhin stabil bleibt, können wir ihn wahrscheinlich heute Abend, spätestens morgen früh auf die Station verlegen.“

„Ich gehe nachher einmal zu ihm. Auf den Operationsbericht bin ich gespannt, der muss ja sehr interessant sein.“

Anna auch, aber sie nickte nur. Sie war sich nicht sicher, ob sie mit einer Antwort nicht ungewollt verraten würde, dass es einen besonderen Grund gab, den Bericht genau zu studieren.

Ein metallisches Scheppern drang aus der Küche hinter dem Tresen, so laut, dass Gespräche abrupt verstummten und jeder in der Kantine den Kopf wandte.

Dann zerriss ein Aufschrei die atemlose Stille, und jemand rief um Hilfe.

Ratlose Blicke, keiner reagierte, während alle zu begreifen versuchten, was geschehen war. Anna hörte, wie Charlotte erschrocken aufkeuchte, hatte aber aus irgendeinem Grund in den Raum gesehen und noch etwas anderes wahrgenommen. Eine Bewegung in der Menge, eine Reaktion, so schnell, dass Anna wie gebannt hinstarrte.

Luke Davenport war aufgesprungen, sein Stuhl kippte nach hinten, und statt um den Tisch herumzugehen, schob Luke ihn mit einem Ruck von sich. Auch der Tisch kippte, das Tablett rutschte zu Boden und landete zwischen klirrendem Besteck und den Scherben zerberstenden Geschirrs. Ohne der Bescherung einen Blick zu gönnen, rannte Luke Richtung Küche.

Die verglasten Selbstbedienungstheken versperrten ihm den Weg. Hinter der letzten Kasse konnte man einen Teil des Tresens hochklappen, dort, wo das Küchenpersonal ein und aus ging.

Aber Luke machte sich nicht die Mühe, die Klappe anzuheben. Mit einer einzigen Armbewegung fegte er die Obstkörbe herunter, und Äpfel und Orangen hüpften zwischen den Füßen derjenigen auf und ab, die sich immer noch bewegungslos am Tresen drängten.

Mit einem Satz, der einem Action-Stunt alle Ehre gemacht hatte, sprang Luke mühelos über die frei gewordene Stelle. Kassiererinnen und Küchenhilfen wichen hastig zurück, aber anscheinend nicht schnell genug.

„Aus dem Weg!“, befahl er barsch. „Was ist passiert?“

„Hierher, schnell!“, rief jemand aus der Tiefe der Küche. „Oh Gott … ich glaube, er ist tot.“

Luke eilte vorwärts. Anna sah erst nur die blauen Kittel des Küchenpersonals, dann traten die Angestellten beiseite und gaben den Blick auf die Herdfront frei. Davor lag ein massiger Mann in weißer Kochjacke. Er bewegte sich nicht.

Schon kniete Luke neben ihm. „Anna!“, rief er dann. „Kommen Sie her, ich brauche Sie!“

Inzwischen hatte jemand das Brett hochgeklappt, aber die Aufforderung hatte Anna so beflügelt, dass sie sich zutraute, selbst über den Tresen zu springen. Luke brauchte sie?

Der Mann war offensichtlich einer der Köche. Als er zusammenbrach, war ihm seine Kochmütze vom Kopf gefallen und lag nun inmitten von Töpfen und Pfannen begraben, die von einem umgestürzten Gestell heruntergepoltert waren.

Luke stieß einen der Töpfe mit dem Fuß beiseite, während Anna in die Küche raste. „Räumen Sie das weg“, stieß er ungeduldig hervor. „Jemand muss mir helfen, ihn umzudrehen. Hat einer gesehen, wie es passiert ist?“

„Er fiel einfach um“, sagte eine Frau, die vor Schreck ganz blass war. „Gerade hat er noch den Herd sauber gemacht, und plötzlich kippte er zur Seite weg.“

„Wie heißt er?“

„Roger.“

Der Koch lag jetzt auf dem Rücken. Luke packte ihn an der Schulter und rüttelte ihn. „Roger? Können Sie mich hören? Machen Sie die Augen auf!“

Keine Antwort. Mit einer Hand an Rogers Kinn und der anderen an seiner Stirn überstreckte Luke den Kopf, um die Atemwege frei zu machen.

„Kennt jemand ihn näher?“, wandte er sich an die Umstehenden. „Gesundheitliche Probleme?“

„Er nimmt Tabletten“, sagte ein Mann. „Für seinen Blutdruck, glaube ich.“

„Nein, fürs Herz“, fügte ein anderer hinzu.

Luke tastete nach dem Puls, fand keinen und auch keine Anzeichen, dass Roger atmete. Anna kniete schon an der anderen Seite des Patienten, als Luke die Faust hob und mit Wucht auf die Brustmitte niedersausen ließ. Anna bezweifelte, dass der präkordiale Faustschlag in diesem Fall etwas ausrichten konnte. Allerdings war es einen Versuch wert.

Bereit, mit Wiederbelebungsmaßnahmen zu beginnen, erstellte Anna im Geiste schnell eine Liste der Dinge, die sie brauchen würden. Aber Luke war ihr schon weit voraus.

„Holen Sie einen Notfallwagen!“, verlangte er. „Finden Sie einen Alarmknopf, alarmieren Sie das Reanimationsteam. Verständigen Sie die Notaufnahme. Anna, fangen Sie mit der Herzmassage an.“ Er sah auf in die Gesichter der stumm dastehenden Zuschauer. „Beeilung!“

Da kam Bewegung in die Menge. Anna hörte, wie jemand Richtung Kantine brüllte, dass der Notfallknopf gedrückt werden sollte. Falls nicht im Speiseraum, so war bestimmt einer im Flur installiert. Sie legte die Hände auf Rogers Brust, drückte die Ellbogen durch und begann mit den Kompressionen. Der Mann war groß und schwer, und sie fand es nicht so einfach, genug Druck auf sein Sternum auszuüben.

Zehn … zwanzig … dreißig Mal. Wenigstens würde bald jemand mit einem Beatmungsbeutel auftauchen, sodass Anna sich keine Sorgen zu machen brauchte, bei einem Fremden ungeschützte Mund-zu-Mund-Beatmung vornehmen zu müssen.

Luke schien nicht einmal daran zu denken, dass er sich vielleicht mit Hepatitis anstecken könnte. Oder es störte ihn nicht.

„Stopp“, befahl er knapp, kniff Roger währenddessen die Nase zu und bog ihm den Kopf zurück. Ein tiefer Atemzug, und er presste dem Mann die Luft in die Lungen. Und noch einmal.

Danach fuhr Anna mit der Herzdruckmassage fort, in Gedanken bei dem Bild, wie Luke seine Lippen auf den Mund des Patienten presste. Der Kuss des Lebens … Sie hatte so etwas schon gesehen, obwohl die direkte Mund-zu-Mund-Beatmung im medizinischen Alltag selten geworden war. Fand sie den Anblick deshalb so verwirrend?

„Siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig …“, zählte sie laut weiter, um Luke den Zeitpunkt für die nächsten Atemstöße anzusagen.

Nachdem sie die Prozedur noch ein Mal wiederholt hatten, waren Stimmen zu hören und das metallische Rattern des Notfallwagens.

„Reanimationsteam“, sagte eine Männerstimme. „Wir übernehmen.“

„Danke, ich schaffe das“, antwortete Luke.

„Aber deshalb sind wir doch …“

„Wir brauchen nur die Ausrüstung“, unterbrach ihn der Herzchirurg. „Und etwas Unterstützung.“

Nur widerstrebend, so schien es Anna, fügten sich die Kollegen. Aber dann wurde ein Defibrillator herübergereicht, ein Beatmungsbeutel, alles Nötige für einen Venenzugang und eine tragbare Sauerstoffflasche.

Anna machte weiter und unterbrach ihre Anstrengungen nur, als Luke Rogers Jacke und Unterhemd aufriss, um die Elektroden zu befestigen. Auf seine Anweisung hin sicherte ein Arzt aus dem Team den Atemweg und führte Sauerstoff über die Beatmungsmaske zu, sobald Anna die Druckmassage unterbrach.

Flüchtig fragte sie sich, ob sie die anstrengende Arbeit jemand anderem überlassen könnte. Sie war ins Schwitzen gekommen, und die Bluse klebte ihr auf der Haut. Nein, entschied sie. Es war ihre Aufgabe, Luke zu helfen.

Und er schien nicht daran zu denken, die Verantwortung für seinen Patienten aus der Hand zu geben. Sicher nicht an die Assistenzärzte, die heute im Reanimationsteam Dienst hatten.

„Herzmassage unterbrechen“, befahl er, ohne den Monitor des Defibrillators aus den Augen zu lassen. „Kammerflimmern“, verkündete er wenig später. „Lade auf dreihundert. Alle zurück!“

Die jungen Ärzte wichen zurück, tauschten Blicke aus.

„Wer ist das?“, hörte Anna einen von ihnen leise fragen.

„Luke Davenport“, kam die geflüsterte Antwort. „Du weißt doch, der Chirurg, der gerade aus dem Irak zurück ist.“

„Oh …!“

In der kurzen Zeit, in der Luke den Patienten drei Mal schockte, hatte sich die Atmosphäre verändert. Waren sie gerade noch ziemlich verschnupft gewesen, dass sie sich nicht am Patienten bewähren konnten, so überboten sich die Assistenzärzte jetzt mit Hilfsangeboten.

„Brauchen Sie Intubationsbesteck, Dr. Davenport?“

„Soll ich Adrenalin aufziehen? Oder Atropin?“

„Hier ist eine Sechzehner-Kanüle. Und Kochsalzlösung.“

„Dr. Bartlett, soll ich Sie mal ablösen?“

Anna ließ sich auf die Fersen zurücksinken und nickte erschöpft. Wissenschaftliche Untersuchungen hatten belegt, dass bei Herzdruckmassagen nach zwei Minuten die Kräfte erlahmten und die Wirkung damit nachließ. Sie blieb allerdings in der Nähe und sah zu, wie Luke arbeitete. Sein Tempo und die Präzision, mit der er jeden Handgriff ausführte, waren bewundernswert.

Aber das war nicht das Einzige, was ihr auffiel. Er hatte silbrige Strähnen in seinem dunkelbraunen Haar, was ungewöhnlich früh für sein Alter schien. Da er nur wenige Jahre älter war als sie, konnte er noch keine vierzig sein. Und seine Hände … groß, mit schlanken Fingern und schön geformten, kurz geschnittenen Nägeln. Ohne OP-Handschuhe sahen sie anders aus, sehr männlich und geschickt, wie sie jetzt beobachten konnte, als er den intravenösen Zugang legte.

Und er war schnell, schien die ganze Zeit den Überblick zu behalten. Viel wichtiger fand sie jedoch noch etwas anderes: Ohne Mühe war es ihm gelungen, ein skeptisches Ärzteteam so in die Rettungsaktion einzubinden, dass alle beteiligt waren wie die Rädchen eines perfekt funktionierenden Uhrwerks.

Der Erfolg stellte sich ein, noch bevor Luke sich zu einer Intubation entschließen musste. Nach dem letzten Elektroschock mit dem Defibrillator kam Bewegung in die Flimmerwelle auf dem Monitor.

„Sinusrhythmus“, verkündete einer der Helfer triumphierend und stieß die Faust in die Luft. „Ja!“

„Haben wir eine Rollliege da?“ Luke war schon einen Schritt weiter. „Bringen wir den Mann in die Notaufnahme. Oder gleich auf die kardiologische Intensivstation.“

Charlotte hatte sich ihren Weg durch die Küche gebahnt. „Gute Arbeit, Dr. Davenport. Möchten Sie, dass ich jetzt übernehme?“

„Luke, bitte“, meinte er abwesend, den Blick auf das Überwachungsgerät gerichtet. Aber das Herz behielt den Rhythmus bei, und Roger atmete wieder selbstständig. Dann ertönte ein leises Stöhnen, seine Lider flatterten.

Anna sah, wie Lukes grimmige Miene sich ein wenig glättete. Er beugte sich vor und legte die Hand auf Rogers Schulter – genau wie vorhin. Diesmal jedoch rüttelte er ihn nicht, sondern drückte ihn beruhigend.

„Keine Sorge, Roger“, sagte er. „Wir kümmern uns um Sie, es wird alles gut.“

Er blickte auf und nickte Charlotte zu, ein stummes Zeichen, dass er die Verantwortung an sie übergab. Die blonde Kardiologin trat näher, um mit dem Patienten zu sprechen, und Luke sah zu Anna hinüber.

In dem Augenblick passierte etwas mit ihr. Es war ein seltsames Gefühl, schwer zu beschreiben, so als löste sich etwas in ihr und schmolz wie Schnee im Sonnenschein.

Von Anfang an, seit sie den Aufschrei in der Küche hörten und Luke blitzschnell reagierte, hatte dieser einsilbige, verschlossene Mann die Lage mit einer bewundernswerten Ruhe und Umsicht unter Kontrolle gehabt. Er handelte geistesgegenwärtig, besonnen und schnell. Und jetzt, als alles überstanden war, zeigte er, dass ihm der Patient auch wirklich am Herzen lag.

Keine Spur von Selbstgefälligkeit war zu erkennen, nicht einmal eine Andeutung, dass Luke triumphierte. Stattdessen meinte Anna in dem Blick, der ihren festhielt, so etwas zu lesen wie: Wir haben es geschafft. Diesmal wenigstens.

Und sie begriff, dass sie einen Arzt vor sich hatte, der sich seiner Machtlosigkeit durchaus bewusst war. Nicht immer konnten sie Menschenleben retten, nicht immer ging es gut aus. Trotzdem barg Lukes Blick ein Versprechen, eine Entschlossenheit, immer sein Bestes zu geben und um jeden Patienten zu kämpfen.

Damit gewann er sie für sich.

Ich kann mit diesem Mann arbeiten, dachte sie. Ihn respektieren, ja, sogar mögen.

Mehr als das, musste sie sich eingestehen, als ein erwartungsvoller Schauer sie überrieselte, wie von zärtlichen Fingerspitzen, die ihr über den Rücken strichen.

Gütiger Himmel, fühlte sie sich etwa zu Luke Davenport hingezogen? Deshalb also war sie sich ihrer äußeren Erscheinung so deutlich bewusst gewesen, als sie mit Charlotte in der Schlange stand. Unbewusst war sie einfach nur Frau gewesen, eine Frau, die die Blicke eines attraktiven Mannes auf sich zog und sich unwillkürlich fragte, wie er sie sah.

Sofort unterdrückte sie den Gedanken. Solche Gefühle hatten in einer beruflichen Beziehung nichts zu suchen. Gerade deshalb hatten Frauen Schwierigkeiten, als gleichberechtigt anerkannt zu werden. Bei einer Frau wurde doch immer vermutet, dass Gefühle ihre professionelle Urteilsfähigkeit minderten. Oder schlimmer noch, Beziehungen standen bei ihnen an erster Stelle, und sie torpedierten die eigene Karriere, indem sie sich eine Auszeit nahmen, um Kinder zu bekommen.

Für Anna Bartlett kam das nicht infrage. Nie im Leben.

Also betrachtete sie sowohl Lukes Rückkehr ans St. Piran als auch seine attraktive männliche Ausstrahlung nüchtern als das, was sie waren: Hindernisse. Sie konnte sie entweder umgehen, indem sie sich woanders einen Job suchte, oder stark sein, um sie zu überwinden. Wofür auch immer sie sich entschied: sich mit Luke Davenport einzulassen, wäre ein großer Fehler.

Anna riss den Blick von Luke Davenport los und wandte sich ab.

3. KAPITEL

Die kritischen Minuten waren überstanden, und Luke ertappte sich dabei, dass er den Blick nicht von Anna lösen konnte.

Vorhin hatte er gesehen, wie sie die Kantine betrat, und noch einmal genauer hingeschaut, weil er sich nicht sicher war, ob sie es auch wirklich war. Größe und Gestalt kamen ihm bekannt vor, aber da er während der Operation eigentlich nur ihre Augen gesehen hatte, hätte es auch jemand anders sein können.

Irgendeine attraktive Kollegin. Ihre Haltung ließ allerdings darauf schließen, dass sie eine leitende Position innehatte. Sie strahlte das Selbstbewusstsein eines Menschen aus, der genau wusste, wie gut er in seinem Job war. Ihre Kleidung passte dazu – dunkler Bleistiftrock, weiße Bluse. Wahrscheinlich hing in ihrem Büroschrank die passende Jacke dazu, die das Kostüm zum weiblichen Pendant eines Business-Anzugs machte.

Nur, was hatte sie mit ihren armen Haaren gemacht? So wie sie sie straff zurückgebunden und im Nacken zu einem Knoten geschlungen hatte, sah sie aus wie die Karikatur einer Bibliothekarin oder biederen Sekretärin. Fehlte nur noch die Hornbrille!

Als sie jedoch die Blicke durch den Saal schweifen ließ, brauchte er nur ihre Augen zu sehen und wusste, dass die hochgewachsene, gertenschlanke Frau tatsächlich Anna Bartlett war. Diesmal zwar nicht mit anklagender Miene, aber sie wirkte zurückhaltend, unzugänglich. Keine Frau, die ihre Meinung schnell änderte. Die kühle Reserviertheit konnte ganz schnell in eisige Ablehnung umschlagen. Dr. Bartlett hatte ihren eigenen Kopf, und wehe dem, der sich ihr in den Weg stellte.

Jemand wie ich zum Beispiel, dachte er resigniert und widmete sich wieder seinem Mittagessen. Nicht dass er großen Hunger gehabt hätte. Außerdem fühlte er sich nicht gerade wohl in seiner Haut. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu wissen, dass viele der Anwesenden über ihn redeten. Tratschten . Das muntere Stimmengewirr, das heitere Gelächter und selbst der Geruch der warmen Mahlzeiten waren irgendwie irreal. Mehr noch, es hatte etwas Gekünsteltes, Oberflächliches.

Das Scheppern und der Schrei in diesem Moment waren jedoch real, und Luke reagierte automatisch. Warum er ausgerechnet Anna zu sich gerufen hatte, war ihm allerdings nicht klar. Vielleicht weil sie die Einzige in der Nähe war, die er mit Namen kannte. Oder weil sie im OP so gut zusammengearbeitet hatten.

Es war eine gute Entscheidung gewesen. Sie hatten den Notfall gemeistert und ein Leben gerettet. Erst als praktisch alles getan und der Patient in die Obhut eines anderen Teams entlassen war, gestattete sich Luke Gedanken, die mit dem Rettungseinsatz nichts zu tun hatten. Und sie galten Anna Bartlett.

Zum ersten Mal blickte er sie richtig an. Dabei hatte er das merkwürdige Gefühl, dass er etwas sah, das er nicht sehen sollte.

Kein Wunder! Statt der unnahbaren Chirurgin, die er vorhin an der Theke gesehen hatte, stand eine Frau mit zerknittertem Rock in der Kantinenküche. Die Bluse war ihr auf einer Seite aus dem Bund gerutscht, und der akkurate Haarknoten hatte auch gelitten. Eine seidige dunkelblonde Haarsträhne hob sich von Annas schlankem hellem Hals ab.

Ihre Wangen waren gerötet. Von der anstrengenden Herzmassage, oder war es ihr peinlich, dass sie so derangiert aussah? Sogar ihre Augen sahen anders aus. Die vergrößerten Pupillen ließen sie weicher, wärmer erscheinen.

Du meine Güte … sie war wirklich süß!

Doch dann, als er sie ungewollt anstarrte, verschwand die Wärme schlagartig. Anna wandte sich ab, ließ ihn einfach stehen und marschierte aus der Küche.

Wie unhöflich! Die Wärme, die er gespürt hatte, war also nur oberflächlich gewesen. Anna Bartlett war durch und durch Karrierefrau, die in ihm wahrscheinli...

Autor

Alison Roberts
<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
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