Lautloser Tod - drei Thriller von Erica Spindler

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MÖRDER OHNE GNADE

Seit ihrem achten Lebensjahr sind Andie, Raven und Julie beste Freundinnen. Doch im Sommer als sie fünfzehn werden, wird diese Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Heimlich beobachten die Mädchen ein Pärchen beim Extrem-Sex. Kurz danach wird die Frau gefunden - erhängt!

Fünfzehn Jahre später wird Andie, inzwischen erfolgreiche Psychologin, von obszönen Anrufen terrorisiert. Als kurz danach in ihr Haus eingebrochen wird, ahnt sie, dass der Mörder von damals zurückgekehrt ist. In ihrer Angst wendet sie sich an den erfahrenen Polizisten Nick Raphael. Schon bald ist es ihm ein sehr persönliches Anliegen, Andie zu beschützen. Doch kann er einen Mörder aufhalten, der keine Gnade kennt?

DER ALBTRAUM

Ein beklemmender Psychothriller um eine verhängnisvolle Affäre, meisterhaft aufgebaut von der Top-Autorin Erica Spindler.

Schwanger und auf der Flucht vor dem gewalttätigen Mann, dessen perverse Spiele sie an den psychischen Abgrund getrieben haben, kommt die junge Julianna Starr nach New Orleans. Hier will sie Adoptiveltern für ihr Kind finden. Als ihr die Agentur die Akte von Richard und Kate Ryan vorlegt, die ein Baby adoptieren wollen, verliebt sie sich sofort in Richards Bild. Julianna fasst einen perfiden Plan: Sie sucht Richards Nähe, nimmt einen Job in seiner Kanzlei an, will seine heimlichsten Wünsche herausfinden, um seine Ehe zu zerstören und Kates Platz einzunehmen ...

DER TOD KOMMT LAUTLOS

Gemeinsam mit FBI-Agent Connor Parks ermittelt die Polizistin Melanie May im Fall eines Serienkillers - bis sie selbst in Verdacht gerät ...

Whistlestop, eine kleine Gemeinde am Rande von Charlotte: Als in kurzer Zeit mehrere Männer tot aufgefunden werden, wächst in der Polizistin Melanie May ein schrecklicher Verdacht. Diese Männer, die alle ihre Frauen, Töchter oder Freundinnen missbraucht haben, sind keines natürlichen Todes gestorben - sie wurden ermordet! Über die Köpfe ihrer Vorgesetzten hinweg beschließt das FBI, Melanie den brisanten Fall zu übergeben. Doch sie ist bei ihren Ermittlungen nicht allein: FBI-Agent Connor Parks soll das psychologische Profil des Täters erstellen - der erneut zuschlägt und den Mann von Melanies Schwester umbringt ...


  • Erscheinungstag 26.11.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783955765163
  • Seitenanzahl 1376
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Erica Spindler

Lautloser Tod - drei Thriller von Erica Spindler

PROLOG

Thistledown, Missouri, 1998

Der anonyme Anrufer hatte sich nachts um drei gemeldet. Etwas Merkwürdiges gehe in der Gatehouse-Siedlung, dem Neubaugebiet außerhalb des Ortes, vor. Man hätte Lichter gesehen.

Etwas Merkwürdiges – wenn das mal nicht gewaltig untertrieben war angesichts eines Mordes.

Detective Nick Raphael sprang aus seinem Jeep Cherokee, warf einen Blick auf die zwei Streifenwagen, den Pick-up-Truck seines Kollegen Bobby und den Kombiwagen des Leichenbeschauers, und atmete auf. Keine Presse, noch nicht, Gott sei Dank. Ein Polizist stand an der Tür des Musterhauses, das mit gelbem Plastikband abgesperrt war.

Langsam und bedächtig ließ Nick seinen Blick über die Fassade des Hauses und das Grundstück schweifen. Nachdenklich rieb er sich das unrasierte Kinn. Ein ungewöhnlicher Platz für einen Mord. Oder der perfekte Tatort. Gatehouse lag zwanzig Minuten östlich von Thistledown, völlig abgelegen auf der grünen Wiese. Der Bauunternehmer hatte bei dem Projekt vermutlich das Haus im Grünen für den leitenden Angestellten aus St. Louis im Auge gehabt. Fünfundvierzig Minuten zu einem besseren Leben in Thistledown, wo die Welt noch in Ordnung war. Bei diesem Gedanken verzog Nick den Mund zu einem grimmigen Lächeln. Dieser kleine Zwischenfall heute Nacht war keine gute Reklame für die Nachbarschaft.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Umgebung zu. Bis jetzt bestand die Siedlung aus drei Musterhäusern, von denen nur dieses eine fertiggestellt war. Die anderen beiden schienen noch nicht bezugsfertig zu sein. Swimmingpool und Tennisplatz befanden sich im Bau. Es gab keine Bewohner. Noch war die Siedlung völlig verlassen.

Nein, nicht ganz verlassen, dachte Nick. Jedenfalls nicht heute Nacht. Der Beweis dafür war der anonyme Hinweis. Und die Leiche.

Er blinzelte in das Licht, das aus dem Haus hinaus in die Dunkelheit fiel. Der junge Streifenpolizist, der an der Tür stand, war auffallend blass. Es musste sich um einen Neuling handeln.

Nick begrüßte ihn. „Officer Davis, nicht wahr?“

Der Junge nickte.

„Was liegt an, Davis?“

Der junge Polizist räusperte sich. Dabei wurde er noch etwas blasser. „Eine Frau. Weiß. Achtundzwanzig bis zweiunddreißig. Der Leichenbeschauer sieht sie sich gerade an.“

Nick betrachtete noch einmal die Fassade des Hauses. Netter Bau. Er würde kaum unter einer halben Million zu haben sein. Nick machte eine Kopfbewegung zur Tür hin. „Sind alle drinnen?“

Wieder nickte der Junge. „Geradeaus, dann nach links. Im Wohnzimmer.“

Nick bedankte sich und ging hinein. Dabei bemerkte er die Alarmanlage. Hübsch, dachte er, all die blinkenden Lämpchen. Die Anlage war eingeschaltet, aber nicht aktiviert.

Er hörte Stimmen und folgte ihnen – um abrupt stehen zu bleiben, als er die Leiche sah. Nackt hing sie an einem Strick von der Decke. Ihre Hände waren mit einem schwarzen Seidenschal gefesselt. Mit einem zweiten Schal hatte man ihr die Augen verbunden. Ein umgekippter Barhocker lag unter ihren in der Luft baumelnden Füßen. Daneben stand ein zweiter, etwas niedrigerer Hocker.

„Verdammt“, murmelte Nick, der sich schlagartig in die Vergangenheit zurückversetzt sah. „Verdammte Scheiße!“

„Nick, gut dass du kommen konntest“, sagte sein Kollege.

Nick wandte den Kopf, um ihn anzusehen. „Es ging nicht eher wegen Mara. Ich musste auf den Babysitter warten.“

Er blickte wieder zu der Leiche hin. Das Déjà-vu-Gefühl, das er dabei empfand, war beunruhigend. Er musste sich zwingen, seine Aufmerksamkeit auf das Verbrechen, auf die Leiche, zu konzentrieren. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er sie. Es war eine schöne Leiche. Die Frau musste umwerfend ausgesehen haben. Blond, vollbusig. Selbst jetzt, im Tod, waren ihre Brüste noch prall und fest. Wegen des Schals konnte er nicht viel von ihrem Gesicht sehen. Aber irgendwie war er sicher, es war so attraktiv wie der Körper.

Der Leichenbeschauer stand auf einem Stuhl und untersuchte vorsichtig die Tote. Jetzt hielt er einen Moment inne, um Nick anzusehen. „Hallo, Detective.“

„Doc.“ Ebenso wie Nick war der Leichenbeschauer schon recht lange im Amt. „Was sagen Sie dazu?“

„Ein Selbstmord war es nicht“, bemerkte der Leichenbeschauer ruhig. „Und auch kein Unfall. Ihre Hände sind gefesselt. In diesem Zustand kann sie sich schlecht selbst aufgeknüpft haben. Sie hatte definitiv einen Spielgefährten.“

Nick trat näher heran. „Kommt Ihnen an der Sache etwas bekannt vor? Erkennen wir hier die Handschrift eines Täters?“

„Möglicherweise.“ Der Leichenbeschauer wandte sich wieder seiner Arbeit zu. „Oder es könnte jemand abgekupfert haben. Jedenfalls lassen sich keine Spuren eines Kampfes feststellen. Das Opfer muss bis zum Ende mitgespielt haben.“

„Genau“, sagte Nick wie zu sich selbst. „Bis zu dem Moment, als der Bastard ihr den Hocker unter den Füßen wegstieß.“

„Mann!“ Einer der Polizisten trat zu ihnen. „Wieso war eben von ‚erkennen‘ und ‚Handschrift‘ die Rede? Haben Sie etwas Derartiges schon einmal gesehen?“

„Das kann man wohl sagen.“ Nick ging noch etwas näher an die Leiche heran. „Genau dasselbe Szenario. Vor fünfzehn Jahren. Hier in Thistledown. Der Fall wurde nie aufgeklärt.“

Als er das sagte, musste Nick an Andie und ihre Freundinnen denken, die damals in dieses Verbrechen verwickelt wurden. Wie jung waren sie gewesen, wie naiv und verängstigt. Aber dabei so voller Leben. Und er selbst war kaum anders gewesen.

Vieles hatte sich verändert in den fünfzehn Jahren, die seitdem vergangen waren. Er hatte sich verändert, so sehr, wie er es sich niemals hätte träumen lassen.

„Können Sie die Frau identifizieren, Nick?“

Mit einer Pinzette zog der Leichenbeschauer der Toten vorsichtig den Schal vom Gesicht und ließ ihn in einen Plastikbeutel fallen. Dann gab er der Leiche einen sanften Schubs, sodass sie in Nicks Richtung schwang.

Und wieder starrte Nick die Vergangenheit ins Gesicht, diesmal aus leblosen blauen Augen. Nick stockte der Atem. Nein, nicht sie! Du lieber Himmel, das durfte nicht wahr sein!

Aber es war wahr.

Wieder musste er an Andie denken. Und an die Vorgänge vor fünfzehn Jahren. Der Magen krampfte sich ihm zusammen. Ein Gefühl, das ihm normalerweise fremd war, schnürte ihm die Brust zu. Angst. Kalt und unheimlich. Wie der Tod.

Er merkte, dass die beiden Männer ihn ansahen, dass sie auf eine Antwort von ihm warteten. Zunächst wollte ihm die Stimme nicht gehorchen. „Ja“, brachte er schließlich mühsam hervor. „Ich weiß, wer sie ist.“

ERSTES BUCH

BESTE FREUNDINNEN

SOMMER 1983

1. KAPITEL

Thistledown, Missouri, 1983

Die Fenster des Camaro waren beschlagen vom heißen Atem der beiden Teenager, die auf dem Rücksitz miteinander schmusten. Der ganze Wagen schaukelte, so heftig trieben sie es. Das schmatzende Geräusch ihrer Zungen, ihr verzücktes Seufzen und Stöhnen erfüllte den engen Innenraum des Autos und drang gedämpft in die Sommernacht hinaus.

Julie Cooper schwebte im siebten Himmel. Im Kegelclub war sie auf dem Weg zur Toilette Ryan Tolber begegnet, einem Jungen aus der Oberstufe, für den sie schon ein ganzes Jahr lang schwärmte. Sie hatten miteinander gequatscht, und als er ihr vorschlug, mit ihm hinaus zu seinem Wagen zu gehen, hatte sie nicht Nein sagen können.

Nein zu sagen war ein großes Problem für Julie. Das behaupteten jedenfalls ihre Busenfreundinnen Andie Bennett und Raven Johnson. Sie selber fand, dass Ja sagen viel mehr Spaß machte als Nein sagen. Und genau das war ihr Problem.

„Julie, Baby, ich sterbe, wenn wir es nicht machen.“

„Oh Ryan … ich will es ja auch, aber …“

Er verschloss ihr die Lippen mit einem Kuss. Während er seine Zunge in ihren Mund schob, presste er sie auf den Sitz herunter. Julie dachte flüchtig an Andie und Raven, die sich inzwischen drinnen im Kegelclub vermutlich auf die Suche nach ihr machten. Andie würde besorgt, Raven wütend sein. Julie wusste, sie hätte zurückgehen und ihnen sagen sollen, wo sie war.

Aber jeder Gedanke an ihre Freundinnen war vergessen, als Ryan die Hände auf ihre Brüste legte und sie zu streicheln begann. „Baby, ich muss dich haben. Ich brauche dich.“

Seine Worte und die Empfindungen, die durch ihren Körper schossen, machten sie schwindelig. Verlangend bog sie sich ihm entgegen. „Ich brauche dich auch, Ryan.“

Er schob die Hände unter ihre Bluse, um durch den BH hindurch ihre Brüste zu liebkosen. „Du gefällst mir schon seit einem Jahr. Für mich bist du das hübscheste Mädchen von allen.“

„Ich? Das hübscheste Mädchen?“ Glücklich über das Kompliment blickte Julie in seine warmen braunen Augen. „Du gefällst mir auch. Warum bist du nie mit mir ausgegangen?“

„Du warst Unterstufe, Baby, und damit tabu.“

Julie schmiegte das Gesicht an seinen Hals. „Aber inzwischen bin ich in der Oberstufe.“

„Genau. Und jetzt, wo du älter bist, weißt du, was ein Junge braucht.“ Er zog ihr die Bluse über den Kopf und öffnete ihren BH. Mit beiden Händen umfasste er ihre prallen Brüste. „Oh Baby“, murmelte er mit erstickter Stimme. „Du hast super Titten. Echte Spitzenklasse.“ Er begann sie mit der Zunge zu liebkosen. „Sag Ja, Baby.“

Willenlos ließ Julie den Kopf zurückfallen. Sie wollte so gern Ja sagen. Es war himmlisch, was Ryan mit ihr machte. Noch nie hatte sie sich so gut gefühlt. Ein wohliger Schauer rieselte durch ihren Körper. Sie schob die Finger in sein Haar. Es wäre unfair gewesen, ihn jetzt zurückzustoßen. Schließlich war es erwiesen, dass Jungs Sex nötiger brauchten als Mädchen. Sie anzumachen und dann einfach aufzuhören tat ihnen weh. Es sollte sogar richtig schädlich sein.

„Du bist so schön, Baby. So sexy. Ich liebe dich. Ehrlich.“

Sie schob ihn ein Stückchen von sich weg, damit sie ihm in die dunklen Augen sehen konnte. „Wirklich?“, flüsterte sie. „Liebst du mich wirklich?“

„Sicher, Baby. Ich liebe dich so sehr, ich muss dich haben. Lass mich rein, Julie Cooper.“ Er öffnete ihren Hosenbund und schob die Hand in ihre Shorts. „Lass mich hinein.“

Als seine Finger ihren Venushügel berührten, packte sie ihn bei den Schultern. Leise stöhnte sie auf. Obwohl sie vor ihrem eigenen Verhalten zurückschreckte, hob sie die Hüften an, damit er seine Hand tiefer zwischen ihre Beine schieben konnte.

Du bist vom Teufel besessen, Julie Cooper. Du bist eine Verworfene, eine Sünderin …

Die Stimme ihres Vaters, jene Worte, die sie schon hundertmal von ihm gehört hatte, schossen ihr durch den Kopf. Sie fröstelte. Eine eisige Hand schien nach ihr zu greifen. Doch sie machte die Augen ganz fest zu und versuchte jeden Gedanken an ihren Vater zu verdrängen. Ryan liebte sie. Und deshalb war es okay. Seine Liebe rechtfertigte ihr Verhalten.

Sie presste die Schenkel an seine Hand. Aufregende, prickelnde Empfindungen durchrieselten sie, Empfindungen, die unheimlich angenehm waren. Was ihr Vater auch sagen mochte – etwas, das so fantastische Gefühle auslöste, konnte unmöglich schlecht sein.

„Julie!“ Jemand klopfte an das beschlagene Wagenfenster. „Bist du das da drin?“

„Komm sofort heraus!“, rief eine andere Stimme. „Du weißt, was dir blüht, wenn du deine Zeit überziehst …“

„Dein Vater wird dich umbringen!“

Julie riss die Augen auf. Andie und Raven! Die Freundinnen hatten sie gefunden. Du lieber Himmel, ihre Sperrstunde …

Sie versuchte sich von Ryan zu lösen, doch der schlang ihr den freien Arm um die Taille und hielt sie fest. „Verschwindet!“, rief er. „Wir sind beschäftigt.“

Wieder wurde ans Wagenfenster geklopft. „Julie!“, ließ sich Andies Stimme vernehmen. „Bist du verrückt geworden? Willst du den ganzen Sommer Hausarrest haben?“

Julie erstarrte. Sie brauchte bloß eine Minute zu spät nach Hause zu kommen, um sich eine harte Strafe einzuhandeln. Sie konnte sich gut vorstellen, wie ihr Sommer dann aussehen würde: keine Freundinnen, kein Kino, keine Partys, kein Schwimmbad. Stattdessen würde sie dazu verdonnert werden, jeden Tag stundenlang kniend in der Bibel zu lesen und um Vergebung zu beten.

Und ihr Vater würde bei seiner Predigt von der Kanzel herab auf sie deuten, sie eine Sünderin nennen und sie vor der ganzen Gemeinde bloßstellen. Und noch Schlimmeres konnte er tun. Er konnte sie von Andie und Raven trennen und sie irgendwohin schicken, wo sie niemanden hätte und wieder ganz allein sein würde, so allein wie damals, ehe Andie und Raven ihre Freundinnen wurden.

Julie befreite sich aus Ryans Umarmung. „Ich komme!“, rief sie, tastete mit fliegenden Fingern nach ihrem BH und ihrer Bluse, zog beides hastig an und machte ihre Shorts zu. Mit den Fingern kämmte sie ihr langes blondes Haar und band es zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann zog sie ihre Brille aus der Hosentasche, ein hässliches schwarzes Gestell, das sie hasste und so selten wie möglich aufsetzte. Sie hatte ihren Vater angefleht, ihr Kontaktlinsen zu kaufen, doch er hatte sich geweigert und ihr stattdessen einen Vortrag über die Eitelkeit gehalten. Teufelswerk sei sie, hatte er streng erklärt und dann alle Spiegel aus dem Haus entfernt, bis auf den im Badezimmer ihrer Mutter, das er stets verschlossen hielt.

Die Brille in der Hand, blickte sie Ryan entschuldigend an. „Schade“, sagte sie. „Es war schön mit dir.“

Ryan nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. Fast flehend sah er sie an. „Warum gehst du dann? Bleib doch bei mir, Baby.“

Julie glaubte, das Herz müsse ihr brechen. Er liebte sie. Er liebte sie wirklich. Wie konnte sie ihn jetzt verlassen, wenn er …

Die Tür flog auf. Das Licht der Parkplatzbeleuchtung fiel ins Innere des Wagens. Andie beugte sich hinein. „Julie, los, komm! Es ist zwanzig vor neun.“

„Zwanzig vor neun?“, wiederholte Julie und begann vor Angst zu zittern.

Ryan nahm ihre Hand. „Vergiss deinen Alten, Baby. Bleib bei mir.“ Jetzt beugte sich Raven in den Wagen. Wütend blitzte sie Ryan an. „Verzieh dich, du Depp.“

Und dann packten die Freundinnen Julie bei den Armen, zogen sie aus dem Auto und über den Parkplatz zu der Abkürzung nach Happy Hollow, der Siedlung, wo alle drei Mädchen wohnten.

Kaum waren sie weit genug von Ryans Camaro entfernt, da setzte Julie ihre Brille auf und blitzte Raven wütend an. Ihre Wangen brannten vor Zorn. „Wie konntest du so unhöflich zu ihm sein? Du hast Depp zu ihm gesagt. Jetzt will er bestimmt nichts mehr von mir wissen.“

„Julie, bitte …“ Raven schnaubte verächtlich. „Er ist ein Depp.“

„Musst du immer so grob sein? Manchmal machst du mich krank mit deiner Art.“

„Musst du immer auf jeden Jungen hereinfallen? Manchmal schäme ich mich geradezu für dich.“

Julie trat einen Schritt zurück. Ravens Worte hatten sie getroffen wie eine Ohrfeige. „Vielen Dank. Ich dachte, du seiest meine Freundin.“

„Und ich dachte …“

Andie trat zwischen sie. „Hört auf mit dem Quatsch! Wenn wir uns nicht beeilen, ist Julie verloren. Was ist bloß mit euch los? Wir sind doch Freundinnen.“

„Ich gehe keinen Schritt weiter, nicht mit ihr.“ Julie verschränkte die Arme vor der Brust. „Es sei denn, sie entschuldigt sich bei mir.“

„Wozu soll ich mich entschuldigen? Es stimmt doch, was ich gesagt habe.“

„Es stimmt nicht! Ryan hat gesagt, er liebt mich. Und das ändert alles.“

Andie und Raven sahen sich an.

„Was ist?“, fragte Julie pikiert. „Was sollen diese Blicke?“

„Julie“, sagte Andie behutsam, „du kennst ihn doch kaum.“

„Na und? Wenn man sich liebt, spielt das keine Rolle.“ Julie sah erst Andie, dann Raven an. Dabei merkte sie selbst, wie verzweifelt sie klang. Tränen schossen ihr in die Augen. „Er hat gesagt, er liebt mich, und ich weiß, dass er es ernst meint.“

„Woher?“, murmelte Raven. „Weil er mit dir vögeln wollte?“

Julie stockte der Atem. „Als meine Freundinnen solltet ihr eigentlich zu mir halten“, sagte sie verletzt. „Ihr solltet mich verstehen.“

„Wir verstehen dich ja, Julie.“ Andie drückte ihren Arm. „Aber Freunde sollten sich auch gegenseitig beschützen. Die Jungs erzählen dir alles, was du hören willst, um ihr Ziel zu erreichen. Das weißt du doch selbst.“

„Aber Ryan …“

„Hör zu, Julie“, unterbrach Raven sie in ungeduldigem Ton, „komm endlich zur Vernunft. Du bist dem Typ zufällig im Kegelclub begegnet, das ist alles. Und vorher hat er dich nie zur Kenntnis genommen.“

„Er sagte, ich würde ihm schon lange gefallen. Er sei bloß nicht mit mir ausgegangen, weil er in der Oberstufe war und ich in der Unterstufe und …“

Raven verdrehte genervt die Augen gen Himmel. „Wie kann man nur so borniert sein?“

„Danke für das Kompliment.“ Julie schob ihre Brille hoch. Ihre Stimme zitterte, so sehr hatten Ravens Worte sie verletzt. „Ihr zwei könnt euch anscheinend nicht vorstellen, dass ein Junge, der so gut aussieht und so smart ist wie Ryan Tolber, dass jemand so … Wichtiges sich für mich, die lächerliche kleine Julie Cooper, interessieren könnte.“

„Darum geht es doch gar nicht.“ Andie warf Raven einen warnenden Blick zu. „Das solltest du eigentlich wissen. Wir schätzen dich viel höher ein als ihn. Wir finden, dass du zu gut für ihn bist. Nicht wahr, Raven?“

„Viel zu gut“, pflichtete Raven ihr bei. „Er kann dir nicht das Wasser reichen.“

„Wirklich?“ Julie versuchte die Tränen wegzublinzeln. Vorwurfsvoll sah sie Raven an. „Warum bist du dann immer so hässlich zu mir? Du tust so, als seiest du schlauer als ich, als wüsstest du alles besser. Das ist nicht gerade angenehm für mich.“

„Entschuldige, Julie. Aber manchmal benimmst du dich, als hättest du nur Jungs im Kopf. Wenn du so weitermachst, ist dein Ruf bald dahin. Dann heißt es, du seist eine Nutte. Manche sagen das schon jetzt von dir. Und das macht mich wütend.“

„Eine Nutte“, flüsterte Julie. Ihre ganze Welt geriet ins Wanken. „Die Leute sagen … ich sei … eine …“ Fragend blickte sie Andie an. Andie würde ihr niemals absichtlich wehtun, aber sie würde auch nicht lügen. Andie log nie. „Sagen die Leute … das wirklich von mir?“

Andie zögerte. Dann legte sie den Arm um die Freundin. „Wir versuchen dich bloß zu schützen, Julie. Weil wir dich lieben.“

„Ich hätte diese Dinge nicht sagen sollen“, meinte Raven. „Aber ich werde so sauer, wenn ich sehe, wie du dich in Situationen bringst, wo man dir wehtut. Du bist zu gut für Typen wie Ryan Tolber. Er benutzt dich nur.“

„Es tut mir leid“, flüsterte Julie. Sie ging zu Raven hin und legte die Arme um sie. „Ich weiß, du meinst es gut. Aber was du über Ryan sagst, stimmt nicht. Da täuscht ihr euch alle beide. Ihr werdet es schon sehen.“

„Ich hoffe, du hast recht“, sagte Raven, Julies Umarmung erwidernd. „Ich hoffe es wirklich.“

„Kinder“, meinte Andie mit einem Blick auf ihre Uhr, „es ist fast neun. Könnt ihr mir sagen, wie Julie es jetzt noch schaffen soll, pünktlich nach Hause zu kommen?“

Julie blickte ihre Freundinnen völlig verzweifelt an. Erst jetzt wurde ihr der Ernst ihrer Lage bewusst. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund. „Mein Vater wird mich umbringen“, flüsterte sie. „Er …“

Sie begann zu rennen. Dabei sah sie ihren Vater vor sich, wie er mit der Uhr in der Hand an der Küchentür auf sie wartete, glaubte die Litanei von Vorwürfen und Beschuldigungen bereits zu hören, mit der er sie empfangen würde.

Die Uhr auf dem Marktplatz begann zu schlagen. Es war zu spät. Sie würde es nicht schaffen. Keuchend blieb sie stehen. „Es bringt ja doch nichts“, stieß sie unter Tränen hervor. Verzweifelt sank sie auf die Knie. „Ich habe wieder mal alles vermasselt. Was ist nur mit mir los?“

„Nichts ist mit dir los.“ Andie kauerte sich neben sie. Tröstend legte sie ihr die Hand auf den Arm. „Komm, du darfst nicht aufgeben. Wir haben noch eine Chance.“

„Nein, wir haben keine. Hör doch, es hat gerade neun geschlagen. Ich bin erledigt.“ Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Mein Vater hat recht. Ich tauge nichts. Ich bin eine Schande. Eine dumme, eitle …“

„Sprich es nicht aus!“, rief Raven und begann zu rennen. „Er hat nicht recht, überhaupt nicht!“

Verwirrt sprang Julie auf. „Raven, was hast du vor? Wir können es nicht schaffen!“

Auch Andie richtete sich auf. Die beiden tauschten einen Blick aus und rannten dann hinter der Freundin her. „Raven!“, riefen sie, „warte auf uns, wir …“

Sie hatten noch nicht ausgesprochen, da fiel Raven hin, schlug mit den Knien hart auf die Schottersteine am Straßenrand und fing den Sturz mit den Händen ab. Mit einem Schrei waren Andie und Julie an ihrer Seite.

„Bist du okay?“

„Oje, du blutest!“

Raven ignorierte die Aufregung ihrer Freundinnen. Sie setzte sich auf. „Das reicht nicht“, murmelte sie, ihre abgeschürften Knie und Hände betrachtend. Sie heftete den Blick auf die Schottersteine, als würde sie etwas suchen. Im nächsten Moment hob sie einen faustgroßen scharfkantigen Stein auf, und ehe die beiden anderen sie fragen konnten, was sie damit vorhatte, holte sie aus und schmetterte ihn auf ihr Bein herunter. Sie zuckte kaum zusammen, als der Stein eine blutige Spur vom Knie bis zum Schienbein hinterließ. „Okay“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Das dürfte genügen.“

„Oh mein Gott.“ Julie starrte auf die Blutlache, die sich unter dem Bein ihrer Freundin auszubreiten begann. „Raven, warum hast du das getan?“

Raven blickte auf. „Weil ich es satt habe, untätig zuzusehen, wie dein alter Herr dich zur Schnecke macht. Seit Jahren muss ich es mit ansehen, und jetzt reicht’s mir.“ Sie lächelte mit zitternden Lippen. „Dein Vater wird dir kaum die Schuld an meinem Unfall geben können. Und du hast dich verhalten, wie sich das für einen guten Christen gehört. Trotz deiner Angst vor seiner Strafe bist du bei mir geblieben, um mir zu helfen. Und jetzt gib mir mal die Hand, damit ich aufstehen kann.“

Julie reichte ihr die Hand, Andie fasste sie bei der anderen. Zusammen halfen sie Raven auf die Füße. Sie stöhnte, als sie mit dem verletzten Bein auftrat. „Mann, das tut ganz schön weh.“

„Komm“, murmelte Andie, „wir müssen die Wunde reinigen. Sie scheint ziemlich tief zu sein.“ Sie beugte sich vor, um einen Blick auf Ravens Bein zu werfen. „Vielleicht muss sie sogar genäht werden.“

„Meinst du?“ Raven betrachtete den tiefen Schnitt. Ihr Gesicht war blass. Sie schwankte ein wenig. Halt suchend griff sie nach Julies Arm. „Jetzt passt mein Bein zu meinem Gesicht“, murmelte sie, auf die lange Narbe anspielend, die sich über ihre rechte Wange zog. Die Narbe war nach einer Verletzung zurückgeblieben, die sie als Sechsjährige bei einem Autounfall erlitten hatte. „Ich bin eben ein Freak.“

„Du bist kein Freak!“ Julies Blick ging zwischen Andie und ihr hin und her. „Du hast Haare und Augen wie ein Engel und …“

„Und ein Gesicht wie ein Monster.“ Raven lachte grimmig. „Glaubst du vielleicht, ich wüsste nicht, dass die Jungs mich hinter meinem Rücken Frankensteins Braut nennen?“

„Sie sind unreife Idioten“, sagte Andie schnell. „Mach dir nichts draus.“

„Das sagst du so. Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, wenn sie dich anstarren, wenn sie über dich tuscheln, weil du anders bist.“

„Willst du lieber so aussehen wie ich?“, fragte Andie. „An mir ist überhaupt nichts dran. Aschblondes Haar, braune Augen. Ich bin schon fünfzehn und noch platt wie eine Flunder.“

„Julie hat Titten.“ Ein Lächeln zuckte um Ravens Mundwinkel. „Sie hat genug für uns beide.“

Julie spürte, wie sie rot wurde. „Ihr habt auch welche. Und außerdem sind meine gar nicht so groß.“

„Verglichen womit? Wassermelonen?“ Ravens Lächeln schwand. „Versteht ihr denn nicht?“ Sie verlagerte das Gewicht auf ihr verletztes Bein und verzog das Gesicht. „Es ist mir egal, was die Leute denken. Meinetwegen kann die ganze verdammte Welt mich für einen Freak halten. Für mich zählt nur ihr, unsere Freundschaft. Ich könnte das schönste Mädchen der Welt sein, ohne euch zwei wäre ich verloren. Ihr seid meine Familie. Und in einer Familie hält man zusammen. So wie heute Abend. Immer. Unverbrüchlich.“

2. KAPITEL

Eine Stunde später stand Andie vor der Tür ihres Elternhauses. Der Kopf schwirrte ihr von den Ereignissen des Abends. Noch immer sah sie vor sich, wie Raven sich diesen Stein aufs Bein schmetterte. Sie hatte nicht mit der Wimper gezuckt, dabei musste es fürchterlich wehgetan haben. Die Wunde hatte so heftig geblutet, dass Ravens weißer Turnschuh sich rosa färbte.

Aber sie hatte Julie damit aus der Patsche geholfen, das ließ sich nicht bestreiten. Reverend Cooper hatte sie alle drei mit finsterem Blick gemustert und von ihnen wissen wollen, wo sie vor dem Unfall gewesen seien, als wollte er sie mit seiner Fragerei dazu bringen, irgendwelche Todsünden zu beichten.

Julie hatte so schuldbewusst ausgesehen, dass es fast komisch wirkte. Aber Raven hatte dem guten Reverend ausführlich geschildert, wie Julie an ihrer Seite geblieben war, obwohl sie, Raven, die Freundin angefleht hatte, doch nach Hause zu gehen.

Eine bessere Lügnerin als Raven gab es nicht. Und keine bessere Freundin. Andie glaubte nicht, dass sie den Mut gehabt hätte, so zu handeln wie Raven, nicht einmal für ihre beste Freundin.

Reverend Cooper hatte es schließlich bei der strengen Ermahnung, in Zukunft vorsichtiger zu sein, bewenden lassen, und Mrs. Cooper hatte Ravens Bein verarztet und sie dann beide nach Hause gefahren.

Andie drehte sich um und winkte Mrs. Cooper noch einmal zu, ehe sie ins Haus ging. Dabei schüttelte sie verwundert den Kopf. Raven machte immer so komische Sachen, immer eilte sie Julie oder ihr zu Hilfe, ohne sich darum zu kümmern, ob sie sich selbst damit in Gefahr brachte.

Bei einer solchen Gelegenheit hatten Raven und sie sich kennengelernt. Andie war acht Jahre alt gewesen in jenem Sommer. Ein paar Jungs aus der Nachbarschaft hatten sie mit ihren Fahrrädern umzingelt. Raven, die zufällig vorbeikam, war ihr spontan zu Hilfe geeilt. Wie eine Furie war sie dazwischengefahren. Andie musste lachen, als sie daran dachte, wie sie Raven damals bewunderte. Selbst wenn sie beide etwas auf die Mütze gekriegt hatten. Jedenfalls waren sie von jenem Tag an unzertrennlich gewesen.

Andie ging in die Küche. Weil sie Hunger hatte, nahm sie sich einen Apfel aus der Obstschale auf dem Tisch. „Mom?“, rief sie, wobei ihr erst jetzt die seltsame Stille im Haus auffiel. „Dad? Ich bin zu Hause!“

„Wir sind hier“, antwortete ihr Vater aus dem Wohnzimmer. Seine Stimme klang irgendwie komisch, erstickt, als sei er erkältet. „Würdest du bitte mal kommen?“

„Klar, Dad.“ Sie schlenderte ins Wohnzimmer. Während sie in ihren Apfel biss, überlegte sie, was wohl der Grund für den komischen Ton ihres Vaters sein mochte. Wenn er nicht erkältet war, dann hatte er sich vermutlich wieder über einen dummen Streich ihrer jüngeren Brüder geärgert. Die Zwillinge stellten ständig irgendetwas an.

Brüder sind doch wirklich ätzend, dachte Andie.

Im Wohnzimmer traf sie die versammelte Familie an – ihre Mutter, ihren Vater, ihre Brüder. Andie blieb an der Tür stehen. Überrascht blickte sie von einem zum anderen. Der Bissen blieb ihr im Hals stecken, als sie die Gesichter ihrer Eltern sah. Die Augen ihrer Mutter waren rot und geschwollen, die Miene ihres Vaters war starr, sein Mund eine harte, schmale Linie. Ihre Brüder verhielten sich ausnahmsweise einmal ruhig. Mit gesenkten Köpfen und hängenden Schultern saßen sie da.

Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas Schreckliches musste passiert sein.

„Mom? Was ist?“ Ihre Mutter reagierte nicht. Andie sah ihren Vater an. „Dad? Was ist passiert? Ist es wegen Oma? Ist sie …“

In diesem Moment schaute ihre Mutter auf. Andie erschrak, als sie den Zorn in ihren Augen sah. Noch nie hatte ihre Mutter sie so angesehen. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück.

„Mom? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich weiß, es ist spät, aber Raven ist gestürzt und …“

„Dein Vater hat dir etwas zu sagen.“

Andie wandte sich an ihren Vater. „Daddy?“, flüsterte sie. „Was ist los?“

„Setz dich, Andie.“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Erst sollst du mir sagen, dass alles okay ist.“

„Sag es ihr, Dan“, warf ihre Mutter mit brüchiger Stimme ein. „Sag ihr, wie okay alles ist. Sag ihr, dass du beschlossen hast, uns nicht mehr zu lieben.“

„Marge!“

Die Stimme ihrer Mutter nahm einen hysterischen Klang an. „Sag ihr, dass du uns verlassen willst.“

Andie starrte ihre Eltern an. Das durfte nicht wahr sein. So etwas konnte nicht passieren. Nicht in ihrer Familie. „Nein“, sagte sie und hörte die Panik aus ihrer eigenen Stimme heraus. „Nein, das glaube ich nicht.“

„Liebling …“ Ihr Vater stand auf und streckte die Hand nach ihr aus. „Solche Dinge kommen nun mal vor bei Erwachsenen. So wie man sich verliebt, kann man sich auch entlieben. Das hat nichts mit dir oder deinen Brüdern zu tun.“

Andie hörte seine Worte. Aber sie schienen wie aus weiter Ferne zu kommen. Zusammen mit dem Hämmern ihres Herzens hallten sie in ihrem Kopf wider.

Sich entlieben? Es hatte nichts mit ihr zu tun? Ihr Vater wollte sie verlassen?

Sie holte tief Luft. Der Schmerz, den seine Worte ausgelöst hatten, war unerträglich. Wie konnte er solche Dinge sagen? Wie konnte es nichts mit ihr zu tun haben, wenn sie das Gefühl hatte, dass alles in ihr abgestorben war?

„Es hat wirklich nichts mit euch Kindern zu tun“, betonte ihr Vater noch einmal. „Ich habe euch genauso lieb wie vorher.“

Andie sah zu ihren Brüdern hinüber, die dicht beieinandersaßen, als müssten sie sich gegenseitig festhalten. Pete weinte leise vor sich hin, Daniel fixierte ihren Vater mit starrem Blick. Seine Augen funkelten vor Wut.

„Ich ziehe nicht weit weg“, erklärte ihr Vater gerade. „Ich bleibe hier in Thistledown. Wir werden uns oft sehen. Ich habe die Besuchsregelung bereits mit meinem Anwalt …“

„Mit deinem Anwalt?“, fiel ihm ihre Mutter ins Wort. „Du bist schon bei einem Rechtsanwalt gewesen?“

Er blickte sie an. „Ja, Marge, ich war bei einem Anwalt.“

Andie wich einen weiteren Schritt zurück. Was war geschehen? Wie konnte er ihre Mutter mit diesem kalten Blick ansehen? Wo er sie doch heute früh noch geküsst, mit ihr zusammen gelacht hatte.

„Ich hielt es für das Beste, mich über meine Rechte zu informieren, ehe ich …“

„Was für Rechte?“ Die Stimme ihrer Mutter klang schrill. „Das Recht, deine Kinder nur an den Wochenenden und ein paar Wochen in den Ferien zu sehen? Hältst du das für das Beste? Besser, als jeden Abend zu ihnen nach Hause zu kommen?“

„Es reicht, Marge! Wir sollten diese Unterhaltung nicht vor den Kindern führen.“

„Das sagst du mir? Wie kannst du es wagen!“ Ihre Mutter sprang auf. „Ich dachte immer, wir seien eine Familie.“

Ihr Vater seufzte frustriert. „Ich bin nicht glücklich in dieser Ehe, schon lange nicht mehr. Das musst du doch gemerkt haben.“

Andie schlang schützend die Arme um die Taille. Sie hielt noch immer ihren Apfel umklammert. Nicht glücklich? Ihre Eltern zankten sich doch so gut wie nie. Jeden Morgen, wenn er zur Arbeit ging, gab Dad ihrer Mutter einen Kuss. Und Mom küsste ihn, und dann lächelte sie. Und jetzt wollte er sie alle verlassen. Weil er nicht glücklich war.

Tränen schossen ihr in die Augen. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Sie wollte nicht, dass ihr Dad sie verließ. Sie hatte ihn doch so lieb. „Geh nicht weg, Dad“, sagte sie in flehendem Ton. „Ich möchte, dass wir eine Familie bleiben.“

Er blickte erst sie, dann die Zwillinge an. „Wir bleiben eine Familie, Kinder. Wir werden immer eine Familie bleiben, daran ändert sich gar nichts, auch wenn ich wegziehe.“

Oh doch, es würde sich sehr wohl etwas ändern. Alles würde sich dadurch verändern. „Ich will auch mehr helfen, das verspreche ich dir“, sagte sie, verzweifelt nach einer Möglichkeit suchend, alles wieder in Ordnung zu bringen. „Und wir Kinder werden uns nicht mehr zanken.“ Flehend sah sie ihre Brüder an. „Nicht wahr?“

Die beiden schüttelten die Köpfe. „Nein, ganz bestimmt nicht“, erwiderten sie wie aus einem Mund.

„Liebling, es hat wirklich nichts mit euch …“

Weil sie Angst vor dem hatte, was er sagen würde, ließ Andie ihren Vater gar nicht erst ausreden. „Und ich passe auf Pete und Daniel auf, damit ihr öfter ausgehen könnt“, fuhr sie hastig fort. „Ohne mich zu beklagen, ich verspreche es dir. Gib mir noch einmal eine Chance, bitte. Du wirst sehen, wie brav ich sein kann.“

„Siehst du, Dan?“, flüsterte ihre Mutter. Kraftlos sank sie auf ihren Stuhl zurück. „Siehst du, was du deinen Kindern antust?“

Die Worte ihrer Mutter ignorierend, ging ihr Vater zu ihr und nahm sie in die Arme. „Oh Andie.“ Liebevoll drückte er sie an sich. „Diese Sache hat wirklich nichts mit dir oder deinen Brüdern zu tun.“ Er schob sie ein wenig von sich weg, um ihr in die Augen zu sehen. „Es dreht sich um deine Mutter und mich.“

Andie kämpfte mit den Tränen. Wieder blickte sie zu ihren Brüdern. Pete und Daniel saßen noch immer dicht beisammen. Das taten sie immer. Sie trösteten sich gegenseitig. Sie waren ein Team. Dafür hatte sie Raven und Julie. Sie sah zu ihrer Mutter hinüber, die allein dasaß und furchtbar verzweifelt aussah. Auch ihre Eltern waren ein Team gewesen. Und jetzt?

Wie konnte ihr Vater ihnen das antun? Wie konnte er sie einfach so verlassen? Er sollte sie doch lieb haben.

Andie entzog sich der Umarmung ihres Vaters und ging zu ihrer Mutter, kniete sich neben ihren Stuhl und schlang die Arme um sie. Einen Moment verharrte ihre Mutter in ihrer erstarrten Haltung. Dann sank sie gegen Andie. Verzweifelt klammerte sie sich an ihrer Tochter fest.

„Andie, Liebling“, sagte ihr Vater leise und geduldig, „ich weiß, es ist schwer für dich, aber irgendwann wirst du mich verstehen.“

„Nein, niemals!“ Sie schüttelte heftig den Kopf. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Du hast gesagt, deine Familie würde dir alles bedeuten. Sie sei das Allerwichtigste. Du hast gelogen.“

„Ich habe nicht gelogen. Ich konnte doch nicht wissen, wie sich die Dinge entwickeln würden. So etwas kommt eben vor.“ Er blickte seine Frau an. „Marge, kannst du es ihr nicht erklären?“

Andie spürte, wie ihre Mutter wieder steif wurde vor Abwehr. „Du hast uns diese Geschichte eingebrockt, Dan. Du allein. Und jetzt soll ich dir dabei helfen, es den Kindern schonend beizubringen? Nein, Dan, das ist deine Sache.“

„Okay.“ Sein Blick ging zwischen Andie und ihren Brüdern hin und her. „Mein Entschluss steht fest. Es tut mir leid, Kinder, aber so ist es nun mal. Wenn ihr älter seid, werdet ihr mich …“

„Verstehen?“ Andie blickte zu ihm auf. Dabei brach ihr fast das Herz. Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde es nicht verstehen, Dad. Und ich werde es dir nie verzeihen. Niemals.“

Einen Moment starrte ihr Vater sie nur wortlos an. Dann wandte er sich ab und ging.

3. KAPITEL

Erschöpft, mit brennenden Augen, lag Andie auf ihrem Bett. Wenige Sekunden nachdem ihr Vater gegangen war, hatte sie seinen Wagen gehört und war zum Fenster gerannt, um zu beobachten, wie er abfuhr. Sie hatte ihm nachgesehen, bis seine Rücklichter von der Dunkelheit verschluckt wurden.

Jetzt war ihr Dad weg. Einfach so.

Sie drehte sich auf die Seite. Im Haus war es unnatürlich still. Ihre Brüder waren schon vor einer Weile zu Bett gegangen, ihre Mutter hatte sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen. Normalerweise lief um diese Zeit irgendeine Fernsehsendung im Zimmer ihrer Eltern, und Andie konnte hören, wie sich ihr Dad und ihre Mom leise miteinander unterhielten. Ab und zu klingelte das Telefon, oder die Katze miaute unter ihrem Schlafzimmerfenster.

Aber nicht heute. Heute war es, als sei die Welt untergegangen. Andie war allein – allein mit ihren quälenden Gedanken. Sie setzte sich im Bett auf. Ihr Blick fiel auf die geschlossene Tür. Dabei musste sie an ihre Brüder denken, an den verzweifelten Ausdruck in ihren Gesichtern. Seufzend stieg sie aus dem Bett, um durch den Flur zum Zimmer ihrer Brüder zu gehen. Leise öffnete sie die Tür und spähte hinein.

„Seid ihr zwei okay?“, flüsterte sie.

„Klar.“ Der Blick, den Daniel ihr zuwarf, war nicht gerade freundlich. „Wir sind doch keine Babys mehr.“

„Ich weiß. Aber ich dachte, dass ihr vielleicht mit mir reden wollt.“

„Andie?“ Pete rollte sich auf die Seite, um sie anzusehen. „Ich verstehe das nicht. Mom und Dad waren doch immer so … also, ich dachte, sie hätten sich …“ Seine Stimme wurde immer leiser.

„Ja, das dachte ich auch.“ Andie seufzte. „Aber wir haben uns wohl getäuscht.“

Nur mühsam hielt der Junge die Tränen zurück. „Werden wir Dad denn noch sehen können?“

„Ich weiß es nicht.“ Andie wandte den Blick ab. „Er hat es jedenfalls gesagt.“

„Aber er ist ein Lügner.“ Daniel setzte sich im Bett auf. „Ein gemeiner Lügner. Es ist mir egal, wenn ich ihn nicht mehr sehe. Und Pete ist es auch egal.“

Aber Pete war es nicht egal, das sah Andie ihm an. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und schnell wandte er den Kopf ab. Andie warf Daniel einen wütenden Blick zu. „Halt die Klappe, okay? Du glaubst immer, du bist so schlau.“

„Das bin ich auch. Ich weiß mehr als du.“ Trotzig reckte er das Kinn vor. „Ich weiß etwas über Dad, was du nicht weißt. Es ist ein Geheimnis.“

„Klar ist es ein Geheimnis“, sagte Andie spöttisch. „Weil du es mir dann nicht zu erzählen brauchst.“

„Ich verrate es dir. Mach die Tür zu. Ich will nicht, dass Mom es hört.“

Andie schnaubte verächtlich, schloss jedoch die Tür. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Okay, die Tür ist zu. Was ist das große Geheimnis?“

„Dad hat eine Freundin.“

Im ersten Moment konnte Andie ihren Bruder nur sprachlos anstarren. Nachdem sie sich von ihrem Schock erholt hatte, ging sie mit geballten Fäusten auf sein Bett zu. „Du lügst! Nimm das sofort zurück, Daniel.“

„Ich habe gehört, wie er mit ihr telefonierte. Vorhin. Er hat zu ihr gesagt, dass er … dass er sie liebt. Ehe er aufgelegt hat.“

„Das ist nicht wahr.“ Nur mit Mühe brachte Andie die Worte heraus. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. „Das hast du erfunden.“

„Ich habe es auch gehört“, flüsterte Pete unglücklich. „Er hat gesagt … er sagte, von nun an könnten sie …“

„Von nun an könnten sie zusammen sein“, beendete Daniel den Satz seines Bruders. „Aber erst müsse er die Sache mit uns regeln.“

„Nein. Das ist nicht wahr.“ Andie schüttelte den Kopf. Sie wollte ihren Brüdern nicht glauben. Es musste eine Erklärung geben für das, was sie gehört hatten. Ihr Dad würde ihre Mom nicht betrügen. Niemals würde er so etwas tun.

Sie verließ das Zimmer ihrer Brüder. Als hätten ihre Gedanken ihn herbeigezaubert, hörte sie auf einmal, als sie durch den Flur ging, die Stimme ihres Vaters. Sie kam aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern. Andie blieb stehen. Hoffnung keimte in ihr auf. Ganz heiß wurde ihr vor Freude. Dad hatte es sich anders überlegt. Er war zurückgekommen. Er würde sie doch nicht verlassen.

Sie rannte durch den Flur. Es war Unsinn, was Pete und Daniel gehört haben wollten. Eine Lüge. Sie griff nach dem Türknauf und wollte gerade ins Zimmer stürzen, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte.

„… nimm alles mit, was du brauchst, denn ich versichere dir, dass du ohne gerichtliche Verfügung keinen Fuß mehr in dieses Haus setzen wirst.“

„Okay, wie du willst.“

Andie hörte, wie Schranktüren und Schubladen geöffnet wurden. Sie schlug die Hand vor den Mund. Ihr Vater kam nicht zurück. Er packte seine Sachen.

„Es tut mir wirklich leid, Marge. Ich wollte nicht, dass es so endet.“

„Verschone mich mit deinen Entschuldigungen“, erwiderte ihre Mutter mit tränenerstickter Stimme. „Ich habe dir zwanzig Jahre meines Lebens geschenkt, und du willst mich mit einem ‚Sorry, es tut mir leid‘ abspeisen? Nein, vielen Dank.“

„Kommt diese Trennung wirklich so überraschend für dich? Es ist doch schon seit Langem aus zwischen uns beiden.“

„Du hast Kinder“, hielt sie ihm entgegen. „Wie kann es aus sein? Du hast mir ein Versprechen gegeben, Dan.“ Andie presste ihr Ohr an die Tür. „Ein Gelübde. Erinnerst du dich nicht daran?“

„Ich weiß.“ Die Stimme ihres Vaters klang müde, unsagbar müde. „Es tut mir leid.“

„Es tut dir leid?“, wiederholte ihre Mutter erzürnt. „Wenn es dir leidtäte, würdest du uns das nicht antun. Es steckt eine andere Frau dahinter, nicht wahr?“

„Marge, bitte …“

„Jemand, den du mehr liebst als mich. Mehr als uns.“

„Hör bitte auf, Marge. Um Himmels willen, die Kinder werden …“

„Richtig, die Kinder. Deine Kinder. Was kümmern dich die Kinder? Wenn du sie lieb hättest, würdest du sie nicht verlassen.“

„Ich habe sie sehr lieb, das weißt du genau.“

„Ach ja? Und wer versorgt sie Tag für Tag? Wer kutschiert sie herum? Wer hat seine Karriere aufgegeben, um sie großzuziehen? Unsere Kinder, Dan. Nicht nur meine.“

Andie schloss die Augen. Übelkeit stieg in ihr auf. Sie wollte die Worte ihrer Mutter nicht hören, brachte es jedoch nicht fertig, ihren Horchposten zu verlassen.

„Dass du immer wieder die Märtyrerin spielen musst! Seit zwanzig Jahren kommst du mir mit diesem Blödsinn. Karriere! Dass ich nicht lache! Du hast den Umbruch bei der Zeitung zusammengeklebt.“

„Ich war Werbegrafikerin!“, schrie ihre Mutter. „Es hat mir Spaß gemacht. Und außerdem war ich gut.“

„Okay, hier ist deine Chance, damit weiterzumachen“, erwiderte ihr Vater, eine Schublade zuwerfend.

„Ich weiß, dass du eine Freundin hast. Ich weiß es schon seit Monaten.“

„Du lieber Himmel …“

„Streite es ab, wenn es nicht stimmt! Sag mir ins Gesicht, dass du keine Affäre hattest. Dass du nicht hinter meinem Rücken herumgevögelt hast.“

Andie presste die Faust auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Sie betete, ihr Vater möge die Anschuldigung von sich weisen. Aber er sagte nichts. Er stritt es nicht ab. Sein Schweigen sprach Bände.

„Ich wette, sie hat keine Kinder“, fuhr ihre Mutter fort. „Sie ist ungebunden. Sie hat Zeit, sich zurechtzumachen und sexy auszusehen und …“

„Ich liebe dich nicht mehr“, fiel ihr Vater ihr ins Wort. „Unsere Ehe bedeutet mir nichts mehr. Darum geht es hier, nicht um Leeza.“

„Deine Sekretärin?“ Die Stimme ihrer Mutter wurde schrill. „Mein Gott, sie ist zwanzig Jahre jünger als du!“

Leeza Martin. Die Sekretärin ihres Vaters. Andie sah sie vor sich in ihren kurzen Röcken, mit ihrem strahlenden Lächeln. Andie hatte sie immer bewundert, weil sie so hübsch war. Sie hatte sie bewundert und sich gewünscht, so auszusehen wie sie. Und jetzt hatte die hübsche Leeza ihr den Daddy gestohlen.

Ihre Mutter hatte zu schluchzen begonnen. Verzweifelt flehte sie ihn an, bei ihr zu bleiben, bat ihn, an die Kinder zu denken. Ihr Vater reagierte mit Abscheu darauf. „Wie kannst du mich zurückhalten wollen, wenn ich nicht hier leben will? Wie kann dir daran gelegen sein, dass ich der Kinder wegen mit dir zusammenbleibe? Das wäre keine Ehe, sondern ein Gefängnis.“

Andie wich von der Tür zurück, als hätte sie sich verbrannt. Der Schmerz, den sie empfand, war unerträglich. Sie wollte sich an ihren Vater klammern und ihn anflehen, nicht wegzugehen. Sie wollte bitten und betteln wie ihre Mutter. Aber sie wusste, es hätte keinen Sinn gehabt. Denn es gab eine andere, die er mehr liebte als seine Familie, ein anderes Zuhause, wo er sich lieber aufhielt als hier bei ihnen.

Er hatte ihr versprochen, immer für sie da zu sein. Immer. Er hatte gesagt, nichts in der Welt sei ihm wichtiger als seine Familie. Er hatte gelogen.

In ihrer Not fiel ihr Raven ein. Raven würde ihr helfen. Andie wandte sich ab und rannte zu ihrem Zimmer zurück. Nachdem sie die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, eilte sie zum Fenster, öffnete es, kletterte aufs Fensterbrett und sprang in den Garten hinunter.

Es war spät. Die Nacht war erfüllt vom Zirpen der Grillen. Irgendwo quakte ein Ochsenfrosch. In der Ferne hupte ein Wagen. Andie schlich durch den Garten zu der Hecke, die das Grundstück der Johnsons von ihrem trennte. Sekunden später stand sie unter Ravens Fenster, warf Kieselsteine an die Scheibe und betete, die Freundin möge sie hören. Wie oft hatte Raven unter ihrem Fenster gestanden und Beistand gesucht? Andie konnte gar nicht zählen, wie oft.

Jetzt war sie es, die Trost brauchte. Die Brust schnürte sich ihr zusammen bei diesem Gedanken. Zum ersten Mal erschien ihr Elternhaus ihr nicht mehr als glücklicher, sicherer Hort. Plötzlich war es nicht mehr perfekt. Zum ersten Mal wünschte sie sich ein anderes Zuhause.

In dem Moment, als sie das Gesicht ihrer Freundin hinter der Fensterscheibe sah, brach Andie in Tränen aus. Raven schob das Fenster hoch. „Andie“, flüsterte sie erschrocken. „Was ist los?“

„Meine Eltern … sie haben sich … getrennt.“

„Unmöglich.“ Raven schüttelte den Kopf. „Nicht deine Eltern.“

„Doch, sie …“ Andie drohte die Stimme zu versagen. „Mein Dad ist ausgezogen.“

Raven beugte sich weiter aus dem Fenster. „Warte“, flüsterte sie. Der Wind blies ihr das weißblonde Haar ins Gesicht. Mit einer schnellen Handbewegung schob sie es zurück. „Ich komme sofort herunter.“

Wenige Minuten später kam sie angezogen aus dem Haus. Sie ging zu Andie und legte die Arme um sie. „Oh Andie. Ich kann es nicht glauben.“

Andie presste das Gesicht an die Schulter der Freundin. „Aber es stimmt. Er hat uns alle ins Wohnzimmer gerufen und uns erzählt, wie sehr er uns liebt und so.“ Mit dem Handrücken wischte sie sich die Nase ab. „Erst später habe ich dann die volle Wahrheit erfahren. Er hat meine Mom betrogen.“

Raven stockte der Atem. „Nein, nicht dein Dad!“

„Mit seiner Sekretärin.“

„Mit dieser Barbiepuppe? Deine Mutter ist doch Klassen besser als sie.“

Andie sank zu Boden. Verzweifelt barg sie das Gesicht in den Händen. „Ich bin so unglücklich. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

Raven ließ sich neben ihr nieder. Schützend legte sie ihr den Arm um die Schultern. „Es wird schon alles wieder gut werden.“

„Wie bist du damit fertig geworden?“, fragte Andie mit brüchiger Stimme. „Ich meine, als deine Mom abgehauen ist? Ich habe das Gefühl, ich muss sterben.“

Raven antwortete ihr nicht sofort. Einen Moment schien sie sich in ihren eigenen Erinnerungen zu verlieren. Dann räusperte sie sich. „Soll ich dir sagen, was ich denke? Eltern sind Scheiße. Vor allem Väter.“

„Ich dachte immer, ich hätte die beste Familie der Welt. Ich hätte nie geglaubt, mein Dad könnte irgendetwas …“

„Falsch machen“, beendete Raven ihren Satz. „Du dachtest, er sei perfekt, was? Du hast ihn für einen Helden gehalten.“

Andie nickte traurig. Dabei fiel ihr der seltsame Ton auf, der sich in Ravens Stimme geschlichen hatte, ein Ton, der ihr fremd war. Fragend blickte sie die Freundin an. „Rave?“

Raven erwiderte ihren Blick. „Aber er ist kein Held, nicht wahr, Andie? Er ist ein Schweinehund wie alle anderen auch.“

Andie wandte den Blick ab. Es tat weh, so über ihren Vater zu denken. Sie konnte den Schmerz kaum ertragen.

„Komm, wir holen Julie.“

„Julie?“

„Warum nicht?“ Raven lächelte. „Die Erwachsenen können uns mal. Lass uns von hier verschwinden.“

„Aber dein Bein … tut es nicht weh?“

Raven warf einen Blick auf ihren Verband und zuckte dann gleichgültig die Schultern. „Klar tut es weh. Na und? Im schlimmsten Fall platzen eben ein paar Stiche auf.“

Andie schluckte hart. „Wie viele sind es?“

„Zwanzig. Du hättest mal meinen Dad sehen sollen. Er wurde grün im Gesicht und musste aus dem Zimmer gehen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kapier das nicht. Wegen so etwas wird ihm schlecht? Meinem Dad? Nicht zu fassen.“ Sie stand auf und streckte Andie die Hand hin. „Komm.“

Andie schüttelte den Kopf. „Du wirst dir wehtun. Und das möchte ich auf keinen Fall.“

„Ich tue es für dich, Andie. Verstehst du nicht? In dem Fall spielt es keine Rolle, ob ich mir wehtue.“

Andie nickte. Sie brauchte nicht zu fragen, wohin sie gehen würden, wenn sie ihre Freundin geholt hatten. Wie immer würden sie sich zu ihrem Versteck schleichen, dem verlassenen Geräteschuppen am Rand der Felder vom Bauern Trent. Sie hatten den Schuppen im Sommer vor zwei Jahren entdeckt und ihn spontan zu ihrem Refugium erklärt. Sie liebten die kleine, verfallene Hütte, in der es immer ein wenig nach Öl roch. Hier waren sie allein und ungestört. Hier konnten weder ihre Eltern noch ihre Geschwister sie nerven.

Julie wohnte drei Straßen weiter, in der Mockingbird Lane, in Phase zwei von Happy Hollow. Unbemerkt nahmen die Mädchen die Abkürzung durch die Gärten. Nicht dass groß Gefahr bestanden hätte, dass man sie entdeckte. Die Straßen waren leer und verlassen, die Häuser dunkel.

Andie fand die Stille unheimlich. Sie ließ den Blick über Julies Straße schweifen, über die Häuserreihen mit ihren nackten Fenstern. Seit die Maschinenfabrik im Ort vor einem halben Jahr ihre Tore geschlossen hatte, standen vierzig Prozent der Häuser in Phase zwei leer. Nur drei der zehn Häuser in der Mockingbird Lane waren bewohnt. Viele der leeren Häuser gehörten noch der Baugesellschaft „Sadler Construction“. Andie hatte ihren Vater sagen hören, wie gut es sei, dass die Sadlers so viel Geld hätten.

„Ich finde es richtig gruselig hier“, flüsterte Andie. „Es kommt mir so vor, als würden die Häuser uns beobachten.“

„Sie stehen leer, Andie. Niemand wohnt in ihnen. Wer sollte uns also beobachten?“

Andie hielt sich dicht an Ravens Seite. „Es heißt, dass sie leer stehen. Aber wenn es nicht so ist? Wie leicht könnte sich jemand in ihnen verstecken.“

„Und uns arme, ahnungslose Teenager überfallen? Ich glaube kaum.“

Andie verzog das Gesicht. Der Sarkasmus ihrer Freundin gefiel ihr nicht. „Aber es wäre doch möglich. Sieh dir nur die Häuser am Ende der Sackgasse an. Dahinter kommen gleich die Felder vom alten Trent. Und das linke Haus grenzt an ein bewaldetes Grundstück. Findest du das nicht unheimlich?“

„Nein.“ Raven schüttelte den Kopf. „Ich finde es gut, dass die Häuser unbewohnt sind. Keine alte Tratschtante kann hinter der Gardine stehen und uns beobachten und unsere Eltern anrufen, weil wir durch ihren Garten gehen. Ich wünschte, alle Häuser wären leer.“

Inzwischen hatten sie Julies Haus erreicht. Das Zimmer ihrer Freundin lag nach hinten hinaus im zweiten Stock. Das Schlafzimmer ihrer Eltern befand sich zum Glück im vorderen Teil des Hauses. Die Freundinnen hatten solch nächtliche Exkursionen schon des Öfteren unternommen, doch bei Julie gingen sie stets besonders vorsichtig zu Werke. Denn Julies Vater war der strengste von allen. Er hielt tägliche Bestrafung für ein reinigendes Ritual. Julie konnte machen, was sie wollte, es war immer falsch. Ihr Vater gab ihr unablässig zu verstehen, dass sie ihn enttäuschte.

Und wenn sie wirklich einmal etwas ausgefressen hatte, dann ließ er seine Tochter in einer Art und Weise dafür büßen, die Andie Angst machte. Er zwang sie dazu, stundenlang auf den Knien zu liegen und in der Bibel zu lesen, er demütigte sie in aller Öffentlichkeit und kontrollierte sie, wie kein anderer Vater es tat. Dass Julie mehr wie ein Poster aus dem „Playboy“ aussah als eine unschuldige Fünfzehnjährige, machte ihr Los nicht eben einfacher. Der Reverend pflegte sie als Sünderin zu beschimpfen. Richtig besessen war er von dem Gedanken. Andie vermutete, dass er sich daran aufgeilte. Für sie war der Mann ein kompletter Idiot. Julie hatte einen besseren Vater als ihn verdient. Sie konnte nur hoffen, dass Julie genauso dachte.

Raven hob ein paar Kieselsteine auf und warf sie einzeln an Julies Fenster. Sekunden später tauchte Julie auf. Als sie die Freundinnen sah, schob sie das Fenster hoch und öffnete das Fliegengitter.

„Was macht ihr hier?“, flüsterte sie. Dabei warf sie einen nervösen Blick über die Schulter.

Raven grinste. „Komm runter, dann wirst du es merken.“

„Ich weiß nicht.“ Wieder blickte Julie über die Schulter. „Dad war ziemlich misstrauisch vorhin. Nachdem ihr weg wart, hat er mich darüber ausgefragt, wo und wie du dir diese Verletzung geholt hast. Und dann mussten wir alle um Vergebung beten.“ Sie schob das Fliegengitter höher und steckte den Kopf zum Fenster hinaus. Kurzsichtig blinzelte sie zu den beiden Freundinnen hinunter. „Was macht dein Bein?“

„Es tut weh. Aber das ist egal.“

„Es musste genäht werden“, sagte Andie. „Zwanzig Stiche.“

„Zwanzig?“ Julies Augen weiteten sich. „Oh Rave.“

„Vergiss mein Bein, okay? Komm runter.“ Raven schob die Hände in die Hosentaschen. „Dein Vater verprügelt dich so oder so, auch wenn du nicht kommst. Er findet immer einen Grund, das weißt du doch.“

Julie strich sich das honigblonde Haar aus dem Gesicht. „Wenn das so ist, dann kann ich mich auch vorher amüsieren“, meinte sie grinsend. „Wartet einen Moment.“

Eine Minute später erschien sie noch einmal am Fenster, gab ihnen ein Zeichen, dass alles okay sei, und kam wenig später aus dem Haus. Nachdem sie leise die Tür hinter sich zugezogen hatte, eilte sie zu ihnen.

„Andies Eltern haben sich getrennt“, sagte Raven unvermittelt.

„Was?“ Julie wirbelte zu Andie herum. „Das kann nicht wahr sein. Nicht deine Eltern!“

Andie kamen schon wieder die Tränen. „Er hat es uns heute Abend gesagt. Er hat meine Mutter betrogen. Mit seiner Sekretärin.“

„Nein! Mit dieser kleinen Blonden?“ Julie schlang tröstend die Arme um sie. „Das ist wirklich ätzend, Andie. Und ich dachte immer, deine Eltern seien so glücklich miteinander. Perfekt wie eine von diesen Fernsehfamilien. Ich fand deinen Dad echt gut.“

Andie begann zu weinen. „Ich auch.“

„Toll, Julie. Jetzt hast du sie zum Weinen gebracht.“

„Das wollte ich nicht!“

„Aber du hast es geschafft.“

Andie wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. „Es ist nicht Julies Schuld“, sagte sie zwischen Lachen und Weinen. „Ich bin bloß etwas durcheinander, das ist alles.“

„Lasst uns von hier verschwinden, ehe Julies Vater oder einer ihrer petzenden Brüder wach wird und uns entdeckt“, sagte Raven.

Sie zogen los, hielten sich im Schatten der Dunkelheit, bis sie sich weit genug von Julies Haus entfernt hatten. Noch ehe sie das Ende der Sackgasse erreichten, blieb Andie abrupt stehen. „Wartet.“ Mit einer Handbewegung brachte sie die beiden anderen zum Schweigen. „Hört ihr das?“

„Was?“

„Musik. Schsch … da!“

Die zwei anderen Mädchen lauschten angestrengt. Und dann hörten sie es auch.

„Wo kann das herkommen?“, fragte Julie. Mit gerunzelter Stirn sah sie sich um. Sie standen am Ende der Sackgasse zwischen vier leeren Häusern. Julie warf einen Blick über die Schulter auf die anderen Häuser in ihrer Straße. Alle Fenster waren dunkel. „Das ist wirklich komisch. Jeder in der Straße schläft.“

„Wir nicht.“ Raven kicherte, als die Freundinnen sie verständnislos ansahen. „Kinder, macht euch nicht verrückt. Die Musik kommt wahrscheinlich aus einer anderen Straße. Nachts übertragen sich Geräusche besonders gut. Ich weiß, wovon ich rede.“ Sie zog eine Grimasse. „Wo immer wir auch wohnten, die Streitereien meiner Eltern waren legendär in der Nachbarschaft.“

„Du hast recht.“ Andies Lachen klang etwas unnatürlich, das fiel ihr selbst auf. „Ich habe eine zu lebhafte Fantasie.“

„Aber es ist irgendwie unheimlich.“ Julie rieb sich die Arme. „Die Musik in dieser Totenstille.“

Raven lachte. „Los, ihr Angsthasen, folgt mir!“

Sie überquerten das Grundstück des letzten Hauses, verschwanden in dem kleinen Waldstück, das zwischen Trents Farm und Happy Hollow lag, und standen gleich darauf am Rand der offenen Felder. Selbst in der Dunkelheit hob sich ihr Schuppen noch deutlich von dem flachen, kahlen Acker ab.

Sie erreichten die Hütte, doch anstatt hineinzugehen, kletterten sie auf das Metalldach, wo sie sich hinlegten und zum dunklen Nachthimmel hinaufsahen. Minuten vergingen, ohne dass eine von ihnen sprach. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund.

„Es ist so schön hier“, murmelte Julie.

Raven nickte zustimmend. „Und so ruhig.“

Andie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und atmete tief ein. „Als wären wir die einzigen Menschen im ganzen Universum. Nur wir und die Sterne.“

„Wäre das nicht toll?“, meinte Raven versonnen. „Keine blöden Eltern? Niemand, der uns Vorschriften macht?“

„Wenn es nur uns gäbe, wäre ich jetzt nicht so traurig“, murmelte Andie.

„Was ist mit Jungs?“

Andie und Raven sahen sich an und lachten laut auf. „So etwas kann nur von dir kommen, Julie.“

„Ich meine es ernst.“ Julie schniefte pikiert. „Jungs müsste es schon geben. Ihr kommt vielleicht ohne sie aus, aber ich nicht.“

„Ich kann auf sie verzichten“, erklärte Raven mit Nachdruck. „Aus Jungs werden Männer. Und die werden dann so wie dein Dad oder wie meiner.“ Sie schnaubte verächtlich. „Nein, ohne mich.“

Andie blickte die Freundin an. „Sie müssen nicht so sein.“

„Nein?“ Raven runzelte die Stirn. „Warum fragst du nicht deine Mom, ob ich recht habe?“

Eine ganze Weile schwiegen alle drei. Dann streckte Raven die Hand aus und berührte Andies Arm. „Es tut mir leid, dass ich das eben gesagt habe.“

„Es ist schon gut.“

Raven stützte sich auf den Ellbogen. „Denkt ihr manchmal über die Zukunft nach? Wo und was wir einmal sein werden?“

„Wir gehen aufs College“, meinte Andie.

„Zusammen“, ergänzte Julie.

„Und danach? Was wollt ihr werden? Wie soll euer Leben aussehen?“

„Das ist einfach“, sagte Julie. „Ich will beliebt sein. Alle sollen mich mögen. Und ich werde kein schlechtes Gewissen deswegen haben. Ich werde mich nicht schuldig fühlen, weil ich hübsch bin und mich amüsiere und jede Nacht ausgehe, wenn mir danach zumute ist.“

Raven setzte sich auf und zog die Knie an. „Ich will diejenige sein, die zu bestimmen hat, die anderen sagt, wo es langgeht.“

Julie kicherte. „Du wirst wahrscheinlich mal der erste weibliche Präsident werden. Und dann setzen sie dein Gesicht auf eine Briefmarke.“

„Diese Visage? Ich bitte dich, Julie. Die Leute würden ja Angst bekommen.“

„Hör auf mit dem Quatsch“, sagte Andie zu Raven. „Du siehst toll aus. Die Jungs sagen diese Dinge ja nur, weil sie nicht an dich herankommen. Sie nennen dich einen Freak, weil sie dir an die Wäsche wollen und du sie nicht lässt.“

Raven schwieg einen Moment. Dann räusperte sie sich. „Meinst du das ernst?“

„Natürlich. Sonst hätte ich es kaum gesagt.“

Raven grinste. „Das gefällt mir.“ Sie neigte hoheitsvoll den Kopf. „Ich nehme die Ernennung zur Präsidentschaftskandidatin an, Julie.“

Julie beugte sich zu Andie vor. „Und du? Was wünschst du dir?“

Andie blickte die Freundin an. Tränen schnürten ihr die Kehle zu. „Ich … möchte nur meine Familie zurückhaben. Ich habe mir immer ausgemalt, einmal einen Mann wie meinen Dad zu heiraten. Ich dachte …“ Sie richtete sich auf und schlang die Arme um die angezogenen Knie. „Ich dachte, bei uns könnten solche schlimmen Dinge nicht passieren wie in anderen Familien. Ich dachte, meine Eltern seien etwas Besonderes. Wie konnte mein Dad das meiner Mom antun? Wie konnte er es mir antun? Und Pete und Daniel?“

Raven rückte näher zu ihr heran. Tröstend legte sie den Arm um sie. „Man gewöhnt sich an alles.“

Julie rückte an ihre andere Seite. „Ja, es wird alles wieder okay werden. Du wirst schon sehen.“

„Nein.“ Andie schüttelte den Kopf. „Es wird nie wieder okay sein.“

„Du hast uns, Andie. Daran hat sich nichts geändert.“

„Raven hat recht.“ Julie legte den Kopf an Andies Schulter. „Wir lieben dich.“

Tränen brannten Andie in den Augen. Sie streckte die Hand aus. „Meine besten Freundinnen.“

Julie legte die Hand auf ihre. „Wir sind eine Familie.“

„Für immer und ewig.“ Raven legte beide Hände auf die ihrer Freundinnen. „Nur wir drei.“

„Freundinnen für immer und ewig“, wiederholten alle drei noch einmal im Chor.

4. KAPITEL

In den folgenden zwei Wochen wechselten sich bei Andie Phasen tiefster Verzweiflung und Trauer mit Wut, Panik und Verlassenheitsgefühlen ab. Ihr Vater war endgültig ausgezogen. Er hatte alles mitgenommen: seine Kleider und Bücher, die Plaketten aus seinem Büro, seine Golf- und Tennisschläger. Ihre Mutter hatte sämtliche Familienfotos, auf denen er zu sehen war, aus dem Haus entfernt und war sogar so weit gegangen, Speisekammer und Kühlschrank auszuräumen, um die Dinge, die außer ihm niemand aß, wegzuwerfen. Es war, als hätte er nie bei ihnen gewohnt.

Nur in Andies Erinnerung war er noch da. Und in ihrem Herzen. Es war ihr nie bewusst gewesen, welchen Einfluss ein Mensch auf einen Ort haben konnte. Jetzt merkte sie, wie sehr ihr Vater ihr Zuhause geprägt hatte. Das Haus hatte sich verändert. Es war stiller geworden. Es erschien ihr leer und traurig. Es roch sogar anders.

Ihr Haus war kein Zuhause mehr.

Obwohl sie ihren Dad jedes Wochenende sah, obwohl sie wusste, dass er sich doppelt bemühte, ihr und ihren Brüdern seine Liebe zu zeigen, war es nicht dasselbe wie früher, als er immer bei ihnen war. Er fehlte ihr. Es war, als gähnte ein tiefes Loch in ihrem Leben, eine Leere, die so wehtat, dass sie manchmal kaum atmen konnte.

Daniel und Pete ging es genauso. Die Zwillinge benahmen sich entweder noch vorlauter und frecher als sonst, oder sie waren unnatürlich still. Ihre Mutter kam kaum noch aus dem Bett. Sie zeigte an nichts Interesse, weder an ihren Kindern noch an ihren Freunden, weder am Essen noch an all den Aktivitäten, in die sie sich früher mit solcher Verve gestürzt hatte.

Andie hatte ihren Vater und ihre Mutter verloren.

Sie tat alles, um ihrer Mutter zu helfen, ihr das Leben zu erleichtern. Sie sprach nie von ihrem Dad. Nie brachte sie ihre eigenen Gefühle, ihre Angst und Verzweiflung, zum Ausdruck. Sie half im Haus, kümmerte sich ums Essen und um ihre Brüder.

Raven und Julie unterstützten sie dabei nach Kräften. Sie hatten Plätzchen gebacken, halfen beim Bettenmachen und Staubsaugen und gingen für Andie zum Supermarkt, wenn sie Brot, Milch oder Erdnussbutter brauchte. Sie waren ihr Halt, ihr Anker. Mit ihnen konnte sie noch lachen und ihre Gefühle – gute und schlechte gleichermaßen – austauschen.

Zum ersten Mal konnte Andie nachempfinden, was Raven hatte durchmachen müssen, als ihre Mutter sie verließ. Zum ersten Mal verstand sie Ravens leidenschaftliche Loyalität Julie und ihr gegenüber. Inzwischen ersetzten ihr Julie und Raven wirklich die Familie.

„Andie? Bist du okay?“

Sie saßen auf Ravens Bett, futterten Kartoffelchips und hörten Musik. Andie zwinkerte, als sie merkte, dass Raven mit ihr sprach und dass beide Freundinnen sie besorgt anstarrten. Sie wandte den Blick ab. Fast schämte sie sich der Tränen, die ihr in die Augen schossen. Es schockierte sie, dass sie selbst nach zwei Wochen noch heulen musste, wenn sie an ihren Vater dachte.

Sie zwang sich, ihre Freundinnen anzusehen. „Mom und ich sind gestern in die Stadt gefahren, um neue … Bettwäsche zu kaufen. Sie will nicht mehr in der alten schlafen.“

„Das kann ich verstehen“, meinte Julie. „Ich würde es auch nicht wollen.“

„Und wisst ihr, was passiert ist?“, fuhr Andie fort. „Wir halten bei der Ampel bei McDonald’s an, und ich … wir …“ Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie musste sich ein paarmal räuspern, ehe sie weitersprechen konnte. „Er saß in dem Wagen neben uns. Mit ihr.“

„Was?“, riefen Julie und Raven wie aus einem Mund. „Das darf doch nicht wahr sein!“

„Sie schmuste mit ihm herum, küsste ihn und …“ Andie presste die Hand auf die Augen, als ließe sich damit das Bild ihres Vaters und der anderen Frau verdrängen. „Es ist nicht richtig! Dad sollte niemanden außer meiner Mom küssen.“

„Abscheulich ist es!“ Empört richtete Julie sich auf. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass dein Vater so etwas tut.“

Andie ließ die Hände sinken. Mit traurigem Blick schaute sie ihre Freundinnen an. „Mom hat es auch gesehen. Sie hat fast einen hysterischen Anfall gekriegt. Das war gestern. Und bis jetzt hat sie ihr Zimmer noch nicht wieder verlassen. Ich habe Grandma angerufen. Sie ist gekommen, um uns zu helfen.“

„Diese Barbiepuppe hat Schuld an allem“, sagte Raven plötzlich. Sie kniff die Augen zusammen. „Sie hat dir deinen Dad gestohlen.“

„Ich hasse sie!“, stieß Andie heftig hervor. „Ich wünschte, sie wäre tot!“

Raven blickte von einer zur anderen. „Sie ist ein falsches Luder, das anderen Frauen die Männer wegnimmt. Dafür sollte sie bestraft werden. Wir müssen uns etwas ausdenken.“

Julie beugte sich vor. „Bestrafen? Wie?“

Andie schüttelte frustriert den Kopf. „Das ist doch Spinnerei, Rave. Klar wünsche ich dem kleinen Luder die Pest an den Hals. Aber Tatsache ist, dass mein Dad meine Mom verlassen hat. Und mich und meine Brüder. Ohne sein Dazutun hätte diese Ziege ihn nicht herumgekriegt.“

„Sie hat ihn gestohlen“, beharrte Raven. „Solche Dinge passieren nicht einfach so, Andie. Sie hatte es darauf abgesehen, sich deinen Dad unter den Nagel zu reißen, und es ist ihr gelungen.“

Andie musste an die Besuche im Büro ihres Vaters denken. Wie oft war sie entweder allein oder mit ihrer Mutter und ihren Brüdern bei ihm vorbeigegangen. Und jedes Mal war Leeza in ihren knappen Tops und kurzen Röcken um ihren Vater herumscharwenzelt, als sei sie die Ehefrau und Andies Mom der Eindringling. Andie erinnerte sich noch gut daran, wie unangenehm es sie berührte, wenn die Sekretärin ihrem Vater unter ihren dunklen Wimpern hervor kokette Blicke zuwarf, wie sie immer wieder sacht, fast zärtlich, die Hand auf seinen Arm legte.

Andies Blut kochte. Raven hatte recht. Leeza hatte es darauf angelegt, ihr den Vater wegzunehmen. „Wie können wir uns an ihr rächen?“

„Wir könnten ihr Haus mit Eiern bewerfen“, schlug Julie vor.

„Das reicht nicht“, sagte Raven.

„Was schlägst du vor?“

Raven lächelte. „Wir könnten ihr den Schädel einschlagen und sie im Garten verscharren.“

Julie verschluckte sich vor Schreck an ihren Kartoffelchips. Während Andie ihr auf den Rücken klopfte, bedachte sie Raven mit einem strafenden Blick. „Sehr komisch, Rave.“

„Es war nur so ein Gedanke.“ Raven stützte das Kinn auf die Faust. „Ich muss mir das in Ruhe überlegen.“

„Ich habe eine Idee.“ Julie stopfte sich erneut eine Handvoll Kartoffelchips in den Mund. Dabei sah sie Andie fragend an. „Hat sie nicht so einen flotten kleinen Sportwagen?“

Andie musste daran denken, wie sehr sie Leezas Auto bewundert hatte. So gut gefiel es ihr, dass sie sich gewünscht hatte, ihr Dad würde sich denselben Wagen kaufen. Zweifellos konnte er jetzt damit herumfahren, wann immer er Lust dazu hatte. Hass stieg in ihr auf. „Ja, einen knallroten Fiat. Sie fährt ihn immer offen. Sie findet das cool.“

„Weißt du, wo sie ihn parkt?“

„Klar. Hinter dem Bürogebäude meines Vaters. Im Schatten der Bäume.“

Kichernd schlug Julie die Hände zusammen. „Ich würde vorschlagen, wir zerkratzen ihr die Tür oder lassen ihr die Luft aus den Reifen.“

„Nicht so voreilig“, murmelte Raven. „Wir müssen ihr einen echten Schreck einjagen. Immerhin hat sie Andies Dad gestohlen. Da sollte die Strafe schon härter ausfallen. Eine zerkratzte Wagentür lässt sich leicht neu lackieren.“

„Hört auf“, sagte Andie, die Magenschmerzen bekommen hatte bei dem Thema. „Wir werden ja doch nichts unternehmen. Und über sie zu sprechen …“ Sie holte tief Luft. „Lasst uns über etwas anderes reden, okay?“

Und das taten sie. Sie berieten, was sie zu der bevorstehenden Pool-Party anziehen wollten, sprachen über Jungs und das neue Video von Michael Jackson. Bis sich Julie plötzlich ruckartig aufrichtete.

„Kinder, fast hätte ich vergessen, es euch zu erzählen! Ich habe wieder diese Musik gehört.“

„Welche Musik?“ Andie rollte sich zur Seite, um einen Blick auf die Uhr auf Ravens Nachttisch zu werfen.

„Na, ihr wisst doch. Die Musik, die neulich nachts aus dem leer stehenden Haus kam.“

Andie sah, dass es allmählich Zeit wurde, nach Hause zu gehen und nachzusehen, ob die Zwillinge im Bett waren. Sie setzte sich auf und begann ihre Sachen einzusammeln. „Wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass sie nicht aus dem leer stehenden Haus kam. Erinnerst du dich nicht?“

„Aber ich habe sie gehört“, beharrte Julie. „Gestern Abend, als ich mit Toto Gassi ging. Findet ihr das nicht seltsam?“

„Du bist seltsam!“ Lachend warf Raven ihr ein Kissen an den Kopf. „Musik in einem leer stehenden Haus! Es würde mich nicht wundern, wenn du plötzlich behauptest, du seist von kleinen grünen Männchen geraubt worden. Und dass sie göttlich küssen können!“

5. KAPITEL

„Ich habe darüber nachgedacht, was Julie neulich erzählte“, meinte Raven zwei Abende später, als die drei Mädchen auf Andies Bett saßen, eine aufgeschlagene Zeitschrift und ein halbes Dutzend Nagellackfläschchen in allen Rosatönen zwischen sich. „Dass sie wieder diese Musik gehört hat. Ich muss sagen, irgendwie kommt mir die Sache komisch vor.“

Andie griff nach einem Fläschchen, das die Bezeichnung „Blush“ trug. „Das habe ich auch gedacht“, sagte sie, während sie ihren Daumennagel lackierte und ihn dann trocken blies. „Wenn Julie sagt, sie hat diese Musik wieder gehört, dann muss etwas dran sein. Dann ist das nicht bloß ein Zufall.“ Sie spreizte die Finger, um ihren Daumennagel zu begutachten. „Warum tragen Mädchen eigentlich immer Rosa?“

„So ist es nun mal.“ Julie schob ihre Brille hoch. „Mädchen tragen Rosa, Jungs Blau.“

„Kinder“, unterbrach Raven sie ungeduldig, „ob sich vielleicht jemand in einem dieser leeren Häuser verbirgt?“

Andie sah sie an. „Warum? Wer sollte ein Interesse daran haben, sich in einem leeren Haus zu verstecken?“

„Genau das frage ich mich auch.“

Julie starrte sie an. „Kinder, ihr macht mir Angst“, sagte sie vorwurfsvoll. „Hört auf damit. Ich muss in dieser Straße wohnen.“

„Eben.“ Raven setzte sich auf. „Und deshalb sollten wir der Sache nachgehen.“

„Jetzt?“ Julie hielt ihre Hände hoch. „Mein Nagellack ist noch nicht trocken.“

„Dein Dad wird dich sowieso nicht mit lackierten Fingernägeln herumlaufen lassen.“ Raven blickte in die Runde. „Wir haben doch nichts Besseres vor, oder?“

„Nicht dass ich wüsste.“ Andie sah Julie fragend an. „Was meinst du, gehen wir?“

Julie zuckte die Schultern. „Okay. Ich muss erst in einer Stunde zu Hause sein.“

Nachdem sie Andies Mutter gesagt hatten, sie würden zu Julie hinübergehen, verließen die drei Mädchen das Haus. Sie nahmen die Abkürzung durch die Gärten und hatten innerhalb von Minuten Julies Straße erreicht. Am Ende der Sackgasse stehend, betrachteten sie die vier dunklen Häuser.

„Findet ihr das nicht wahnsinnig aufregend?“, flüsterte Andie. „Stellt euch vor, wir entdecken tatsächlich etwas.“ Sie blickte Raven an. „Was meinst du? Aus welchem Haus kam die Musik?“

Mit zusammengekniffenen Augen starrte Raven zu den Häusern mit ihren unheimlichen leeren, dunklen Fenstern hinüber. „Aus diesem“, sagte sie schließlich, auf das linke der vier Häuser deutend. „Es stößt direkt an das unbebaute Grundstück. Und die Straßenlaterne davor ist kaputt.“ Sie deutete nach oben. „Siehst du? Wenn ich ein krummes Ding vorhätte, würde ich mir dieses Haus aussuchen.“

Andie und Julie nickten zustimmend. Dann folgten sie Raven zu dem linken Haus. Sich verstohlen nach allen Richtungen umsehend, schlichen sie zur Rückseite des Gebäudes und spähten durch eines der Fenster. Der Raum war leer. Sie gingen zum nächsten Fenster und dann zum übernächsten. Überall dasselbe. Nichts als leere Räume.

Und dann wurden sie fündig. Sie sahen einen Stuhl. Einen einzelnen Stuhl mit hoher Rückenlehne, wie er hinter einem Schreibtisch oder an einem Esstisch stehen mochte. Nur dass es weder einen Tisch noch sonst irgendwelche Möbel in dem Raum gab. Bis auf den Stuhl war das Zimmer völlig leer.

Eine Gänsehaut lief Andie über den Rücken. „Das muss es sein“, flüsterte sie. „Ich wette, es ist das Haus.“

„Ich auch.“ Raven wandte sich an Julie. „Bist du sicher, dass dieses Haus noch nicht verkauft ist?“

„Absolut.“ Julie rieb sich die Arme. „Meine Mom sprach vor zwei Wochen mit Mrs. Green darüber. Alle vier Häuser stehen noch zum Verkauf.“

„Was machen wir jetzt?“, flüsterte Andie. „Dass da ein Stuhl im Zimmer steht, heißt noch lange nicht, dass sich ein Meuchelmörder in dem Haus einquartiert hat.“

„Kommt, wir sehen mal nach, ob die Tür offen ist.“

Andie hielt den Atem an, als Raven zur Tür ging und den Knauf herumdrehte. Und sie atmete erleichtert aus, als sie sah, dass die Tür verschlossen war. Auch bei den Fenstern hatte Raven kein Glück.

„Lass es sein, Raven.“ Nervös blickte Andie sich um. „Es ist nicht richtig, was wir hier machen.“

„Eine Sekunde.“ Raven stellte sich auf die Zehenspitzen und fuhr mit der Hand über den oberen Querbalken des Türrahmens. „Bingo!“ Triumphierend hielt sie einen Schlüssel hoch.

„Wo hast du das gelernt?“ Andie schüttelte den Kopf. „So etwas ist doch verboten.“

„Ach ja?“ Raven hob die Brauen. „Wir haben einen Schlüssel, oder? Niemand kann sagen, wir hätten eingebrochen.“

„Wir wollen nur das Haus ansehen“, warf Julie ein. „Musterhäuser sind schließlich dazu da, dass man sie besichtigt.“

Raven steckte den Schlüssel ins Schloss. Andie trat einen Schritt zurück. „Und wenn doch jemand hier wohnt?“

Raven schnitt ihr eine Grimasse. „Angsthase. Du brauchst ja nicht mitzukommen. Julie und ich gehen jedenfalls hinein.“ Sie blickte die Freundin an. „Nicht wahr, Julie?“ Das Mädchen nickte, und Raven öffnete die Tür.

Andie beobachtete, wie ihre Freundinnen im Haus verschwanden. Dann wartete sie. Endlos lang kam ihr die Zeit vor, die sie dort draußen stand. Ihr eigener Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Was machten die beiden dort drinnen? Was hatten sie gefunden?

„He, Kinder“, sagte sie im Flüsterton, „was ist los?“

Sie antworteten ihr nicht. Andie trat näher an die Tür heran, um zu lauschen. Als sie ihre Freundinnen nicht hören konnte, steckte sie den Kopf durch die Tür. Totenstille. Andie überwand ihre Angst und ging ins Haus.

Die Tür führte in die Küche. Neben der Küche befand sich das Zimmer mit dem einsamen Stuhl, dahinter die Eingangshalle und vermutlich das Esszimmer. Über einen Flur waren weitere Räume zu erreichen.

Andie fröstelte. Das Haus war ihr unheimlich. Obwohl es leer war, kam es ihr irgendwie bewohnt vor. Langsam sah sie sich um. Dabei fielen ihr eine Tüte auf dem Küchentisch und Tassen in der Spüle auf. Gleichzeitig registrierte sie das Summen der Klimaanlage.

„Rave?“, rief sie leise. „Julie?“

„Wir sind hier“, antwortete Raven. „Komm, schau dir an, was wir gefunden haben.“

Andie ging durch den Flur. Sie fand ihre Freundinnen in einem großen Raum mit gewölbter Decke und frei liegendem Gebälk. Mitten im Raum stand ein Barhocker. Auf dem Fußboden lagen einige große Kissen herum.

Und dann war da noch ein Kassettenrekorder. Andie besah sich das Gerät. Neugierig kniete sie sich hin, um es näher zu untersuchen. Aber sie fand keine Kassette darin. Das Gerät war leer.

„Der Kassettenrekorder beweist es.“ Julie sah ihre Freundinnen an. „Hier kam die Musik her. Jemand benutzt dieses Haus.“

„Aber wozu?“ Andie schüttelte den Kopf. „Mir ist das alles unheimlich. Lasst uns von hier verschwinden.“

Sie gingen durch den Flur zur Küche zurück. Im Vorbeigehen warf Andie einen Blick ins Bad. Sie sah einen Duschvorhang und einen Becher neben dem Waschbecken, jedoch keine Handtücher oder Toilettenartikel.

„Man könnte meinen, dass ein Geist hier wohnt“, sagte Julie fröstelnd, als sie wieder in der Küche standen.

„Ein Geist?“ Raven deutete auf die McDonald’s-Tüte auf dem Küchentisch. „Du spinnst wohl. Wir haben es hier mit einem ganz normalen menschlichen Wesen zu tun.“

Was Andie keinesfalls beruhigend fand. Sie ging zu dem leise summenden Kühlschrank und öffnete ihn. Von dem plötzlichen Licht geblendet, blinzelte sie ins Innere. Auch hier fanden sich Spuren des unheimlichen Bewohners: eine Sechserpackung Bier, eine Flasche Wein, Käse, Weintrauben.

Raven blickte ihr über die Schulter. „Will jemand ein Bier?“, fragte sie lachend.

„Bist du verrückt? Es fällt doch auf, wenn eine Dose fehlt. Dann merkt derjenige sofort, dass wir hier waren.“

„Na und?“ Raven griff in den Kühlschrank. „Woher soll er wissen, dass wir es waren, die …“ Sie hielt inne. „Was war das eben für ein Geräusch?“ Sie runzelte die Stirn. „Das klang fast so, als …“

Sie erstarrten, als hätten alle drei im selben Moment erkannt, wo das Geräusch herkam. Aus der Garage. Die automatische Garagentür war aufgegangen.

„Oh verdammt!“ Andie schaute ihre Freundinnen an. Eine Tür wurde geöffnet und zugeknallt. Eine Wagentür. „Was machen wir jetzt?“

„Versteckt euch, schnell!“ Ravens Stimme klang heiser vor Aufregung.

In wilder Panik blickte Andie sich um. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie packte Julies Hand und stürzte zur Speisekammer, schob die Freundin hinein und zwängte sich hinter sie in den kleinen Raum. Noch ehe sie die Tür richtig schließen konnte, betrat ein Mann die Küche. Andie umklammerte den Türknauf. Die Tür stand ungefähr drei Zentimeter offen. Durch den schmalen Spalt konnte Andie den Mann beobachten.

Weil er kein Licht machte, vermochte sie sein Gesicht nicht zu erkennen. Sie sah nur, dass er groß und dunkelhaarig war und saloppe Kleidung trug. Er ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Ein Lichtschein erhellte die dunkle Küche. Andie sah jedoch nur den Rücken des Mannes. Sekunden später hörte sie ein leises Zischen. Der Mann hatte eine Bierdose geöffnet.

Er trank Bier! Gott sei Dank, dass sie keine Dose weggenommen hatten. Sonst wüsste er jetzt mit Sicherheit, dass sie hier waren.

Er schloss den Kühlschrank und wandte sich um, blickte direkt auf die Speisekammertür. Einen Moment stand er unbeweglich da. Andie hatte fast das Gefühl, dass er sie ansah. Und dann drohte ihr Herzschlag auszusetzen, als der Mann geradewegs auf sie zukam.

Andie hielt den Atem an. Vor Angst war ihr ganz schwindelig geworden. Sie war sicher, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte. Sie schloss die Augen. Schweißperlen liefen ihr den Rücken herunter und unter das Gummiband ihres Schlüpfers.

Ausgerechnet in diesem Moment musste sich Julie hinter ihr auf dem Boden bewegen. Rühr dich nicht, Julie!, flehte sie im Stillen. Verhalte dich ruhig!

Der Mann blieb vor der Speisekammertür stehen. Er streckte den Arm aus. Und dann schob er die Tür zu. Mit leisem Klicken fiel sie ins Schloss.

Er hatte sie nicht entdeckt! Dafür saßen sie jetzt wirklich in der Falle.

Andie presste die Hand auf den Mund, um nicht vor Angst laut aufzuschreien. Was jetzt? Sie drehte sich zu Julie um. Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, sodass sie das Gesicht ihrer Freundin schemenhaft erkennen konnte. Julies Augen waren weit aufgerissen. Andie spürte ihre Panik, dieselbe Panik, die auch sie gepackt hatte.

Wieder vermochte sie nur mühsam einen Schrei zu unterdrücken. Am liebsten hätte sie die Tür aufgestoßen und wäre davongerannt. Stattdessen legte sie einen Finger auf den Mund, um Julie zu signalisieren, dass sie sich um Gottes willen ruhig verhalten möge. Julie nickte und legte das Gesicht auf die angezogenen Knie.

Die Minuten erschienen ihnen wie Stunden. Wie eine Ewigkeit. In der Speisekammer wurde es immer wärmer, immer enger. Andie kam sich vor wie lebendig begraben. Sie begann zu schwitzen. Wie lange würde sie es noch aushalten, ehe sie durchdrehte?

Und wo war Raven?

Sie bemühte sich, ruhig durchzuatmen, zwang sich, langsam bis zehn, dann bis zwanzig zu zählen. Sie sagte sich, dass ihnen gar nichts passieren konnte. Die Speisekammer war leer. Wenn der Mann sie nicht hörte, bestand kein Grund für ihn, die Tür zu öffnen. Solange sie sich ruhig verhielten, waren sie okay. Und Raven ebenso – wo immer sie sich versteckt haben mochte.

Andie schloss die Augen. Sie versuchte sich den Mann vorzustellen, der da im Dunkeln in der Küche stand und sein Bier trank. Angestrengt lauschend, glaubte sie ihn hin und wieder zu hören – seine Bewegungen, seine Schritte, seine rhythmischen Atemzüge. Aber es konnte genauso gut Einbildung sein.

Bitte, lieber Gott, lass ihn weggehen, betete sie im Stillen und hielt dabei den Atem an vor Angst. Unzählige Male wiederholte sie ihr Gebet, bis sie merkte, dass sie die Fingernägel in die Handflächen gegraben hatte und ihr schwindelig zu werden drohte vom Luftanhalten.

Und noch etwas registrierte sie: dass es schon seit einer Weile ganz ruhig in der Küche war.

Die Speisekammertür wurde aufgerissen.

Andies Schrei zerriss die Stille.

Es war Raven. Vor Erleichterung aufschluchzend taumelte Andie aus der Kammer. Julie stolperte hinterher. Und dann fielen sich alle drei in die Arme.

„Wo warst du?“, rief Andie. „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!“

„Ich hatte mich im vorderen Zimmer versteckt. Seid ihr okay?“

„Sicher.“

„Ich will nach Hause“, stammelte Julie. Ihre Zähne begannen aufeinanderzuschlagen. „Ich will nach Hause.“

Raven nahm Julies Hände und rieb sie, damit sie wieder warm wurden. „Habt ihr eine Ahnung, was der Typ vorhatte?“

„Ich weiß nicht“, sagte Andie, der noch immer die Angst in den Knochen steckte. „Es war alles so unheimlich. Bist du sicher, er ist weg?“

„Ja, er ist gegangen.“ Raven deutete zum Nebenzimmer. „Auf demselben Weg, wie er gekommen ist.“

Andie sah in die Richtung, in die Raven gedeutet hatte. „Und wenn er zurückkommt? Vielleicht hat er sich versteckt, um uns aufzulauern.“

Raven schüttelte den Kopf. „Nein, er ist weg. Ich habe die Garagentür gehört.“

„Ich will gehen“, jammerte Julie und fing im nächsten Moment an zu weinen. „Es ist mir unheimlich hier. Er hätte sonst was mit uns machen können.“

„Hat er aber nicht.“ Andie nahm sie tröstend in den Arm. „Es ist alles okay, Julie. Er hat uns kein Haar gekrümmt.“

„Er hätte uns aber etwas tun können! Und niemand wusste, dass wir hier sind!“

„Wer war er?“, fragte Raven leise, als spräche sie mit sich selbst.

„Ich habe sein Gesicht nicht erkennen können“, sagte Andie. „Und du?“

Raven sah sie einen Moment stumm an und schüttelte dann den Kopf. „Du hast sein Gesicht nicht gesehen? Er war doch direkt vor deiner Nase.“

„Es war dunkel. Und als er näher kam, bin ich zurückgewichen.“ Andie presste die Hand auf den Bauch. Noch immer hatte sie ein flaues Gefühl im Magen. „Ich glaube, ich habe auch die Augen zugemacht. Ich hatte solche Angst, er würde uns entdecken.“

„Ich auch.“ Raven atmete langsam aus. „Ich habe mich nicht getraut, um die Ecke zu lugen.“ Ihr Lachen klang hoch und unnatürlich. „Was für eine Aufregung.“ Wieder stieß sie dieses komische Lachen aus. Dann ging sie zur Frühstücksbar. „Seht mal, was er hiergelassen hat.“

Andie folgte ihr. „Was ist das?“, fragte sie, die zwei dünnen schwarzen Stofflappen betrachtend.

„Halstücher.“

Raven streckte die Hand danach aus, doch Andie hielt sie zurück. „Nicht! Fass sie nicht an.“

„Warum nicht? Ich lege sie wieder genauso hin, wie ich sie gefunden habe.“ Sie schüttelte Andies Hand ab und nahm eines der Tücher. Als sie es auseinanderfaltete, sahen sie, dass es ein langer, schmaler, halb durchsichtiger Schal war. „Wie weich er ist. Komm, fass ihn mal an.“

Nach kurzem Zögern berührte Andie den Schal. Zart wie Schmetterlingsflügel glitt der Stoff durch ihre Finger. „Meine Mutter hat einen Schal, der sich genauso anfühlt“, sagte sie. „Das ist Seide.“

„Seide“, wiederholte Raven. „Warum hat er diese Tücher wohl hierhin gelegt? Was will er damit?“ Fragend sah sie Andie an. „Wer ist er, Andie? Was hat er in diesem Haus zu suchen?“

„Ich weiß es nicht. Und wir brauchen es auch nicht zu wissen“, erwiderte Andie.

Julie trat zu ihnen. Sie war kreidebleich. „Mir ist übel. Ich will gehen.“

Andie nickte. Dann stieß sie Raven an, die wieder fasziniert den Schal befingerte. „Komm, lass uns von hier verschwinden.“

„Sie sind für eine Frau bestimmt, so viel ist klar“, murmelte Raven. „Aber für wen? Wozu hat er sie hergebracht? Und warum gleich zwei?“

Julie krümmte sich stöhnend. Andie legte den Arm um sie. „Komm, Raven“, sagte sie noch einmal. „Julie ist schlecht.“

Raven blickte auf, als hätte sie erst jetzt gemerkt, dass Andie mit ihr sprach. „Was?“, fragte sie abwesend.

„Julie ist schlecht. Wir müssen gehen.“

Raven nickte, faltete den Schal zusammen, und dann schlichen sie sich wieder hinaus. Als sie draußen waren, warf Andie noch einmal einen Blick zurück auf das dunkle Haus. Nie wieder würde sie hierherkommen, das schwor sie sich. Nie wieder.

6. KAPITEL

Tagelang gab es für Andie und ihre Freundinnen nur ein Gesprächsthema: der mysteriöse Mann und die Gefahr, in der sie geschwebt hatten. Mr. X, wie sie ihn getauft hatten, führte etwas im Schilde, und zwar nichts Gutes, davon waren sie überzeugt. Aber was es war, darüber konnten sie nur Vermutungen anstellen. Für Andie und Julie war das Grund genug, das Haus in Zukunft zu meiden. Sie hatten kein Verlangen danach, noch einmal in die Nähe dieses Mr. X zu kommen.

Raven hingegen brannte darauf, sein Geheimnis zu lüften. „Seid ihr denn nicht neugierig?“, fragte sie ihre beiden Freundinnen. Sie saßen in Andies Vorgarten und tranken Cola. Selbst im Schatten war die Mittagshitze kaum auszuhalten.

„Nein, meine Neugier hält sich in Grenzen.“ Andie presste die kalte Coladose an die Stirn. „Ich will die ganze Sache einfach nur vergessen.“

„Ich auch“, pflichtete Julie ihr bei. „Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben solche Ängste ausgestanden.“

„Aber trotzdem könnt ihr über nichts anderes reden“, meinte Raven kopfschüttelnd. „Und wie sollen wir die Sache vergessen? Wir waren in dem Haus. Wir wissen, dass mit dem Typ etwas nicht stimmt.“

„Das wissen wir nicht.“ Stöhnend über die Hitze streckte Andie sich im Gras aus. „Außerdem sind wir diejenigen gewesen, die etwas Verbotenes getan haben. Wir hatten in diesem Haus nichts zu suchen.“

„Er genauso wenig.“ Raven beugte sich zu Andie vor. „Offiziell steht dieses Haus leer. Es ist noch nicht verkauft.“ Sie wandte sich an Julie. „Sei ehrlich, dir kam der Kerl auch nicht geheuer vor, oder?“

„Also … ja, ich fand ihn auch unheimlich.“ Julie rieb sich die Arme. „Raven hat recht, Andie. Er hätte sich nicht in dem Haus aufhalten dürfen.“

„Ihr spinnt ja!“ Andie richtete sich wieder auf. Ungläubig starrte sie die beiden an. „Verdreht doch nicht die Tatsachen. Wir hätten nicht hineingehen dürfen. Wir sind eingebrochen!“

„Du verdrehst die Tatsachen.“ Raven zog die Knie an. „Wir wohnen hier. Es ist Julies Straße. Der Kerl könnte alles Mögliche sein – ein Mörder oder ein Sittenstrolch.“

„Ein Sittenstrolch?“ Andie verdrehte die Augen gen Himmel. „Der Typ hat ein Bier getrunken, in einem Haus, von dem wir annehmen, dass es leer steht. Übertreibst du nicht ein wenig, Raven?“

„Keineswegs. Lies mal die Zeitung. Diese Kerle sind überall.“ Raven senkte die Stimme. „Du willst doch bestimmt nicht so jemanden in unserer Nachbarschaft haben, oder?“

„Nein, sicher nicht, aber …“

„Mensch, Andie, du warst doch immer diejenige, die auf uns alle aufgepasst hat, der es darauf ankam, dass kein Unrecht geschieht.“

„Daran hat sich nichts geändert. Aber in diesem Fall bin ich mir nicht sicher, ob dieser Mann etwas Unrechtes getan hat. Klar hat er uns einen Schreck eingejagt. Das war kein Wunder in der Situation. Vielleicht ist er völlig unschuldig. Unter Umständen hat er sogar das Recht, sich in diesem Haus aufzuhalten.“

„Das glaubst du doch selbst nicht, Andie. Willst du mir erzählen, du fandest es nicht komisch, wie er da in diesem dunklen Haus stand und ein Bier trank? In einem Haus, von dem jeder weiß, dass es leer steht?“

„Und vergiss nicht diese sonderbaren schwarzen Tücher“, warf Julie ein. „Die fand ich echt unheimlich.“

Andie dachte daran, wie der Mann sich fast geräuschlos in der Küche bewegt hatte, wie selbst seine Atemzüge kontrolliert klangen, wie es ihr vor ihm gegraust hatte in ihrem Versteck. Dabei lief ihr trotz der Hitze eine Gänsehaut über die nackten Arme. „Okay, okay“, sagte sie fröstelnd. „Er war unheimlich. Die ganze Sache war höchst merkwürdig.“

Raven wandte sich an Julie. „Sag ihr, was du herausgefunden hast.“

Julie beugte sich zu ihnen vor. Verschwörerisch senkte sie die Stimme. „Ich habe meine Mom noch einmal wegen dieses Hauses gefragt, nur so, weil ich sicher sein wollte. Ich fragte sie, ob es in der Zwischenzeit verkauft oder vermietet worden war, und sie sagte, Nein, davon wisse sie nichts. Sie hätte vor Kurzem mit Mrs. Butcher, der Maklerin, über dieses Haus gesprochen.“ Julie holte tief Luft. „Mrs. Butcher hat ihr gesagt, dass alle vier Häuser noch dem Bauunternehmer gehören.“

Andie fröstelte schon wieder. „Also, was sollen wir machen?“ Fragend blickte sie die Freundinnen an. „Zu unseren Eltern gehen?“

Raven schürzte die Lippen. „Und was sollen wir ihnen erzählen? Dass wir in das Haus eingebrochen sind und dabei entdeckten, dass jemand dort wohnt?“

„Mein Dad würde mich übers Knie legen, wenn ich auch nur durchs Fenster gespäht hätte.“ Julie schüttelte den Kopf. „Wenn er je herausfindet, was ich getan habe …“ Sie brauchte nicht auszureden. Sie wussten alle drei, zu welchen schrecklichen Bestrafungen der gute Reverend Cooper fähig war. Auf jeden Fall hätte er Julie den weiteren Umgang mit ihnen verboten.

„Wir könnten sagen, dass wir Musik hörten.“ Die Coladose zwischen den Händen rollend, starrte Andie ins Gras. „Wir könnten sagen, wir sahen jemanden in die …“

„Andie!“ Julie packte sie beim Arm. „Schau mal, dein Dad.“ Er bog in die Auffahrt ein. So wie er es zigmal getan hatte.

Er kam nach Hause! „Ich wusste es“, flüsterte Andie. „Ich wusste, er bringt es nicht übers Herz.“ Strahlend sah sie ihre Freundinnen an. „Er kommt zurück, Kinder.“

Raven und Julie tauschten einen vielsagenden Blick aus. Raven räusperte sich. „Andie warte erst einmal ab und mach dir keine zu großen Hoffnungen.“

„Warum sollte er sonst herkommen? Mitten am Tag?“ Er öffnete die Wagentür, und sie sprang auf, um zu ihm zu rennen. „Hallo, Dad!“

Ihr Vater wandte sich um und sah sie an. Sein Gesicht war weiß vor Wut. Andie blieb abrupt stehen. Ihre Freude schwand.

„Dad? Was ist passiert?“

„Wo ist deine Mutter?“, fragte er knapp. Er schlug die Wagentür zu. „Ist sie im Haus?“

„Ich glaube, ja. Ich …“

„Du bleibst hier, Andie. Diese Sache geht nur deine Mutter und mich etwas an.“

Andie beobachtete, wie er zum Haus eilte. Und dann lief sie trotz seines Verbots hinter ihm her. Er erreichte die Haustür. Ohne anzuklopfen, riss er sie auf. „Marge“, rief er und trat ins Haus. „Marge!“

Ihre Mutter kam aus der Küche. Ihre Miene hellte sich auf, als sie ihn sah. „Dan! Was für eine Überra…“

„Spar dir deine Worte“, blaffte er sie an. „Was hast du dir bloß dabei gedacht? Was versuchst du damit zu erreichen?“

Die Freude schwand aus ihrem Gesicht. „Wovon redest du?“

„Komm mir nicht mit diesem Bullshit! Du weißt genau, wovon ich rede.“

Andie war hinter ihrem Vater stehen geblieben. Es gelang ihr kaum, einen überraschten Ausruf zu unterdrücken. Die wenigen Male, die sie ihren Vater hatte fluchen hören, konnte sie an einer Hand abzählen. Verwirrt sah sie ihre Mutter an. Wenn er gekommen war, um sie alle um Verzeihung zu bitten, warum fluchte er dann? Wenn er nach Hause zurückkehren wollte, warum war er dann so aufgebracht?

Mit geballten Fäusten machte er einen Schritt auf seine Frau zu. „Leeza hätte tot sein können, Marge. Tot! Lässt dich das völlig kalt? Was bist du bloß für ein Mensch?“

Es ging um Leeza. Ihretwegen war er gekommen. Nicht weil ihm seine Familie fehlte. Nicht, weil er wieder zu ihnen ziehen wollte. Andie wich zur Tür zurück. Wäre sie doch bloß draußen geblieben, wie ihr Vater es ihr befohlen hatte.

„Eine Schlange in ihrem Auto zu verstecken!“, fuhr er fort. „Hättest du dir nicht etwas anderes, weniger Offensichtliches ausdenken können?“

„Eine Schlange?“ Ihre Mutter legte die Hand an den Hals. Andie sah, dass ihre Finger zitterten. „Du willst mir doch wohl nicht unterstellen, dass ich … dass ich etwas damit zu tun habe?“

„Willst du es etwa abstreiten?“ Seine Stimme klang zynisch. „Willst du behaupten, du hättest ihr nicht diese Natter in den Wagen geschmuggelt, in der Hoffnung, dass sie vor Schreck einen Unfall baut?“

„Dad!“, rief Andie schockiert. „So etwas würde Mom niemals tun! Das solltest du eigentlich wissen.“

Ruckartig drehte er sich zu ihr um. Er wirkte noch eine Spur blasser als vorher. „Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst draußen warten?“

Andie hob trotzig das Kinn. Sie war wütend auf ihren Vater. Sie wollte ihm gerade eine schnippische Bemerkung entgegenschleudern, als ihre Mutter ihr zuvorkam. „Dies ist Andies Zuhause. Im Gegensatz zu dir hat sie ein Recht darauf, sich hier aufzuhalten.“

Er sah von einer zur anderen, als mache er sich erst jetzt klar, wie seine Anschuldigung auf seine Tochter gewirkt haben musste. „Leeza hätte tot sein können“, sagte er noch einmal. Seine Stimme zitterte vor Aufregung. „Sie ist im Krankenhaus. Sie …“

„Pech gehabt“, sagte Raven hinter ihnen. „Mit solchen Dingen muss man rechnen, wenn man mit einem verheirateten Mann herumvögelt.“

Andie drehte sich um. Raven stand an der Tür. Ihre Augen waren schmal, ihre Lippen zu einer entschlossenen geraden Linie zusammengepresst. Julie wartete ein paar Schritte hinter ihr. Ihre Wangen brannten vor Verlegenheit.

Dan Bennett hatte sich ebenfalls umgewandt. Er bebte vor Zorn. „Was fällt dir ein, du vorlautes Ding? Du hast hier nichts verloren. Du gehörst nicht zur Familie.“

„Familie?“ Andies Mutter trat vor. „Du bist derjenige, der nicht mehr zur Familie gehört. Ich verlange, dass du auf der Stelle gehst.“ Sie riss die Haustür auf. „Und wage es bloß nicht, dieses Haus noch einmal ohne eine Einladung zu betreten.“

Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schien es sich dann jedoch anders zu überlegen und machte ihn wieder zu. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte an Raven und Julie vorbei zu seinem Wagen. Sekunden später stieß er mit quietschenden Reifen rückwärts aus der Auffahrt.

Schweigend blickten Marge und die Mädchen ihm nach. Schließlich räusperte sich Marge. „Es tut mir leid, dass ihr diese Szene mit ansehen musstet.“ Sie wandte sich an Raven, zögerte dann jedoch, als wisse sie nicht so recht, was sie zu ihr sagen sollte.

Raven kam ihr zuvor. „Es tut mir leid, dass mir diese Bemerkung herausgerutscht ist, Mrs. Bennett. Aber es macht mich so wütend, wenn ich daran denke, was er Ihnen angetan hat.“

Marges Gesichtsausdruck wurde weich. „Ich danke dir, dass du so lieb Anteil nimmst, Raven. Aber ich kann mich selbst verteidigen, okay?“

Raven nickte. Julie streckte den Arm aus und berührte Marges Hand. „Wir finden Sie toll, Mrs. Bennett.“

„Ja“, sagte Raven. „Wir mögen Sie wirklich. Ihr Mann ist derjenige, der sich entschuldigen sollte.“

„Ich danke euch, ihr Mädchen“, murmelte Marge. Sie lächelte, wenn auch etwas angestrengt. „Ihr seid wirklich lieb. Und ich … ich …“ Sie wandte sich an Andie. „Geht jetzt. Ihr habt doch sicher etwas Besseres vor, als einer alten Dame Gesellschaft zu leisten.“

Andie spürte, wie ihr die Brust eng wurde. „Du bist nicht alt, Mom.“

„Älter als ihr“, erwiderte ihre Mutter fest. „Und jetzt verschwindet. Ich habe zu tun, und ihr haltet mich von der Arbeit ab.“ Sie drückte Andies Schultern. „Ich bin okay“, flüsterte sie. „Mach dir keine Gedanken.“

Andie nickte und ging mit ihren Freundinnen in den Garten hinaus, wo sie sich wieder unter dem Ahornbaum niederließen. Eine Weile sprach keine von ihnen. Irgendwann beugte Julie sich vor und nahm Andies Hand. „Es tut mir leid, Andie.“

„Ja“, murmelte Raven. „Mir auch.“

„Danke.“ Andie musste gegen einen Tränenschleier anblinzeln. „Wenn ich euch nicht hätte …“

Raven streckte sich im Gras aus. Zufrieden lächelte sie zum blauen Himmel hinauf. „Jetzt hat die kleine Nutte ihre Lektion gelernt.“

„Wie bitte?“, fragte Andie verständnislos.

„Die kleine Nutte. Leeza. Sie hat es verdient.“

Sie hat es verdient? Andie stockte der Atem. Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Sie hatten alle zusammen auf ihrem Bett gesessen und überlegt, wie sie es Leeza heimzahlen konnten. Dabei hatten sie auch über Leezas Wagen gesprochen und dass sie immer offen fuhr und ihn hinter dem Bürogebäude ihres Vaters parkte. Aber das war doch alles nur Gerede gewesen … oder etwa nicht?

Ein flaues Gefühl in der Magengrube, blickte Andie von Raven zu Julie, die ihrerseits Raven entgeistert anstarrte.

War es womöglich nicht nur Gerede gewesen?

„Raven“, flüsterte Andie, „du hast doch nicht etwa … ich weiß, wir haben darüber gesprochen, es Leeza heimzuzahlen, aber das war bloß … wir haben doch nur Spaß gemacht, nicht wahr?“

Raven erwiderte ihren Blick. „Wir haben nur Spaß gemacht? Ich dachte, du würdest sie hassen.“

„Sicher. Aber … aber sie hätte sterben können.“

Daraufhin schwiegen alle drei einen Moment. Dann schüttelte Raven den Kopf. „Du hast gesagt, dass du dir wünschst, sie wäre tot, Andie. Also, wozu machst du dir dann Gedanken? Und wenn sie gestorben wäre? Wenn du mich fragst, dann hat diese kleine Nutte es nicht besser verdient.“

Andie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Klar, sie hasste Leeza, weil sie ihr den Vater weggenommen hatte. Aber wenn sie gesagt hatte, dass sie sich Leezas Tod wünschte, dann war das doch nicht ernst gemeint. Verstand Raven das nicht?

„Schau mich nicht so an, Andie.“ Lachend setzte Raven sich auf. „Du lieber Himmel, ich habe es nicht getan. Ich sage ja nur, dass ich kein Mitleid mit ihr habe und dass du auch keines haben solltest. Denk doch nur daran, was sie euch angetan hat.“

„Genau.“ Julie nickte. Irgendwie sah sie erleichtert aus. „Rave würde so etwas niemals machen. Und mir tut das kleine Luder auch nicht leid.“

Andie legte die Hand auf die Brust. „Ich dachte schon, du …“ Sie sprach nicht weiter. Irgendetwas in Ravens Gesichtsausdruck, ein seltsames Funkeln in ihren Augen, verunsicherte sie. Sie räusperte sich. „Aber … wie mag die Schlange in ihr Auto gekommen sein?“

Raven zuckte die Schultern. „Du hast gesagt, Leeza würde das Verdeck ihres Wagens immer offen lassen. Ich wette, diese dumme Schlange hat sich aus den Bäumen, unter denen sie ihn abgestellt hat, herunterfallen lassen und sich unter ihrem Sitz zu einem Mittagsschläfchen zusammengerollt.“

„Ja, so muss es gewesen sein.“ Julie kicherte. „Dasselbe ist Mrs. Beasely aus der Kirche mal mit Vogelscheiße passiert. Der Klecks ist direkt auf ihrem Kopf gelandet. Sie ist echt ausgeflippt.“

Darüber wollten sich alle drei schier kaputtlachen. „Okay, Kinder, was machen wir jetzt?“, fragte Andie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatten.

„Ich würde sagen, wir beschäftigen uns mit unserem kleinen Geheimnis.“ Raven senkte die Stimme zu einem aufgeregten Flüstern. „Wir beobachten das Haus. Wir versuchen herauszufinden, was der Kerl vorhat. Das dürfte nicht schwierig sein. Um das Haus herum stehen Bäume. Und mein Dad hat ein Fernglas …“

„Meiner auch“, warf Julie ein.

„Gut. Und wenn wir wissen, was er treibt, lassen wir ihn auffliegen. Dann gehen wir zu unseren Eltern, die gehen zur Polizei, und wir sind Helden.“

Andie zog die Brauen zusammen. „Und wenn er nichts Böses vorhat?“

„Dann schreiben wir das Ganze unserer lebhaften Fantasie zu.“

„Wie aufregend“, murmelte Julie.

Andie musste zugeben, dass auch ihre Neugier geweckt war. Immerhin war es ja möglich, dass der Typ tatsächlich etwas im Schilde führte. Und wenn dann wirklich was passierte, würde ihr Gewissen sie plagen, weil sie nichts unternommen hatte. „Wann fangen wir an?“, fragte sie.

„Heute Abend.“

„Okay.“ Andie atmete langsam aus. „Ich bin dabei. Unter einer Bedingung.“ Die beiden anderen blickten sie an. „Dass wir nicht mehr in dieses Haus gehen. Nie mehr. Unter keinen Umständen. Wenn ihr euch nicht daran haltet, mache ich nicht mit. Dann sage ich es unseren Eltern. Also, seid ihr einverstanden?“

Julie nickte sofort, während Raven einen Moment zögerte, ehe auch sie zustimmte.

7. KAPITEL

Nachdem sie ihren Entschluss gefasst hatten, stellten die drei Freundinnen einen Plan auf. Nachmittags und am frühen Abend würden sie zusammen Wache halten, die übrige Zeit entsprechend ihrer häuslichen Situation in Schichten unter sich aufteilen.

So übernahm Julie die Frühschicht nicht nur deshalb, weil sich ihr Haus in derselben Straße befand wie das Haus, das es zu bewachen galt, sondern vor allem auch, weil ihr Dad der Überzeugung war, dass Sünde im Allgemeinen später am Tag stattfand. Und da außerdem die Morgenstunden im Cooper’schen Haushalt recht hektisch waren, hatte Julie vor zehn Uhr relative Freiheit.

Ravens Vater hingegen ließ seiner Tochter unglaublich große Freiheit – solange sie ihn, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, mit einem Dinner auf dem Tisch und einem Lächeln im Gesicht begrüßte.

Andie übernahm die Zeiten, zu denen ihre Freundinnen nicht von zu Hause wegkonnten. Mit der Jobsuche und ihren Depressionen vollauf beschäftigt, nahm ihre Mutter sie sowieso kaum wahr.

Die Wochenenden schenkten sie sich. Die Straße war samstags und sonntags so belebt, dass sie nicht annahmen, ihr Mr. X würde sich an diesen Tagen blicken lassen.

In einer riesigen alten Eiche auf dem bewaldeten Grundstück neben dem Haus hatten sie den perfekten Ausguck gefunden. Vor zwei Jahren hatten Kinder dort mit dem Bau eines Baumhauses begonnen, ihr Projekt jedoch abbrechen müssen, als der Besitzer des Grundstücks ihr Tun bemerkte. Zurückgeblieben von ihrem Vorhaben war eine breite Plattform, auf der die drei Mädchen bequem nebeneinander Platz fanden. Im dichten Blattwerk verborgen, war ihr Aussichtsplatz von der Straße aus nicht zu sehen. Sie hingegen hatten freie Sicht auf die Einfahrt des Hauses.

Bis jetzt hatte der mysteriöse Fremde jedoch auf sich warten lassen. Enttäuscht hatten sie schließlich entschieden, etwas anderes zu versuchen. An den beiden Abenden, an denen sie die Musik hörten, war es jedes Mal spät gewesen. Deshalb hatten sie vereinbart, sich heute Nacht von zu Hause wegzuschleichen, um sich pünktlich um halb elf auf ihrer Plattform zu treffen. Inzwischen war es zehn vor elf.

„Wo bleibt Raven bloß?“, fragte Julie mit einem Blick auf ihre Uhr.

Andie zuckte die Schultern. „Vielleicht konnte sie noch nicht weg. Manchmal bleibt ihr Dad ziemlich lange auf.“

Julie biss sich besorgt auf die Unterlippe. „Er hat hoffentlich nichts gemerkt. Du weißt, er würde sofort zu unseren Eltern gehen und uns verpetzen.“

Andie spähte auf die Straße hinab. „Nein, Ravens Dad wäre der Letzte, der etwas merkt. Raven ist zu gerissen, um sich erwischen zu lassen.“

„Ja, da hast du recht.“ Julie rieb sich fröstelnd die Arme. „Ich bin einfach nervös, das ist alles.“

Andie hob das Fernglas und blickte zu dem leeren Haus hinüber. Wie immer lag es dunkel und verlassen da. Komisch, dachte sie. Die ganze Sache war komisch.

„Da kommt sie!“, sagte Julie aufgeregt.

Andie richtete das Fernglas auf die Straße. Tatsächlich kam Raven eben auf das leere Grundstück zugerannt. Sekunden später raschelte es unter ihnen im Gebüsch, und gleich darauf blieb Raven am Fuß der Eiche stehen.

„Wir haben uns schon Sorgen gemacht“, bemerkte Julie im Flüsterton.

„Tut mir leid, Kinder.“ Raven blickte zu ihnen hinauf. Sie war völlig außer Atem. „Ich muss euch was erzählen. Ihr werdet es nicht glauben. Mein Dad hat eine Freundin! Deshalb komme ich so spät. Wir haben zusammen Abendbrot gegessen. Jetzt sind sie tanzen gegangen.“ Sie holte tief Luft. „Ich musste warten, bis sie weg waren.“

„Dein Dad hat eine Freundin?“ Andie rutschte an den Rand der Plattform. „Nicht zu fassen.“

Raven kletterte die wacklige Leiter zur Plattform hinauf. „Ja, ich war auch baff.“

„Ich fand es immer so rührend, wie er deiner Mom nachtrauerte“, murmelte Julie. „Stundenlang hat er auf eurer Veranda gesessen und vor sich hin gestarrt.“

„Ja, wirklich rührend.“ Raven schnitt eine Grimasse. „Jedenfalls habe ich mich dieser Lady von meiner besten Seite gezeigt und so getan, als sei mein Dad der Größte. Dabei hätte ich sie lieber vor ihm gewarnt.“

„Raven, du übertreibst“, meinte Julie lachend. „So schlimm ist dein Dad doch wirklich nicht.“

„Nein“, erwiderte Raven leise, wobei sie ihre Freundin unverwandt ansah. „Er ist schlimmer.“

Einen Moment schwiegen alle drei. Andie räusperte sich unsicher, Julie errötete verlegen. Beide Mädchen wichen Ravens Blick aus. Nicht, was Raven über ihren Vater gesagt hatte, irritierte sie, sondern die Art und Weise, wie sie es gesagt hatte. Wie sie immer klang, wenn sie von ihrem Vater sprach. Als sei er eine Art Monster.

Andie hatte das Gefühl, Raven verschwieg ihnen etwas über ihren Vater, irgendetwas Wichtiges. Etwas Schlimmes. Doch dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie den Gedanken vertreiben. Warum hätte Raven ihnen etwas verheimlichen sollen? Waren sie nicht wie Schwestern? Vertrauten sie sich nicht gegenseitig alles an?

„Schau!“ Julie stieß ihr den Ellbogen in die Rippen. „Da ist er!“

Andie wandte sich um. Ein Wagen kam den Hügel hinuntergefahren und bog in die Nummer zwölf der Mockingbird Lane ein. Raven sah durch ihr Fernglas, obwohl Andie bezweifelte, dass sie in der Dunkelheit viel erkennen konnte. Während sie zum Haus hinüberstarrten, ging die automatische Garagentür auf. Der Wagen fuhr hinein, und die Tür schloss sich wieder.

„Hast du sein Gesicht gesehen?“, flüsterte Andie.

Raven schüttelte den Kopf.

„He, Kinder“, zischte Julie, „da kommt noch ein Wagen.“

Andie und Raven folgten Julies Blick. Tatsächlich. Da kam ein zweiter Wagen. Auch er bog in die Einfahrt der Nummer zwölf ein, auch er verschwand in der Garage.

Raven ließ das Fernglas sinken. Die Mädchen sahen sich an. „Zwei Autos?“, sagten sie wie aus einem Mund.

„Es war eine Frau“, erklärte Raven. „Ich habe sie gesehen. Sie betrachtete ihr Gesicht in dem beleuchteten Spiegel der Sonnenblende, während sie darauf wartete, dass die Garagentür aufgeht.“

„Eine Liebesgeschichte“, seufzte Julie. „Wie romantisch.“

Mit gerunzelter Stirn sah Raven sie an. „Wozu dann die Halstücher? Wozu die Musik mitten in der Nacht? Und warum treffen sie sich in einem leeren Haus?“

Darauf wusste keine von ihnen eine Antwort. „Was machen wir jetzt?“, fragte Andie.

„Wir gehen der Sache auf den Grund“, antwortete Raven.

„Und wie bitte schön sollen wir das bewerkstelligen?“

„Ganz einfach.“ Raven grinste. „Wir werfen einen Blick durch die Fenster.“

„Kommt nicht infrage.“ Andie sah zu Julie, die bereits vom Baum zu klettern begann. „Ihr seid verrückt. Ich werde mich hüten, zu diesem Haus zu gehen und durch die Fenster zu gucken.“

Fünf Minuten später folgte Andie den beiden zur Rückseite des leeren Hauses. Geduckt näherten sie sich dem ersten Fenster. Als sie es erreicht hatten, richteten sie sich vorsichtig auf, um über den Rand zu spähen. Der Raum dahinter schien leer zu sein.

Auch beim zweiten Fenster hatten sie kein Glück – und beim dritten ebenso wenig. Andie war drauf und dran, das Ganze als Fehlanzeige abzutun, als Raven sie vom vierten Fenster aus hektisch herbeiwinkte.

Andie ging hin. Sie wollte es nicht, aber sie tat es trotzdem. Dabei hatte sie so heftiges Herzklopfen, dass sie fürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Widerstrebend lugte sie über das Fenstersims. Sie sah in einen dunklen Raum, in dem eine einzige Kerze brannte. Andie brauchte einen Moment, um in dem Halbdunkel etwas zu erkennen. Doch dann sah sie ihn. Mit dem Rücken zum Fenster saß er auf dem einzelnen Stuhl mitten im Zimmer.

Sie wusste, dass er es war, Mr. X, der unheimliche Fremde.

Und dann sah sie die Frau. Ein paar Schritte von ihm entfernt stand sie in starrer Haltung vor ihm. Ihre Kleidung, ein Kostüm mit hochgeschlossener weißer Bluse, wirkte ebenso korrekt wie ihre Kurzhaarfrisur und die flachen Schuhe. Alles an ihr wirkte korrekt und konservativ. Bis auf eines.

Ihre Augen waren verbunden. Mit einem schwarzen Seidenschal. Andie erkannte den Schal. Sie hatte ihn neulich nachts in der Hand gehabt.

Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrer Magengrube aus. Sie tauschte einen Blick mit Raven und Julie aus. Auch sie hatten den Schal erkannt, das sah sie ihnen an.

Sekunden vergingen. Andie wagte kaum zu atmen. Die Frau rührte sich nicht. Und dann setzte auf einmal die Musik ein, dieselbe Musik, die sie schon zweimal zuvor gehört hatten. Die Frau begann sich im Takt dazu zu wiegen, wenn Andie ihre Bewegungen auch etwas zögernd erschienen, unsicher, fast so, als hätte sie Angst. Sie legte die Hände auf den Revers ihrer Kostümjacke. Langsam schob sie das Jackett über die Schultern.

Nachdem die Jacke zu Boden gefallen war, zog sie die Bluse aus dem Rockbund und begann sie aufzuknöpfen. Sie brauchte sehr lange dazu. Andie vermutete, dass ihre Finger dabei zitterten. Endlich hatte sie den letzten Knopf geöffnet. Die Bluse klaffte auseinander.

Sie machte einen Striptease. Sie wurde dazu gezwungen.

Die Erkenntnis traf Andie wie ein Keulenschlag. Sie wollte schreien, wollte ans Fenster klopfen, wollte den Mann verjagen und die Frau aus der Trance reißen, in der sie sich zu befinden schien. Aber sie tat nichts dergleichen. Stattdessen verharrte sie regungslos und beobachtete konsterniert, wie die Frau ein Kleidungsstück nach dem anderen ablegte.

Als sie sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatte, hielt sie inne. Schatten tanzten im flackernden Kerzenschein auf ihrer weißen Haut.

Der Mann stand auf und verließ den Raum, ging an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Renn weg!, beschwor Andie sie im Stillen. Nimm deine Kleider und verschwinde!

Aber die Frau rührte sich nicht. Was war mit ihr los? Warum rannte sie nicht …

Sie war gar keine Gefangene. Sie wollte hier sein.

Andie schlug sich die Hand vor den Mund. Dabei blickte sie zu Raven und Julie hinüber. Ihre Gesichter drückten dasselbe aus, was auch sie empfand – Schock sowie eine Mischung aus Abscheu und Faszination. Minuten – oder waren es Stunden? – verstrichen. Andie hatte jegliches Zeitgefühl, jeglichen Bezug zur Realität verloren. Eine Ewigkeit schien die Frau halb nackt und allein in dem leeren Zimmer zu stehen. Eine Ewigkeit, in der sie sich nicht vom Fleck rührte.

Irgendwann kam der Mann zurück. Wieder ging er an der Frau vorbei, ohne sie anzusehen oder sie zu berühren. Als sei sie Luft für ihn, dachte Andie. Als sei sie ihm völlig egal. Sie versuchte sein Gesicht zu erkennen, ehe er ihnen wieder den Rücken zukehrte und sich setzte, aber sie vermochte nur flüchtige Eindrücke in sich aufzunehmen: dunkles Haar, harte Züge, Kraft und Schönheit. Und etwas Böses.

In diesem Moment spürte Andie, dass sie diesen Mann hasste. Das Gefühl war so stark, dass es ihr die Kehle zuschnürte, ihr die Luft raubte und sie gleichzeitig belebte.

Er zündete sich eine Zigarette an. Für den Bruchteil einer Sekunde beleuchtete die Flamme sein Profil. Dann versank es wieder im Halbdunkel. Wie eine Schlange wand sich der Rauch durch das Licht der Kerze zu seinen Füßen.

Die Frau bewegte sich. Sie schob ihren Unterrock über die Hüften und ließ ihn zu Boden gleiten. Danach öffnete sie ihren BH. Aufreizend langsam zog sie ihn aus. Zum Schluss streifte sie ihren knappen weißen Slip ab. Dann ließ sie die Arme sinken und verharrte regungslos vor dem Mann, als warte sie auf seine Anweisungen.

Andie spürte, wie ihr heiß wurde, wie ihr der Schweiß ausbrach. Noch nie hatte sie eine nackte Frau gesehen. Jedenfalls nicht so. Sie hatte ihre Freundinnen in der Umkleidekabine gesehen und ihre Mutter, wenn sie mal, ohne anzuklopfen, ins Bad gestürmt kam. Aber das war irgendwie natürlich gewesen. Unschuldig.

Dies hier war unnatürlich. Und alles andere als unschuldig. Sowohl der Mann und die Frau als auch die Musik oder die Art und Weise, in der sie und ihre Freundinnen die beiden ausspionierten.

Trotzdem schaute Andie nicht weg. Die Frau war wunderschön. Sie war schlank und hatte Kurven, wie Andie sie auch eines Tages mal haben wollte. Ihre Wangen brannten, als sie die Frau betrachtete, und schockiert zuckte sie zusammen, als ihr Blick an dem dunklen Dreieck zwischen ihren Oberschenkeln hängen blieb.

Plötzlich fiel ihr auf, wie schwer ihre Freundinnen atmeten, wie ihr eigenes Herz hämmerte, wie Julie ihren Arm umklammerte.

Die Frau machte einen Schritt auf den Mann zu, dann noch einen, tastete sich mit ihren verbundenen Augen durch das Dunkel, bis sie ihn erreicht hatte. Einen Moment blieb sie vor ihm stehen. Dann kniete sie zu seinen Füßen nieder und senkte den Kopf in seinen Schoß.

Einen Moment fragte sich Andie, was die Frau tat. Dann wusste sie es.

Nein, sagte sie sich, das kann nicht sein. So etwas kommt hier nicht vor. Nicht in Thistledown. Nicht in unserer Wohngegend. Aber es geschah sehr wohl. Sie sah es mit eigenen Augen.

Mit einem erstickten Schrei duckte sie sich und zog ihre Freundinnen mit sich herunter. Geschockt starrten sich alle drei an. Dann blickten sie beschämt weg. Andie öffnete den Mund, um das Schweigen irgendwie zu brechen, doch sie brachte keinen Laut hervor.

Und dann rannten sie los, weg von dem Fenster und zurück zu ihrem Baumhaus auf dem leeren Grundstück. Atemlos kletterten sie auf die Plattform hinauf. Noch immer sagten sie kein Wort. Nur ihre unregelmäßigen Atemzüge waren zu hören.

Bis Julie plötzlich zu kichern begann. Unsicher schlug sie sich die Hand vor den Mund. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu kichern. Als Raven und Andie sie ansahen, schüttelte sie den Kopf. „Ich kann nichts dazu. Es war so …“ Sie errötete. „Kinder, sie hat ihm einen … geblasen.“

Andie barg das Gesicht in den Händen. „Ich kann nicht glauben, dass so etwas … ich meine, hier, in unserer Nachbarschaft?“

„Irre.“ Raven zog die Knie an. „Ich habe so etwas noch nie gesehen. Das war wirklich stark.“

„Und wieso haben sie Blindekuh gespielt?“, wollte Andie wissen.

„Weil sie pervers sind“, erklärte Julie. „Sexuell gestört. Ich habe mal in der Bibliothek ein Buch darüber gesehen. Ich glaube, es hieß …“, sie dachte einen Moment nach, „‚Sexuelle Abarten‘.“

Andie konnte es noch immer nicht begreifen. „Aber warum tut diese Frau das für ihn?“

„Ich weiß es nicht.“ Raven zuckte die Schultern. „Vielleicht gefällt es ihr.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Andie wünschte, sie hätte das Gesicht des Mannes gesehen. Dabei fragte sie sich, ob sie diese ganze Geschichte dann eher verstanden hätte. „Es war so widerwärtig, so … erniedrigend. Als sei die Frau nichts wert. Als sei sie eine Sklavin und er ihr Herr.“

„Eklig.“ Julie verzog das Gesicht. „So etwas würde ich für niemanden tun.“

„Was du nicht sagst.“ Raven machte ein nachdenkliches Gesicht. „Wie soll es jetzt weitergehen? Wir könnten die ganze Sache einfach vergessen, aber sie war so unheimlich … so abartig.“

„Meint ihr …“ Andie zögerte einen Moment. Sie wusste, was sie sagen wollte, war etwas weit hergeholt, aber sie hatte das Gefühl, dass sie es zur Sprache bringen musste. „Ich weiß, die Frau ist allein gekommen und so, aber glaubt ihr, sie … ich meine, könnte es nicht sein, dass sie nicht freiwillig kam?“

Julie riss die Augen weit auf. „Was meinst du damit? Dass sie gekidnappt wurde?“

„Oder erpresst“, sagte Andie.

Die beiden Freundinnen sahen sie beunruhigt an. „Ich weiß es nicht“, murmelte Julie nach einer Weile. „Vielleicht. Aber womit sollte sie sich erpressen lassen? Was könnte so schlimm sein, dass sie in ihr Auto steigt und an einen Ort fährt, wo sie nicht sein möchte, und dann so etwas mit sich machen lässt?“

„Etwas echt Schlimmes“, antwortete Raven leise. „Etwas Lebensbedrohendes.“

Andie starrte auf ihre Hände herab, die sie so fest ineinander verkrampft hatte, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Dabei fiel ihr plötzlich etwas ein, woran sie bis jetzt noch gar nicht gedacht hatte. Sie blickte auf. „Der Typ brachte zwei Schals mit, erinnert ihr euch? Ich frage mich, wozu.“

Die Frage war in der Tat beunruhigend, und sekundenlang versanken alle drei in nachdenkliches Schweigen. Dann stieß Raven einen leisen Fluch aus. „Der Kerl ist ein Monster. Wir dürfen die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Wir müssen ihr auf den Grund gehen. Seid ihr einverstanden?“

Julie zögerte. Dann nickte sie. „Einverstanden, Rave.“

Andie schloss die Augen, als ihre Freundinnen sie fragend ansahen. Wenn sie doch nur aufhören könnte, an diese Frau zu denken, wenn es ihr doch gelänge, ihr Bild zu verdrängen. Hätte sie bloß nicht durch dieses Fenster geschaut.

Aber was geschehen war, ließ sich nicht rückgängig machen, sosehr sie es sich auch wünschte.

Sie atmete langsam aus. „Einverstanden“, sagte sie.

8. KAPITEL

Raven saß in der dunklen Küche und wartete darauf, dass ihr Vater nach Hause kam. Sie wartete auf ihn, obwohl es schon fast ein Uhr nachts war. Sie wartete, weil sie wusste, dass er es verlangte von einer Tochter, der ihr Vater, ihre Familie, über alles ging. Absolute Loyalität. Bedingungslose Ergebenheit. Darauf kam es ihm an.

Sie hasste ihn.

Raven massierte ihre rechte Schläfe, hinter der ein hartnäckiger Schmerz pochte. Sie hatte oft Kopfweh, manchmal regelrechte Migräneanfälle, aber sie hatte gelernt, damit zu leben. Sie gehörten zu ihr wie die Narbe, die sich über ihre rechte Wange zog.

Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Die Vorfälle des Abends gingen ihr durch den Kopf, die Dinge, die sie und ihre Freundinnen beobachtet hatten. Etwas Wichtiges war heute Nacht passiert. Etwas, das für sie von Bedeutung war, wenn sie auch nicht genau wusste, weshalb sie sich dessen so sicher war.

Ihre Erregung war nicht sexueller Natur gewesen. Zwar hatte auch sie die Szene gebannt verfolgt. Doch nicht die Frau und ihr Verhalten hatten sie fasziniert, sondern der Mann. Raven lehnte den Kopf an die hohe Rückenlehne des Stuhls. Wer mochte er sein? Was gab ihm solche Macht über die Frau? Und warum konnte sie nicht aufhören, an ihn zu denken?

Seit jener ersten Nacht, als sie alle zusammen in dem Haus gewesen waren, beherrschte er ihr Denken. Es stimmte nicht, was sie Andie gesagt hatte – dass sie das Gesicht des Mannes nicht gesehen hätte. Als sie von ihrem Versteck aus einen Blick um die Ecke riskierte, hatte sie sein Gesicht sehen können. Mit seinen scharfen Zügen hatte er sie an einen Habicht erinnert. Er war älter, nicht so alt wie ihr Dad, aber älter als die Jungs, die sie kannte. Sie schätzte ihn auf Anfang zwanzig.

Raven runzelte die Stirn. Irgendwie hatte sie Schuldgefühle. Sie wusste nicht, warum sie ihre Freundinnen angelogen hatte. Sie hatte es gewiss nicht vorgehabt. Wie von selbst war ihr die Lüge über die Lippen gekommen.

Andie und Julie waren ihre besten Freundinnen, ihre Familie. Es war nicht richtig gewesen, sie zu belügen. Sie hatte ihnen noch nie etwas verheimlicht.

Bis jetzt. Bis diese Geschichte passierte.

Sie sagte sich, dass es zu ihrem Besten war. Dass sie die beiden beschützen musste. So wie Eltern ein Kind beschützten.

Aber wovor? Vor wem?

Raven dachte wieder an den Mann. Er musste viele Geheimnisse kennen, Geheimnisse, die ihm Macht gaben über andere Menschen, über Leben und Tod. Der heutige Abend war der Beweis dafür gewesen.

Raven wollte seine Geheimnisse lernen.

Sie hörte, wie draußen eine Wagentür zugeschlagen wurde. Ihr Vater. Sie richtete sich auf. Das Gesicht zu einem erwartungsvollen Lächeln verzogen, blickte sie ihm entgegen.

Die Tür ging auf. Ihr Vater betrat die Küche.

„Hallo, Daddy. Hattest du einen schönen Abend?“

„Raven, Schätzchen.“ Er strahlte sie an. „Du hast auf mich gewartet.“

„Natürlich, Daddy.“ Lächelnd stand sie auf. „Setz dich. Ich mache dir eine Tasse Tee zum Einschlafen.“

„Danke, Schätzchen. Das ist lieb von dir.“

Während er sich hinsetzte, stellte sie Wasser auf und hantierte dann geschäftig mit Bechern und Teebeuteln. „So“, sagte sie, ihm den Rücken zukehrend, „wie war es? Magst du sie?“

„Es war schön. Sie ist eine nette Frau. Hat sie dir gefallen?“

Raven drehte sich nicht zu ihm um. Sie fürchtete, er würde ihr ansehen, was sie wirklich von ihm dachte – dass er ein Schweinehund war und sie ihn lieber tot als lebendig sähe. „Ja, Daddy“, sagte sie. „Ich fand sie sehr nett.“

Er erwiderte nichts darauf. Sie spürte seinen Blick auf sich, spürte, wie er jede ihrer Bewegungen, jedes Wort von ihr taxierte. Sie spielte dieses Spiel schon so lange mit ihm, dass es ihr zur zweiten Natur geworden war. Trotzdem lebte sie in der ständigen Angst, er könnte sie eines Tages durchschauen.

Und dann erging es ihr womöglich so wie ihrer Mutter, die mitten in der Nacht davonzulaufen versuchte.

Ihr Vater räusperte sich. „Ich weiß, was du denkst, Raven“, sagte er leise. „Du kannst deine Gedanken nicht vor mir verbergen.“

Raven erstarrte. Sie zwang sich zu einem gekünstelten Lachen. „Wie meinst du das?“

„Das weißt du genau. Komm, schau mich an.“

Sie bemühte sich, eine unschuldige Miene aufzusetzen, ehe sie gehorchte und sich langsam zu ihm umdrehte.

„Ich weiß, was dich beschäftigt“, sagte er. „Du fürchtest, dass ich mich in Marion verliebe. Du hast Angst, unser Leben könnte sich verändern.“

„Nein, das ist nicht wahr.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wirklich nicht, Dad.“

Er runzelte die Stirn. „Du weißt doch, dass ich es lieber höre, wenn du mich Daddy nennst.“

„Entschuldige, Daddy. Danke, dass du mich daran erinnert hast.“

Er stand auf und ging zu ihr. Eine Gänsehaut lief ihr über die Arme, als er ihre Hände in seine nahm. Es war ihr klar, dass sie ein gefährliches Spiel mit ihm trieb. Sollte er ihre Unaufrichtigkeit je bemerken, ja sie nur vermuten, wäre sie verloren. Dann würde er drastische Maßnahmen ergreifen. So wie er es bei ihrer Mutter getan hatte.

Sie schluckte ihre Angst herunter. Nein, dazu würde es nicht kommen. Sie würde es zu verhindern wissen. Denn sie war schlauer als er.

Er drückte ihre Hände und sah ihr dabei in die Augen. „Du hast Angst, dass es so werden könnte wie mit deiner Mutter. Das ist es, nicht wahr?“

„Ja“, log sie. „Darüber mache ich mir Gedanken.“

Er lächelte zärtlich, und sie musste sich fast übergeben vor Ekel. „So wird es nicht werden, Schätzchen, das verspreche ich dir. Marion ist anders als deine Mutter. Sie ist treu. Und ehrlich.“ Seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich liebte deine Mutter über alles, Raven. Es hat mir das Herz gebrochen, als sie uns verließ. Das weißt du doch, nicht wahr?“

„Ja, Daddy“, flüsterte sie und glaubte ihm sogar. Liebe, so schien es ihr, konnte viele Formen annehmen.

Er drückte ihre Hände noch fester, und sie musste sich zwingen, nicht unter dem harten Druck zusammenzuzucken. „Die Familie kommt immer zuerst“, sagte er heftig. „Treue ist das Allerwichtigste.“ Forschend betrachtete er ihr Gesicht. „Niemals wird sich jemand zwischen uns stellen. Ich werde es nicht zulassen. Hast du mich verstanden?“

„Natürlich.“ Sie täuschte ein liebevolles Lächeln vor. „Die Familie kommt zuerst.“

Er erwiderte ihr Lächeln. Dann hob er die Hände und schob ihr das Haar hinter die Ohren. „Warum trägst du dein Haar offen? Du weißt doch, ich mag es lieber, wenn du es zurücksteckst.“

„Entschuldige, Daddy. Ich habe es vergessen. Morgen trage ich die neuen Haarspangen, die du mir gekauft hast.“

„So gefällst du mir.“ Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann ließ er die Hände sinken. „Und jetzt geh ins Bett. Es ist spät.“

In diesem Moment begann der Teekessel zu pfeifen. Raven zuckte zusammen. Sie drehte sich zum Herd um und streckte die Hand nach dem Kessel aus. „Ich mache das schon. Setz du dich hin.“

Doch ihr Vater hielt sie zurück. „Du bist nervös heute Abend.“

„Nur müde“, wehrte sie ab.

„Ich kümmere mich um den Tee. Du gehst jetzt ins Bett. Ich sehe dich dann morgen früh.“

„Okay.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, Daddy.“

Während sie sich abwandte und die Küche verließ, lächelte Raven in sich hinein. Es würde ein Morgen kommen, an dem er sie nicht sah. Eines Morgens, wenn die Zeit reif war, würde es ihm nicht mehr erlaubt sein, sie zu sehen.

9. KAPITEL

Einen stummen Schrei auf den Lippen, fuhr Julie im Bett hoch. Verängstigt, als lauere in jedem Schatten ein Ungeheuer, sah sie sich in ihrem dunklen Schlafzimmer um. Nach einer Weile begannen die Umrisse ihrer Möbel Gestalt anzunehmen, die Silhouette des Baums vor ihrem Fenster, ihre Kleider in der Ecke. Ihr Herzklopfen ließ nach, ihre Atemzüge wurden ruhiger.

Es war nur ein böser Traum gewesen. Kein Grund Angst zu haben.

Aber sie hatte Angst. Julie presste die Lippen zusammen. Erst jetzt merkte sie, dass sie zitterten. Sie merkte auch, wie nahe sie den Tränen war. Der Albtraum war so wirklich gewesen, so furchtbar.

Aber das Schlimmste war ihre Reaktion gewesen. Denn der Traum hatte sie sexuell erregt.

Julie drehte sich auf die Seite, rollte sich voller Abscheu und Selbstverachtung zusammen. Der Traum war eine Wiederaufführung der Szene gewesen, die Andie, Raven und sie vor einigen Stunden beobachtet hatten. Nur dass sie diesmal die Frau gewesen war, die mit verbundenen Augen nackt vor dem Mann gestanden hatte, die vor ihm niederkniete und sein Geschlechtsteil in ihren Mund nahm.

Sie hätte beschämt sein müssen, entsetzt oder angewidert. Sie hätte fliehen sollen. Stattdessen fand sie Gefallen daran. Sie hatte es regelrecht genossen.

Das konnte doch nicht normal sein. Was war nur mit ihr los?

Allein bei der Erinnerung daran begann ihr Körper erneut zu pulsieren. Julie presste die Schenkel zusammen. Sie wollte das Lustgefühl unterdrücken, wusste jedoch, dass es nicht ging. Wieder einmal hatte sie die Kontrolle über ihren Körper verloren.

Leise stöhnte sie in ihr Kissen. Das prickelnde Gefühl zwischen ihren Beinen wurde stärker. Langsam wiegte sie sich hin und her. Noch während sie sich befahl, damit aufzuhören, bewegte sie sich immer schneller, presste die Schenkel immer fester zusammen. Und dann loderte das Feuer auf, ihr Denken setzte aus, und sie spürte nur noch die Hitze und die verzehrende Sehnsucht nach dem einen elektrisierenden Moment. Dem Moment, wo sie und ihr Körper aufhörten zu existieren.

Der Moment nahte. Julie presste die Faust auf den Mund, um den Schrei zu unterdrücken, der Lust und Schmerz zugleich beinhaltete. Die Lust des Augenblicks. Der Schmerz darüber, dass er so flüchtig war.

Als das Pulsieren nachließ, dachte Julie an Andie und Raven. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was würden sie denken, wenn sie die Wahrheit über sie wüssten? Wenn sie erfahren würden, was sie tat, wie sie sich berührte? Würden sie dann noch ihre Freundinnen sein wollen? Ganz bestimmt nicht.

Als sie vorhin mit ihnen durch dieses Fenster spähte, hatte sie solche Angst gehabt, die beiden könnten ihre Erregung bemerken, ihre Gedanken und Empfindungen erraten. Sie hatte sich so geschämt, dass sie am liebsten gestorben wäre.

Sie musste wieder an den Traum denken. Richtig übel wurde ihr bei der Erinnerung daran, wie er ausging. Denn anders als die Szene, die sie beobachtet hatte, hörte ihr Traum nicht damit auf, dass sie sich vor den Mann hinkniete und ihn in den Mund nahm.

In ihrem Traum wurde ihr plötzlich der Schal von den Augen gerissen, und sie starrte in die Fratze des Teufels. Er war es, der Leibhaftige, den sie mit ihrem Mund befriedigt hatte.

Sie hatte sich gegen ihn gewehrt, hatte versucht, sich zu befreien. Aber er hatte nur den gehörnten Kopf zurückgeworfen und gelacht. Sie konnte ihm nicht entkommen. Sie waren für immer miteinander vereint.

Du hast den Teufel im Leib, Mädchen …

Die Worte ihres Vaters klangen Julie in den Ohren, zusammen mit dem teuflischen Gelächter. Die Augen fest zugekniffen, versuchte sie die Stimmen aus ihrem Kopf zu verbannen. Dabei wünschte sie sich, sie könnte aus ihrem Körper fliehen und eine andere werden, eine neue, saubere, gute Person.

Sauber und gut – so fühlte sie sich schon lange nicht mehr. Nicht seit jenem schrecklichen Ostermorgen vor so vielen Jahren. Sieben Jahre alt war sie gewesen, damals als sie vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer gestanden und sich bewundernd betrachtet hatte. In ihrem neuen Festtagskleid mit dem Häubchen und den weißen Lacklederschuhen war sie sich wie eine Prinzessin vorgekommen, eine wunderschöne Prinzessin.

Lachend vor Freude drehte sie sich vor dem Spiegel, sodass ihr die langen blonden Locken ums Gesicht wirbelten. Im Bad summte ihre Mutter leise vor sich hin, unten im Haus tollten ihre Brüder herum. In der Kinderstube schlief das neue Baby, und in seinem Arbeitszimmer ging ihr Vater ein letztes Mal seine Predigt durch. Es war seine erste lange Predigt vor der neuen Gemeinde in Thistledown, und der Ostersonntag war der wichtigste Tag im Kirchenkalender. Julie hatte gehört, wie ihr Dad zu ihrer Mutter gesagt hatte, dass nichts schiefgehen dürfe. Nicht diesmal.

Julie strich über den raschelnden Stoff des Kleides. In ihrer letzten Kirche war irgendetwas passiert. Julie wusste nicht, was. Sie wusste nur, dass eines Abends ein paar Männer aus der Gemeinde zu ihrem Dad kamen und dass ihre Mom geweint hatte, nachdem sie wieder weg waren. Wenig später waren sie dann nach Thistledown gezogen.

Wieder drehte Julie eine Pirouette. Sie liebte ihr neues Kleid. Sie neigte den Kopf und lächelte sich im Spiegel an. Würden die anderen Kinder sie schön finden? Würde man sie mögen? Vielleicht fand sie ja heute, beim Picknick nach dem Gottesdienst, endlich eine neue Freundin.

„Was treibst du da?“

Julie erstarrte, als sie die barsche Stimme ihres Vaters hörte. Sie ließ die Arme sinken. Langsam drehte sie sich zu ihm um. Vor lauter Herzklopfen konnte sie kaum sprechen. „Nichts, Daddy“, flüsterte sie.

Er trat einen Schritt auf sie zu. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. „Ich frage dich noch einmal: Was hast du getrieben?“

Sie schluckte hart. Vor Angst schnürte sich ihr die Kehle zu. Sie hasste es, wenn ihr Vater so mit ihr sprach. Sie wusste nie, was für eine Antwort er von ihr erwartete oder was sie verbrochen hatte, dass er sich so aufregte.

„Ich … habe mich nur für die … Kirche angezogen, Daddy.“

„Linda!“, bellte er. Hektische Röte kroch unter seinem weißen Stehkragen hervor, breitete sich auf seinem Hals und seinem Gesicht aus.

Unwillkürlich trat Julie einen Schritt zurück. „Ehrlich, Daddy, ich habe nichts …“

„Eitelkeit ist das Werk des Teufels“, herrschte er sie an. „Sie führt uns in Versuchung und narrt uns, bis wir uns selbst mehr lieben als Gott.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Daddy, ich …“

Er war so schnell bei ihr, dass sie keine Zeit hatte zu reagieren. Er riss ihr die Haube vom Kopf und ein ganzes Haarbüschel gleich dazu. Sie schrie laut auf vor Schmerz.

„Lüg mich nicht an! Ich habe den Teufel in deinen Augen gesehen. Ich sah, wie du dich bewundert hast.“

„Nein, Daddy! Bitte …“

Er packte den Saum ihres Kleides und zerrte es ihr über den Kopf. Sie hörte, wie der Stoff zerriss. Es war ein fürchterliches Geräusch, das ihr durch und durch ging. Schluchzend versuchte sie ihre Blöße zu bedecken. Dabei flehte sie ihren Vater an, doch ein Einsehen mit ihr zu haben.

Aber erbarmungslos drehte er sie zum Spiegel herum, zog ihre Arme herunter und zwang sie, sich in ihrer Unterwäsche zu betrachten. „Sieh dich nur an, du Sünderin.“ Er schüttelte sie, dass ihr die Zähne aufeinanderschlugen. „Was gibt es jetzt noch zu bewundern? Was bist du ohne den Herrn, außer sündigem Fleisch und verderbtem Geist?“

Wie aus weiter Ferne hörte Julie den verzweifelten Schrei ihrer Mutter, das unterdrückte Gekicher ihrer Brüder. Ihr Vater ließ sie los, und sie sank kraftlos zu Boden. Erst in diesem Moment sah sie, dass ihre Mutter an der Tür stand und sie mit entsetztem Gesicht anstarrte. Hinter ihrer Mutter standen ihre Brüder und schnitten ihr hässliche Fratzen.

Ihr Vater befahl ihrer Mutter, weniger aufreizende Kleidung für sie herauszusuchen, etwas, das sie nicht in Versuchung führen würde, vom Pfad der Tugend abzuweichen.

Sie war an jenem Tag in einem einfachen braunen Trägerkleid und abgetragenen alten Schuhen, als Sünderin gezeichnet, zur Kirche gegangen. Statt sie lächelnd willkommen zu heißen, hatten die anderen Kinder sie neugierig angestarrt. Dabei fragten sie sich vermutlich, warum die Pfarrerstochter am höchsten kirchlichen Feiertag in ihren ältesten Sachen herumlief.

Sie hatten nicht lange raten müssen. Ihr Vater hatte sie aufgeklärt. Von der Kanzel herab hatte er eine aufrüttelnde Predigt gehalten. Und während er sprach, hatte er seine Tochter immer wieder mit Blicken durchbohrt.

„Ihr seid alle Sünder!“, schallte seine Stimme durch die Kirche. Um Julie herum bewegten sich die Leute unbehaglich auf ihren Plätzen. Ihr Vater schwieg einen Moment. Dann haute er mit der Faust auf die Kanzel. „Sünder!“, rief er noch einmal und heftete dabei wieder den Blick auf Julie.

Und dann hob er die Hand und deutete auf sie, direkt auf sie. „Sünderin“, sagte er leise. Und gleich darauf noch einmal etwas lauter: „Sünderin!“

Julie überlief es heiß und kalt. Tränen schossen ihr in die Augen. Ganz klein machte sie sich auf ihrer Kirchenbank. Sie hörte, wie ein Murmeln durch die Gemeinde ging, spürte, wie die Leute von ihr abrückten, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

Nach dieser Predigt hatte jeder über sie Bescheid gewusst, auch sie selbst. Sündiges Fleisch und verderbter Geist. Von der Sünde gezeichnet …

Mit einem verzweifelten Stöhnen kehrte Julie in die Gegenwart zurück. Wenn doch nur Andie und Raven bei ihr wären. Sie würden mit ihr reden, sie zum Lachen bringen, sie vergessen lassen, wer und was sie war. Sie würden ihr versichern, dass sie okay war.

Und für eine Weile würde sie ihnen sogar glauben.

Für eine Weile … Julie presste den Kopf ins Kissen. Sie sehnte sich so nach ihren Freundinnen. Dabei wusste sie tief im Innern, dass niemand ihr helfen konnte, nicht einmal Gott. Sie wusste es genau, denn sie hatte gebetet und gebetet, aber der Teufel verfolgte sie noch immer.

Und eines Tages, fürchtete sie, würde er sie zu fassen kriegen. Und dann war sie für immer verloren.

10. KAPITEL

Andie saß am Frühstückstisch und ging in Gedanken noch einmal durch, was sie ihrer Mutter sagen würde. Sie musste ihr erzählen, was sie und ihre Freundinnen in der letzten Nacht gesehen hatten. Sie musste mit ihr darüber reden, selbst wenn sie Julie und Raven versprochen hatte, es nicht zu tun.

Die Hände im Schoß gefaltet, versuchte sie sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. Dabei klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Sie hatte kaum geschlafen. Das Bild der nackten Frau mit den verbundenen Augen und des Mannes, der wie ein Herrscher vor ihr thronte, wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen.

Ihre Brüder kamen in die Küche gestürmt. Vor Vergnügen quietschend, verfolgte der eine den anderen mit einer Wasserpistole.

Andie fuhr erschrocken zusammen. „He!“, rief sie gereizt. „Ihr sollt nicht mit dem Ding im Haus herumspritzen. Und seid gefälligst ruhig. Mom schläft noch.“

„Nein, sie ist wach.“ Die Hand an den Kopf gepresst, kam ihre Mutter in die Küche geschlurft. Sie nahm einen Becher aus dem Schrank, füllte ihn mit dem kalten Kaffee vom Vortag und stellte ihn in die Mikrowelle.

Traurig beobachtete Andie sie dabei. Als ihr Dad noch bei ihnen wohnte, hatte es jeden Morgen frischen Kaffee gegeben. Wenn Andie morgens aufstand, zog stets ein appetitlicher Kaffeeduft durchs Haus.

Die Mikrowelle klingelte, und ihre Mutter brachte den jetzt dampfenden, aber bitter riechenden Kaffee zum Tisch. Seufzend ließ sie sich nieder.

Aus dem Augenwinkel warf Andie ihr einen Blick zu. Sie räusperte sich nervös. „Mom? Kann ich etwas mit dir besprechen? Es ist wichtig.“

Ihre Mutter blickte nicht auf. „Sicher, Schätzchen.“

Andie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. War es richtig, was sie zu tun gedachte? Sie hatte ihren Freundinnen versprochen, ihrer Mutter nichts zu sagen. Sie hatten vereinbart, das mysteriöse Paar noch eine Weile zu beobachten, ehe sie es auffliegen ließen.

Unentschlossen kaute sie an ihrem Daumen. Aber das war gestern Nacht gewesen, als keine von ihnen mehr klar zu denken vermochte. Das hatte sich jedoch inzwischen geändert. Jetzt war sie überzeugt, dass es nicht richtig war, was in dem leeren Haus vorging.

Sie sah wieder ihre Mutter an, die verloren vor sich hin starrte. Ihr trauriger Gesichtsausdruck brach Andie fast das Herz. „Mom?“, sagte sie leise. Als ihre Mutter nicht darauf reagierte, versuchte sie es noch einmal, diesmal etwas lauter.

Ihre Mutter fuhr zusammen. „Entschuldige, Andie. Was ist?“

„Bist du okay?“

Marge Bennett rang sich ein Lächeln ab. „Sicher. Ich bin bloß müde. Ich schlafe in letzter Zeit nicht besonders gut, und …“ Sie brach ab. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Es ist nicht einfach für mich, weißt du. Ich dachte, dein Vater und ich … ich dachte, wir seien glücklich gewesen. Ich war es jedenfalls. Vollkommen glücklich.“ Sie schwieg einen Moment. Dabei ließ sie den Blick zum Fenster schweifen. „Ich liebe ihn noch immer.“

Andie starrte ihre Mutter an. Es tat ihr unsagbar weh, sie so leiden zu sehen. Wut stieg in ihr auf, Wut und Hass auf ihren Vater, der ihr, ihnen allen, das angetan hatte.

Als spürte sie die Verzweiflung ihrer Tochter, wandte Marge sich ihr zu. „Entschuldige, Schätzchen“, sagte sie und legte ihre Hand auf Andies. „Ich hätte das eben nicht sagen sollen.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Mom. Es ist seine Schuld. Er ist derjenige, der …“

„Nein“, unterbrach ihre Mutter sie. „Ich hätte nichts zu dir sagen dürfen. Weder jetzt noch in der Nacht, als er … uns eröffnete, dass er uns verlassen will. Ich habe mich falsch verhalten. Alles habe ich seitdem falsch gemacht.“ Sie seufzte. „Er hat mir wehgetan, und so wollte ich ihm auch Schmerz zufügen. Aber ich hätte nicht euch Kinder, seine Liebe zu euch, dazu benutzen dürfen.“

„Mom, hör auf …“

„Nein, Schätzchen, was ich gemacht habe, war nicht richtig. Euer Vater hat dich und deine Brüder sehr lieb.“

„Warum hat er uns dann verlassen?“

Traurig zuckte sie die Schultern. „Er ist eben auch nicht perfekt.“

„Ich werde ihm nie verzeihen, Mom.“

Ihre Mutter strich ihr über die Wange. „Oh doch, das wirst du.“ Als Andie protestieren wollte, schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß, wie sehr dich diese Geschichte mitgenommen hat. Dich und deine Brüder.“ Sie beugte sich vor, um einen Moment ihre Stirn an Andies zu legen. „Ich möchte mich bei dir bedanken, Schätzchen. Du bist mir eine große Hilfe gewesen in den vergangenen Wochen.“ Sie drückte Andies Hand. „So, und jetzt sag mir, worüber du mit mir sprechen wolltest.“

Andie sank auf ihren Stuhl zurück. Wie konnte sie nach diesem Lob ihrer Mutter erzählen, dass ihre mustergültige Tochter in leer stehende Häuser einbrach und durch fremde Fenster spähte, um abartige Sexspiele zu beobachten? Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie betroffen ihre Mom sein würde. Nein, diese Enttäuschung konnte sie im Moment wirklich nicht gebrauchen. Das wäre zu viel für sie gewesen.

Andie bemühte sich um ein möglichst unbefangenes Lächeln. „Ich wollte dir erzählen, dass Sarah Conners eine Party gibt, und dich fragen, ob du einen Vorschlag hast, was ich dazu anziehen soll. Aber eigentlich ist es nicht so wichtig.“

„Bist du sicher? Wir könnten deinen Kleiderschrank durchsehen und …“

„Nein, das ist wirklich nicht nötig.“ Andie stand auf und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. „Ich kümmere mich schon selbst darum.“

11. KAPITEL

Mr. und Mrs. X, wie Andie und ihre Freundinnen das mysteriöse Paar nannten, hatten sich nicht mehr blicken lassen. Die Mädchen schlossen daraus, dass sich die beiden nur spät in der Nacht trafen, und gaben es auf, tagsüber das Haus zu beobachten. Stattdessen nahmen sie wieder ihre normalen Aktivitäten auf, gingen ins Kino und zu Partys oder besuchten andere Mädchen. Es schien ein Sommer wie jeder andere zu sein. Man hätte meinen können, dass alles so war wie immer zwischen den drei Freundinnen.

Aber Andie spürte, dass sich etwas verändert hatte seit jener Nacht, als sie Mr. und Mrs. X durchs Fenster beobachtet hatten. Es war nicht mehr so wie früher zwischen Raven, Julie und ihr.

Andie sah kurz zu den Freundinnen und heftete den Blick dann wieder auf den Boden des Baumhauses. Schweigend, jedes in seine eigenen Gedanken vertieft, saßen die drei Mädchen auf ihrem Posten. Raven konzentrierte sich mit nahezu beängstigender Intensität auf ihre Mission. Julie dagegen verhielt sich noch übermütiger und alberner als sonst. Manchmal konnte sie überhaupt nicht mehr aufhören zu lachen. Und oft schien sie ihren Freundinnen nicht in die Augen sehen zu können.

Immer häufiger gerieten Raven und Julie in letzter Zeit aneinander. Ständig hatten sie sich in der Wolle. Andie selbst war nervös und reizbar. Sie konnte nicht aufhören, an Mrs. X zu denken und betete, das Paar möge nie wieder auftauchen.

Schon morgens beim Aufstehen graute ihr vor dem Abend. Ihr graute davor, sich heimlich aus dem Haus zu schleichen, um auf dem Baum Wache zu halten. Sie wollte das Paar nicht mehr sehen. Sie wünschte sich, dass es aus ihrem Leben verschwand.

Wenn die beiden nicht verschwanden, würde etwas passieren. Das spürte sie ganz deutlich.

Trotz der warmen Sommernacht war ihr plötzlich kalt. Wieder blickte sie zu ihren Freundinnen. Julie starrte verträumt ins Leere, während Raven ihr Fernglas auf das leere Haus gerichtet hielt. Wie eine Katze lauerte sie auf ihre Beute.

Steif vom langen Sitzen auf der harten Plattform setzte sich Andie zurecht. „Ist alles in Ordnung mit euch?“, fragte sie die anderen.

Raven ließ das Fernglas sinken. „Klar. Warum?“

„Ihr seid so ruhig heute Abend.“

Julie kicherte, hörte jedoch sofort wieder auf, als Raven ihr einen strengen Blick zuwarf.

„Vielleicht sollten wir gehen?“, schlug Andie vor.

„Gehen?“, wiederholte Raven. „Warum das denn? Wir sind doch noch gar nicht so lange hier.“

„Lange genug“, sagte Andie. „Sie kommen nicht.“

„Woher willst du das wissen?“

„Das habe ich im Gefühl.“

„Und ich habe im Gefühl, dass sie kommen.“

„Na gut.“ Verärgert runzelte Andie die Stirn. „Dann warten wir eben noch eine Weile.“

„Andie“, flüsterte Julie. Verschwörerisch beugte sie sich zu ihr vor. „Ich habe heute einen coolen Typ kennengelernt, als ich mit meinen Brüdern ins Schwimmbad ging.“ Sie senkte die Stimme. Dabei fing sie wieder an zu kichern. „Ich hatte diesen ekligen omamäßigen Badeanzug an, den mein Dad mir verpasst hat. Deshalb habe ich mich gar nicht erst ausgezogen. Während meine Brüder im Wasser waren, habe ich die ganze Zeit mit dem Typ gequatscht.“

„Wie hieß er?“, wollte Andie wissen.

„Bryce. Er war so süß.“

„Du hast doch nicht etwa mit ihm rumgeknutscht?“, fragte Raven, ohne den Blick von dem Haus zu wenden.

„In aller Öffentlichkeit und vor meinen Brüdern?“, entgegnete Julie pikiert. „Nein, natürlich habe ich nicht mit ihm rumgeknutscht.“

„Das kann man bei dir nie wissen.“

Julie hob ruckartig den Kopf. „Was soll das heißen?“

Raven nahm das Fernglas von den Augen und sah sie an. „Manchmal frage ich mich, was mit dir los ist. Ob du wirklich nichts anderes als Jungs im Kopf hast.“

„Lass sie in Ruhe, Raven“, sagte Andie wütend. „Was du im Kopf hast, ist auch nicht besser.“

„Und was soll das heißen?“

Andie deutete zu dem Haus hinüber. „Dass du nur noch daran denken kannst. Du bist besessen davon.“

„Das bin ich nicht! Ich will nur herausfinden, wer diese Leute sind und was sie in dem Haus zu suchen haben. Du hast einfach schwache Nerven.“

„Ich habe keine schwachen Nerven!“ Andie konnte nicht glauben, dass Raven und sie tatsächlich miteinander stritten. „Aber ich habe das Gefühl, dass etwas Schlimmes mit uns passieren wird.“

Julie riss die Augen auf. „Wieso? Was?“

Raven schnalzte mit der Zunge. „Angsthasen … Angsthasen …“ Andie sprang auf. Wütend blitzte sie Raven an. „Du gehst mir langsam auf den Geist!“

„Kinder, zankt euch nicht“, jammerte Julie. „Wir sind doch Freundinnen.“

Keiner achtete auf sie. Inzwischen war Raven ebenfalls aufgesprungen und hatte sich herausfordernd vor Andie aufgebaut. „Und mir geht allmählich dein Gewinsel auf den Geist!“

„Gewinsel!“

„Genau. Wir sind alle drei der Meinung, dass Mr. X ein Monster ist. Und wir haben beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. So war es abgemacht.“

„Okay, wir haben uns getäuscht. Unser Denken war beeinträchtigt.“

„Deins vielleicht, meines nicht.“ Raven ballte die Faust. „Du brauchst dir nicht einzubilden, nur weil deine Eltern sich getrennt haben, muss jetzt jeder nach deiner Pfeife tanzen. Du bist nicht die Einzige, die ein beschissenes Zuhause hat, okay? Willkommen im Club.“

Andie zuckte zusammen. Sie wich einen Schritt zurück. „Wie kannst du so etwas zu mir sagen? Wo du weißt, wie sehr ich …“ Sie sprach nicht weiter. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Entschlossen, auf der Stelle nach Hause zu gehen, sah sie sich nach ihrem Fernglas um – und machte genau in dem Moment einen Schritt, als Julie aufsprang.

Julie verlor das Gleichgewicht, als Andie gegen sie stieß. Wild mit den Armen rudernd, versuchte sie es wiederzuerlangen. Andie stieß einen Schrei aus. Sie wollte Julie beim Arm packen, doch sie war nicht schnell genug. Julie fiel über den Rand der Plattform. Mit einem dumpfen Schlag landete sie auf der Seite und blieb regungslos liegen.

Andie bekam wahnsinniges Herzklopfen. „Julie!“, schrie sie. „Bist du okay?“

Julie antwortete nicht. Andie und Raven kletterten die wacklige Leiter hinunter und knieten sich neben Julie auf den Boden.

„Bist du okay?“, fragte Andie noch einmal. Ihre Stimme zitterte. „Bitte, bitte, sag mir, dass dir nichts fehlt.“

„Ja, ich … ich glaube, ich bin okay.“ Während sie sprach, begann Julie am ganzen Körper zu zittern. „Aber ich habe Angst, mich zu bewegen.“

„Dann bleib erst einmal liegen“, sagte Andie. „Du brauchst Zeit, um dich von deinem Schreck zu erholen.“

„Ich darf nicht verletzt sein“, flüsterte Julie. „Sonst würde mein Dad herausfinden, was wir getan haben. Und dann würde er mich umbringen.“ Sie begann zu weinen.

„Er wird es nicht herausfinden.“ Raven drückte beruhigend ihre Hand. „Dafür sorge ich schon. Ich verspreche es dir.“

„Okay“, sagte Andie. „Lasst uns nachsehen, ob irgendetwas gebrochen ist.“

Vorsichtig testeten sie Julies Arme und Beine, ließen sie den Kopf, die Finger und die Zehen bewegen und halfen ihr dann dabei, sich aufzusetzen. Es fehlte ihr nichts. Nur der Schreck hatte ihr zugesetzt. Er war ihnen allen in die Glieder gefahren.

Andie schluckte hart. „Es tut mir unheimlich leid, Julie. Ich habe das nicht gewollt.“

„Ich weiß. Es war ein Unfall.“ Julie holte tief Luft. „Ihr dürft euch nicht mehr zanken. Ihr seid doch Freundinnen. Wie könnt ihr euch gegenseitig so wehtun?“

„Julie hat recht, Rave.“ Bedrückt schaute Andie ihre Freundin an. „Siehst du jetzt, was mit uns geschieht? Wir haben uns verändert seit dieser Sache. Ständig kriegen wir uns in die Wolle. Entweder wir streiten, oder wir reden überhaupt nicht miteinander. Diese Geschichte wird uns noch auseinanderbringen.“

Raven starrte sie einen Moment an und wandte dann den Blick ab. „Ich wollte nur ergründen, was der Kerl vorhat.“

„Ich weiß“, sagte Andie weich. „Aber es bedroht unsere Freundschaft. Und ich möchte euch zwei nicht verlieren.“

„Bitte, Rave.“ Julies Stimme zitterte. „Ich möchte, dass alles wieder so wird wie vor dieser Sache.“

Raven dachte einen Moment nach und nickte dann. „Okay, Kinder. Wir vergessen die ganze Geschichte. Wir tun so, als sei sie nie passiert.“

12. KAPITEL

Andie konnte sagen, was sie wollte, Raven dachte nicht daran, Mr. und Mrs. X zu vergessen. Andie und Julie verstanden nicht, worum es ging. Sie begriffen nicht, wie wichtig diese Sache für sie war. Sie sahen nicht, dass sich ihnen damit eine einmalige Gelegenheit bot. Dass ihnen eine Tür aufgestoßen wurde.

Zu den Geheimnissen. Dem Weg.

Aber sie sah es. Sie verstand, worum es ging. Und das war gut so. Sie war die Starke, war es immer gewesen. Andie war ehrpusselig und hatte schwache Nerven. Sie sorgte sich um jeden, besaß jedoch nicht das Rückgrat, sich wirklich zu engagieren. Und Julie hatte nur Jungs im Kopf und sonst gar nichts. Sie würde immer dem Stärkeren folgen.

Und in diesem Fall würde Julie ihr folgen.

Raven hatte beschlossen, dass Julie und sie weiterhin Nachtwache vor der Nummer zwölf der Mockingbird Lane halten würden. Sie würden beobachten, was vor sich ging, und sie, Raven, konnte dabei lernen. Denn eines Tages würde sie diese Lektionen brauchen, um sie alle drei zu beschützen, um ihre Familie zusammenzuhalten.

Raven wusste nicht, vor wem oder was sie Schutz brauchen würden. Sie wusste nur, dass es irgendwann dazu kommen würde. Sie spürte es einfach.

Sie hatte bei ihrem Entschluss mit einkalkuliert, dass sie Andie belügen musste. Sie tat es nicht gern, aber es war zu Andies Bestem. Und deshalb war es okay. Ein notwendiges Übel.

Raven rief Julie an. Und, wie sie vorausgesehen hatte, zögerte Julie nur einen Moment, ehe sie Ravens Plan zustimmte und ihr versprach, ihre Aktivitäten vor Andie geheim zu halten.

Sie kamen überein, sich noch in dieser Nacht zu treffen.

13. KAPITEL

Als sie sicher war, dass ihre Eltern und Brüder schliefen, schlich Julie aus dem Haus, um sich mit Raven zu treffen. Sie hatten vereinbart, zwei Stunden auf Mr. und Mrs. X zu warten, was Julie okay fand. Zwei Stunden, das erschien ihr nicht allzu lang. Doch jetzt zog sich jede Minute endlos in die Länge.

Julie war völlig überdreht. Sie konnte kaum still sitzen. Alle möglichen Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Sie dachte an Andie, an Mrs. X, an ihren Traum und an ihren Vater. Und an den Teufel. Hin- und hergerissen zwischen Erwartung und Schuldgefühlen, Scham und Erregung bemühte sie sich, ihre Gefühle vor Raven zu verbergen. Es entging ihr jedoch nicht, dass Raven ein paarmal mit merkwürdigem Gesichtsausdruck zu ihr hinsah.

Julie schluckte. Die Vorstellung, ihre Freundinnen könnten die Wahrheit über sie herausfinden, war ihr unerträglich. Mach nur so weiter, dachte sie. Dann merken sie wirklich, was los ist.

„Sie kommen nicht“, flüsterte sie und warf einen Blick über die Schulter, als könne jemand sie hören. „Lass uns gehen.“

Raven schüttelte frustriert den Kopf. „Die zwei Stunden sind noch nicht um. Wir hatten ein Abkommen, erinnerst du dich?“

„Ich weiß, aber …“

„Schsch … da kommt ein Auto.“

Raven hatte recht. Ein Wagen fuhr die Straße hinunter und bog in die Einfahrt der Nummer zwölf ein. Die automatische Garagentür ging hoch, der Wagen rollte in die Garage, die Tür schloss sich wieder.

Julies Mund war so trocken geworden vor Aufregung, dass sie kaum sprechen konnte. „War er das?“

„Das war sie.“ Raven ließ das Fernglas sinken. Dabei runzelte sie die Stirn.

„Sie? Wo ist Mr. X?“

„Vielleicht hat er sich verspätet. Er kommt bestimmt gleich.“

Sie warteten – fünf Minuten, zehn Minuten. Nach einer Viertelstunde schüttelte Raven den Kopf. „Da stimmt etwas nicht. Wenn er mit ihr verabredet war, müsste er inzwischen hier sein.“

„Vielleicht war er im Wagen. Er könnte sich auf dem Rücksitz versteckt haben.“

Sie sahen sich an. Dann kletterten sie von der Plattform herunter, überquerten das bewaldete Grundstück und schlichen sich auf die Rückseite des Hauses zu ihrem Fenster.

Mrs. X war allein. Nackt, mit verbundenen Augen, stand sie unbeweglich in der Mitte des großen Raumes und wartete.

Julie starrte sie an. Verwirrt runzelte sie die Stirn. „Was macht sie? Das ist alles so verrückt. Ich frage mich …“

Raven warf ihr einen warnenden Blick zu und legte einen Finger auf die Lippen. Julie schluckte herunter, was sie hatte sagen wollen. Minuten vergingen. Sie wussten nicht, wie viele. Sie wussten nur, dass sie ihnen wie eine Ewigkeit erschienen.

Die Nacht war schwül, die gebückte Haltung unter dem Fenster unbequem. Eine Mücke surrte an Julies Ohr. Verärgert schlug sie danach. Was soll das alles?, dachte sie. Wozu stand sie hier herum, langweilte sich, schwitzte und ließ sich von den Mücken auffressen, wenn sie zu Hause in ihrem bequemen Bett liegen konnte? Außerdem ging sie ein großes Risiko ein, indem sie sich hier aufhielt. Wozu?

Sie wollte Raven ihre Überlegungen gerade mitteilen, als die Freundin sie aufgeregt beim Arm packte.

„Er ist hier“, zischte sie.

Julie richtete sich auf. Mit klopfendem Herzen spähte sie über das Fenstersims. Mr. X trug eine Skimaske und hielt ein Seil in der Hand. Er trat hinter Mrs. X, legte ihr das Seil um den Hals und zog sie damit unsanft zu sich heran.

Julie schlug sich die Hand vor den Mund. Sie war schockiert – und gleichzeitig erregt. Mr. X ließ das Seil über den Körper der Frau gleiten, liebkoste sie damit, benutzte es, wie ein anderer Mann seine Hände benutzt hätte. Julie beobachtete, wie sich das Seil um den Hals der Frau wand, sich über ihre Schultern und Brüste und dann tiefer schlängelte. Als er es zwischen ihre Beine schob, bäumte sich Mrs. X auf. Sie öffnete den Mund. Julie hörte jedoch keinen Laut.

Julies Atem kam in kurzen, flachen Stößen. Ihre Wangen brannten. Sie schloss die Augen, versuchte verzweifelt, die Beherrschung über ihren Körper, ihre Gedanken zu bewahren.

Als sie die Augen wieder öffnete, band Mr. X der Frau gerade mit dem Seil die Hände auf dem Rücken zusammen. Sie wehrte sich nicht dagegen, versuchte nicht, sich von ihm loszureißen. Julie war ihr Verhalten ein Rätsel. Sie leistete keinen Widerstand, schien aber Angst vor dem zu haben, was der Mann mit ihr machte. War sie seine Sklavin, sein Eigentum, dass sie sich alles von ihm gefallen ließ? Oder liebte sie ihn, liebte ihn so sehr, dass sie ihm alles gab, was er von ihr verlangte?

Mr. X zwang sie auf die Knie. Dann zog er den Reißverschluss seiner Hose auf. Die Hände in das Haar der Frau geschoben, zwang er sie, ihn mit dem Mund zu befriedigen.

Julie gab einen erstickten Laut von sich. Sie war geschockt, aber auch fasziniert. Sie glaubte in Flammen zu stehen. Sie brannte vor Scham und Schuldgefühlen. Und vor Lust.

Unfähig, die Szene auch nur einen Moment länger zu beobachten, duckte sie sich. Ihr Atem ging keuchend. Raven rührte sich nicht. Julie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Dabei merkte sie, dass sie zitterten.

Es war fürchterlich. Wenn sie die Augen schloss, meinte sie, sich selbst in dem Körper von Mrs. X zu sehen. Und dann stellte sie sich vor, wie das Seil und die Hände des Mannes über ihre Haut glitten.

Andie hatte recht gehabt. Sie hätten nicht herkommen dürfen. Es war nicht richtig gewesen. Sie würde in der Hölle schmoren, so wie ihr Vater es ihr prophezeit hatte.

„Wir müssen gehen“, flüsterte sie. „Bitte, Raven.“ Sie fasste nach Ravens Hand und versuchte die Freundin mit sich wegzuziehen. „Bitte, Raven. Bitte!“

Raven begegnete ihrem Blick. In ihren Augen lag ein seltsamer, fast fiebriger Ausdruck. Einen Moment starrte sie Julie an, als sei sie eine Fremde. Dann nickte sie stumm.

Auf dem kurzen Weg zu Julies Haus sprachen sie kein Wort. Als sie vor Julies Haustür standen, berührte Raven ihre Wange. „Es wird schon alles in Ordnung gehen“, flüsterte sie. „Ich sorge dafür.“

Julie sah sie an und nickte. Dann verschwand sie im Haus. Sie war nicht sicher, ob Raven recht hatte. Ganz im Gegenteil. Irgendwie hatte sie das schreckliche Gefühl, nichts würde jemals wieder in Ordnung sein.

14. KAPITEL

Die folgenden Wochen verschwammen für Julie zu einem undeutlichen, bizarren Nebel. Wirr und zusammenhangslos schienen die Tage und Nächte ineinanderzufließen. Tagsüber spielte sie die brave Tochter, nachts starrte sie gebannt durch das Fenster des leeren Hauses in der Mockingbird Lane und beobachtete Dinge, die sie abwechselnd schockierten, erregten und in Schrecken versetzten.

Nicht nur lebte sie in der ständigen Angst, ihr Vater könnte merken, was sie trieb. Sie musste außerdem die Dinge, die sie sah, verarbeiten. Manchmal war Mr. X zärtlich und liebte Mrs. X ganz so, wie Julie sich immer wünschte, einmal von einem Mann geliebt zu werden. Dann wieder war er grausam, quälte sie mit seiner Gleichgültigkeit, ließ sie vor sich auf dem Boden kriechen und um seine Liebe betteln. Und dann nahm er sie, brutal und rücksichtslos, wie es ihm gerade gefiel.

Julie war zu der Erkenntnis gelangt, dass er der Teufel sein musste. Der Mann, den sie beobachtete, war der Teufel in Person. Und er verführte sie.

Julie lag in ihrem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Sie hatte Angst, die Augen zu schließen. Sie fürchtete, wenn sie die Augen zumachte, würde ihr Unterbewusstsein die Oberhand gewinnen und sie sich wieder in Mrs. X verwandeln.

Sie wollte nicht Mrs. X sein. Sie wollte nicht, dass ihr dieses … perverse Zeug gefiel.

Aber es gefiel ihr. Es war abartig, und trotzdem beobachtete sie es fasziniert. Sie verabscheute es, konnte jedoch nicht aufhören, daran zu denken. Sie begriff nicht, wie Mrs. X dem Mann erlauben konnte, sie so zu behandeln … und verstand es irgendwie doch.

Vielleicht machte ihr das am meisten Angst.

Ja, sie hatte Angst. Etwas Schreckliches geschah mit ihr, war bereits mit ihr geschehen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie war nicht mehr dieselbe Person wie vor dieser Sache mit Mr. und Mrs. X. Ihr Leben war nicht mehr dasselbe.

Sie wusste zu viel. Sie hatte Angst vor ihrer Zukunft.

Sie hatte Angst, dass sie so war wie Mrs. X.

Julie presste das Gesicht ins Kopfkissen. Sie wollte wieder so sein wie vorher. Sie wollte nicht wissen, was sie wusste, wollte nicht mehr an diesen Mann denken, ihn aus ihrem Gehirn verbannen. Sie wünschte sich ihr normales Leben zurück.

Und nicht nur um sich hatte sie Angst, sondern auch um Mrs. X. Heute Nacht war Mr. X brutal zu ihr gewesen. Er hatte sie fast vergewaltigt und sie dann gefesselt und geknebelt mit verbundenen Augen allein in der Dunkelheit zurückgelassen. Er war in die Garage gegangen, in sein Auto gestiegen und davongefahren.

Raven und sie hatten eine halbe Stunde gewartet. Aber er kam nicht zurück. Julie hatte vorgeschlagen hineinzugehen und Mrs. X zu befreien. Raven jedoch hatte sie nur ausgelacht. Es gehöre zum Spiel der beiden, hatte sie ihr erklärt. Sie sei zu ängstlich, würde sich zu viele Gedanken machen.

Machte sie sich wirklich zu viele Gedanken?, überlegte Julie. Oder war Mrs. X womöglich jetzt, Stunden später, noch in diesem Haus? Hatte Mr. X sie hilflos zurückgelassen, um eine Waffe zu holen und sie zu töten?

Weil ihre Ängste sie in der Dunkelheit schier erdrückten, knipste Julie ihre Nachttischlampe an. Geblendet blinzelte sie in die plötzliche Helligkeit. Neben der Lampe stand in einem hübschen Rahmen ein Foto von Andie, Raven und ihr. Julie griff nach ihrer Brille und setzte sie auf. Dann nahm sie das Foto in die Hand. Es war im letzten Sommer aufgenommen worden, als Andies Eltern sie alle zum Camping mitgenommen hatten. Die Mädchen hatten die Arme umeinandergelegt und lächelten.

Und jetzt kann ich Andie nicht mehr in die Augen sehen, dachte Julie traurig. Und Raven spricht kaum noch mit mir. Es war, als würde eine gläserne Wand sie alle drei voneinander trennen. Sie konnten sich sehen, sich aber nicht berühren, keinen Kontakt zueinander herstellen. Sie lachten nicht mehr miteinander, steckten nicht mehr tuschelnd die Köpfe zusammen, vertrauten sich keine Geheimnisse mehr an.

Diese Sache brachte sie auseinander, zerstörte ihre Freundschaft. Aber sosehr sie es sich auch wünschte, Julie wusste nicht, wie sie den Prozess aufhalten sollte.

15. KAPITEL

Andie konnte Mr. und Mrs. X nicht vergessen. Sie versuchte sich abzulenken, stürzte sich in alle möglichen Aktivitäten, doch das Bild der vor dem Mann niederknienden Frau ließ sie nicht los.

Wenn sie bloß verstanden hätte, was das Paar zu diesen Spielen trieb. Wenn sie nur ergründen könnte, warum die Frau sich dieses niederträchtige Verhalten gefallen ließ. Nur wenn sie eine Erklärung dafür fand, würde sie endlich aufhören können, darüber nachzugrübeln und sich damit verrückt zu machen.

Sie erinnerte sich, dass Julie einmal erwähnte, sie hätte in einem Psychologiebuch etwas darüber gelesen. Sexuelle Abarten hatte sie es genannt. Andie beschloss, der Bibliothek in Thistledown einen Besuch abzustatten.

Die Informationen, die sie dort fand, waren mager. Außerdem erwies es sich als frustrierend, niemanden um Auskunft bitten zu können. Thistledown war ein kleiner Ort. Die Bibliothekarin kannte sie. Und was die Sache noch schwieriger machte, sie kannte ihre Eltern. Würde Andie ihr auch nur eine Frage zu dem Thema stellen, würde die Frau im nächsten Moment am Telefon hängen und ihre Mutter anrufen.

Deshalb beschloss Andie, die zweistündige Busfahrt nach Columbia zu unternehmen und ihr Glück in der Universitätsbibliothek zu versuchen. Die Bibliothekarin reagierte völlig normal, als Andie ihr Anliegen vortrug. Sie schickte sie zur Abteilung für Psychologie, wo Andie mehr Literatur zu dem Thema fand, als sich in der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung stand, ehe sie wieder zum Bus musste, bewältigen ließ.

Als sexuell abartig, so erfuhr sie, wurde jedes Verhalten bezeichnet, das von dem abwich, was die Gesellschaft als „normal“ betrachtete. Manche Menschen empfänden es als lustvoll, sich beim Sex dem Partner völlig zu unterwerfen, andere fänden Befriedigung darin, zu bestrafen oder sich bestrafen zu lassen. Andie lernte, dass diese Menschen Schmerz, Demütigung und Machtlosigkeit erregend fanden und viele von ihnen nur über diese Empfindungen sexuelle Befriedigung zu erreichen vermochten.

Sie erfuhr außerdem, dass sich die Experten nicht einig darüber waren, wieso diese Menschen Unterwerfung, Demütigung oder Schmerz angenehm fanden. So sahen sie den Auslöser mal in traumatischen Kindheitserlebnissen, mal in Umwelteinflüssen oder gar in der Genetik. Sie stimmten jedoch darin überein, dass sexuelle Abarten schon seit Menschengedenken ein Teil jeder Kultur gewesen seien.

Nach wie vor verwirrt, jedoch etwas beruhigt angesichts der Fülle an Informationen zu diesem Thema, warf Andie einen Blick auf ihre Uhr. Es blieb ihr gerade noch genug Zeit für einen Artikel, ehe sie zum Bus musste. Weil ihr bereits der Kopf schwirrte von all dem, was sie erfahren hatte, überlegte sie, ob sie den Artikel nicht vergessen und vor der Heimfahrt lieber noch eine Cola trinken sollte. Doch dann holte sie tief Luft. Wenn sie die lange Fahrt schon unternommen hatte, dann sollte es sich auch lohnen. Dann musste sie zusehen, dass sie so viele Informationen wie möglich sammelte.

Sie würde den Artikel nur überfliegen. Dann hatte sie hinterher vielleicht noch Zeit für ihre Cola. Sie schlug die Fachzeitschrift auf und begann hastig zu lesen. Dabei sprang ihr ein Satz in die Augen. Sie hielt inne. Ihre Welt drohte aus den Fugen zu geraten.

Manchmal kann nur der Tod den absoluten sexuellen Kick liefern.

Nur mit Mühe vermochte Andie ruhig zu bleiben und die Angst, die sie gepackt hatte, zu unterdrücken. Mit eiserner Beherrschung zwang sie sich, den Artikel Wort für Wort durchzulesen. In der Abhandlung wurde erklärt, dass eine ganze Reihe solcher Fälle dokumentiert seien, wenn sie auch im Großen und Ganzen nicht häufig vorkämen. So hatte ein Mann innerhalb von drei Jahren vier Partnerinnen getötet, ehe er gefasst wurde. Dem Psychiater, der das Gutachten erstellte, hatte er versichert, seine Partnerinnen seien willige Opfer gewesen, hätten bis zum Schluss mitgespielt und ebensolche Lust wie er bei dem Akt empfunden. Der Artikel war mit drastischen Aufnahmen illustriert.

Andie starrte auf die Bilder. Richtig übel wurde ihr dabei. Sie hatte sich zu Recht Sorgen um Mrs. X gemacht, das wusste sie jetzt. Die Frau schwebte in höchster Gefahr.

Andie nahm die Zeitschrift und eilte damit zu einem Kopiergerät. Nachdem sie etwas Kleingeld aus ihrem Portemonnaie gekramt hatte, begann sie den Artikel mitsamt den Bildern zu kopieren. Sie musste Raven und Julie zur Einsicht bringen, musste dafür sorgen, dass die beiden begriffen, in welcher Gefahr Mrs. X schwebte. Sie musste sie davon überzeugen, dass es nur eine Möglichkeit für sie gab: nämlich zu ihren Eltern zu gehen und ihnen alles zu erzählen.

16. KAPITEL

Andie war kaum zu Hause angekommen, da hängte sie sich ans Telefon, um ihre Freundinnen anzurufen. Sie sagte ihnen, sie müsse sie so schnell wie möglich beim Schuppen treffen. Es sei dringend. Sie müssten miteinander reden, und zwar ungestört. Niemand dürfe ihr Gespräch belauschen.

Zwanzig Minuten später saßen die drei Mädchen mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden des Geräteschuppens. Julie sah nervös und schuldbewusst aus, Raven neugierig. Erst jetzt wurde Andie klar, dass sie die beiden seit zwei Tagen nicht gesprochen hatte.

Ohne ihre Fragen abzuwarten, kam Andie sofort zur Sache. Sie erzählte ihnen von ihrem Besuch in der Universitätsbibliothek, beschrieb ihnen ausführlich die Informationen, die sie sich dort beschafft hatte, und kam schließlich auf den letzten, beängstigenden Artikel zu sprechen.

„Hier, seht es euch an.“ Sie zog die Fotokopie des Artikels aus der Hosentasche, faltete sie auseinander und hielt sie den Freundinnen mit zitternden Fingern hin. „Unsere Angst war begründet. Der Kerl ist gefährlich.“

Julie starrte auf die Fotokopie herab. Ihre Augen wirkten riesig groß hinter den Brillengläsern. „Glaubst du, er … er wird sie töten?“

Andie schluckte. „Es ist durchaus möglich.“

„Oh Gott.“ Julie schlang die Arme um die angezogenen Knie. Dabei warf sie Raven einen flehenden Blick zu. Als Raven sie daraufhin warnend ansah, legte sie resigniert die Stirn auf die Knie.

Andie war die stumme Verständigung zwischen den beiden nicht entgangen. Sie runzelte die Stirn. „Was ist los, Kinder?“

„Nichts ist los“, sagte Raven ruhig. Sie gab Andie die Fotokopie zurück. „Dieser Artikel beweist überhaupt nichts.“

„Aber natürlich beweist er etwas! Er beweist, dass Mrs. X in Gefahr ist. Er beweist, dass wir nicht einfach tatenlos zusehen dürfen. Wir müssen zu unseren …“

„Zu unseren Eltern gehen?“ Raven schüttelte den Kopf. „Ich glaube kaum. Mrs. X gefallen die Spielchen, die der Kerl mit ihr treibt. Und wenn sie keine Angst um sich hat, warum sollten wir dann für sie den Kopf hinhalten?“

„Aber in dem Artikel steht …“

„Dass der dominierende Partner manchmal nicht aufhören kann und den anderen tötet. Ich weiß. Aber es steht nicht da, wie oft so etwas vorkommt, Andie. Es könnte einmal in einer Million Fälle sein.“

„Und wenn dies das eine Mal ist?“

Julie hob den Kopf. Sie sah richtig verzweifelt aus. „Raven … wir müssen es sagen.“

Raven achtete nicht auf sie. „Wir sind hier in Thistledown, Andie. Nicht in New York. Nicht einmal in St. Louis. Solche Dinge passieren hier nicht. Und kannst du dir vorstellen, wie Julies Dad reagieren würde, wenn er von unserem Treiben erführe? Oder meiner?“

Julie begann zu wimmern. Andie warf ihr einen besorgten Blick zu. „Ich halte euch da raus“, versprach sie. „Ich erzähle meiner Mom, dass ich allein die beiden beobachtet hätte.“

„Bildest du dir ein, sie würde dir das abnehmen? Wir drei verbringen jede freie Minute miteinander. Glaubst du wirklich, sie würde sich nicht denken können, wie es in Wirklichkeit war?“

Fieberhaft suchte Andie nach einer anderen Lösung. „Jetzt weiß ich, was wir machen“, sagte sie dann. „Statt zu unseren Eltern gehen wir einfach zur Polizei. Wir lassen uns das Versprechen geben, unseren Eltern nichts davon zu sagen. Wir …“

„Das würde niemals gut gehen“, unterbrach Raven sie. „Wir sind Minderjährige, Andie. Minderjährige! Denk doch mal nach! Sie würden sofort unsere Eltern verständigen, als Allererstes. Das ist Vorschrift. Und dann wären wir erledigt. Man würde uns trennen, uns zu Hause einsperren, uns womöglich in verschiedene Schulen stecken. Und wozu? Um einer Frau zu helfen, die wir nicht kennen? Einer Frau, die perverse Sexspiele treibt? Nein, ohne mich!“

„Du darfst nichts sagen! Bitte, Andie.“ Julie begann zu weinen. Das Gesicht auf die Knie gepresst, schluchzte sie herzzerreißend.

Mit einem wütenden Blick auf Andie ging Raven zu Julie hin, um tröstend die Arme um sie zu legen. „Hör endlich auf damit, Andie. Mir scheint, du flippst langsam aus. Ich weiß, dieser Sommer war nicht einfach für dich, mit der Trennung deiner Eltern und so. Aber deshalb darfst du doch nicht unser Leben … unsere Freundschaft kaputtmachen.“

Tränen traten Andie in die Augen. „Aber wenn ihr nun etwas passiert?“

„Anstatt dich wegen dieser Mrs. X verrückt zu machen, solltest du lieber um unser Wohl besorgt sein. Wir sind es, die dir am Herzen liegen müssten.“

In diesem Moment hob Julie den Kopf. Ihr Gesicht war völlig verheult. „Raven, was ist, wenn sie recht hat? Wenn er sie umgebracht hat?“

„Halt den Mund!“, zischte Raven. „Du hast mir ein Versprechen gegeben.“„Wir müssen es ihr sagen!“

Andie überlief es eiskalt. „Was müsst ihr mir sagen?“

„Es tut mir leid, Rave“, flüsterte Julie. „Aber sie könnte wirklich tot sein.“ Ihre Stimme klang unnatürlich hoch. „Was sollen wir machen, wenn sie tot ist?“

„Sie ist nicht tot. Aber wenn du es unbedingt ausplaudern musst, bitte. Niemand soll mir vorwerfen, dass ich dich daran hindere.“ Raven stand auf und stellte sich an die Tür. Die Arme vor der Brust verschränkt, fixierte sie die Freundinnen mit durchdringendem Blick.

Julie sah Andie kurz an und senkte dann schuldbewusst den Blick. Ihr Kinn zitterte. „Raven und ich sind zu dem Haus zurückgegangen und haben Mr. und Mrs. X beobachtet.“

„Wie bitte?“ Andie blickte von einer zur anderen. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. „Ihr seid wieder hingegangen … trotz unserer Vereinbarung?“

„Raven hat es mir erklärt“, sagte Julie schniefend. „Sie meinte, wir müssten herausfinden, was die beiden vorhaben. Und wir wollten nicht, dass du dich unnötig aufregst.“

„Ach so.“ Ihre besten Freundinnen hatten sie belogen. Sie sah Raven an, die ihren Blick fast herausfordernd erwiderte. Es war vor allem dieser Blick, der Andie wehtat. „Wie oft wart ihr dort, Julie?“

Julie ließ den Kopf hängen. „Ein paarmal“, flüsterte sie. „Es tut mir leid, Andie. Ich wollte dich nicht belügen.“

Was sollte das heißen? Entweder man log, oder man sagte die Wahrheit. Tränen brannten Andie in den Augen. Wütend blinzelte sie dagegen an. „Und warum sagst du es mir jetzt plötzlich? Was hindert dich daran, mich weiterhin zu belügen?“

Julie entging ihr Sarkasmus. „Weil ich Angst habe, dass er sie umgebracht hat.“

Und dann erzählte sie Andie, was Raven und sie mitangesehen hatten, berichtete von dem Seil und wie Mr. X mal zärtlich, mal brutal zu Mrs. X gewesen war und sie schließlich vor zwei Nächten gefesselt und mit verbundenen Augen allein zurückgelassen hatte.

„Es war so schrecklich“, jammerte sie. „Ich kann seitdem kaum mehr schlafen. Dauernd muss ich daran denken, dass Mrs. X … dass er sie vielleicht umgebracht hat. Und jetzt kommst du auch noch mit diesem Artikel …“

Andie wurde blass. „Seid ihr seitdem noch einmal zurückgegangen? Um zu sehen, ob … ich meine, um euch zu vergewissern, dass … er es … nicht getan hat?“

„Nein.“ Julie errötete und wich Andies Blick aus. „Ich konnte es nicht. Jedenfalls nicht allein.“

„Und du, Rave?“, fragte Andie.

Raven schüttelte den Kopf. „Jetzt bleibt mal auf dem Teppich, Kinder. Er hat ihr nichts getan. Sie mag, was er mit ihr macht. Es ist ein ekliges, perverses Spiel.“

„Aber wenn …“ Julie drohte die Stimme zu versagen. „Wenn sie nun doch … ich meine, wenn ihre Leiche noch dort … ich habe noch nie eine … eine … Leiche gesehen.“

Raven verdrehte die Augen gen Himmel. „Ihr habt eine Macke, Kinder. Echt.“

Ganz plötzlich packte Andie die Wut. „Woher willst du wissen, dass nichts passiert ist?“, fuhr sie Raven an. „Wieso musst du immer recht haben? Warum sollen wir ständig nach deiner Pfeife tanzen?“ Sie senkte die Stimme. „Ich dachte, wir seien Freundinnen. Ich dachte, unsere Freundschaft würde dir etwas bedeuten.“

„Natürlich bedeutet sie mir etwas. Ehrlich. Ich …“ Plötzlich war auch Raven den Tränen nahe.

„Freundinnen belügen sich nicht. Sie tun einander nicht weh.“

„Entschuldige“, murmelte Raven und senkte den Kopf. Dabei fiel ein Sonnenstrahl auf ihre goldene Haarspange und ließ sie hell aufblitzen. „Ich weiß selber nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Du hast recht gehabt. Ich war besessen von der Sache. Kannst du mir noch mal verzeihen?“

„Natürlich, Rave, das ist doch klar. Aber du darfst so etwas nicht noch einmal mit mir machen.“

Raven versprach es ihr und Julie ebenfalls. Dann umarmten sich die drei. Als sie sich voneinander lösten, tauschten sie besorgte Blicke aus. Sie wussten, es galt, eine Entscheidung zu treffen.

Andie sprach zuerst. „Wir müssen das Haus kontrollieren. Wir müssen uns vergewissern, dass Mrs. X okay ist.“

„Wann?“

„Wir sollten möglichst früh gehen, solange es noch hell ist. Außerdem laufen wir dann nicht Gefahr, mit ihm zusammenzutreffen.“ Andie sah auf ihre Uhr. „Warum gehen wir nicht jetzt?“

„Ausgeschlossen.“ Julie warf einen Blick auf ihre Uhr. „Mein Dad kommt gleich nach Hause. Ich muss noch eine Stunde beten und in der Bibel lesen. Danach gibt es Abendessen, und hinterher muss ich beim Geschirrspülen helfen.“

„Und was ist mit dir, Rave?“

„Du kennst doch meinen alten Herrn. Wehe, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch steht. Vor halb acht kann ich es nicht schaffen.“

„Eher kann ich auch nicht weg“, sagte Julie.

Andie nickte. „Gut. Dann treffen wir uns um halb acht im Baumhaus.“

17. KAPITEL

Beklommen beobachtete Andie, wie der Minutenzeiger der Küchenuhr unerbittlich vorrückte. Dabei schalt sie sich selbst einen Angsthasen. Um halb acht würde es noch hell draußen sein, zu hell, um befürchten zu müssen, dass Mr. und Mrs. X auftauchten. Sie würde mit Raven und Julie ins Haus gehen, sich vergewissern, dass keine Leiche dalag, und wieder verschwinden. Höchstens zehn Minuten würde es dauern, dann war die Sache ausgestanden. Keine Affäre. Ein Kinderspiel.

Aber warum zitterten dann ihre Hände? Warum war ihr flau im Magen? Weil sie Angst hatte. Angst, man könnte sie erwischen. Angst, Julies Befürchtungen könnten sich bewahrheiten und sie würden Mrs. X tot auffinden. Wie sollte sie dann mit ihrem Gewissen leben? Den Rest ihres Lebens würde sie die Schuldgefühle mit sich herumschleppen.

Andie bekam Herzklopfen, als sie erneut einen Blick auf die Uhr über der Spüle warf. Die Zeit war abgelaufen. Sie musste gehen.

Tief Luft holend, wischte sie sich die Hände an ihren Shorts ab. Dann verließ sie die Küche und ging zum Wohnzimmer, wo ihre Mutter sich zusammen mit ihren Brüdern eine Sportsendung im Fernsehen ansah.

„Mom?“, sagte sie. Ihre Mutter blickte sich um. „Das Geschirr ist gespült. Ich gehe noch eine Weile mit Raven und Julie hinaus.“

Ihre Mutter lächelte müde. „Okay, Schätzchen. Viel Spaß.“

Spaß, dachte Andie wenig später, als sie die Abkürzung zu Julies Straße nahm. Ihr war richtig übel vor Aufregung. Spaß würde sie heute Abend kaum haben.

Raven wartete schon auf sie. Julie trudelte wenige Minuten nach Andie ein. Ehe sie sich auf den Weg machten, schöpften alle drei tief Luft, als müssten sie sich Mut machen. Andie vergewisserte sich noch einmal, dass sich auch nichts an ihrem Plan geändert hatte. „Wir kontrollieren das Haus und verschwinden dann sofort wieder, okay?“

Die Freundinnen stimmten ihr zu. Und dann gingen sie zum Haus hinüber, schlichen zur Hintertür, wo Raven den Schlüssel aus seinem Versteck nahm und die Tür aufschloss. Als sie ins Haus treten wollte, hielt Andie sie zurück.

„Wir hauen aber gleich wieder ab! Es wird nicht herumgeschnüffelt!“

„Nein, wir schnüffeln nicht herum“, versicherte ihr Raven.

Sie gingen ins Haus. Das Erste, was Andie auffiel, war ein abgestandener, leicht säuerlicher Geruch. Sie rümpfte die Nase. „Was riecht denn hier so?“

„Oh Gott …“ Julie schlug sich die Hand vor den Mund. „Ich wette, das ist … sie!“

Raven schüttelte den Kopf. Sie schaute sich in der Küche um und warf dann einen Blick in den angrenzenden Raum. „Hier ist alles in Ordnung. Keine Leichenteile, kein Blut.“ Als sie die entsetzten Gesichter ihrer Freundinnen sah, lachte sie. „Diese makabre Suchaktion war schließlich eure Idee. Ich bin nur mitgekommen, um euch zu beweisen, dass ihr spinnt.“

Zusammen gingen sie durch die Zimmer, öffneten jeden Wandschrank, schauten in alle Winkel und Ecken. Nichts erschien ihnen anders als beim ersten Mal, als sie in dem Haus gewesen waren.

Bis sie in den Raum mit der gewölbten Decke und dem frei liegenden Gebälk kamen. Von einem der Balken hing ein Seil herab.

Ein Seil, dessen Ende zu einer Schlinge geknüpft war. Direkt unter der Schlinge stand ein hoher Hocker, daneben ein kleinerer.

Im ersten Moment verschlug es den Mädchen die Sprache. Perplex betrachteten sie das Arrangement.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Andie schließlich. „Wozu soll das gut sein?“ Die drei sahen sich an. Andie wich einen Schritt zurück. „Mir gefällt das nicht. Ich will hier raus.“

„Ich auch“, sagte Julie.

„Rave …“

Ihre Freundin starrte zu dem Balken mit dem Seil hinauf. Etwas in ihrem Ausdruck jagte Andie eine Gänsehaut über den Rücken. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Raven noch kein Wort gesagt hatte, seit sie in dieses Zimmer gekommen waren.

„Rave?“, sagte sie noch einmal, den Arm ihrer Freundin berührend. „Lass uns gehen.“

Raven zuckte erschrocken zusammen. „Was hast du gesagt?“

„Julie und ich wollen gehen. Es ist uns unheimlich hier.“

Raven widersprach ihnen nicht. Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren, und hatten die Hintertür schon fast erreicht, als ein Geräusch sie vor Schreck erstarren ließ. Sie hatten es alle drei gehört – das unmissverständliche Rumpeln der Garagentür. Andie glaubte, in Ohnmacht zu fallen. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, und ein diffuses Halbdunkel breitete sich in den Räumen aus. Hysterisch vor Angst blickte Andie sich um. Nicht noch einmal!, dachte sie. Nicht noch einmal wollte sie hier wie ein gefangenes Tier in der Falle sitzen. Sie packte Julie bei der Hand und stürzte mit ihr zur Tür. Als sie sie aufriss, hörte sie, wie im Haus eine andere Tür geöffnet wurde. Die Stimme eines Mannes ließ sich vernehmen, gleich darauf die etwas höhere einer Frau.

Julie hinter sich herzerrend, stolperte Andie hinaus. Sie ließ sich gerade noch genug Zeit, um die Tür hinter sich zuzuziehen, ehe sie wie von Furien gehetzt zu dem bewaldeten Grundstück hinüberrannte.

Als sie es erreicht hatte, ging sie keuchend hinter einem Baum in Deckung. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass Raven nicht bei ihnen war. Vor Schreck wurde ihr ganz heiß. „Wo ist Raven?“, stieß sie in panischer Angst hervor.

Erschrocken sah Julie sie an. Schlagartig wurde beiden dasselbe bewusst: Raven hatte es nicht geschafft. Sie war noch in diesem Haus – zusammen mit Mr. und Mrs. X.

18. KAPITEL

Drinnen im Haus schob sich Raven mit klopfendem Herzen dichter an die Ritze zwischen Tür und Rahmen heran. Als sie eben gehört hatte, wie die Garagentür aufging, als ihr klar wurde, dass Mr. und Mrs. X gekommen waren, hatte sie kehrtgemacht und war zurückgerannt in das Zimmer mit dem Seil und den Hockern, um sich im Wandschrank zu verbergen.

Zitternd vor Angst und Erwartung, bemühte sie sich, ruhig und leise zu atmen. Von ihrem Versteck aus konnte sie nur einen schmalen Ausschnitt des Raumes sehen. Aber sie sah das Seil. Und die Hocker. Und Mr. und Mrs. X.

Sie hielten sich in den Armen, flüsterten Dinge, die Raven nicht verstehen konnte. Mrs. X machte einen erregten, fast ängstlichen Eindruck. Hatte sie Angst vor ihm? Vor dem Seil? Oder vor etwas anderem?

„Zieh dich aus“, sagte Mr. X ruhig.

Mrs. X schüttelte den Kopf. „Ich will nicht.“ Ihre Stimme zitterte. „Zwing mich nicht dazu.“

„Zieh dich aus“, sagte er noch einmal, diesmal in scharfem Ton. Er schob sie von sich weg. „Ich möchte dich nicht bestrafen, aber ich werde es müssen.“

Wimmernd gehorchte sie ihm, legte zögernd ein Kleidungsstück nach dem anderen ab, bis sie schließlich nackt und zitternd, mit gesenktem Kopf vor ihm stand.

„Der Ring“, sagte er. „Zieh ihn aus.“

Angestrengt spähte Raven durch den Türspalt. Schweißperlen standen ihr auf der Oberlippe. Sie sah, wie Mrs. X sich damit abmühte, einen Ring von ihrem Finger zu ziehen. Einen Ehering, wie Raven registrierte. Mrs. X war verheiratet. Mit einem anderen Mann.

„Du gehörst mir“, sagte Mr. X. „Nicht wahr?“

Die Frau blickte zu ihm auf. Raven sah, dass sie weinte. „Ja“, flüsterte sie.

Er streckte die Hand aus und umfasste ihre Brust. Nicht zärtlich, sondern grob, als wolle er seinen Besitzanspruch geltend machen. „Du bist mein.“

„Ja“, sagte sie wieder.

„Und ich kann mit dir machen, was ich will?“

Sie nickte.

Er umfasste die andere Brust. „Sag es.“

„Ja. Du kannst mit mir machen, was du willst.“

„Ich kann dich sogar töten.“

Die Worte klangen gleichmütig, hart. Sie hallten in Ravens Kopf wider. Ihr Mund wurde trocken. Ihr Herz begann zu hämmern.

Und dann hörte sie plötzlich ganz klar und deutlich die Stimme ihres Vaters, seinen anklagenden Ton. Du Hure, du betrügerisches, untreues Luder. Eher bringe ich dich um, als dass ich dich gehen lasse.

Raven schüttelte den Kopf, versuchte das Bild ihres Vaters, die Erinnerung, zu verdrängen. Schweiß lief ihr über die Stirn und in die Augen. Sie rieb sie, bis sie brannten. Als sie die Hände sinken ließ, stand sie an einer anderen Tür. Sie war wieder ein zwölfjähriges Kind. Und sie spähte durch den Spalt in ihrer Schlafzimmertür in einen anderen Raum.

Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern. Ihren letzten Streit.

Sie hatten sich die ganze Nacht gestritten. Es war immer die alte Leier. Das Gezänk eskalierte, bis es kein Zurück mehr gab. Raven wusste genau, wie es weitergehen würde. Sie kannte die ganze Litanei auswendig. Leise war sie aus ihrem Bett gekrochen und zur Tür geschlichen, um zu lauschen.

„Ich frage dich noch einmal“, hatte ihr Vater geschrien, „wo warst du heute?“ Raven hatte die Augen gen Himmel verdreht und stumm die nächsten Worte ihres Vaters hergebetet. „Ich habe dich angerufen, und du bist nicht ans Telefon gegangen.“

„Du lieber Himmel, Ron, ich war einkaufen, in der Reinigung, in der …“

Ihre Worte gingen in Ron Johnsons wütendem Gebrüll unter. „Verlogene Hure! Wenn du einkaufen warst, warum haben wir dann kein Brot im Haus?“ Eine Schranktür wurde aufgerissen und wieder zugeschlagen. Etwas flog zu Boden. „Wo sind die Kleider, die du aus der Reinigung geholt hast?“

„Ich habe vergessen, Brot zu kaufen. Und ich war sehr wohl in der Reinigung – um mein blaues Kleid hinzubringen. Es hatte Kaffeeflecken. Ich habe doch letzten Sonntag nach der Kirche Kaffee verschüttet, erinnerst du dich nicht?“

Ihr Vater sagte etwas, das Raven nicht verstand. Dafür hörte sie die frustrierte Erwiderung ihrer Mutter. „Ich habe deine Anschuldigungen satt! Ich bin es leid, dir über jeden Schritt Rechenschaft ablegen zu müssen.“

„Glaubst du etwa, mir macht es Spaß?“, herrschte er sie an. „Bildest du dir ein, dieses Gezänk gefällt mir?“

„Ja! Es macht dir Spaß, davon bin ich überzeugt. Aber ich halte es nicht mehr aus. Hast du mich verstanden?“ Die Stimme ihrer Mutter überschlug sich fast. „Ich halte es nicht mehr aus!“

Bla, bla, dachte Raven auf ihrem Horchposten. Immer dasselbe. Sie wandte sich ab, um wieder ins Bett zu gehen, als die nächsten Worte ihrer Mutter sie aufhorchen ließen.

„Ich verlasse dich.“

Die Worte schienen in der Stille, die darauf folgte, widerzuhallen. Mit angehaltenem Atem wartete Raven auf die Antwort ihres Vaters. Nicht was ihre Mutter gesagt hatte, überraschte sie, sondern wie sie es gesagt hatte. Ihre Angst und Verzweiflung, ihre hysterische Aufregung waren verflogen. Als ob ihre Mutter es zum ersten Mal wirklich ernst meinte. Zum ersten Mal seit jener Nacht vor sechs Jahren, als sie einen Fluchtversuch unternahm und dabei diesen Unfall baute, den Unfall, von dem Raven ihre Narbe zurückbehalten hatte. Als ob sie endlich den Mut aufbrachte, ihren Mann zu verlassen.

„Das könnte dir so passen!“, schrie ihr Vater. „Ich lasse es nicht zu.“

„Doch, Ron, ich gehe. Ich kann so nicht mehr leben, keine Minute länger. Ich bin nicht mehr bereit, deine verrückten, krankhaft eifersüchtigen Unterstellungen …“

Mit einem hässlichen Lachen unterbrach er sie. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben, du verlogene Hure.“

„Hör auf! Du bist krank. Du brauchst Hilfe. Und ich muss auch krank gewesen sein, sonst hätte ich dieses Leben nicht so lange mitgemacht. Aber damit ist jetzt Schluss. Es ist aus.“

„Ich bestimme, wann es aus ist, verstanden? Ich, nicht du.“

„Nimm deine Hände von mir! Ich lasse mich von dir nicht mehr einschüchtern.“

Raven schlich zum Treppengeländer. Vorsichtig warf sie einen Blick nach unten. Sie sah, wie ihre Mutter sich aus dem Griff ihres Vaters befreite und zur Treppe rannte. Raven wagte noch einen schnellen Blick auf ihren Vater, ehe sie in ihr Schlafzimmer zurückhuschte und leise die Tür hinter sich schloss. Ihr Vater hatte erstaunt und ungläubig ausgesehen, fast komisch in seiner Verblüffung. Raven musste sich die Hand auf den Mund pressen, um ein Kichern zu unterdrücken.

Erst ging ihre Mutter an der Tür vorbei, dann ihr Vater. Raven zählte bis zehn. Leise machte sie ihre Tür wieder auf, um in den Flur hinauszuspähen. Die Schlafzimmertür ihrer Eltern stand offen. Ihre Mutter war gerade dabei, ihre Sachen in einen Koffer zu stopfen.

„Inzwischen weiß ich auch, woher deine plötzliche Entschlossenheit kommt“, sagte ihr Vater. „Du gehst zu deinem Freund, nicht wahr? Zu deinem schmutzigen Liebhaber.“

„Hör auf“, sagte ihre Mutter noch einmal. Ihre Stimme zitterte, und Raven ahnte, wie viel Kraft es sie kosten musste, ihrem Vater die Stirn zu bieten. „Ich bin dir nie untreu gewesen. Warum sollte ich noch einmal einen Mann wollen, Ron? Wozu? Das Leben mit dir ist schlimm genug gewesen.“

„Bildest du dir wirklich ein, ich lasse dich gehen?“, fragte er. Seine Stimme klang beherrscht. „Da solltest du mich aber besser kennen.“

„Du kannst mich nicht davon abhalten.“

„Nein?“ Er ging um sie herum. Seine Miene drückte Verachtung aus. „Du gehörst mir.“

Statt einer Antwort klappte ihre Mutter den Koffer zu, zog ihn vom Bett herunter und schleppte ihn in den Flur hinaus. Raven lehnte die Tür bis auf einen winzigen Spalt an. Sie hatte wahnsinniges Herzklopfen bekommen. Ob ihre Mutter wohl kam, um sie zu holen? Sie würde nicht mitgehen. Sie würde Andie und Julie nicht verlassen. Sie waren ihre Familie.

Als hätten ihre Gedanken sich auf ihn übertragen, rief ihr Vater in diesem Moment: „Und was ist mit Raven? Willst du sie auch verlassen?“ Er schnippte mit den Fingern. „Einfach so?“

Sandy Johnson blieb stehen und drehte sich um. „Nein, nicht einfach so. Ich wünschte, sie würde mit mir kommen. Ich würde sie liebend gern mitnehmen. Aber sie wird nicht gehen wollen.“

„Wie praktisch, was, Sandy?“

„Unserer Tochter liegt schon seit Langem nichts mehr an uns beiden. Merkst du nicht, wie sie uns ansieht? Spürst du nicht ihre Verachtung, ihren Hass? Sie wird froh sein, wenn ich weg bin. Dann muss sie sich wenigstens nicht mehr ständig diesen … Schwachsinn anhören.“

Er packte sie beim Arm. „Ohne mich bist du ein Nichts. Wie willst du überleben, wenn ich nicht die Rechnungen bezahle? Wenn ich dir nicht sage, was du anziehen, was du tun und lassen sollst? Du brauchst mich.“

Sie riss sich von ihm los. „Nun, vielleicht wird mein Liebhaber sich darum kümmern“, sagte sie zynisch. „Du bist ja so sicher, dass ich einen habe.“

Ron schlug sie hart auf den Mund. Sie taumelte zurück, stieß gegen das Treppengeländer und hielt sich daran fest. Langsam richtete sie sich auf. Die Hand auf die blutenden Lippen gepresst, begegnete sie seinem Blick. „Das ist das letzte Mal, dass du mich schlägst. Ich gehe. Ich hätte mich schon längst gegen dich zur Wehr setzen sollen. Vielleicht hätte meine Tochter dann noch etwas Achtung vor mir.“

„Ich bringe dich um, wenn es sein muss.“

Ihre Mutter wurde blass. Einen Moment konnte sie ihn nur sprachlos anstarren. Dann lachte sie. „Achtzehn Jahre hast du mich mit deinen Drohungen eingeschüchtert. Inzwischen habe ich keine Angst mehr vor dir.“

Sie nahm ihren Koffer und trug ihn die Treppe hinunter. Die Hintertür ging auf und wurde gleich darauf heftig zugeknallt. Weil er mit dem Rücken zur Tür stand, konnte Raven ihren Vater nicht sehen. Aber sie hörte seine heftigen Atemzüge, glaubte seine Wut und Frustration zu spüren.

Und dann war er seiner Frau gefolgt. Laut hatten seine Schritte auf der Treppe gepoltert.

Sie hörte einen Schlag, und schaudernd kehrte Raven in die Gegenwart, zu Mr. und Mrs. X, zurück.

Die Augen der Frau waren mit dem schwarzen Seidenschal verbunden. Mit dem zweiten Schal hatte Mr. X ihr die Hände gefesselt. Der Barhocker musste irgendwie umgekippt sein, denn er lag unter dem Seil auf dem Parkett. Mr. X bückte sich, um ihn wieder hinzustellen.

Raven schluckte. Sie verstand das Spiel der beiden. Mrs. X war ihrem Partner jetzt hilflos ausgeliefert. Er hatte die Macht. Er konnte alles mit ihr machen, alles von ihr verlangen. Und sie würde ihm bedingungslos gehorchen.

Was muss das für ein Gefühl sein, dachte Raven. Wie ein König musste man sich fühlen. Oder wie ein Gott. Allein die Vorstellung, solche Macht über jemanden zu besitzen, erregte sie bis in die Fingerspitzen.

Ganz plötzlich drehte Mr. X sich um. Sein durchdringender Blick fiel auf den Wandschrank, auf den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen. Auf Raven.

Er wusste, dass sie da war. Er wusste, dass sie ihn beobachtete.

Ihre Blicke schienen sich zu treffen. Als Raven in seine leuchtenden blauen Augen sah, durchzuckte es sie wie ein elektrischer Schlag. Ganz deutlich spürte sie, dass eine Verbindung zwischen ihnen bestand, dass sie etwas Wichtiges gemein hatten, etwas teilten, das andere nicht verstanden, nicht zu verstehen vermochten. Als ob sie zwei Hälften eines Ganzen seien.

Er lächelte. Dann drehte er sich um und brach die Verbindung ab. Er ging zu seinem Opferlamm zurück, führte es zu dem Seil mit der Schlinge. Obwohl Raven sehen konnte, dass Mrs. X Angst hatte, tat sie, was er ihr befahl, stieg auf den Hocker und ließ sich die Schlinge um den Hals legen. Sie wimmerte vor Angst, als er die Schlinge anzog. Eine falsche Bewegung, und sie würde sterben. Wenn sie Widerstand leistete, war sie verloren.

So wie ihre Mutter, als sie ihrem Vater Widerstand leistete.

Raven presste die Fäuste auf die Augen. Nein. Sie wollte nicht daran erinnert werden. Nicht schon wieder. Aber es war zu spät.

Sie stand an ihrer Schlafzimmertür und hörte, wie ihr Vater die Treppe hinunterpolterte. Sekunden vorher war mit lautem Knall die Hintertür zugeschlagen worden. Raven bekam wahnsinniges Herzklopfen. Sie rannte zum Flurfenster, aus dem man zum Garten und zur Garage hinuntersehen konnte.

Im ersten Moment vermochte sie nicht viel zu erkennen. Der Lichtschimmer aus der Küche beleuchtete kaum mehr als das Rechteck, das ihr Vater heute für die geplante Terrasse abgesteckt hatte, einen Teil der Einfahrt und die Garage.

Und dann sah sie ihre Eltern. Ihre Mutter stand am Auto. Sie versuchte gerade die Fahrertür zu öffnen, als ihr Vater sie bei den Schultern packte und vom Auto wegzog. Sein Gesicht war wutverzerrt. Raven fragte sich, warum ihre Mutter nicht schrie, warum sie nicht um Hilfe rief. Vermutlich kam sie gar nicht auf die Idee. Zu lange hatte sie versucht, die Wahrheit über ihre Ehe vor Nachbarn und Freunden geheim zu halten.

Ihr Vater stieß gegen die Zementsäcke, stolperte und warf die Schaufel um, die daneben stand. Ihre Mutter riss sich von ihm los und stürzte zum Auto zurück. Sie war gerade hineingesprungen und wollte eben die Tür zuschlagen, als er sie zu fassen kriegte. Er zerrte sie hinaus. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen, schlug und trat nach ihm und konnte sich schließlich wieder befreien.

Ihr Vater griff nach der Schaufel. Sie solle stehen bleiben, rief er. Ihre Mutter hörte nicht auf ihn. Atemlos presste Raven das Gesicht an die Fensterscheibe. Sie sah, wie ihr Vater die Schaufel hob, wie er damit ausholte und ihre Mutter mit aller Wucht auf Schultern und Rücken schlug.

Raven stieß einen erschrockenen Schrei aus. Sekundenlang verharrte Sandy Johnson regungslos. Ihre Züge drückten ungläubiges Erstaunen aus. Dann schwang ihr Mann die Schaufel erneut. Diesmal ließ er sie auf ihren Kopf niedersausen.

Mit einem dumpfen Krachen traf das Metall auf den Schädelknochen. Blut spritzte auf. Raven drehte sich der Magen um. Die Hände auf den Bauch gepresst, sank sie zu Boden. Oh Gott, dachte sie. Oh Gott … Sie fürchtete, dass sie sich übergeben musste, und presste die Lippen zusammen, um die Übelkeit niederzukämpfen.

Er hatte gesagt, er würde sie umbringen … er hatte es gesagt. Was jetzt? Was sollte sie machen? Raven holte tief Luft. Die Polizei, dachte sie. Sie musste die Polizei anrufen. Man würde einen Krankenwagen schicken. Vielleicht war es noch nicht zu spät.

Raven richtete sich langsam auf. Vorsichtig schaute sie über die Fensterbank. Ihre Mutter lag reglos am Boden. Die Schaufel umklammert, stand ihr Vater vor ihr. Starr blickte er auf ihren zusammengesackten Körper hinab. Dann drehte er sich auf einmal abrupt um. Er ging in die Mitte der geplanten Terrasse und begann zu graben.

Was machte er? Mit gerunzelter Stirn beobachtete Raven sein Tun. Und dann wurde es ihr klar. Er grub ein Loch. Um ihre Mutter zu begraben.

Raven kauerte sich wieder auf den Boden. Sie konnte kaum Luft bekommen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie versuchte, Ordnung in das Chaos in ihrem Kopf zu bringen, bemühte sich zu begreifen, was ihr Vater getan hatte.

Die Augen fest zugekniffen, zwang sie sich, ruhig durchzuatmen. Wie oft hatte ihr Vater ihrer Mutter gesagt, er würde sie bestrafen, weil es ihr an Loyalität mangelte? Wie oft hatte er ihr gedroht, sie für ihren Verrat zur Rechenschaft zu ziehen, sie gewarnt, dass er sie zurückhalten würde, sollte sie je versuchen, ihn zu verlassen?

Raven konnte gar nicht zählen, wie oft. Bei jedem Streit hatte er diese Warnungen ausgesprochen. Und hatte er sie nicht auch heute Abend zuerst gewarnt? Hatte er nicht gesagt, er würde sie umbringen, wenn sie ihn verließ?

Ihre Mutter hatte nicht auf ihn gehört. Trotz seiner Warnungen wollte sie davonlaufen, wollte ihren Mann und ihre Tochter im Stich lassen. Ihre Mutter hatte Verrat an ihnen, an ihrer Familie, begangen. Ihr Vater hatte recht gehabt mit allem, was er ihr vorwarf. Sie war nicht loyal gewesen. Das hatte sie eindeutig bewiesen, indem sie ihre Familie zu verlassen versuchte.

Und deshalb hatte ihr Vater sie zur Rechenschaft gezogen, so wie er es versprochen hatte.

Raven entfuhr ein hysterisches Kichern. Gespenstisch hallte es in dem stillen Haus wider. Raven schlug sich die Hand vor den Mund. Dabei stellte sie sich vor, ihr Vater würde beim Schaufeln innehalten und zum ersten Stock, zu diesem Flurfenster, hochschauen.

Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Wenn die Polizei erfahren würde, dass sie alles mitangesehen hatte, würde man ihren Dad ins Gefängnis und sie in ein Heim stecken – irgendwohin, weit weg von Andie und Julie. Die Freundinnen waren ihre Familie. Sie konnte nicht ohne sie leben.

Andie. Julie. Mr. und Mrs. X …

Jäh kehrte Raven in die Gegenwart zurück. Sie kauerte in der hintersten Ecke des Wandschranks. Ihr Atem ging flach, ihre Wangen waren nass von Tränen. Beklemmende Dunkelheit umgab sie. Der Geruch nach Farbe und Baustaub verursachte ihr Erstickungsgefühle.

Im Zimmer war es still, totenstill. Raven beugte sich vor und spähte durch den Türspalt. Mr. und Mrs. X waren nicht mehr da. Sie blinzelte verwirrt. Panik stieg in ihr auf. Seit wann waren die beiden weg? Wie viel Zeit mochte vergangen sein?

Fröstelnd rieb sie sich die Arme. Sie fror und schwitzte zugleich. Diese Nacht war eine Offenbarung für sie gewesen. Weil sie erkannt hatte, was Macht war. Was es bedeutete, sie zu besitzen. Was es bedeutete, das Schicksal eines anderen Menschen in der Hand zu haben.

Sie hielt das Schicksal ihres Vaters in der Hand. Niemand wusste, was sie gesehen hatte. Als die Polizei sie wegen des Verschwindens ihrer Mutter vernahm, hatte sie geschwiegen. Sie hatte ihr Geheimnis für sich behalten, wusste jedoch, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen würde, es zu enthüllen und ihren Vater seinem Schicksal auszuliefern.

Ihr Geheimnis gab ihr Macht. Eine Macht, wie Mr. X sie besaß. Macht über Leben und Tod.

Raven rieb sich die Augen. Müdigkeit überkam sie. Das Hochgefühl, das sie eben noch empfunden hatte, war verflogen. Schmerz begann in ihrer Schläfe zu pochen. Warum waren Andie und Julie nicht bei ihr? Sie fehlten ihr. Sie waren doch eine Familie.

Eine Familie, die auseinanderzufallen drohte.

Der Schmerz in ihrem Kopf wurde stärker. Eine Familie hatte keine Geheimnisse voreinander. In einer Familie zankte man sich nicht. Aber sie stritten sich in letzter Zeit ununterbrochen. Seit Mr. und Mrs. X in ihr Leben getreten waren.

Mr. und Mrs. X standen zwischen ihnen.

Raven rieb sich die Schläfe. Sie musste etwas unternehmen. Denn sie konnte nicht ohne ihre Freundinnen, ihre Familie, leben.

Aber ihr Leben würde sich verändern. Weil sie sich verändert hatte. Denn inzwischen verstand sie Dinge, von denen sie vorher nur vage etwas geahnt hatte. Dinge, die auch ihr Vater verstand, obwohl sie ihn dafür hasste. Vielleicht war auch das ein Teil des Kreislaufs. Vielleicht gehörten Hass und Liebe ebenso zusammen wie Lust und Schmerz.

Andie und Julie konnten sich an ihr orientieren. Sie würde ihnen den Weg weisen. In jeder Familie gab es ein Familienoberhaupt. Diese Rolle würde ihr zufallen. Denn sie war furchtlos und clever. Sie konnte beobachten, konnte Menschen und Situationen nüchtern einschätzen, ohne sich durch Mitleid oder Reue den Blick verstellen zu lassen.

Wenn doch nur Julie und Andie genauso sein könnten. Wenn sie doch bloß begreifen würden, wie einfach das Leben auf diese Art und Weise war.

Aber sie begriffen es nicht. Sie waren nicht stark, so wie sie. Sie war diejenige, die für ihre Familie jedes Risiko einging, bei der die anderen sich Rat holen konnten, die für Halt und Sicherheit sorgte. Sie war diejenige, die die Bedeutung von Liebe und Loyalität verstand.

Sie würde ihre Familie zusammenhalten. Um jeden Preis.

Sie würde auf der Stelle damit anfangen – indem sie Andie und Julie davon überzeugte, dass Andie recht, aber gleichzeitig auch unrecht gehabt hatte. Es stimmte, dass sie diese ganze Sache vergessen mussten. Es stimmte auch, dass die Geschichte zwischen ihnen stand und ihre Freundschaft zu zerstören drohte. Falsch hingegen war, dass Mrs. X Gefahr drohte.

Die Freundinnen würden sich überzeugen lassen. Und sie, Raven, würde weiterhin beobachten und lernen. Bis die Zeit reif war zu handeln.

Der Schmerz in ihrer Schläfe verschwand. Raven kroch aus dem Wandschrank. Sie richtete sich auf, streckte sich und lächelte. Sie würde sich um alles kümmern. Was es auch kosten mochte.

Mit diesem Gedanken rannte sie aus dem Haus, zu dem Versteck, wo, wie sie wusste, ihre Familie auf sie warten würde.

19. KAPITEL

Es war Raven nicht gelungen, Andie davon zu überzeugen, dass Mrs. X keine Gefahr drohte. So gern Andie ihr geglaubt hätte, sie konnte es nicht. Auch wenn sie sich sagte, dass Raven es eigentlich wissen müsste, nachdem sie zusammen mit Mr. und Mrs. X in diesem Haus gewesen war, auch wenn sie sich vor Augen hielt, was ihnen blühen würde, sollten ihre Eltern von ihrem Treiben erfahren – sie konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Sie musste einfach etwas unternehmen.

Und deshalb stand sie jetzt vor der Polizeiwache in Thistledown und versuchte sich ein letztes Mal Mut zu machen, ehe sie die Glastüren aufstieß und hineinging. Sie hatte sich genau überlegt, was sie sagen wollte. Sie würde alles möglichst wahrheitsgemäß erklären, jedoch so tun, als hätte sie auf eigene Faust das Haus ausgekundschaftet. So konnte sie Raven und Julie aus der Sache heraushalten und etwaige Folgen auf ihre Kappe nehmen.

Es klappte bestimmt. Es musste einfach klappen.

Sie ging zum Empfangsschalter. Mürrisch blickte der diensthabende Polizist auf. „Was willst du?“

Andie schluckte. Es fiel ihr schwer, ihre Nervosität zu verbergen. „Könnte ich bitte mit einem Kommissar sprechen? Ich … ich … muss ein Verbrechen melden.“

„Unsere Kommissare haben zu tun, Süße. Ist dir der Freund davongelaufen? Bist du deshalb hier?“

Andies Wangen brannten. In der Hoffnung, dadurch vielleicht etwas älter zu erscheinen, richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf. „Natürlich nicht“, sagte sie indigniert.

„Art des Verbrechens?“, bellte der Polizist. Als sie zögerte, warf er einen ungeduldigen Blick auf seine Uhr, um gleich darauf die Frage noch etwas barscher zu wiederholen.

„Mord“, sagte Andie hastig. „Ich möchte einen Mord melden.“

Der Polizist kniff die Augen zusammen. Dann nickte er und deutete auf eine Bank. Es war klar, dass er ihr nicht glaubte. Aber immerhin war ihre Behauptung schwerwiegend genug, um ihr ein Gespräch mit einem Kriminalbeamten zu ermöglichen. „Setz dich dort drüben hin. Es wird gleich jemand kommen.“

Andie setzte sich auf die Bank, und wenige Minuten später erschien ein Mann in einem zerknitterten Anzug, um sie zu holen. Nicht gerade freundlich stellte er sich ihr als Detective Peters vor und forderte sie auf, ihm zu folgen.

Er führte sie in die Wachstube, zu einem Schreibtisch; auf dem sich Akten und Papiere stapelten. Auf der Schreibtischkante saß ein Mann, der sie erstaunlicherweise sogar anlächelte. „Ich bin Detective Nolan“, sagte er. „Das Gehirn dieser Klitsche.“

Peters runzelte die Stirn. „Mein Kollege, der Witzbold. Setz dich.“ Er deutete auf einen Stuhl direkt gegenüber von seinem. Während sich Andie mit zitternden Knien niederließ, zog er einen kleinen Notizblock aus der Jackentasche, schlug ihn auf und sah sie fragend an. „Name?“

„Name?“ Andie schluckte. Spätestens in diesem Moment wurde ihr klar, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. „Muss ich Ihnen den sagen?“

„Ja, das musst du.“

„Andie Bennett.“

„Adresse?“

Andie sagte ihm, wo sie wohnte, und er schrieb es auf. Dann wollte er ihr Alter wissen. Sie überlegte kurz, ob sie ihn belügen sollte, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Sie konnte erzählen, was sie wollte, man würde ihr wahres Alter ja doch herausfinden. „Fünfzehn.“

„Und du wohnst hier in Thistledown?“

Sie nickte. „Mit meiner Mom und … nur mit meiner Mom. Und mit meinen kleinen Brüdern.“

Der Detective sah auf. „Wo ist dein Vater?“

„Er und meine Mom … sie haben sich getrennt.“

„Ich verstehe.“ Er machte sich eine Notiz. „Aber er lebt hier in Thistledown?“

Andie nickte. Sie fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Hätte sie doch nur auf ihre Freundinnen gehört. Aber jetzt war es zu spät. Nachdem sie erklärt hatte, dass sie einen Mord melden müsse, konnte sie schlecht aufstehen und sagen, sie hätte es sich anders überlegt, es sei alles nur Spaß gewesen.

Peters warf seinen Notizblock auf den Tisch und lehnte sich zurück. „Okay, Andie, schieß los. Der Wachtmeister sagte, du seist gekommen, um einen Mord zu melden. Gibt es auch eine Leiche zu diesem Verbrechen?“

Andie errötete. „Bis jetzt nicht.“

Die beiden Beamten tauschten einen Blick aus. „Was soll das heißen?“

„Also, es ist nicht unbedingt ein Mord. Noch nicht.“

Peters’ Augen wurden so schmal, dass Andie sich fragte, wie er überhaupt noch etwas sehen konnte durch die Schlitze. „Warum hast du dann dem Wachtmeister gesagt, es handele sich um einen Mord?“

Andie faltete die Hände, damit sie nicht zitterten. „Ich musste mit jemandem reden“, sagte sie. „Es ist nämlich so, dass ich … dass ich befürchte, es wird ein Mord passieren. Und das möchte ich verhindern.“

„Ich verstehe.“ Wieder sahen sich die beiden Männer an. Peters räusperte sich. „Wie wär’s, wenn du uns deine Geschichte schön der Reihe nach erzählst. Danach können wir uns dann überlegen, was wir machen.“

Andie wollte gerade mit ihrem Bericht beginnen, als ein weiterer Mann in die Wachstube kam. Er war jünger als die beiden Kommissare und hatte dunkles gelocktes Haar. Er trug Jeans, ein kakifarbenes Hemd und eine Krawatte, die aussah, als hätte sie ein Blinder ausgesucht. Als er an ihnen vorbeiging, nickte er den beiden Beamten zu.

„Lass dich nicht stören, Andie“, sagte Detective Peters. „Das ist bloß Detective Raphael, unser Pfadfinder.“ Er knüllte ein Blatt Papier zusammen, das er dem jungen Mann zuwarf. „Na, haben Sie heute schon eine gute Tat vollbracht, Raphael?“

Andie warf einen Blick über die Schulter. Dabei sah sie, wie der junge Detective mit einer Hand den Papierball auffing und mit der anderen seinem älteren Kollegen den Vogel zeigte. Sie räusperte sich nervös. „Soll ich jetzt anfangen?“

„Sicher. Deshalb sind wir doch hier.“

Andie begann zu erzählen, von der nächtlichen Musik und ihrer Neugier, von dem mysteriösen Mann, den schwarzen Seidentüchern, der Frau, dem Strick und dem perversen, gewalttätigen Sex. Sie sprach klar und ruhig, zwang sich, die Männer anzusehen und nicht verlegen den Blick zu senken. Peters starrte sie ungläubig an, Nolan schmunzelte belustigt. Der junge Detective rührte sich nicht. Still wie eine Statue stand er da.

Als sie geendet hatte, war es zunächst einmal mucksmäuschenstill in der Wachstube. Schließlich meinte Peters: „Das ist ja in der Tat eine bemerkenswerte Geschichte.“

„Das kann man wohl sagen“, pflichtete Nolan ihm bei.

„Mir scheint, du hast deine Nase da in Angelegenheiten gesteckt, die dich nichts angehen“, fuhr Peters fort.

„Wieso?“ Ungläubig schüttelte Andie den Kopf. „Aber sehen Sie denn nicht …“

„Was ich sehe, ist ein Mädchen, dem seine Eltern das Fell über die Ohren ziehen werden, wenn sie Wind von der Sache bekommen.“ Peters stand auf. „Raphael, was haben Sie im Moment vor?“

„Nicht viel.“

„Ich möchte, dass Sie Miss Bennett nach Hause bringen und bei ihrer Mutter abliefern.“

„Warten Sie!“ Andie sprang auf. „Sehen Sie sich an, was ich in der Bibliothek gefunden habe.“ Sie zog den zusammengefalteten Artikel aus der Tasche und hielt ihn Peters hin. „Lesen Sie die Stelle, die ich unterstrichen habe.“

Detective Peters las die unterstrichenen Sätze. Dann gab er ihr die Fotokopie zurück. „Und?“

„Und?“ Andies Wangen brannten. „Da steht, dass so etwas zu einem Mord führen kann.“

„Aber nur sehr selten, das darfst du mir glauben.“

Wütend starrte Andie ihn an. Sie fühlte sich regelrecht gedemütigt. „Sie werden nichts machen?“

„Doch, ich mache etwas. Wider besseres Wissen lasse ich dich nach Hause gehen, anstatt dich dem Jugendamt zu überstellen oder höchstpersönlich deine Eltern anzurufen. Aber nur dieses eine Mal. Beim nächsten Mal werde ich nicht so nett sein.“

„Aber …“ Andie kämpfte mit den Tränen. „Mrs. X ist in Gefahr. Ich weiß es.“

„Hör zu, Mädchen, Sex zwischen Erwachsenen ist nicht strafbar, solange er in beiderseitigem Einvernehmen geschieht. Selbst wenn es sich um ziemlich perverses Zeug handelt. Aber Einbruch ist gesetzwidrig. Andere Leute heimlich zu beobachten desgleichen. Kapiert?“ Er beugte sich zu ihr vor. „Was ich damit sagen will, ist, dass du die Einzige bist, die hier das Gesetz gebrochen hat. Aber du scheinst ein nettes Kind zu sein, und deshalb will ich ein Auge zudrücken und dich zu deiner Mom nach Hause schicken. In Zukunft jedoch hältst du dich aus den Privatangelegenheiten anderer Leute heraus, verstanden?“

Zitternd vor Wut und Scham sprang Andie auf. „Okay. Aber wenn Mrs. X ermordet wird, sage ich jedem, dass Sie es hätten verhindern können, sich jedoch weigerten, etwas zu unternehmen, Detective Peters.“

„Keine Angst, Schätzchen, sollte dieser Fall eintreten, dann rufen wir dich als Erste an.“ Er grinste belustigt. „Dann darfst du uns alles noch einmal bis in die kleinste Einzelheit erzählen.“

„Miss Bennett?“ Der Pfadfinder fasste sie beim Ellbogen. „Können wir jetzt gehen?“

Andie zog ihren Arm weg. Hoch erhobenen Kopfes marschierte sie aus der Wachstube. Hinter sich hörte sie Peters und Nolan lachen. Der junge Detective führte sie zu einem Streifenwagen. Als er ihr die Beifahrertür öffnete, sah sie ihn mit gerunzelter Stirn an.

„Nachdem ich so eine schreckliche Person bin, die andere Leute ausspioniert, sollten Sie mich doch eigentlich nach hinten, in den Käfig, stecken.“

Er lächelte amüsiert. „Ja, sollte ich das? Du siehst zwar ziemlich kräftig aus, aber ich will das Risiko eingehen. Steig ein.“

Andie gehorchte, obwohl sie ihm in diesem Moment viel lieber das gönnerhafte Lächeln aus dem Gesicht geschlagen hätte. Sie brauchte sein Mitleid genauso wenig wie den Spott dieser beiden anderen Dummköpfe. Was sie brauchte, war ihre Hilfe. Mrs. X brauchte ihre Hilfe. Missmutig starrte sie aus dem Fenster. Scheißtypen, dachte sie. Kein Wunder, dass die Leute sie Bullen nannten.

Detective Raphael ging um den Wagen herum und setzte sich hinters Steuer. „Wo wohnst du?“

Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. „Happy Hollow“, murmelte sie.

„Hör zu“, sagte er, „ich kann ja verstehen, dass du sauer bist, aber Peters und Nolan sind wirklich gute Cops.“ Er fuhr vom Parkplatz herunter und bog auf die Hauptstraße ein. „Ich weiß, ihr Verhalten kann verletzend sein, aber sie hatten recht, Andie. Die Einzige, die das Gesetz gebrochen hat, bist du. Ich finde, es war recht großzügig von ihnen, dass sie dich gehen ließen. Ich hätte das Jugendamt und deine Eltern angerufen.“

„Haben die beiden Sie deshalb Pfadfinder genannt?“, fragte Andie, ihre Scham mit einem schnippischen Ton überspielend. „Weil Sie immer das Richtige tun? Handeln Sie stets nach Vorschrift?“

Er lächelte. „Ich versuche es.“

„Nun, Detective, welchen Verdienstorden wollen Sie sich heute an die Brust heften?“

Aus dem Augenwinkel warf er ihr einen amüsierten Blick zu. „Du bist ja ziemlich kess für eine Minderjährige, die sehr leicht in ernsthafte Schwierigkeiten geraten könnte.“

„Ich bin nicht diejenige, die in Schwierigkeiten steckt“, erwiderte Andie frustriert. „Aber es will ja niemand auf mich hören. Schließlich bin ich nur ein dummes Kind.“

Er antwortete ihr nicht sofort. Andie spürte, wie er sie ansah. „Machst du dir denn gar keine Gedanken darüber, wie deine Eltern reagieren werden, wenn du von der Polizei nach Hause gebracht wirst? Mir scheint, die Zeiten haben sich geändert. Mein Dad hätte mich übers Knie gelegt, wenn mir das passiert wäre.“

Andie erschrak. Daran hatte sie überhaupt noch nicht gedacht! Sie versuchte sich den Gesichtsausdruck ihrer Mutter vorzustellen, wenn sie ihre Tochter aus einem Streifenwagen aussteigen sah. Völlig durcheinander würde sie sein. Und verletzt. Von wegen mustergültige Tochter!

„Du bist ja plötzlich sehr still.“

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