Der Weihnachtstausch

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Eigentlich wünscht sich Juliet nichts mehr, als ihren Lieben ein schönes Weihnachtsfest zu bescheren. Doch als ihre Schwester Gemma dann noch ankündigt, lieber allein in die Karibik zu fliegen, platzt ihr der Kragen. Mit dem Resultat, dass Gemma einen gewagten Vorschlag macht: Sie wird gemütliche weiße Weihnachten mit ihren Nichten und Neffen verbringen, nicht zu vergessen mit Juliets nettem Nachbarn Will. Juliet dagegen übernimmt dafür Gemmas Luxustrip - ungeplante Abenteuer inklusive …


  • Erscheinungstag 01.11.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783956494857
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Fiona Harper

Der Weihnachtstausch

Roman

Aus dem Amerikanischen von Anita Sprungk

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Make My Wish Come True

Copyright © 2013 by Fiona Harper
erschienen bei: Mills & Boon, London

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Eva Wallbaum

Titelabbildung: Shutterstock; Thinkstock/Getty Images, München; istockphoto.com

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN eBook 978-3-95649-485-7

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Weihnachten 1981

Juliet saß auf dem braunen Velourssofa, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah zu, wie ihre Schwester inmitten von zerfetztem Geschenkpapier und achtlos fallen gelassenen Geschenkbändern spielte. Gemmas blonde Locken hüpften, während sie ihrer neuen Puppe fröhlich vor sich hin plappernd die Haare bürstete. Juliets Blick fiel auf den Taschenrechner, der noch in seiner Verpackung neben ihr auf dem Sofa lag, und ihr wurde ein wenig übel.

Die Puppe hatte auf ihrem Wunschzettel gestanden, nicht auf Gemmas. Offenbar hatte ihre Mutter da irgendwas durcheinandergebracht. Aber Daddy hatte gesagt, Mummy sei im Moment ein bisschen traurig und tue deshalb seltsame Dinge.

Gemma hörte auf, der Puppe die Haare zu kämmen, und blickte auf. „Wann gibt es was zu essen?“, fragte sie. „Ich habe Hunger.“

Ein Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims zeigte Juliet, dass es zehn nach vier war. Auch sie hatte Hunger. Das Weihnachtsessen hätte schon vor Stunden stattfinden sollen. Am liebsten wäre sie zu Daddy gelaufen und hätte ihn gefragt, aber als sie sich das letzte Mal in die Küche gewagt hatte, hatte er dort gesessen, tief über den Tisch gebeugt, und leise geweint.

„Bald“, versicherte sie Gemma und rang sich ein Lächeln ab. Ihre Schwester nickte und beschäftigte sich weiter mit ihrer Puppe. Juliet blieb einfach sitzen. Jetzt war ihr noch übler.

Einige Augenblicke später stand Gemma auf und drückte ihre Puppe an sich. „Ich gehe zu Mummy und zeige ihr, was ich mit Georginas Haaren gemacht habe.“

Juliet sprang vom Sofa auf und stellte sich in den Türrahmen, um ihr den Weg zu versperren. Genau das hatte sie befürchtet. „Nicht jetzt“, sagte sie leise. „Mummy ist weggegangen, weil sie an die frische Luft musste.“

Überrascht zog Gemma die Brauen hoch, aber sie stellte die Worte ihrer älteren Schwester nicht infrage. Schließlich war sie gerade erst fünf. Juliet hingegen war schon neun, ein großes Mädchen. Alt genug, um die Wahrheit zu kennen. Das hatte Daddy gesagt. Gemma aber sei noch zu klein. Sie könne das noch nicht verstehen, und deshalb solle Juliet aufpassen, dass sie es nicht erfuhr.

Plötzlich hatte sie wieder das Bild vor Augen, wie ihre Mutter aus dem Haus gerannt war. An ihren Fingern hatte noch die unfertige Füllung für die Weihnachtspute geklebt. Sie war in ihr Auto gesprungen und weggefahren. Juliet stockte der Atem, als sie sich daran erinnerte. Ein Zittern erfasste sie, aber Gemma schaute aus großen Augen vertrauensvoll zu ihr hoch, also überspielte sie ihre Angst und ihr Entsetzen mit einem Lächeln.

„Kommt sie bald wieder?“, wollte Gemma wissen, die sich offensichtlich nur halbherzig für die Antwort ihrer Frage interessierte, da sie gerade begann, die Haare der Puppe zu einem Flechtzopf, oder was eine Fünfjährige darunter verstand, zusammenzubinden.

Juliet lächelte krampfhaft weiter, obwohl sie sich fühlte, als hätte sich ein großes schwarzes Loch in ihr aufgetan, in das sie hineingezogen wurde.

„Ja“, sagte sie und blinzelte die Tränen weg, die sich in ihren Augenwinkeln bildeten.

Sie beugte sich zu Gemma hinunter. „Wenn du willst, bringe ich dir bei, wie man Georgina richtige Zöpfe macht. Das kannst du dann Mummy zeigen, wenn sie wieder nach Hause kommt.“

Gemma schlang ihr die Arme um den Nacken und drückte sie heftig. „Du bist so eine tolle große Schwester, Juliet! Ich hab dich lieb.“

Die Leute mochten Gemma besonders gern, denn sie war niedlich und quirlig. Nicht dass Juliet so genau verstand, was genau sie damit meinten, aber sie vermutete: nicht schüchtern und nervös, wie sie selbst es war. Manchmal hätte sie sich gewünscht, Gemma wäre anders, aber in diesem Moment verstand sie gut, warum alle begeistert waren, wenn ihre kleine Schwester sie mit ihrer ausufernden Liebe überschüttete.

Sie war wirklich eine tolle große Schwester, oder etwa nicht? Also würde sie Gemma auch weiterhin eine tolle große Schwester sein. Die beste große Schwester, die man sich vorstellen konnte.

Im Schneidersitz ließ sie sich auf dem Teppich nieder, und Gemma hockte sich neben sie. Dann nahm Juliet die Puppe und begann, ihr die Haare zu Zöpfen zu flechten. „Schau“, sagte sie, „so macht man das …“

Nachdem sie es Gemma einmal vorgeführt hatte, überließ sie ihr die Puppe, damit sie selbst es versuchen konnte. Und während ihre Schwester vor sich hin plapperte und Zöpfe flocht – wobei sie ihre kleinen kurzen Finger fast darin einschnürte –, warf Juliet einen Blick zur Wohnzimmertür.

Vielleicht sollte sie nachsehen, ob Daddy ihre Hilfe beim Kochen brauchte, solange Gemma beschäftigt war. Irgendwer musste schließlich das Essen zubereiten. Und sie wusste nicht, ob Mummy jemals wieder nach Hause kommen würde.

1. KAPITEL

Juliet blieb mitten im Gedränge stehen. Die anderen Passanten strebten links und rechts an ihr vorbei, während sie ihr Weihnachtsnotizbuch aus der Tasche hervorkramte. Wie jedes Mal, wenn sie es zur Hand nahm, fühlte sie sich plötzlich geborgen, und ihr wurde warm ums Herz. Auch heute war das nicht anders. Ihr Blick fiel auf den hübschen Blumendruck auf dem Einbanddeckel, und sie lächelte. Weihnachtssterne.

Andere Leute hatten Wunschzettel, aber Juliet verschwendete ihre Zeit nicht daran. Wünsche brachten einen keinen Schritt weiter. Wenn etwas vollkommen sein sollte, musste man planen, Listen schreiben, sich informieren. Juliet lag viel daran, ein perfektes Weihnachtsfest auszurichten, und dieses Notizbuch war ihr Fahrplan dorthin, ihr strahlendes Leuchtfeuer mitten im vorweihnachtlichen Chaos. Es war Tagebuch, Terminkalender, Adressbuch und To-do-Liste in einem. Und spätestens ab Anfang November jedes Jahres trug sie es ständig mit sich herum.

Sie schlug es auf und fand schnell die Seite mit der Einkaufsliste für heute, die sie mit einem bunten Klebestreifen markiert hatte.

Ah, ja.

Kandierte Kirschen für die Nasen der Rudolf-Cupcakes, die sie für den Weihnachtsmarkt zu backen versprochen hatte, Zimtstangen und Gewürznelken für den heißen Apfelsaftpunsch nach dem Weihnachtsliedersingen in der Kirche, zwei Rollen Tesafilm und einen Meter rotes Samtband.

Sorgsam verstaute sie das Büchlein wieder in ihrer Handtasche und schlängelte sich geschickt durch den Strom der anderen Weihnachtseinkäufer. Sie entdeckte Lücken, noch bevor sie sich auftaten, schätzte richtig ein, wer in Bewegung bleiben und wer anhalten würde, um die schöne Festtagsbeleuchtung zu bewundern.

Ja, es gab allen Grund, sie zu bestaunen. Juliet war sehr stolz auf ihre Heimatstadt. Gerade um diese Jahreszeit zeigte sich Tunbridge Wells von seiner schönsten Seite. Kein Wunder, dass so viele Supermarktketten und Kaufhäuser ihre aufwendigen Weihnachtswerbefilme jedes Jahr im Oktober hier drehen ließen. Die Kurpromenade der Pantiles diente dabei als bevorzugter Schauplatz, war sie doch eine der ältesten Straßen der Stadt mit ihren herrlichen viktorianischen und georgianischen Gebäuden und den vielen kleinen Läden, die sich unter den über zweihundert Jahre alten Kolonnaden aneinanderschmiegten. Zwischen den weißen Säulen hingen Lichterketten, und ihre hellen Lämpchen wanden sich um die Äste der Bäume, die in einer langen Reihe entlang der Mitte der gepflasterten Straße angepflanzt wurden. Jedes Ladenfenster war liebevoll mit Tannengrün und verlockenden Weihnachtsleckereien dekoriert. Von den Marktständen wehte der Duft von Glühwein und gerösteten Esskastanien zu ihr herüber.

Aber Juliet hatte an diesem Nachmittag wirklich keine Zeit, stehen zu bleiben und irgendetwas zu bewundern oder zu riechen. Ihr Weihnachtsnotizbuch rief sie aus den Tiefen ihrer Handtasche zur Ordnung, zerrte an ihrem Bewusstsein und erinnerte sie an all die kleinen leeren Kästchen auf ihrer To-do-Liste, die regelrecht danach hungerten, endlich abgehakt zu werden.

Sie warf einen kurzen Blick auf die altmodische Uhr über einer der Boutiquen. Zehn nach zwei. Um zwanzig nach drei musste sie die Jungs von der Schule abholen. Wenn sie ihre Einkäufe erledigt hatte, würde sie noch ein Paket für ihre ältere Nachbarin aufgeben, und dann hatte sie gerade noch ausreichend Zeit, um zum Fleischer zu sausen und den Truthahn zu bestellen.

Dieser köstliche pralle Vogel war das Herzstück des Weihnachtsessens. Wenn sie diesen Punkt abhaken konnte, würde das ihre Liste in einer Kettenreaktion mit lauter kleinen Häkchen überfluten. Der Gedanke löste ein leichtes Schwindelgefühl in ihr aus, bevor das schöne Bild all der kleinen glücklichen Kästchen auch schon verdrängt wurde und ihr die verzerrten Klänge von „All I Want for Christmas Is You“ aus ihrer Tasche entgegendröhnten.

Gemma?

Juliet blieb stehen und kramte nach ihrem Handy.

Nicht Gemma.

Nur die Grundschule St. Martin mit einer Mitteilung an alle Eltern, dass an der Schule schon wieder Kopfläuse aufgetreten waren. Großartig. Zu Hause warteten vier Köpfe, die auf Läuse untersucht werden mussten. Sie würde den Nissenkamm den ganzen Abend nicht aus der Hand legen können. Ein absoluter Zeitfresser! Genau das hatte ihr jetzt noch gefehlt.

Sie schloss die SMS und suchte auf dem Display nach weiteren Nachrichten, aber nichts piepte, nichts blinkte. Kein neues Icon poppte auf. Frustriert stopfte sie ihr Handy zurück in die Handtasche. Jetzt war sie noch wütender auf ihre Schwester, als sie ohnehin schon gewesen war. Aber hatte sie etwas anderes erwartet?

Natürlich wusste sie, wie Gemmas Arbeitstag aussah, wie schwierig es für sie war, persönliche Anrufe zu tätigen oder entgegenzunehmen, und dass ihr oft nur wenig Zeit blieb, um Textnachrichten am späten Abend zu beantworten. Schließlich hatte sie oft genug damit geprahlt, wenn sie auf einer ihrer Stippvisiten zu Hause war.

Na ja, vielleicht tat sie ihrer Schwester unrecht, was das anging.

Gemma prahlte nicht wirklich. Sie hatte nur diese gewisse Art, von ihrer Arbeit beim Film zu erzählen, von den interessanten Leuten, die sie beim Drehen kennenlernte, von den exotischen Orten, die sie besuchte … Nun, wahrscheinlich konnte sie kaum verhindern, dass ihre Berichte klangen, als wäre sie viel interessanter als die durchschnittliche Vorstadt-Hausfrau.

Zum letzten Mal hatte sie Gemma auf dem Grillfest anlässlich der Feiertage im August gesehen. Dabei war es Juliet endlich gelungen, ihre Schwester in die Enge zu treiben und darum zu bitten, sich dieses Jahr am Riemen zu reißen und sich an den Weihnachtsvorbereitungen zu beteiligen. Zu ihrer nicht geringen Überraschung hatte Gemma sich einverstanden erklärt, aber zurzeit herrschte die totale Funkstille zwischen ihnen. Einmal mehr hatte es Gemma geschafft, sich unbemerkt aus der Affäre zu ziehen – wie immer, wenn eine Familienfeier anstand.

Die ganze Situation begann Juliet allmählich über den Kopf zu wachsen. Da ihr Hilfe versprochen worden war, hatte sie vielleicht ein bisschen übertrieben, als sie die Weihnachtsplanungen in Angriff genommen hatte. Inzwischen ging es nicht mehr darum, dass sie sich von ihrer Schwester ein bisschen schwesterliche Solidarität wünschte. Nein, sie war vermutlich sogar darauf angewiesen – und diese Vorstellung jagte ihr Angst ein.

Im Moment war es allerdings noch zu früh, um in Panik zu geraten. Es war erst der erste Freitag im Dezember, und Gemma sollte schon in etwas mehr als einer Woche zurück sein. Bis dahin würde sie allein zurechtkommen. Aber vielleicht sollte sie ihrer Schwester eine kleine Erinnerung schicken. Nur um sicherzugehen, dass sie nicht vergaß, wie viel noch zu besprechen und zu klären war …

Sie starrte auf ihr Telefon. Im Grunde hätte sie am liebsten gefragt, warum Gemma alles daransetzte, um ihrer Familie aus dem Weg zu gehen, sogar zu Weihnachten. Aber sie fürchtete, ihre Schwester dadurch erst recht in die Flucht zu schlagen. Juliet atmete langsam aus. Nein, jetzt war nicht der richtige Augenblick, um dieses Thema anzuschneiden. Also schickte sie stattdessen eine launige kleine Nachricht – keine Forderungen, kein Druck –, steckte ihr Handy in die Handtasche zurück und machte sich auf den Weg zur Post.

Sie war kaum ein Dutzend Schritte weit gekommen, als das Smartphone schon wieder klingelte. Jetzt war es vermutlich tatsächlich Gemma. Wenn man sie brauchte, war sie nirgendwo zu finden, doch wenn man das Warten aufgab und ohne sie klarzukommen versuchte, dann tauchte sie urplötzlich auf und warf alle sorgsam geschmiedeten Pläne einfach über den Haufen. Typisch.

„Ja?“, meldete sie sich, wobei ihr Tonfall vielleicht ein bisschen zu scharf ausfiel.

„Mrs Taylor?“

Eine tiefe, volltönende Stimme, in der Autorität mitschwang. Definitiv nicht Gemma.

„Ja?“, wiederholte sie und versuchte diesmal, nicht wie ein Gewitterziege, sondern eher wie eine aufrechte Bürgerin zu klingen.

„Hier spricht Police Constable Graham, Polizei Tunbridge Wells.“

Oh Gott! Was war jetzt passiert? Die Kinder! War den Zwillingen ein Unfall geschehen? Oder war Violet mit einer dieser neuen Freundinnen abgehauen, mit denen sie in letzter Zeit rumhing? In was für Schwierigkeiten sich Polly gebracht haben mochte – die viel eigenständiger war, als es ihr guttat –, wagte sie sich gar nicht erst auszumalen.

Ihr versagte die Stimme. Sie schaffte es einfach nicht, den Polizisten zu fragen, was los sei. Stattdessen stieß sie nur einen schwachen krächzenden Laut aus, den der Beamte offenbar als Aufforderung verstand fortzufahren.

„Es geht um Sylvia Wade … Wenn ich recht informiert bin, ist sie Ihre Großtante?“

Juliet räusperte sich und zwang sich zur Ruhe. Jemand brauchte sie. Für hysterische Anfälle hatte sie jetzt keine Zeit.

„Was ist denn los? Ist ihr etwas passiert?“

„Keine Sorge. Es geht ihr … gut.“ Sie hörte, wie der Polizeibeamte tief durchatmete. „Umwerfend, könnte man sagen“, fügte er mit ironischem Unterton hinzu. „Ich denke nur, Sie sollten so schnell wie möglich zum Freizeitzentrum kommen.“

Gemma klopfte an die Wohnwagentür – laut genug, um gehört zu werden, aber doch nicht so kräftig, dass es als fordernd hätte aufgefasst werden können. Während sie wartete, biss ihr der eisige Wind in die Wangen, und ihre Fingerknöchel wurden so kalt, dass sie die Hand zur Faust schloss. Glanzvoller Job? Hah! Darüber konnte sie im Moment nicht einmal lachen. Sie zog die Kapuze ihrer wasserdichten Wetterjacke enger um ihr Gesicht und bereitete sich darauf vor, ein strahlendes Lächeln zu zeigen.

Natürlich würde er nicht selbst die Tür öffnen. Er war viel zu sehr daran gewöhnt, dass ein gesichtsloser Helfer das für ihn tat.

Noch einmal klopfte sie. In ihrer Tasche vibrierte das Handy. Sie ignorierte es. Selbst wenn der Regisseur dran sein sollte, um lautstark seinem Unmut darüber Luft zu machen, dass sein wichtigster Star nicht aufzufinden war, würde es sie nur unnötig Zeit kosten, den Anruf entgegenzunehmen.

Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie ein gedämpftes „Ja?“ von der anderen Seite der Wohnwagentür vernahm. Der Tonfall klang eher nach jemandem, der irgendwo an einem Karibikstrand ein ausgiebiges Sonnenbad nahm, statt sich mitten im Dezember im äußersten Westen von Irland sonst was abzufrieren.

Als sie den Wohnwagen betrat, traf die Hitze sie wie ein Faustschlag. Kein Wunder, dass er so entspannt klang. Hier herrschten geradezu tropische Temperaturen. Auf jeden Fall war es so warm, dass der etwa ein Meter achtzig große blonde Schönling, nach dem sie gesucht hatte, nur ein ausgewaschenes T-Shirt und Shorts tragen konnte, während er sich auf dem Sofa im Wohnwagen lümmelte. Sie schloss die Tür hinter sich, und sofort brach ihr der Schweiß aus. Schließlich trug sie mehrere Lagen Thermokleidung, Wollpullover, Schal und Mütze.

„He, Gemma“, begrüßte er sie lächelnd und zeigte dabei seine viel zu weißen Zähne. Aus irgendeinem Grund ärgerte die perfekte Symmetrie sie.

Noch mehr aber machte es sie wütend, wie unvollständig bekleidet er war. Eigentlich hätte er die dunklen Sachen tragen sollen, die von der Kostümbildnerei sorgfältig ausgewählt worden waren. Immerhin sollte er dem Bild eines gequälten Helden entsprechen, der drauf und dran war, die Welt zu retten. Trotzdem ließ sie sich ihre Verärgerung nicht im Geringsten anmerken. „Alle am Set sind jetzt bereit für dich, Toby.“ Ihre Miene war eine Maske völliger Ruhe, während sie im Hinterkopf Drehzeiten und Terminpläne über den Haufen warf und neu kalkulierte.

Wenn sie ihn dazu bringen konnte, sich zu beeilen, verloren sie vielleicht keine kostbare Zeit, bevor es zu dunkel wurde. Schon dreimal hatte sie den Drehplan für den nächsten Tag ändern müssen. Die letzte Version der ausgedruckten DIN-A4-Zettel lag fix und fertig in ihrem provisorischen Büro. Sie hatte wirklich keine Lust, sie in den Papierkorb zu werfen und noch einmal von vorn zu beginnen.

Ein kurzer Blick in die Runde. Wo steckte das Mädchen von der Garderobe? Sie hatte vor nicht einmal einer halben Stunde gesehen, wie es den Wohnwagen betreten hatte, und sie hätte schwören können, dass die Kleine ihn nicht wieder verlassen hatte. „Holt Caitlin irgendwas aus dem Lastwagen?“, erkundigte sie sich mit Unschuldsmiene.

Toby grinste nur, und sein Blick huschte zum hinteren Teil des Wohnwagens, wo sein Schlafzimmer lag. „So was in der Art.“

Gemma drehte sich fast der Magen um, und sie sah vor ihrem geistigen Auge, wie sie den Drehplan Blatt für Blatt in den Papierkorb fallen ließ. Innerlich belegte sie Tobias Thornton, Actionstar und Sexkanone, mit jedem Schimpfnamen, der ihr nur einfiel.

So großartig ihr Job auch war, manchmal wünschte sie sich, nicht in der Filmindustrie zu arbeiten. Dieser Job ruinierte die Fantasie. Wenn der Streifen in die Kinos kam, würden ihre Freundinnen ihn gemeinsam mit ihr ansehen wollen, damit sie ihnen den ganzen Tratsch erzählte, der damit verbunden war, und ihnen Einblick in die Insidergeheimnisse gab. Die anderen würden im abgedunkelten Kino sitzen und beim Anblick von Toby – seinem umwerfenden Lächeln und seinen perfekt definierten Bauchmuskeln – tiefe Seufzer ausstoßen. Sie selbst dagegen würde nur daran denken, wie oft sie ganz kurz davor gestanden hatte, ihm dieses Lächeln mit ihrem Klemmbrett aus dem Gesicht zu schlagen.

Was gäbe sie dafür, einen richtigen Helden kennenzulernen. Einen Mann, wie ihn diese Schauspieler vorgaukelten, ohne es jemals wirklich zu sein. Ihr Problem war, dass sie sich immer Männer angelte, die dynamisch und aufregend schienen, aber sich schließlich als ein wenig … nun ja, unzuverlässig und unecht erwiesen.

Ein dumpfes Geräusch erklang aus Richtung des Schlafzimmers, und die Kostümbildner-Assistentin tauchte auf, eine dunkle Hose in der Hand. „Oh, hallo“, sagte sie leichthin. Zu leichthin, um zu der fleckigen Röte zu passen, die ihren Hals bedeckte. „Ich habe gerade … du weißt schon … Tobys Lederkleidung notdürftig geflickt.“ Kichernd warf sie ihm einen nervösen Blick zu.

Das hätte erklären können, warum Toby noch nicht am Set aufgetaucht war und keine Hose trug. Aber Gemma hatte da ihre Zweifel. Caitlins Haare waren verwuschelt, und sie trug ihren Pullover auf links.

Doch sie erwiderte nichts. Es war ihr egal, was die beiden trieben – auch wenn sie Caitlin für ein bisschen klüger gehalten hätte. Ihr war nur eines wichtig: den heißen Filmstar in seine Lederklamotten und auf ein rasendes Motorrad zu bekommen.

„Jetzt alles wieder in Ordnung?“, fragte sie mit einem raschen Blick auf ihre Armbanduhr.

Caitlin nickte.

„Schön. Dann könntest du Toby vielleicht in seine Kleider helfen, damit wir endlich weitermachen können?“ Diese Stichelei hatte sie sich nicht verkneifen können. Die Versuchung war zu groß gewesen. Aber um ihrer Bemerkung jede Schärfe zu nehmen, ließ sie ihr schönstes Regieassistentinnen-Lächeln erstrahlen. Ihre Geheimwaffe.

Toby und Caitlin warfen sich schuldbewusste Blicke zu, und dann strich der Schauspieler sich mit der Hand durchs Haar und wirkte tatsächlich ein ganz klein bisschen verlegen.

Na also, Ziel erreicht. Mit einem einzigen geschickten Zug hatte sie die beiden wissen lassen, dass sie kein leichter Gegner war, sich aber wegen so etwas auch nicht auf die Palme bringen ließ – vorausgesetzt, Toby verließ innerhalb der nächsten fünf Minuten in voller Montur den Wohnwagen.

Das schiefe Lächeln, mit dem er sie bedachte, verriet, dass er die Botschaft erhalten und verstanden hatte.

Sie erwiderte das Lächeln und meinte es diesmal aufrichtig. Als sie sich locker die Kapuze über den Kopf streifen wollte, stellte sie fest, dass die Hitze im Trailer ihre Locken zu einem Krauskopf von phänomenalem Volumen aufgeplustert hatte. Na toll. Sie zerrte die Kapuze darüber und eilte, gewappnet für den Kälteschock, zur Tür. Im nächsten Moment war sie draußen im schneidenden Wind, schlang hastig ihre Jacke enger um sich und stapfte über den Parkplatz der an einem See gelegenen viktorianischen Jagdhütte, die sie als Basislager nutzten. Das Wasser war aufgewühlt und grau, darüber erhob sich ein uralter zerklüfteter Berg. Doch Gemma nahm sich nicht mal einen Augenblick Zeit, um die raue Landschaft in sich aufzunehmen. Stattdessen nutzte sie die Gelegenheit, dem Wind ein paar erlesene Flüche anzuvertrauen, Schimpfworte, die sich gegen kindsköpfige Schauspieler richteten, gegen das Wetter, das einen persönlichen Rachefeldzug gegen sie zu führen schien, und jede Menge anderer Dinge, die ihr gerade einfielen.

Nach der Wärme in Tobys Wohnwagen empfand sie die eisige Kälte als noch viel schlimmer, und das verbesserte ihre Laune nicht gerade. Außerdem weckte es eine Sehnsucht in ihr.

Vielleicht lag es daran, dass sich der Dreh schon sehr lange hinzog. Jedenfalls war sie der Meinung, sich wirklich ein ruhiges, entspanntes Weihnachtsfest verdient zu haben, nachdem dieser Job erledigt war. Sie sehnte sich nach einer Pause, bevor sie erneut ein Flugzeug bestieg, das sie an einen weit entfernten Ort brachte, wo das Ganze wieder von vorn begann. Gemma seufzte. Jener Liegestuhl am Karibikstrand rief förmlich nach ihr.

Wenn sie doch nur nicht Juliets Drängen nachgegeben und zugesagt hätte, Weihnachten mit ihr und ihrer Familie zu verbringen. Bei ihrer letzten Begegnung hatte Juliet so lange auf dem Thema herumgeritten, dass Gemma schließlich einfach irgendetwas gesagt hatte, um sie endlich zum Schweigen zu bringen.

Im Grunde war Juliets Nachbar schuld. Hätte er keinen Streit mit ihr angefangen, hätte sie nie drei Gin und Tonic getrunken. Vielleicht wäre sie dann noch in der Lage gewesen, sich aus der Sache herauszureden. Zumindest hätte sie sich noch genau erinnern können, was Juliet zu ihr gesagt hatte. Jetzt blieb ihr nur die Möglichkeit, mitzuspielen und Stück für Stück dahinterzu-kommen, was sie eigentlich versprochen hatte. Juliet würde sie ohnehin irgendwann genau instruieren. Vermutlich mit einem laminierten Blatt voller idiotensicherer Anweisungen.

Aber darüber brauchte sie sich nicht ausgerechnet jetzt den Kopf zu zerbrechen. Es war höchste Zeit, ihren aufgeblasenen Actionstar an den Set zu bugsieren. Sie gab dem Fahrer des Luxus-Allradwagens, der schon längst bereitstand und mit laufendem Motor wartete, ein Zeichen. Toby kam aus seinem Wohnwagen, als das Auto vorfuhr, und zehn Sekunden später schoss der SUV über die Einfahrt davon. Gemma lächelte in sich hinein, als er aus ihrem Blickfeld verschwand. Genau deshalb verdiente sie den herrlich fetten Scheck, den sie für ihre Arbeit bekam.

Sie zog ihr Handy aus der Tasche und rief den ziemlich gestressten ersten Regieassistenten an, um ihm mitzuteilen, dass ihr Star unterwegs sei. Großartig. Zeit, ins Büro zu gehen und all die Blätter mit den Drehplänen zu verteilen …

Sie hatte das Telefon gerade wieder in ihrer Tasche verstaut, als es erneut vibrierte.

Was war nun schon wieder? Verzweifelt hoffte sie, dass es nicht die Mitteilung war, es habe angefangen zu regnen und sie müsse sich innerhalb von zehn Minuten erneut als Babysitter für die Schauspieler betätigen. Aber ein Blick auf die Anrufer-Kennung zeigte ihr: Es war etwas ganz anderes.

Ich weiß, dass Brad Pitt oder wer auch immer dich bestimmt wahnsinnig auf Trab hält, aber ich muss dringend mit dir über Weihnachten reden. ;) Ruf mich an. Jx

Der lustige Smiley täuschte Gemma kein bisschen. Sie konnte förmlich die lautlosen Schreie hören, die ihre Schwester ausgestoßen hatte, während sie die launige kleine Nachricht schrieb. Sie starrte auf das Display, das nach wenigen Sekunden automatisch dunkel wurde. Natürlich war ihr klar, dass sie mit Juliet über Weihnachten reden musste. Seit vierzehn Tagen schon war ihr das bewusst. Aber …

Vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild einer sanft im Wind schaukelnden Palme über leuchtend gelbem Sand auf. Sie sah ein Cocktailglas, so groß, dass ein Goldfisch darin hätte schwimmen können.

Gemma seufzte.

Jetzt war sie nicht in der Stimmung, um bis zum Erbrechen über Lebkuchenrezepte zu reden oder darüber zu diskutieren, ob am großen Tag ein Truthahn oder eine Gans serviert werden sollte. Ihr war auch nicht danach, sich mit kaum verbrämter Kritik an ihrem Lebensstil auseinanderzusetzen. Oder zu überlegen, ob sie daran gedacht hatte, nach den Zeugnissen der Kinder zu fragen. Wenn sie jetzt zurückrief, dann würde sie nur gestresst und abwehrend klingen. Was sie auch war.

Später. Sie würde später mit Juliet reden. Wenn ihre Arbeit getan war und sie mehr Zeit hatte.

Vielleicht, nachdem sie ein paar Gin und Tonic getrunken hatte.

2. KAPITEL

Zwanzig Minuten später stand Juliet vor dem Bälleparadies in der Soft-Play-Arena des örtlichen Freizeitzentrums. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Trotzdem konnte sie immer noch nicht recht glauben, was sie sah. Dort saß Großtante Sylvia inmitten Tausender knallbunter Plastikbälle und zog eine finstere Miene. Außer ihrer Tante, ihr selbst und zwei uniformierten Polizeibeamten war fast niemand auf der Spielfläche. Ein paar verärgert wirkende Mütter beeilten sich, ihren Kindern in Mäntel und Schuhe zu helfen, und murrten darüber, dass sie ihre Nachmittagsaktivitäten vorzeitig beenden mussten.

„Sie kommt einfach nicht raus, ganz gleich, was wir sagen“, wandte sich die zierliche Polizistin an Juliet. „Sie fragt immer nur nach Mary.“

Juliet nickte. Tja, Pech gehabt. Ihre Mutter war schon vor fast fünf Jahren gestorben. Sie stieg in das Bällebad und watete auf ihre Tante zu. „Hallo, Tante Sylvia … Die netten Polizeibeamten würden gern wissen, ob du jetzt hier herauskommen möchtest.“

Tante Sylvia warf den beiden uniformierten Zuschauern einen giftigen Blick zu. „Mir gefällt nicht, wie diese junge Frau guckt. Ihre Augen stehen außerdem viel zu eng zusammen. Aus der wird nichts Gutes, wenn sie groß ist. Lass dir das gesagt sein.“

Hilflos starrte Juliet ihre Großtante an. Am liebsten hätte sie geweint – über die Würdelosigkeit der Situation, in der die alte Frau sich befand, darüber, was aus ihr geworden war und dass sie vergessen hatte, wer sie einmal gewesen war. Aber Juliet weinte grundsätzlich nicht. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Und schon gar nicht, wenn jeder um sie herum von ihr erwartete, die Sache wieder in Ordnung zu bringen.

Sie streckte ihre Hand aus. „Es wird Zeit, nach Hause zu gehen, Tante Sylvia. Komm mit …“

Der Kopf ihrer Tante schnellte herum. Statt die Polizistin anzufunkeln, wandte sie ihre Aufmerksamkeit jetzt Juliet zu. „Mary!“, rief sie.

Juliet schenkte ihr ein mattes Lächeln. Sie vermutete, dass sich in dem demenzkranken Hirn ihrer Tante die Grenzen zwischen Mutter und Tochter verwischt hatten. Und je älter sie selbst wurde, desto mehr Ähnlichkeit mit ihrer Mutter entdeckte sie im Spiegel. Die gleichen braunen Augen, die gleiche lange Nase, die gleichen hohen Wangenknochen. Nicht unbedingt hübsch, aber mit einem Knochenbau, der sie auch nicht reizlos erscheinen ließ. In den vergangenen Monaten jedoch hatten sich tiefe Linien in ihre Stirn gegraben, und ihre Augen waren umwölkt. Ihr Alter – und ihre Scheidung – waren ihr allmählich anzusehen.

Sylvia verschränkte die Arme vor der Brust. „Irgendjemand hat mich hier hineingesetzt, und jetzt lassen sie mich einfach nicht wieder raus“, erklärte sie. „Deshalb habe ich ihnen gesagt, sie sollen dich rufen. Ich wusste, dass du kommst und alles in Ordnung bringst. Du warst immer so ein gutes Mädchen …“

„Ich bin nicht Mary“, erwiderte Juliet besänftigend. „Ich bin Juliet. Marys Tochter.“

Verwirrung zeigte sich auf dem Gesicht der alten Frau. Juliet ging vorsichtig auf sie zu, aber ihre Tante, plötzlich misstrauisch geworden und im Zweifel über die Identität ihrer Besucherin, wich ihr aus.

Juliet seufzte. Wenn du deine Feinde nicht schlagen kannst, verbünde dich mit ihnen. Sie kickte vorsichtig ein paar Bälle beiseite und ließ sich langsam zwischen ihnen auf dem schlüpfrigen gepolsterten Boden nieder.

Plötzlich lächelte Sylvia. „Oh ja! Ich erinnere mich …“ Einen Moment ließ sie den Blick über das Meer aus buntem Kunststoff hinweg in die Ferne schweifen, die Lippen leicht zu einem Lächeln verzogen und versunken in einer Erinnerung, von der Juliet befürchtete, sie könnte sich wieder verflüchtigen, bevor ihre Tante sie in Worte fassen konnte.

Aber dann erklang ein gedankenverlorenes Murmeln. „Ein lebhaftes kleines Ding, Marys Tochter. Wie ein Engel sah sie aus mit ihren großen blauen Augen und den weißblonden Locken.“

In Juliet tat sich ein Abgrund auf. Nach all den Stunden, die sie in den letzten Monaten mit ihrer Großtante verbracht hatte …

Als kleines Mädchen hatte sie hellere Haare gehabt, aber sie waren immer glatt gewesen mit nur ganz leichten Wellen. Die Kringellöckchen, die ihre Tante beschrieb, hatte sie nie gehabt. Sie war nicht die Nichte, an die Sylvia sich erinnerte. Das war Gemma.

Ihre Tante blinzelte und wandte sich wieder ihr zu. „Sie sagen, Sie kennen sie? Marys kleine Tochter?“

Juliet öffnete den Mund, um noch einmal geduldig zu erklären, wer sie war, schloss ihn aber wieder, bevor sie ein Wort gesagt hatte. Was sollte das bringen? „Ja, ich kenne sie“, erwiderte sie erschöpft.

Sylvia lächelte. „Hat sie Sie zu mir geschickt? Sie ist schon so lange fort.“

Gemma hatte Tante Sylvia seit dem letzten Osterfest nicht mehr besucht. Dabei hätte die alte Frau regelmäßige Besuche von Leuten, die sie kannte und an die sie sich erinnerte, wirklich gut gebrauchen können. Allerdings schien es ihr nicht groß zu helfen, dass Juliet zweimal wöchentlich zu ihr fuhr. Im Sommer hatte Sylvia sie noch fast jedes Mal beim Namen genannt. Auch da hatte es schon ein paar Tage gegeben, an denen sie nur verständnislos gelächelt, genickt und ihre Nichte als „das nette junge Mädchen“ bezeichnet hatte. Aber als die Tage kürzer und grauer wurden, nahmen die Verwirrtheitszustände ihrer Tante zu, als schwände ihre Erinnerung mit dem Sonnenlicht. Jetzt wusste sie nur bei etwa jedem vierten Besuch, wer Juliet war, und selbst dann blieb ihre Erinnerung lückenhaft, wurde mal stärker, mal schwächer – wie ein schlecht eingestellter Sender im Radio.

„Nein, Gemma hat mich nicht geschickt“, erklärte sie ihrer Tante. „Aber sie wird dieses Jahr zu Weihnachten nach Hause kommen. Dann wirst du sie sehen.“

„Oh, gut. Glaubst du, sie möchte einen Bonbon, wenn sie kommt? Kleine Mädchen lieben Bonbons.“ Tante Sylvia schob ihre Hände zwischen die Plastikbälle. Sie schien nicht einmal zu merken, welchen Krach die Bälle machten, als sie sie beiseiteschob. Das Echo hallte durch das hangarähnliche Gebäude. Sie zog ihre Handtasche hervor, legte sie auf ihren Schoß und kramte darin herum. Voller Stolz präsentierte sie schließlich ein winziges Etwas, das sie sorgfältig zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Juliet kam zu dem Schluss, dass das Ding vielleicht mal ein Bonbon gewesen sein mochte, aber Staub und Flusen vom Grund der Handtasche hatten es nahezu völlig unkenntlich gemacht.

„Hier ist er ja! Glaubst du, sie mag ihn?“

Juliet dachte an Gemma, daran, wie sehr ihr alles in den Schoß fiel, wie sie sich in das Leben anderer drängte und wieder daraus zurückzog, ohne sich um irgendwas zu kümmern. „Ja, ich glaube, sie wird ihn sehr mögen. Du solltest ihn für sie aufheben“, hörte sie sich selbst sagen.

Ihr war nie bewusst gewesen, dass sie eine fiese Seite hatte. Aber der Gedanke, dass Gemma diese pelzige kleine Zuckerkugel nicht nur lutschen, sondern hinunterschlucken musste, wenn Juliet sie zu ihrem nächsten Besuch bei ihrer Großtante mitschleifte, erfüllte sie mit seltsamer Wärme. Und mitschleppen würde sie ihre Schwester auf jeden Fall.

Sylvia ließ den Bonbon auf ein sauberes Baumwolltaschentuch fallen, wickelte ihn darin ein und verstaute ihn sorgfältig wieder in ihrer Handtasche. Einen Moment fragte Juliet sich, ob er wohl größer sein würde, wenn sie ihn das nächste Mal zu Gesicht bekam. Ein seltenes Exemplar von Handtaschenschneeball, an dem sich Schicht um Schicht Staub und Flusen ablagerten.

„Es wird Zeit, nach Hause zu gehen“, wiederholte sie, als ihre Tante die Handtasche schloss und wieder zu ihr aufblickte. Einen Moment starrte Tante Sylvia sie verständnislos an. Dann streckte sie ihr eine Hand entgegen, damit Juliet ihr aufhalf. Sie stützte ihre Tante, während diese sich auf die Beine mühte, und führte sie dann über den Grund des Beckens bis zum Rand und half ihr über die gepolsterte Stufe auf die Hauptebene der Soft-Play-Arena.

Die beiden Polizisten seufzten erleichtert und boten an, sie nach Greenacres zu fahren, dem Pflegeheim, aus dem Tante Sylvia gar nicht erst hätte verschwinden dürfen. Darüber war Juliet ganz besonders erbost. Schließlich berechnete das Heim nicht gerade wenig für die Pflege.

Das Angebot der Polizisten, Tante Sylvia ins Heim zurückzubringen, war verlockend. Aber Juliet kam zu dem Schluss, es sei besser, die alte Dame selbst zurückzubringen, denn sie war an Juliets Auto gewöhnt. Womöglich verwirrte und stresste es sie deutlich weniger, wenn jemand, den sie kannte – oder doch wenigstens beinahe kannte –, sie nach Hause fuhr.

Juliet warf einen Blick auf ihre Uhr und spürte, wie sie sich sofort verspannte. Zehn vor drei. Sie hatte kaum noch genug Zeit, ihre Tante nach Greenacres zu bringen, einen Verantwortlichen zu finden und zur Rede zu stellen und anschließend nach St. Martin zu fahren, um ihre jüngsten drei Kinder von der Schule abzuholen.

Gemeinsam mit ihrer Tante hatte sie gerade ihr kleines Auto erreicht, das sie ein wenig unkonventionell vor dem Eingang des Freizeitzentrums abgestellt hatte, als sie wie erstarrt stehen blieb.

Der Truthahn!

Verflixt. Aber jetzt konnte sie ohnehin nichts mehr ändern. Sie würde den Gang zum Fleischer eben noch in ihrem ohnehin schon engen Zeitplan für morgen unterbringen müssen.

Das spielt keine Rolle, sagte sie sich. Es ist alles in Ordnung. Du schaffst das. Du kannst wunderbar organisieren, viele Dinge zugleich erledigen und alles bewältigen.

Also sorgte sie dafür, dass ihre Tante sicher angeschnallt war, ließ den Wagen an und brachte die zehnminütige Fahrt zum Pflegeheim hinter sich. Aber dann begann der Gedanke an die nicht abgehakten Punkte in ihrem Weihnachtsnotizbuch in ihrem Kopf herumzuspuken.

Juliet trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum und schaute zum x-ten Mal auf die Uhr am Armaturenbrett.

„Autsch“, erklang es leise von hinten.

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, um zu sehen, was ihre drei Jüngsten trieben. „Polly, lass deinen Bruder in Ruhe.“

Polly starrte zurück und schob ihre Brille höher auf die Nase. Ganz und gar die Verkörperung kindlicher Unschuld. „Ich habe nichts getan, was er nicht verdient hätte.“ Zehn Jahre alt, aber abgebrüht wie eine Enddreißigerin.

Juliet schnallte sich los und drehte sich zu ihrer Tochter um, die zwischen ihren beiden jüngeren Brüdern in ihren Kindersitzen saß. „Ich hab’s dir schon mal gesagt, Polly. Du kannst deine Brüder nicht einfach schikanieren und herumkommandieren, nur weil du älter bist als sie.“

Polly wirkte unbeeindruckt. „Irgendwer muss es aber tun.“ Dabei warf sie Josh, der offenbar diesmal der Übeltäter war, einen hochnäsigen Blick zu. „Diese Kinder sind so was von ungezogen, Mutter.“

Juliet hatte keine Zeit, mit einer Zehnjährigen über ihre elterlichen Kompetenzen zu diskutieren, also wandte sie sich an Josh. „Was hast du angestellt?“

„Nichts.“

Ein fragender Blick zu Polly, von der sie wusste, dass sie nur zu gern gegen ihren Bruder aussagen würde.

„Er streckt sein Bein immer wieder auf meinen Platz, und ich sitze hier sowieso schon so eingezwängt. Ich habe ihn gewarnt, dass ich mir mehr Platz verschaffen werde, wenn er es noch mal tut.“

Tja, im Prinzip hatte Polly natürlich recht. Aber Juliet konnte schlecht zulassen, dass ihre Tochter das Benehmen aller anderen Familienmitglieder kontrollierte und deren Fehlverhalten ahndete. Wenn sie ihr das erlaubte, säßen alle innerhalb einer Woche hinter Gittern und würden zu Folterstrafen verurteilt. Sogar Juliet selbst. „Wenn die Jungs dich ärgern, sollst du mir das sagen“, erklärte sie Polly. „Verstanden?“

Polly verdrehte die Augen, aber schließlich nickte sie doch zögernd.

Sobald Juliet sich wieder nach vorn umdrehte, fiel ihr Blick erneut auf die Uhr am Armaturenbrett. Zwanzig vor vier. Wo in aller Welt blieb Violet? Sie zog ihr Handy aus der Manteltasche, schickte ihrer Tochter eine weitere kurze, aber eindeutige SMS und warnte sie, dass ihr Taxi in genau drei Minuten abfahren würde. War sie bis dahin nicht aufgetaucht, würde sie mit dem Bus nach Hause fahren müssen, Umsteigen inklusive.

Gerade als sie nach dem Zündschlüssel griff, um den Wagen anzulassen, wurde die Beifahrertür aufgerissen, und Violet ließ sich seufzend auf den Sitz fallen. Sie lächelte. Offenbar machte es ihr gar nichts aus, dass sie alle hatte warten lassen.

Lachend schüttelte sie den Kopf. „Ihr erratet nie, was Abby gerade gesagt hat …“

Juliet drehte den Zündschlüssel und ließ den Motor aufheulen. „Wir sitzen hier schon ewig in der Kälte und warten auf dich. Dabei weißt du doch, dass die Jungs heute Abend Schwimmen haben.“

Violets warmer offener Blick wich einer verschlossenen Miene, und sie schaute ihre Mutter finster an. „So viel zu spät bin doch gar nicht. Du lieber Gott, Mum! Außerdem habe ich Kiera geholfen, ihren Schal zu suchen. Es ist also gar nicht meine Schuld.“

Juliet schüttelte den Kopf, schnallte sich wieder an und zuckte zusammen, als das Getriebe beim Einlegen des Rückwärtsgangs knirschte.

Nicht meine Schuld … Das kannte sie doch irgendwoher. Violet wurde allmählich zu einer Miniaturausgabe von Gemma.

Während der Fahrt konnte sie Violet aus dem Augenwinkel sehen. Mit finsterem Blick saß sie zusammengekauert auf dem Beifahrersitz, die Arme vor der Brust verschränkt. Die Stimmung im Auto verbesserte sich auch nicht gerade dadurch, dass auf der Rückbank ein neuer Streit ausbrach. Polly warf Josh vor, er lasse seinen Arm zwei Millimeter weiter in ihren Bereich ragen, als er dürfe. Dann sprang Jake seinem Bruder bei und zog absichtlich Pollys Zorn auf sich, indem er sie von der anderen Seite bedrängte.

„Aufhören!“, schrie Juliet. „Jake, du hast mir gerade in den Rücken getreten. Beruhigt euch jetzt, alle drei, und benehmt euch.“

Dann wandte sie sich an ihre älteste Tochter. Hier war dringend eine kleine Unterredung über ihre Einstellung angesagt. Sonst wurde sie noch wie ihre Tante, verursachte überall um sie herum Chaos, weigerte sich aber, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Allerdings näherten sie sich gerade einem kleinen Kreisverkehr, der um diese Zeit immer verstopft war. „Wir sprechen später darüber, Vi“, sagte sie und warf rasch einen Blick nach links und rechts. „Du musst lernen, deine Meinung zu äußern, ohne unverschämt zu werden, denn so lasse ich nicht mit mir reden …“

Leider entflammte in diesem Moment der Streit auf der Rückbank aufs Neue, und ein heftiger Tritt von Jake gegen die Rückenlehne des Fahrersitzes ließ sie nach vorn rucken. Ihr Fuß rutschte in dem Moment von der Kupplung, als sie in den Kreisverkehr einfuhr. Der Motor heulte auf und erstarb, mitten auf der Fahrbahn blieb der Wagen stehen.

Rechts von ihr kreischten Bremsen, und der Fahrer drückte wütend und ausdauernd auf die Hupe. Juliet klopfte das Herz bis zum Hals, ihre Hände zitterten. Der Mann gestikulierte äußerst kreativ, und von seiner Schimpftirade konnte sie genug von seinen Lippen ablesen, um zu wissen, dass er sie für eine dämliche Zicke aus der Mittelschicht hielt, die man nicht ans Steuer eines Autos lassen sollte.

Ein abgewürgtes Auto mitten im Kreisverkehr bedeutete, dass der Verkehr sich auf allen vier Zufahrtsstraßen staute. Überall Hupen und wilde Flüche. Und Juliets Kinder kreischten alle vier auf einmal los. Sie schrien einander an und belegten sich gegenseitig mit allen Schimpfwörtern, die sie kannten, um einander klarzumachen, wer ihrer Meinung nach schuld an der Situation war.

Juliet stellte fest, dass sie sich nicht bewegen konnte. Wie erstarrt saß sie da und umklammerte mit den Fingern das Lenkrad. Ihr fiel nicht mal ein, welches Pedal sie jetzt betätigen oder was sie als Nächstes tun musste, um den Wagen wieder in Gang zu bringen. Der Lärm – die laufenden Motoren, das Hupen, die streitenden Kinder – bohrte sich auf eine Weise in ihren Kopf, die sie einfach nicht ertragen konnte.

„Haltet jetzt endlich die Klappe!“, brüllte sie aus vollem Hals. Es überraschte sie selbst, wie laut sie wurde, und sie hörte, wie ihre Stimme in Krächzen umschlug, als sie die höchstmögliche Lautstärke erreichte.

Außerhalb des Autos ging der Lärm unbeeindruckt weiter, aber drinnen wurde es sehr still und ruhig. Fassungslos starrten Violet, Polly, Josh und Jake ihre Mutter an.

Sie spürte, wie das Echo ihrer Worte in ihrem Kopf nachhallte, und bekam es ein wenig mit der Angst zu tun. Sie schrie nicht so herum. Niemals. Und sie verlor ihren Kindern gegenüber nicht die Nerven. Jedenfalls nicht so. Natürlich griff sie zu Erziehungsmaßnahmen – sie hatte unzählige Bücher über die exakt richtigen Methoden gelesen –, aber sie schrie ihre Kinder nie einfach an. Immer hatte die Furcht sie beherrscht, Frauen, die das taten, würden auch Kleinkinder so die Straße entlangzerren, dass sie ihnen fast die Arme auskugelten, und sie mitten im Supermarkt schlagen.

Seit Wochen schon hatte sie das Gefühl, irgendwas stimme nicht. Aber sie hatte das immer darauf geschoben, dass Weihnachten unaufhaltsam und drohend näher rückte. Sosehr sie die Feiertage auch liebte, waren sie inzwischen für alle Zeiten damit verbunden, dass der Mann, mit dem sie ihr Leben hatte verbringen wollen, sich von ihr getrennt hatte. Ausgerechnet den zweiten Weihnachtstag hatte er gewählt, um ihr zu eröffnen, ihre Ehe sei am Ende. Wenn das ein Fest nicht dauerhaft trüben konnte, was dann?

Aber Juliet war gut darin, alles rein und sauber blitzen zu lassen. Auf ihrem Leben würde kein Fleck haften. Sie kannte alle Tricks und Tipps, wie man Schmutz verschwinden lassen konnte. Wenn sie ihn entschlossen genug in Angriff nahm, gelang es ihr immer, ihn spurlos zu beseitigen. Diesem Fleck würde es nicht anders gehen. Sie musste einfach nur mehr Mühe aufwenden.

Allmählich wurde ihr bewusst, dass neben und hinter ihr im Auto nur geatmet wurde. Es herrschte Schweigen, und das war fast wie ein Wunder. Zum ersten Mal seit Jahren hielten alle Kinder zur selben Zeit den Mund. Dafür mussten sie belohnt werden, oder? Positive Verstärkung.

„Danke“, sagte sie ruhig. Wenn sie in der Lage gewesen wäre, in der Betäubung, die ihrem Ausbruch folgte, irgendetwas zu empfinden, wäre sie vermutlich zufrieden gewesen, wie ruhig und vernünftig sie klang.

„Mum …?“, meldete sich neben ihr eine zittrige Stimme. „Geht’s dir gut?“

Juliet atmete leicht ein und hielt die Luft an. Es war vorbei. Die schwindelerregende Frustration, das nervenzerfetzende Gefühl, einem Ziel nachzujagen, das sich immer weiter entfernte – all das hatte sich in Luft aufgelöst. Da war nicht einmal mehr die Furcht, Violet könnte sich ganz genauso entwickeln wie Gemma und sie für immer von sich stoßen. Nichts, einfach nichts davon war geblieben. Ein wunderbares Gefühl.

„Ja“, erwiderte sie und ließ den Atem entweichen. „Alles in bester Ordnung.“

Ihr Denkvermögen kehrte zurück, ebenso ihre Fähigkeit, Auto zu fahren. Also ließ sie den Motor an, legte den Gang ein und setzte ihren Weg zur Schwimmhalle fort, ohne einen der Fahrer anzusehen, die sie mit vernichtenden Blicken bedachten.

3. KAPITEL

Während des Abendessens wirkten die Kinder noch ein wenig kleinlaut, aber nachdem sie ihr Geschirr abgeräumt hatten und in verschiedene Richtungen entschwunden waren, kehrten allmählich die Geräusche des normalen Alltags in Juliets Haushalt zurück: Violets laute Schritte auf der Treppe, ein Streit, der auf dem Treppenabsatz entbrannte, die blechernen Misstöne einer Zeichentricksendung im Fernseher …

„Euer Dad kommt um halb acht“, rief Juliet in den ersten Stock hinauf. „Seht zu, dass ihr bis dahin eure Sachen gepackt habt.“

Erstaunlicherweise klappte das. Als Greg an der Tür klingelte, warteten vier fix und fertig gepackte Reisetaschen im Flur, und alle vier Kinder waren dabei, ihre Wintermäntel anzuziehen.

Greg wirkte angespannt, als Juliet öffnete. „Sind sie fertig?“

Sie nickte. Es fühlte sich immer noch seltsam an, wenn er draußen vor der Tür stand und sie ihm öffnete. Jedes Mal spürte sie den Schock dieser Situation neu, wenn Greg alle zwei Wochen kam, um die Kinder abzuholen, damit sie das Wochenende bei ihm verbrachten. Außerdem war sie sich immer noch nicht wirklich darüber im Klaren, was zwischen ihnen schiefgegangen war. Sie hatten sich selbst für ein perfektes Paar gehalten, ihr Haus für das perfekte Zuhause, und dann waren ihre vier perfekten Kinder geboren worden, und sie waren so glücklich gewesen … Aber jetzt konnte sie sehen, wie eingebildet und selbstgefällig sie inmitten ihrer Vollkommenheit gesessen hatten.

Sie hatte es nicht kommen sehen. Nicht mal ansatzweise.

Gerade so, als hätte sie auf ihrer sorgfältig geführten Liste der zu erledigenden Dinge ihres Lebens vergessen, ein Ankreuzkästchen vorzusehen. „Bereite dich darauf vor, dass dein Leben in Scherben fällt und du eine schmerzhafte Scheidung durchlebst“, hätte daneben stehen müssen. Wie dumm von ihr. Normalerweise war sie nicht so unorganisiert.

„Darf ich das Auto aufschließen?“, bettelte Josh, drängte sich an Juliets Beinen vorbei und griff nach dem Schlüssel in der Hand seines Vaters.

„Nein, ich will!“, protestierte Jake und versuchte, seinen Bruder wegzudrängen.

Greg gab Josh den Schlüssel. „Josh darf jetzt das Auto aufschließen, und du kannst es nachher abschließen, wenn wir bei mir sind“, versprach er Jake. Beide Jungs rannten auf die Einfahrt. Zumindest Violet und Polly blieben stehen, um ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange zu geben, bevor sie das Haus verließen.

Sie lief den beiden nach, nahm sie links und rechts in den Arm und gab ihnen noch einen richtigen Kuss. „Ich hab euch lieb“, sagte sie und drückte die beiden an sich. „Und tut mir leid wegen vorhin.“

Violet zuckte die Achseln.

Polly schaute sie einen Moment unverwandt an. „Weißt du, als Schocktaktik war das gar nicht so schlecht.“

Juliet konnte nicht anders, sie musste lächeln. Dann rannte sie den Jungs nach und küsste sie zum Abschied, während sie ihnen half, sich in ihren Kindersitzen im Fond von Gregs Wagen anzuschnallen.

Als die Autotüren geschlossen waren und die Kinder ihre Unterhaltung nicht mehr hören konnten, musterte Greg seine Exfrau übers Autodach hinweg.

„Du siehst erschöpft aus, Juliet“, stellte er fest, klopfte ans Seitenfenster und gab Josh ein Zeichen, ihm den Autoschlüssel zurückzugeben. „Vielleicht solltest du versuchen, dich dieses Mal ein wenig hängen zu lassen, statt dich mit dem ganzen Weihnachtsbrimborium abzuplagen.“

Juliets Lächeln erstarb auf der Stelle. Oh, er klang so höflich und vernünftig. So höflich und vernünftig, dass sie ihn am liebsten zusammengestaucht hätte. Glaubte er wirklich, er könnte noch ein Wörtchen mitreden bei dem, was sie tat oder nicht tat, oder sich Anmerkungen zu ihrem Aussehen leisten? Dieses Recht hatte er verwirkt, als er ausgezogen war, um sich ein neues Leben aufzubauen.

Es war doch nicht falsch, Weihnachten zu einem fröhlichen Fest machen zu wollen. Einem Fest, bei dem nichts schiefging und alles perfekt war. Gregs überraschender Auszug hatte die Feiertage vor zwei Jahren gründlich verdorben, und das Weihnachtsfest im letzten Jahr war ihr erstes nach der Trennung gewesen. Die armen Kinder waren von Pontius zu Pilatus gekarrt worden und nirgends zur Ruhe gekommen. Deshalb war Juliet wild entschlossen, das diesjährige Weihnachtsfest für die Kinder zu einem ganz besonderen zu machen, vor allem weil ihr Vater das Ganze so egoistisch anging.

„Auf Wiedersehen, Greg“, murmelte sie, die Zähne so fest zusammengebissen, dass ihre Kiefer zu schmerzen begannen. Dann beugte sie sich vor, setzte ein strahlendes Lächeln auf und winkte den Kindern im Auto zu. Sie brauchten nicht zu wissen, dass ihre Eltern sich schon wieder stritten.

Dieses Lächeln legte sie nicht ab, während er den Kopf schüttelte, in den Wagen stieg und ihn startete. Aber es aufrechtzuerhalten, bis das Auto die Einfahrt verlassen hatte, kostete sie solche Anstrengung, dass sie Kopfschmerzen davon bekam. Als der Mercedes hinter der Hecke verschwunden war und sich in den fließenden Verkehr auf der Straße eingefädelt hatte, ließ sie alles aus sich heraus – in einem höchst vulgären und kein bisschen damenhaften Wort. Eigentlich hatte sie sich Derartiges schon abgewöhnt, als die Kinder noch klein waren. Sie wandte sich ab, schlang die Arme um ihren Körper, um die Kälte abzuwehren, und marschierte in Hausschuhen in ihr leeres Haus zurück.

Vielleicht wäre die Sache für sie nicht ganz so ärgerlich gewesen, wenn es Greg nicht so leichtgefallen wäre, sein altes Leben hinter sich zu lassen. Sie hatten sich getrennt, er hatte getrauert, und jetzt hatte er eine neue Freundin. Einfach so. Manchmal wünschte Juliet sich, sie könnte auch einen anderen Mann finden, nur um Greg zu beweisen, dass sie nicht der Vergangenheit verhaftet blieb und er keinen Grund hatte, sie zu bemitleiden.

Als sie die Küche betrat und eine Flasche Pinot Grigio aus dem Kühlschrank nahm, fiel ihr Blick auf ihr Handy, das unschuldig und still auf der Arbeitsplatte lag. Sofort lösten sich ihre Gedanken vom einen selbstsüchtigen Familienmitglied und wandten sich dem anderen zu.

Sie behielt ihr Telefon im Auge, während sie eine ordentliche Menge Wein in ein Glas goss und einen großen Schluck nahm. Dann ließ sie ihre Finger spielen. Zeit für eine weitere SMS.

Als Gemma schließlich in ihr Bett fiel, machte sie sich nicht mal die Mühe, ihren Schlafanzug anzuziehen. Sie entkleidete sich einfach nur bis aufs T-Shirt und kroch unter die Decke. Dann nahm sie ihr Handy vom Nachtschränkchen und kniff die Augen zusammen, um die Uhrzeit zu erkennen. Fünf vor halb drei. Wann musste sie wieder hoch? Schon in drei Stunden. Drei Stunden! Das war einfach unmenschlich.

Sie ließ sich schwer auf die weichen Federkissen zurückfallen und starrte an die Decke. Müdigkeit rollte über sie hinweg, aber statt in diese wunderbaren Wogen zu sinken, trieb sie auf ihnen, wurde hin und her geworfen. Sie spürte, wie ihre Augenlider immer schwerer wurden, konnte aber trotzdem nicht abschalten und einschlafen.

Ächzend griff sie noch einmal nach ihrem Handy und strich mit dem Finger übers Display, um es zu aktivieren. Wie üblich konnte sie nur um diese Zeit des Tages ihre Nachrichten abrufen. Die kleine Zahl auf dem SMS-Symbol verriet ihr, dass fünf Nachrichten eingegangen waren. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu erraten, von wem zumindest eine stammte. Als sie auf das Display starrte, hatte sie Mühe, den Blick zu fokussieren. Aber ärgerlicherweise sah sie kurz darauf wieder scharf.

Der Tag war die reinste Hölle gewesen. Toby Thornton hatte einen seiner legendären Ausraster gehabt, und Gemma war in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht mal Zeit zum Essen geblieben, geschweige denn sich auch nur einen Moment hinzusetzen. Es war ihre Aufgabe, alles in Ordnung zu bringen und ihren Star zu umschmeicheln, damit er wieder zum Set kam. Um das zu schaffen, hatte sie ihre letzten Kräfte mobilisieren müssen. Etliche Millionen Dollar standen auf dem Spiel. Sie hatte einfach keine Zeit für Juliets alberne Probleme, ob es nun um die richtige Sorte Efeu ging oder um die Frage, ob der Weihnachtstisch in Rot oder Gold dekoriert werden sollte.

Nein, jetzt konnte sie sich nicht mit ihrer Schwester befassen. Vorher brauchte sie eine kleine Auszeit, also beschloss sie, erst die Neuigkeiten auf Facebook anzusehen.

Unaussprechlich niedliche Katzen … Widerliche Kettenbriefe zum Thema, wie wunderbar Freundschaften unter Frauen waren … Der Hund ihrer Kusine Shelley mit einem Partyhut … Bla bla bla.

Aber dann hörte Gemma auf zu scrollen. Sie blinzelte. Mit angehaltenem Atem ging sie mit dem Finger ein Stück zurück nach oben und schaute sich das Foto in ihrer Facebook-Chronik noch einmal richtig an.

Es war Michael. Verdammt, sah er gut aus. Obwohl sie sich schon vor sieben Monaten getrennt hatten, spürte sie einen kleinen Stich.

Allerdings hätte er noch besser ausgesehen, wenn er sich nicht um irgendein Flittchen mit glänzend braunen Haaren und strahlendem Lächeln gewickelt hätte. Na ja, um sie gewickelt war nicht ganz der richtige Ausdruck. Er umarmte sie von hinten, hatte ihr die Arme über die Schultern gelegt, als wäre er ein lässig über die Schultern geworfener Cardigan. Die Wangen dicht aneinandergepresst, lachten die beiden in die Kamera.

Blöde Zicke.

Obwohl ihr klar war, dass sie das besser nicht tun sollte, tippte sie auf sein Profilbild, um seine Chronik zu besuchen. Ganz großer Fehler. Als sie ins Bett gekrochen war, hatte sie noch geglaubt, sie fühle sich furchtbar. Jetzt fühlte sie sich um Klassen schlechter. Sein Status hatte sich geändert. Statt In einer Beziehung mit Allie Cameron stand dort jetzt Verlobt mit Allie Cameron.

Ihr war übel. Ohne noch einen weiteren Blick auf das Bild zu werfen, drückte sie mit zitterndem Daumen auf den Home-Button, damit das Foto verschwand und die App sich schloss. Plötzlich war sie kein bisschen müde. Michael war so anders gewesen als all seine Vorgänger. Perfekt, hatte sie gedacht. Er hätte der Mann sein sollen, bei dem sie hängen blieb.

Puh. Nun konnte sie gleich auch noch den ganzen anderen Mist auf einmal hinter sich bringen …

Ohne zu zögern – am Ende hätte sie sich doch wieder herausgewunden –, schaute sie sich ihre SMS an. Wie vermutet, stammte eine davon von Juliet.

Gemma! Würdest du BITTE meine SMS beantworten! Ich weiß, es ist dir nicht klar, aber du bist sehr egoistisch. Ich muss mit dir reden. BALD. Ruf mich an! J x

Sie starrte mit offenem Mund auf ihr Handy und brachte keinen Ton heraus. Wofür hielt Juliet sich eigentlich? Jetzt mal ehrlich! Schließlich hing sie nicht den ganzen Tag hier herum und drehte Däumchen. Es gab einen Grund, warum sie keine Zeit gehabt hatte, eine Antwort zu schreiben: ihren Job. Ihr Leben. Schließlich hatte sie ein Leben. Und nur weil Juliet keins hatte und deshalb ihre Tage mit betulichen kleinen kunsthandwerklichen Hobbys und erlesener Küche füllte, durfte sie sich noch lange kein Urteil über andere erlauben, die nicht dasselbe tun wollten.

Aber das war typisch Juliet. Wenn man etwas nicht so machte wie sie, dann hielt sie es für falsch. So war es schon immer gewesen, sosehr Gemma sich auch bemüht hatte, in Juliets Augen zu bestehen.

Kein Wunder, dass die Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete, ihr näherstanden als ihre Schwester. Die Schauspieler waren ein Kapitel für sich, aber alle anderen aus der Crew waren ihr ans Herz gewachsen. Jeweils ein paar Monate am Stück lebten sie zusammen, aßen zusammen, teilten alles miteinander. Dabei fühlte sie sich mehr zu Hause, als wenn sie auf Juliets makellosem Sofa saß und versuchte, keine Kekskrümel fallen zu lassen. Wenigstens wussten die Filmleute, was Teamarbeit bedeutete, und sie brauchten und respektierten ihren Beitrag.

Still lag sie da und starrte an die Decke. Warum? Warum tat sie sich das an? Und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr zweifelte sie daran, dass es wirklich eine so gute Idee war, Weihnachten bei ihrer Schwester zu verbringen. Friede auf Erden? Ha! So wie sie jetzt gerade empfand, konnte das Weihnachtsfest für Juliet nur mit Mord und Totschlag enden.

4. KAPITEL

Es war so still im Haus, dass Juliet beinahe der Versuchung erlegen wäre, sich mit einer Flasche Wein in einen Sessel fallen zu lassen und nicht wieder aufzustehen. Nur der Blick auf die Küchenuhr hielt sie davon ab. Es war gerade mal zehn nach drei an einem Samstagnachmittag. Sie hatte dem Drang, sich gehen zu lassen, nie nachgegeben, nachdem Greg sie verlassen hatte, und sie würde ganz gewiss nicht jetzt damit anfangen. Außerdem hatte sie viel zu viel zu tun. Die Sahnekaramellbonbons, die ihre Kinder den Lehrern zu Weihnachten schenken wollten, machten sich nicht von allein.

Als sie den goldenen Karamellsirup abwog, drang ein dumpfes elektronisches Dröhnen in ihr Bewusstsein. Es kam aus einem der Nachbargärten. Juliet lauschte dem monotonen Brummen, während sie die Mischung aufkochte und aufschlug, bis sie zu kristallisieren begann. Aber als sie die Karamellmasse zum Abkühlen auf ein Backblech goss, runzelte sie die Stirn.

Zunächst war der Rasenmäher nur gedämpft zu hören gewesen, aber jetzt klang er, als wäre er sehr viel näher gekommen. Beinahe, als befände er sich direkt vor ihrem Küchenfenster. Sie ging durch die Küche, wischte dabei ihre Hände an der Schürze ab und schaute aus dem Küchenfenster hinaus in den Garten.

Im nächsten Augenblick stürzte sie nach draußen, den Holzrührlöffel noch in der Hand.

„Will! Was in aller Welt tust du denn da?“, rief sie.

Ihr Nachbar von nebenan schaute nur kurz auf und schob seinen Rasenmäher weiter über ihre Grünfläche. „So wie es aussieht, mähe ich deinen Rasen“, meinte er trocken.

Juliet öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Energisch stemmte sie die Hände in die Hüften und runzelte die Stirn. „Du weißt doch, dass ich das selbst noch erledigen wollte“, entgegnete sie schließlich.

„Soll ich aufhören?“, wollte er über den Lärm der Maschine hinweg wissen.

Sie legte ihre Stirn noch tiefer in Falten. Wenn sie ihn darum bat, würde er aufhören. Aber der Gedanke, noch etwas in ihren Terminplan aufzunehmen, was sie erledigen musste, lastete schwer auf ihren Schultern. Außerdem hatte er sowieso schon fast zwei Drittel der Rasenfläche geschafft. Es wäre dumm, ihn jetzt zu bitten, damit aufzuhören. Doch es passte ihr gar nicht, ihn umsonst arbeiten zu lassen. Also ging sie zurück ins Haus und kam ein paar Minuten später mit zwei bunt gemusterten Porzellan-Teebechern wieder heraus. Als sie ihm einen anbot, nickte er. Doch er kam erst zu ihr, nachdem er kurzen Prozess mit dem besonders widerspenstigen Gras unter ihrem einsamen Apfelbaum gemacht hatte.

Sie nippte an ihrem Tee und beobachtete über den Rand des Bechers hinweg, wie Will den Rasenmäher ausschaltete und leichten Schrittes durch ihren langen schmalen Garten lief, um sich zu ihr zu gesellen. Obwohl er ein paar Jahre jünger war als sie, gab er ihr nie das Gefühl, die Frau mittleren Alters von nebenan zu bemitleiden. Außerdem sah sie für eine Frau, die gerade vierzig geworden war, nicht übel aus, das wusste sie. Schließlich achtete sie sehr auf sich und kleidete sich ansprechend.

Mit einem Dank nahm Will seinen Becher entgegen und schenkte ihr ein seltenes, aber einfach hinreißendes Lächeln.

Während sie nebeneinanderstanden, betrachteten sie Juliets frisch gemähtes Gras. „Eigentlich bin ich diejenige, die sich bei dir bedanken muss. Seit Wochen schiebe ich diese Arbeit vor mir her.“

Er zuckte mit den Schultern. „Da ich schon dabei war, meinen Rasen zu mähen …“

„Ich weiß. Das konnte ich hören, als ich in der Küche Karamellbonbons zubereitet habe. Die Kinder möchten sie als Geschenk für ihre Lehrer haben. Es hat nur ein Weilchen gedauert, bis ich begriffen habe, dass das Rasenmähergeräusch immer näher kam und ich es schließlich aus meinem Garten hörte statt aus deinem.“

Will zog die Brauen hoch. „Karamellbonbons? Das klingt nach sehr viel Arbeit.“

Seufzend schüttelte Juliet den Kopf. „Ich habe schon immer Kleinigkeiten zu Weihnachten selbst gemacht. Das fing an, als Violet noch klein war und Greg sein Geschäft neu eröffnet hatte. Damals war das die billigste Möglichkeit, und irgendwie ist es inzwischen Tradition.“

Er senkte leicht die Lider, als ob er sie insgeheim prüfend musterte. Juliet musste sich gegen den Drang wehren, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Es war immer so schwer zu erkennen, was Will dachte.

„Solche Traditionen sind aber nicht in Stein gemeißelt, weißt du. Du kannst sie jederzeit über den Haufen werfen, wenn dir danach ist. Wäre es nicht schneller und einfacher, zum Supermarkt zu fahren und einen guten Tropfen zu kaufen?“

„Ja, schon … aber die Lehrer bekommen um diese Jahreszeit so viel Wein und Schokolade. Ich wollte ihnen einfach etwas Besonderes schenken.“ Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, und ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Außerdem möchte ich mich nicht der Förderung des Alkoholismus unter Grundschullehrern schuldig machen.“

„Aber Übergewicht zu fördern, geht in Ordnung?“

„Ach, halt doch den Mund“, gab sie leise lachend zurück.

Er wandte sich ab, um den Garten zu betrachten, während er seinen Tee trank. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie gedacht, dass es vielleicht ein klitzekleines bisschen funken könnte zwischen ihnen. Natürlich hatte sie dieses Gefühl blitzschnell beiseitegeschoben, denn damals war sie noch mit Greg verheiratet gewesen, und Will hatte eine feste Freundin gehabt. Und dann, nachdem Greg sie verlassen hatte, war sie absolut nicht in Stimmung gewesen, überhaupt an Männer zu denken. Es sei denn, in bitterstem Hass.

Sie schaute zu ihm hinüber und zog die Stirn kraus, als sie sah, dass er ein paar Grasbüschel neben dem Gewächshaus anstarrte. Musste sie ihn nun auch noch davon abhalten, die Motorsense zum Einsatz zu bringen? Aber dann wandte er sich ihr wieder zu und ergriff das Wort.

„Nimm’s mir nicht übel, Juliet, aber du siehst aus, als hättest du eine grauenvolle Woche hinter dir.“

„Vielen Dank auch“, gab sie mit gespielter Empörung zurück. Will machte selten viele Worte, aber wenn er etwas sagte, dann redete er nicht um den heißen Brei herum und traf meistens den Kern. Auch dieses Mal hatte er nicht unrecht. Sie seufzte und streckte ihm die Hand entgegen, um ihm den leeren Becher abzunehmen. „Wenn du fertig bist, komm rein und trink noch einen Tee mit mir. Dann erzähle ich dir, was los war. Außerdem steht da ein Blech mit Karamellmasse zum Abkühlen …“

Will spitzte die Ohren. Sie wusste, dass er Süßigkeiten liebte, und für die Lehrer der Kinder konnte sie einen neuen Schwung zubereiten.

„Einverstanden“, willigte er ein. Sein Lächeln wirkte diesmal freundlicher, und in Juliets Bauch regten sich ganz leicht ein paar Schmetterlinge.

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