Die Antonides Familiensaga - schicksalhafte Begegnungen & reiche Tycoons - 9-teilige Serie

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Eine weit verzweigte Familie, unermessliche reiche Tycoone, schicksalhafte Begegnungen - die Antonides Familiensaga in neun Teilen

DU ENTFACHST EIN FEUER IN MIR

Der griechische Millionär Elias Antonides kann es nicht fassen: Sein Vater hat einen Teil der Firma verspielt - an eine junge Frau! Als er Tallie kennen lernt, weiß Elias: Nicht nur geschäftlich erwartet ihn eine Herausforderung. Tallie ist wie Feuer in seinem Blut …

TRAUMINSEL IM BLAUEN MEER

Die heiße Sommerromanze mit dem Segler Theo lässt Martha endlich wieder an die Liebe glauben. Aber ihre gemeinsamen Tage auf der griechischen Insel Santorin sind gezählt: Theo verschwindet spurlos - und Martha steht unvermittelt vor einer schweren Entscheidung …

HOCHZEITSNACHT AUF HAWAII

Eine einzige Nacht hat Peter Antonides auf Hawaii mit Ally verbracht - die Hochzeitsnacht voller Leidenschaft! Danach gingen sie getrennte Wege. Jetzt verlangt Ally die Scheidung. Aber der feurige Grieche hat einen anderen Plan …

EIN HAUSBOOT FÜR ZWEI

Traumhaft, schwärmt Sebastian bei der Ankunft auf seinem neuen Hausboot am See. – Doch plötzlich stockt ihm der Atem. Er hat einen weiblichen Untermieter? Das ist doch Nelly Robson, seine junge Kollegin, mit der er sich immer streitet, dass die Funken fliegen! Sebastian schaltet auf stur– ohne zu ahnen, wie heiß ihm bald in Nellys Nähe werden wird ...…

EIN DIAMANTRING VOM BOSS

Auch wenn der Diamantring verheißungsvoll funkelt, sie trägt ihn nur, weil sie Christos' Verlobte spielen soll. Das glaubt Natalie zumindest. Doch als die hübsche junge Frau ihren attraktiven Boss in seine Heimat Brasilien begleitet, erlebt sie eine angenehme Überraschung …

SCHENK MIR NUR DIESE EINE NACHT

In einem Luxushotel in Cannes erwartet Prinzessin Adriana ihren Verlobten, als ein attraktiver Mann auf sie zustürmt und heiß küsst - der Hollywood-Star Demetrios Savas! Eine Verwechslung, aber er küsst sie, wie noch keiner sie geküsst hat. Und plötzlich wird die pflichtbewusste Prinzessin von ungeahnter Sehnsucht überwältigt. Nur für eine Nacht will sie eine normale Frau sein. Keine Adelige! Danach muss sie Demetrios für immer vergessen! Doch das Schicksal scheint andere Pläne zu haben.…

GLAUB AN DIE LIEBE, FIONA

Es war einmal eine glückliche Ehe … bis Fiona erfährt, dass George Savas sie nur aus Pflichtgefühl geheiratet hat! Bitter enttäuscht verlässt sie ihn und baut sich ein neues Leben auf. Doch dann erhält sie einen schockierenden Anruf: George hatte einen schweren Unfall! Die widersprüchlichsten Gefühle stürmen auf sie ein! Gibt es etwas, das sie für ihn tun kann? Das gibt es - allerdings etwas, an das Fiona nicht mehr geglaubt hat ...

EINMAL PLAYBOY, IMMER PLAYBOY?

Zwei Wochen zusammen mit ihrem Ex in seiner Strandvilla! Bereits bei dem Gedanken an den attraktiven Playboy Yiannis Savas schlägt Cats Herz ungewollt höher. Immerhin ist sie mittlerweile klüger und weiß, dass Yiannis seine Freiheit über alles liebt, während sie von Heiraten und Familie träumt. Aber als sie ihm schließlich gegenübersteht, vergeht sie vor Sehnsucht nach seinen zärtlichen Küssen …

VERZAUBERT VON DIESEM TANZ

"Tanzen Sie mit mir!" Edies Herz rast, als Nick Savas sie beim Ball auf Schloss Mont Chamion auf die Tanzfläche entführt. Während er sie eng an sich presst und durch den Saal wirbelt, fühlt sie sich lebendig wie schon lange nicht mehr. Hat dieser Mann mich verzaubert? fragt sie sich und erwidert seinen überraschenden Kuss voller Leidenschaft ...


  • Erscheinungstag 14.09.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734787
  • Seitenanzahl 1170
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Anne Mcallister

Die Antonides Familiensaga - schicksalhafte Begegnungen & reiche Tycoons - 9-teilige Serie

IMPRESSUM

Du entfachst ein Feuer in mir erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
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Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2006 by Barbara Schenck
Originaltitel: „The Antonides Marriage Deal“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRA
Band 293 - 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Kara Wiendieck

Umschlagsmotive: m-gucci / Thinkstock

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733777036

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

„Ihr Vater auf Leitung sechs.“

Elias Antonides starrte auf die rot blinkenden Lichter an seinem Telefon und dankte Gott, dass er vor neun Monaten, als er die Geschäftsräume von Antonides Marine International vom exklusiven Manhattan in ein renovierungsbedürftiges Lagerhaus nach Brooklyn verlegt hatte, auf ein Modell mit zehn Anschlüssen verzichtet hatte.

„Ja“, sagte er. „Danke, Rosie. Legen Sie ihn in die Warteschleife.“

„Er meint, es sei wichtig“, entgegnete seine Assistentin.

„Wenn es wichtig ist, wird er warten“, erwiderte Elias in der begründeten Annahme, dass sein Vater nichts dergleichen tun würde.

Aeolus Antonides liebte stundenlange Lunchverabredungen, spielte Golf mit seinen Freunden oder ging mit ihnen segeln. Aber für die tägliche Routine besaß er keine Nerven. Er wollte nicht wissen, dass die Firma von einem gewissen Bargeldbestand profitieren würde, oder dass Elias drüber nachdachte, ein anderes kleines Unternehmen zu kaufen, um ihr Spektrum zu vergrößern. Geschäfte langweilten ihn.

Heute standen die Chancen gut, dass sein Vater, nachdem Elias mit den anderen fünf blinkenden Anrufern fertig war, aufgelegt hatte, um noch eine Runde zu golfen.

Er liebte seinen Vater, doch seine Einmischung in geschäftliche Angelegenheiten konnte er einfach nicht gebrauchen. Was auch immer Aeolus wollte, es würde sein, Elias’ Leben unweigerlich verkomplizieren.

Und dabei war es schon kompliziert genug.

Seine Schwester Cristina – Leitung zwei – bat um finanzielle Hilfe, um ein Perlengeschäft zu eröffnen.

„Ein Perlengeschäft?“ Elias glaubte, eigentlich schon alles gehört zu haben. Bislang hatte Cristina Kaninchen züchten, eine T-Shirt-Druckerei eröffnen und eine DJ-Schule besuchen wollen. Die Perlen waren neu.

„So kann ich in New York bleiben“, erklärte sie ihm, als sei es das Vernünftigste der Welt. „Mark ist in New York.“

Mark war ihr momentaner Freund, und bestimmt nicht ihr letzter.

„Nein, Cristina“, sagte Elias.

„Aber …“

„Nein. Du bringst mir einen fundierten Businessplan, dann reden wir weiter. Bis dahin, nein.“ Er legte auf, bevor seine Schwester antworten konnte.

Seine Mutter – Leitung drei – organisierte eine Dinnerparty für das Wochenende. „Bringst du eine Freundin mit?“, fragte sie hoffnungsvoll. „Oder soll ich mich um eine Begleiterin für dich kümmern?“

Elias knirschte mit den Zähnen. „Du brauchst keine Verabredungen für mich zu arrangieren, Ma“, gab er tonlos zurück und wusste doch allzu gut, dass seine Mutter auf diesem Ohr völlig taub war.

Helena Antonides’ Lebensziel war es, ihn verheiratet und sich selbst im Kreis von Enkelkindern zu sehen. Da er bereits eine Ehe hinter sich hatte und nicht die Absicht hegte, noch einmal zu heiraten, hätte er ihr sagen können, dass ihre Hoffnungen vergeblich waren. Sollten sich seine Geschwister doch um die Enkel kümmern.

„Werd nicht frech, Elias Antonides. Mir liegt nur dein Wohlergehen am Herzen. Du solltest mir dankbar sein.“

„Ich muss Schluss machen, Mutter. Ich habe noch zu arbeiten.“

„Immer musst du arbeiten.“

„Jemand muss ja das Geld verdienen.“

Am anderen Ende herrschte eisiges Schweigen. Helena konnte ihm nicht widersprechen – zustimmen würde sie ihm allerdings auch nicht. Schließlich sagte sie: „Sei einfach am Sonntag hier. Ich kümmere mich um ein Mädchen.“ Sie legte auf.

Martha, seine zweite Schwester – Leitung vier –, sprudelte über vor Ideen für ihre Gemälde. Ideen besaß sie im Überfluss, allerdings nur selten auch die Energie, sie umzusetzen.

„Wenn du willst, dass diese Wandgemälde gut werden“, sagte sie, „sollte ich wirklich zurück nach Griechenland gehen.“

„Warum?“

„Inspiration“, erwiderte sie vergnügt.

„Du meinst Ferien.“ Elias kannte seine Schwester. Martha war eine gute Künstlerin. Ansonsten hätte er sie nicht gebeten, das Foyer des neuen Firmengebäudes sowie eine Wand in seinem Büro zu gestalten. „Vergiss es. Ich schicke dir ein paar Fotos. Die kannst du als Vorlage benutzen.“

Martha seufzte. „Du bist ein Spielverderber, Elias.“

„Ja, das weiß jeder“, stimmte er zu. „Finde dich damit ab.“

Marthas Zwillingsbruder Lukas – Leitung fünf – wollte sich nicht damit abfinden. „Was ist falsch daran, nach Neuseeland zu fliegen?“, fragte er.

„Gar nichts“, entgegnete Elias weit geduldiger, als er sich fühlte. „Aber ich dachte, du willst nach Griechenland?“

„Ich bin in Griechenland“, sagte Lukas. „Aber hier ist es langweilig. Hier gibt es nichts zu tun. Gestern Abend habe ich einige Leute in einer Kneipe getroffen, die nach Neuseeland reisen. Ich dachte, ich komme mit. Also, kennst du jemanden in Auckland, der mir für eine Weile Arbeit geben würde?“

„Was für Arbeit?“ Die Frage war berechtigt. Lukas besaß einen Collegeabschluss in antiken Sprachen, keine davon war Maori.

„Spielt keine Rolle“, sagte Lukas. „Oder ich gehe nach Australien.“

„Du könntest nach Hause kommen und für mich arbeiten.“ Diesen Vorschlag machte er nicht zum ersten Mal.

„Auf keinen Fall“, antwortete Lukas wie immer. „Ich rufe dich an, wenn ich in Auckland bin. Vielleicht ist dir bis dahin etwas eingefallen.“

Ted Corbett – Leitung eins – war der einzige Anrufer, der Elias’ Einschätzung nach tatsächlich wichtig war. Glücklicherweise hatte er noch nicht aufgelegt.

„Also, was denken Sie? Bereit für die Übernahme?“ Corbett war der Eigentümer jener Firma für Segelbekleidung, die Elias eventuell kaufen wollte.

„Wir denken darüber nach“, erwiderte Elias. „Es ist noch keine Entscheidung gefallen. Mein Analyst Paul ist noch mit den Zahlen beschäftigt.“

Als er das Gespräch mit Corbett nach geraumer Zeit beendete, blinkte das rote Licht von Leitung sechs immer noch. Wahrscheinlich hatte sein Vater den Hörer einfach neben das Telefon gelegt. Trotzdem drückte Elias auf den Knopf.

„Herrje, du bist aber beschäftigt“, beschwerte Aeolus sich lautstark.

Elias schloss die Augen und nahm all seine Geduld zusammen. „In der Tat, ja. Ein Anruf nach dem anderen, jetzt komme ich zu spät zu meinem Meeting. Was gibt es?“

„Mich. Bin in der Stadt mit einem Freund verabredet. Dachte, ich komme mal vorbei. Es gibt da etwas, das ich mit dir besprechen möchte.“

Das Letzte, was Elias heute gebrauchen konnte, war ein Besuch seines Vaters.„Ich komme am Wochenende nach Hause“, sagte er rasch. „Dann können wir reden.“

„Das dauert zu lange. Bis gleich.“ Damit legte er auf.

Verdammt! Dieses Verhalten war typisch für seinen Vater. Es spielte keine Rolle, wie beschäftigt jemand war. Elias beförderte den Hörer auf die Gabel und rieb sich über den Nasenrücken. Kopfschmerzen kündigten sich an.

Als sein Vater eine Stunde später an Rosie vorbei ins Büro seines Sohnes polterte, waren die Kopfschmerzen zu voller Blüte erwachsen.

„Rate, was ich getan habe!“ Aeolus schloss die Tür mit einem Fußtritt und führte einen seiner kleinen Tänze auf, die stets einem besonders guten Schlag auf dem Golfplatz folgten. „Ich habe einen Geschäftspartner für die Firma gefunden.“

Was?“ Fassungslos starrte Elias ihn an. „Wir brauchen keinen Partner!“

„Du hast gesagt, du brauchst Bargeld.“

Oh verflucht! Also hatte sein Vater doch zugehört. „Von einem Geschäftspartner habe ich nie gesprochen! Dem Geschäft geht es gut!“

„Natürlich.“ Aeolus nickte. „Ansonsten hätte ich ja auch keinen Partner finden können. Du arbeitest zu hart, Elias. Ich weiß, ich hätte mehr für die Firma tun sollen, aber … Es ist nur … Ich habe es einfach nicht in mir.“

„Ich weiß, Dad.“ Elias lächelte seinen Vater aufrichtig an. „Mach dir keine Sorgen. Das ist kein Problem.“

Nun, zumindest jetzt nicht mehr. Vor acht Jahren hatte es ihn seine Ehe gekostet.

Nein, das war nicht fair. Die mangelnden unternehmerischen Fähigkeiten seines Vaters waren nur ein Grund von vielen für die Trennung von Millicent. Alles hatte viel früher angefangen, als er mit der Idee gespielt hatte, die Universität abzubrechen, um seine eigene Bootsbauerfirma zu gründen. Millicent war entsetzt gewesen. Er müsse sein Studium beenden und dann ins Familienunternehmen einsteigen. Allerdings hatte sie damals auch noch geglaubt, Antonides Marine sei etwas wert. Als sie herausfinden musste, dass die Bücher röter waren als ein Sonnenuntergang, hatte sie wiederum entsetzt reagiert.

„Aber ich mache mir Sorgen“, widersprach sein Vater. „Wir beide, deine Mutter und ich, sorgen uns um dich.“

Elias hatte nie über die Gründe seiner Scheidung gesprochen, aber seine Eltern waren natürlich nicht naiv. Sie wussten, dass ihr Sohn rund um die Uhr arbeitete, um das Unternehmen, das sein Vater fast in den Ruin getrieben hatte, zu retten. Sie wussten, dass die finanziellen Möglichkeiten von Antonides Marine nicht den Erwartungen seiner Ehefrau an ihren sozialen Aufstieg gerecht wurden. Und sie wussten, dass sie sich, kurz nachdem Elias die Leitung der Firma übernommen hatte, aus dem Staub gemacht hatte. Wenige Wochen nach der Scheidung hatte Millicent den Erben eines Weinguts im kalifornischen Napa Valley geheiratet.

Natürlich hatte niemand darüber gesprochen. Am allerwenigsten Elias.

Doch kurze Zeit später hatte der Ärger erst richtig angefangen. Eine Parade von angeblich begehrenswerten Frauen war ihm vorgeführt worden – als könne sein Vater, indem er Elias eine neue Ehefrau verschaffte, seine Schuldgefühle lindern.

Allerdings war Elias der Meinung, sein Vater müsse sich überhaupt nicht schuldig fühlen. Aeolus war eben, wie er war. Millicent war, wie sie war. Und Elias war, wie er war: Ein Mann, der keine Frau wollte.

Und auch keinen Geschäftspartner.

„Nein, Dad“, sagte er also jetzt mit fester Stimme.

Aeolus zuckte die Schultern. „Zu spät. Ich habe vierzig Prozent von Antonides Marine verkauft.“

Elias fühlte sich, als sei er geschlagen worden. „Verkauft? Das kannst du nicht machen!“

Binnen einer Sekunde veränderte sich das Verhalten seines Vaters. „Natürlich kann ich verkaufen“, erklärte Aeolus förmlich. In seiner Stimme lag die griechische Arroganz von Generationen. „Die Firma gehört mir.“

„Ja, das weiß ich. Aber …“ Aber es stimmte. Aeolus war der Eigentümer von Antonides Marine. Zumindest von fünfzig Prozent. Elias besaß zehn Prozent. Seine vier Geschwister teilten sich die übrigen vierzig Prozent. Antonides Marine International war ein Familienunternehmen. Niemand, dessen Name nicht Antonides lautete, hatte je einen Anteil daran besessen.

„Nicht alles“, beruhigte Aeolus ihn. „Nur genug, um dir ein bisschen Kapital zu verschaffen. Du hast gesagt, du brauchst Geld. Während unseres gesamten Telefonats letzten Sonntag hast du davon gesprochen, Geld aufzutreiben, um irgendeinen Händler aufkaufen zu können.“

„Und genau das versuche ich auch gerade“, stieß Elias hervor.

„Jetzt bin ich dir eben zuvorgekommen.“

„Du hättest nicht zu verkaufen brauchen. Ich hätte es auch so geschafft.“

Aeolus schien nicht überzeugt. „Ich wollte nur helfen.“

Helfen? Himmel noch mal! Elias atmete tief ein und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Bei einer solchen Hilfe, konnte er gleich das Handtuch werfen.

Das würde er jedoch nie tun.

Antonides Marine war sein Leben. Er war fest entschlossen, die Firma zu ihrem alten Glanz zurückzuführen, den sie unter seinem Urgroßvater und dann unter seinem Großvater besessen hatte. Fast hatte er sein Ziel erreicht.

Mit ein bisschen Glück würde er die Aktien seines Vaters zurückkaufen können. Ja, das war eine gute Idee. Dann könnte er auch ein für alle Male ausschließen, dass sein Dad hinter seinem Rücken wieder etwas Unüberlegtes tat.

„An wen hast du verkauft?“, fragte er höflich.

„Socrates Savas.“

„Das kann doch nicht wahr sein!“ So viel zum Thema Höflichkeit. „Socrates Savas ist ein Pirat! Ein Geier! Er kauft Unternehmen, die in Schwierigkeiten stecken, weidet sie aus und verkauft den schrottreifen Rest!“ Elias schrie jetzt. Er wusste es sogar. Aber er konnte nicht anders.

„Er steht in einem gewissen Ruf“, gab Aeolus zu.

„In einem zu Recht verdienten Ruf!“, knurrte Elias. Er begann, im Raum auf und ab zu gehen. „Verdammt noch mal! Antonides Marine steckt nicht in Schwierigkeiten!“

„Socrates meinte auch, das Geschäft laufe sehr gut. Tatsächlich hat er sich sogar darüber beschwert. Hätte ich das doch vor fünf Jahren geahnt, hat er gejammert, dann hätte ich die Firma damals schon gekauft!“

Offensichtlich beobachtete Socrates Savas die Entwicklung von Antonides Marine seit geraumer Weile. Er war ein Meister darin, die Beute auszuspähen und im richtigen Moment zuzuschlagen.

Seit einem Jahr wagte Elias aufzuatmen, weil das Unternehmen wieder florierte. Und jetzt hatte sein eigener Vater vierzig Prozent an diesen Lumpen verkauft?

Was also hatte Savas vor? Die Möglichkeiten ließen Elias frösteln. Er durfte gar nicht daran denken.

„Schön“, sagte er und sah seinem Vater in die Augen. „Er kann die Firma haben. Ich kündige.“

Aeolus starrte seinen Sohn an. Seine sonst so rosige Gesichtsfarbe hatte einen gräulichen Ton angenommen. „Kündigen? Aber … aber, Elias … du kannst nicht kündigen.“

„Natürlich kann ich.“ Elias hatte seinen eigenen Anteil an griechischer Arroganz geerbt. Wenn Aeolus ohne seinen Sohn, der das Familienunternehmen gerettet hatte, zu informieren, einen Teil der Firma verkaufte, konnte besagter Sohn ja auch ohne einen Blick zurück kündigen!

„Du kannst nicht gehen, weil …“ Aeolus Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.

Elias hatte mit lautem Protest und wilden Gesten gerechnet, nicht mit einem leisen Zusammenbruch.

„Warum nicht?“, fragte er misstrauisch.

„Weil …“, Aeolus’ Hände zitterten, „weil im Vertrag steht, dass du bleibst.“

„Du kannst mich nicht zusammen mit der Firma verkaufen, Dad. Das ist Menschenhandel. Dagegen gibt es Gesetze. Demnach kann ich also annehmen, dass der ganze Vertrag null und nichtig ist?“ Auf Elias’ Lippen erschien jetzt ein aufrichtiges Lächeln. „Ende gut, alles gut.“

Doch sein Vater war immer noch bleich und hatte den Kopf gesenkt. Wortlos starrte er zu Boden.

„Was ist los?“, fragte Elias argwöhnisch in das Schweigen hinein.

Keine Antwort. Nicht für eine sehr lange Zeit. Dann endlich schaute Aeolus auf. „Wir verlieren das Haus.“

„Was meinst du damit, du verlierst das Haus? Welches Haus? Das Haus auf Long Island?“

Fast unmerklich schüttelte sein Vater den Kopf.

Wenn es nicht um das Haus auf Long Island ging, musste es bedeuten, dass …

Unser Haus?“

Die Familienvilla auf Santorin? Die sein Urgroßvater mit seinen eigenen Händen erbaut hatte? Unmöglich, dass sein Vater die Villa gemeint haben konnte. Das Haus hatte nichts mit der Firma zu tun. Seit vier Generationen war es vom Vater an den ältesten Sohn vererbt worden. Eines Tages würde es Elias gehören.

Nichts bedeutete ihm so viel, wie dieses Haus. Dort hatte er seine Kindheit verbracht. Es war verbunden mit Erinnerungen an Sommertage, an denen er mit seinem Großvater Boote gebaut hatte. Die Villa auf Santorin stand für die Kraft, die Zuflucht, das innere Herz der Familie Antonides.

Elias ballte die Hände zu Fäusten. Nur so konnte er verhindern, dass er seinen Vater am Kragen packte und schüttelte. „Was hast du mit unserem Haus gemacht?“, schrie er.

„Nichts“, erwiderte Aeolus rasch. „Nun, nichts, wenn du in der Firma bleibst.“ Er warf seinem Sohn einen hoffnungsvollen Blick zu. „Es war doch nur eine kleine Wette. Ein Rennen mit den Segelbooten. Ich habe mit Socrates gewettet, wer von uns schneller nach Montauk und zurück segeln würde. Ich bin ein besserer Segler als Socrates!“

Das bezweifelte Elias auch nicht. „Was ist passiert?“

„In der Wette ging es um die Boote.“

„Okay. Ihr seid also um die Wette gesegelt. Und?“

„Ich bin ein besserer Segler als Socrates Savas. Aber gegen seinen Sohn Theo habe ich keine Chance.“

Elias stieß einen Pfiff aus. „Theo Savas ist Socrates’ Sohn?“

Selbst er hatte von Theo Savas gehört. Jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung vom Segeln hatte, kannte diesen Namen. Er hatte zu der Crew gehört, die für Griechenland bei den olympischen Spielen angetreten war. Bei mehreren America’s Cups war er mitgesegelt. Seine Einhandsegeltörns berührten die Herzen von Abenteurern auf der ganzen Welt. Schlank, muskulös und gut aussehend, ein Playboy ohne gleichen und – Elias’ Schwestern zufolge – die Verkörperung des idealen Griechen.

„Theo hat gewonnen“, sagte Aeolus. „Damit steht ihm das Haus zu … es sei denn, du bleibst für zwei Jahre als Geschäftsführer in der Firma.“

„Zwei Jahre!“

„So lange ist das nicht“, protestierte sein Vater.

Elias konnte es einfach nicht fassen. Sein eigner Dad bat ihn, einfach still sitzen zu bleiben und dabei zuzusehen, wie Socrates Savas das Unternehmen zerstückelte, für das er so hart gearbeitet hatte.

Er atmete tief ein. Zwei Jahre. Konnte er diesen Preis bezahlen? Hatte er nicht schon ganz andere Hindernisse überwunden? Außerdem ging es hier nicht nur um sein Leben, sondern um das seiner gesamten Familie.

Wie hätte er Nein sagen können?

„Na gut“, meinte er schließlich. „Ich bleibe.“

Sein Vater sah ihn freudestrahlend an und klopfte ihm auf den Rücken. „Ich wusste es!“

„Aber ich nehme keine Anweisungen von Socrates Savas entgegen. Er leitet diese Firma nicht.“

„Natürlich nicht“, erwiderte sein Vater erleichtert. „Das macht seine Tochter.“

Die neue Präsidentin von Antonides Marine International tat in dieser Nacht kein Auge zu.

Mit einem breiten Lächeln lag Tallie Savas bis in die Morgenstunden wach. In ihren Gedanken wirbelten die Möglichkeiten, die sich ihr jetzt auftaten. Endlich hatte ihr Vater eingesehen, dass sie gut in ihrem Job war.

Sie wusste, dass dies nicht einfach für ihn war. Socrates Savas war ein typisch traditioneller, sturer griechischer Vater – obwohl er sein Land bereits vor zwei Generationen verlassen hatte.

Er war der Ansicht, dass seine vier Söhne in seine Fußstapfen treten sollten. Seine einzige Tochter Thalia hingegen sollte zu Hause bleiben, Kleider nähen, Essen kochen, schließlich einen netten, hart arbeitenden Griechen heiraten und viele süße dunkelhaarige und dunkeläugige griechische Kinder haben, die auf Großvater Socrates’ Schoß spielen könnten.

Doch das würde nicht geschehen.

Oh, sie hätte durchaus geheiratet. Wenn Leutnant O’Malleys Flugzeug nicht vor sieben Jahren abgestürzt wäre, wäre es bestimmt zu einer Hochzeit gekommen. Dann wäre ihr Leben anders verlaufen.

Aber seit Brians Tod hatte sie niemanden mehr getroffen, der ihr Interesse weckte. Nicht, dass ihr Vater es nicht versucht hätte. Manchmal glaubte sie, er habe ihr jeden griechischen Junggesellen der Ostküste vorgestellt.

„Geh und kümmere dich um die Jungs“, sagte sie ihm immer wieder. „Du kannst Ehefrauen für sie aussuchen.“

Aber ihr Vater hatte nur leise vor sich hin gemurrt. Seine vier Söhne waren ein noch größeres Mysterium für ihn als seine Tochter. Denn so gerne sie ihm in die Geschäftswelt gefolgt wäre, so wenig interessierten sich Theo, George, Demetrios und Yiannis dafür.

Theo war ein Hochseesegler von Weltformat. Müsste er in einem Büro in der Stadt arbeiten, würde er sterben. Socrates hatte dafür kein Verständnis. Seiner Meinung nach trieb sich sein ältester Sohn einfach gerne auf Booten herum.

George war ein brillanter Physiker, der die Geheimnisse des Universums ergründete. Es fiel seinem Vater schwer zu begreifen, dass es tatsächlich Menschen gab, die Theorien über Strings erfanden.

Demetrios war ein bekannter Schauspieler. Sein Gesicht – und sein nackter Oberkörper – war kürzlich auf einem Plakat am Times Square abgebildet gewesen. Socrates hatte die Augen verdreht und gemurmelt: „Was wohl als Nächstes kommt?“

Yiannis, der jüngste der vier Brüder, hatte vor fünf Jahren sein Studium der Forstwirtschaft abgeschlossen. Mittlerweile lebte und arbeitete er auf der Spitze eines Berges in Montana!

Es war Tallie, die fest entschlossen war, die Geschäftswelt für sich zu erobern. Und sie hatte die Sturheit ihres Vaters geerbt. Nach ihrem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften hatte sie einen Job als Buchhalterin in einer Tortilla Fabrik in Kalifornien angenommen. Und während sie dort war, hatte sie alles über Tortillas gelernt. Wie man sie herstellte, die tausend Arten, sie zu füllen, und wie man sie vermarktete. Anschließend hatte sie für einen Bäcker aus Wien gearbeitet, der ihr alles beibrachte, was er über Kuchen und Torten wusste. Seither war backen ihre Art, Stress abzubauen.

Vor achtzehn Monaten hatte sie einen Job beim größten Konkurrenten ihres Vaters angenommen. Ihre Hoffnung war es, ihr Vater würde davon erfahren.

Ihr Plan ging auf.

Vor zwei Wochen hatte er angerufen und sie zum Abendessen eingeladen.

Es klang wie ein unschuldiges Angebot, doch sie kannte ihren Vater seit einundzwanzig Jahren. Aber entgegen ihren Befürchtungen hatte er ihr keinen weiteren Junggesellen vorgestellt, sondern ihr einen Job angeboten.

„Einen Job“, wiederholte Tallie und bemühte sich, möglichst gelassen zu klingen. „Was für einen Job?“

Ihr Vater wartete, bis das Essen serviert wurde und antwortete dann mit der ihm eigenen Direktheit: „Ich habe gerade vierzig Prozent von Antonides Marine International gekauft. Sie bauen Boote. Als Hauptaktionär kann ich den Präsidenten bestimmen.“ Er hielt lächelnd inne. „Dich.“

„Mich?“ Tallies Stimme klang schrill. Sie blinzelte heftig.

Doch Socrates nahm Messer und Gabel in die Hand, zerteilte sein Paprikahühnchen und zuckte nur die Schultern. „Du hast immer gesagt, du willst ins Geschäftsleben eintreten.“

„Ja, aber …“

„Jetzt bist du drin.“

Tallie befeuchtete sich die Lippen. In ihrem Kopf wirbelten Möglichkeiten, Potenziale … und Panik. Sie versuchte, ihre Gedanken in Zaum zu halten. „Das kommt alles so plötzlich.“

„Bei den meisten guten Chancen ist das so. Also, was hältst du davon?“

„Ich …“ Ihre Zunge schien am Gaumen festzukleben.

Socrates hatte gelächelt. „Aber vielleicht war alles ja nur Gerede. Vielleicht glaubst du ja gar nicht, dazu in der Lage zu sein.“

Oh doch, das war sie!

Und genau das hatte sie auch gesagt.

Die nächsten zwei Wochen verbrachte sie damit, ihren Nachfolger einzuarbeiten und alles über Antonides Marine International zu lesen, was sie in die Finger bekommen konnte.

Je mehr sie über die Geschichte der Firma erfuhr, desto größer wurde ihre Lust, endlich anzufangen. Antonides Marine International war eine alteingesessene und angesehene Bootsbauerfirma, die ins Straucheln geraten war und sich in den letzten acht Jahren ihren Platz am Markt zurückerobert hatte. An der eigentlichen Geschäftsführung hatte sich nichts geändert. Jedoch war es nicht Aeolus Antonides, der das Ruder in der Hand hielt, sondern sein Sohn Elias. Und offensichtlich machte der seine Sache sehr gut. Er führte die Firma zu ihren alten Kerngeschäften zurück und hatte erst kürzlich damit begonnen, anliegende Geschäftsfelder auszukundschaften. Antonides Marine International war bereit für eine Expansion.

Tallie konnte es kaum erwarten, Teil dieses Prozesses zu werden.

Und jetzt, dachte sie, als sie auf dem Bürgersteig stand und an dem alten Lagerhaus in Brooklyn emporblickte, in dem Antonides Marine International seine Büros eingerichtet hatte, bin ich es.

Im ersten Licht des Morgens sah sie sich noch einmal um und lächelte. Sie öffnete die Tür und betrat das Gebäude.

Es war, als würde sie in einen Ozean eintauchen. Anstatt ein neutrales nichtssagendes Firmenfoyer vorzufinden, stand sie inmitten einer blauen Landschaft. Kein blasses Hellblau, sondern das tiefe vibrierende Dunkelblau des Mittelmeers. Vom Flur bis zur Decke reichten die Wandgemälde, die das blaue Meer und den blauen Himmel darüber zeigten. Dazwischen waren braune Inseln gezeichnet, auf denen sich unglaublich weiße Häuser und Kirchen befanden.

Instinktiv streckte sie einen Finger aus und fuhr die Dächer entlang, dann über eine Hügelkante, schließlich über ein Gebäude am Ende der Insel.

Sie hatte nie die Sehnsucht verspürt, Griechenland zu besuchen. Aus diesem Land schienen all die Traditionen zu stammen, gegen die sie ankämpfte. Aber jetzt erkannte sie, dass dort mehr sein musste. Die Ahnung hatte etwas Verlockendes an sich.

Aber nicht verlockend genug, um nicht auf den Aufzugsknopf für den dritten Stock zu drücken.

Der Lift war bereits renoviert worden. Das polierte Holz und der Teppichboden rochen noch neu. Der Flur jedoch, auf den sich die Türen öffneten, war eine Baustelle. Der Holzboden befand sich im Rohzustand, die Wände waren zwar verputzt, aber nicht gestrichen. Hammergeräusche waren zu hören.

Tallie ging an einigen Büros vorbei. Ein Buchhalter, ein Zeitschriftenverlag, ein Zahnarzt, gaben die Schilder Auskunft. Dann stand sie vor einer neuen schweren Glastür, hinter der sich die Räume von Antonides Marine International befanden. Die Tür war abgeschlossen. Morgens um zwanzig vor sieben konnte sie wohl kaum etwas anderes erwarten.

Kein Problem. Sie besaß einen Schlüssel. Den Schlüssel zu ihrer Firma. Gut, den Schlüssel zu der Firma, deren Präsidentin sie war.

Nun musste sie nur noch beweisen, dass sie dieser Position gewachsen war.

Mit einem tiefen Atemzug stellte sie ihren Aktenkoffer ab und kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund. Dann steckte sie ihn ins Schloss, öffnete die Tür und trat ein.

Sie kam zu spät.

Beziehungsweise ließ sich die neue Präsidentin von Antonides Marine an ihrem ersten Arbeitstag überhaupt nicht blicken!

Mit einer Kaffeetasse in der Hand ging Elias in seinem Büro auf und ab. Vermutlich sollte er sich darüber freuen. Wenn sie nicht hier war, konnte sie auch keinen Schaden anrichten.

Sobald feststand, dass es keinen Ausweg aus der Misere gab, in die sein Vater die Firma manövriert hatte, hatte Elias sich darangemacht, das Betätigungsfeld der neuen Präsidentin so klein wie möglich zu halten. Aus diesem Grund hatte er das große Büro, von dem aus man den Fluss überblicken konnte und das er eigentlich für sich reserviert hatte, für sie vorbereitet. Es lag am weitesten von den anderen Büros entfernt.

Mit einer Präsidentin abseits des geschäftigen Treibens konnte er die Geschäfte wie bisher führen. Und genau das sollte er jetzt auch tun. Doch zuerst wollte er sicher sein, dass sie ihm wirklich nicht in die Quere kam.

Er hatte erwartet, dass sie um neun Uhr hier sein würde, aber jetzt war es bereits halb zehn. Er selbst saß seit acht hinter dem Schreibtisch. Seine Assistentin Rosie war bereits da gewesen und hatte Kaffee gekocht – offensichtlich um die neue Chefin zu beeindrucken.

Ihm hatte sie damals gesagt, er solle sich gefälligst seinen eigenen Kaffee kochen. Heute hatte sie sogar einen Teller mit Keksen neben die Kaffeemaschine gestellt.

Elias hatte darüber nachgedacht, sie deswegen zur Rede zu stellen, aber die Plätzchen waren ausgezeichnet. Schokolade mit einem Hauch von Zimt, Mandeln und Erdnussbutter.

Allein der Gedanke daran ließ seinen Magen grummeln. Er verließ sein Büro, um noch einen zu essen und war überrascht, die gesamte Firmenbelegschaft um den Keksteller geschart vorzufinden.

Sein normalerweise extrem eleganter Analyst Paul Johanssen sprach mit vollem Mund. Lucy, die sich um die Verträge und die Buchhaltung kümmerte, schien sich entschlossen zu haben, ihre Diät erst morgen wieder fortzusetzen. Dyson, der für die Entwürfe und Entwicklungen der Projekte verantwortlich war, hingen Krümel in seinem Schnurrbart. Die Sekretärinnen Trina, Cara und die hochschwangere Guilia hatten sich ebenfalls dazu gesellt.

Elias glaubte zu wissen, warum Rosie sich bislang geweigert hatte, Kaffee zu kochen. Hätten die Mitarbeiter von ihren Fähigkeiten gewusst, hätte sie sie nicht mehr in Ruhe arbeiten lassen.

Nun, Miss Thalia Savas würde bestimmt beeindruckt sein – vorausgesetzt, sie schaffte es, ins Büro zu kommen, bevor Kaffee und Kekse gänzlich verschwunden waren.

Aber er hatte keine Lust mehr, länger zu warten. Es war Zeit, ihr klarzumachen, dass dies nicht die Universität war, sondern die wirkliche Welt mit wirklicher Arbeit.

„Wir gehen ins Konferenzzimmer“, sagte er zu Paul und Dyson.

Elias grinste. Irgendwie gefiel es ihm, dass die säumige Miss Savas die Kekse verpasste, die extra für sie bereitgestellt worden waren. Ganz zu schweigen davon, dass Rosies Bemühungen von den alten Mitarbeitern zunichtegemacht wurden.

„Sehr eindrucksvoll“, raunte er ihr auf dem Weg ins Besprechungszimmer zu. „Ich verstehe, warum Sie das sonst nicht tun wollen.“

Rosie blickte auf. „Ich habe gar nichts gemacht.“

Elias betrachtete sie skeptisch. Aber sie erwiderte seinen Blick so ernst, dass er sich an Paul wandte. „Sag mir nicht, du hast die Plätzchen gebacken.“

Paul lachte. „Ich kann nicht einmal Wasser kochen.“

„Schau mich gar nicht erst an“, meinte Dyson und schüttelte lachend seine Dreadlocks.

„Vielleicht war es das neue Mädchen“, schlug Trina vor, während sie mit einem Stapel Aktenordner im Arm zurück zu ihrem Büro eilte.

„Welches neue Mädchen?“ Natürlich würde es eine Stellvertreterin für Guilia geben, aber Elias hatte nicht gewusst, dass sie bereits angefangen hatte.

„Ich schätze, das bin ich wohl.“ Beim Klang der unbekannten freundlichen Stimme drehten sich alle um. Die Frau entsprach nicht dem üblichen Bild einer Aushilfssekretärin. Zum einen war sie älter. Wahrscheinlich Ende zwanzig. Außerdem war sie nicht dürr wie ein Insekt. Sie war schlank, besaß aber definitiv Kurven. Zudem trug sie weder einen Nasenring noch war ihr Haar von blauen Strähnen durchzogen. Allerdings schienen ihre Haare, obgleich durch Spangen gebändigt, ein Eigenleben zu führen. Dicht und wild und unglaublich sexy.

Sie sah aus, als sei sie gerade aus dem Bett aufgestanden.

Vor Elias innerem Auge erschien eine Vision, wie sie wohl im Bett aussehen würde. Der Gedanke brachte ihn zurück in die Gegenwart. Wie jeder andere Mann reagierte er auf eine wunderschöne Frau, aber normalerweise gab er sich nicht wenige Sekunde nach der ersten Begegnung erotischen Fantasien hin.

Die Frau schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und nickte einnehmend, sodass ihre Haare tatsächlich ein wenig tanzten. Der Drang, die Spangen und Nadeln aus ihrem Zopf zu ziehen, kehrte fast übermächtig zurück.

Hastig steckte er die Hände in die Hosentaschen. Er wusste es besser, als dass er Geschäftliches und Privates miteinander vermischte.

„Sie haben diese Kekse gemacht?“, fragte er.

Wieder nickte sie. „Haben sie Ihnen geschmeckt?“

„Sie sind gut“, meinte er verdrossen. „Aber es war nicht nötig, Plätzchen mitzubringen. Sie müssen nur Ihren Job machen.“

„Meinen Job?“ Verwirrt sah sie ihn an.

„Akten abheften“, erklärte er geduldig. „Tippen. Tun, was Ihnen aufgetragen wird.“

„Ich tippe nicht. Ich hasse es, Akten abzuheften. Und ich tue nur selten, was man mir sagt“, erwiderte sie fröhlich.

Elias runzelte die Stirn. „Was zur Hölle tun Sie dann hier?“

Sie streckte die Hand aus. „Ich bin Tallie Savas. Die neue Präsidentin. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

2. KAPITEL

Oh verdammt, Dad!

Ein Blick auf Elias Antonides, und Tallie wusste, was hier wirklich gespielt wurde. So viel dazu, dass ihr Vater sie ernst nahm!

Die Präsidentschaft bei Antonides Marine war nichts anderes als ein neuer Versuch, ihr einen weiteren griechischen Gott in Khakihosen und blauem Hemd vorzustellen.

Denn genau das war Elias: ein griechischer Gott mit dichtem, lockigem, schwarzen Haar, einem großen sinnlichen Mund und ausgeprägten Wangenknochen. Die leicht gebogene Nase verlieh ihm ein hartes und leistungsfähiges Aussehen, wie ein Gott des Meeres, der mit der einen Hand Seeungeheuer hervorrief, während er mit der anderen Troja vernichtete.

Und natürlich trug er keinen Ehering, was ihren Verdacht nur bestätigte. Andererseits musste er völlig den Verstand verloren haben, wenn er glaubte, ein Mann wie Elias würde sich für sie interessieren!

Was das Aussehen anging, glaubte Tallie, allenfalls Durchschnitt zu sein. Passable, aber nicht atemberaubend. Manchen Männern gefiel ihr Haar, aber das wendige und quirlige Gehirn darunter mochten sie nicht. Noch mehr Männern gefiel das Geld ihres Vaters, aber nur selten wollten sie es um den Preis einer Frau mit einem eigenen Willen.

Bislang hatte nur Brian sie um ihrer selbst willen geliebt. Wenn der Richtige käme, würde ihn weder ihr Gehirn schrecken, noch würde er allein von den Millionen ihres Vaters angelockt. Er würde Tallie lieben.

Auf keinen Fall würde er sie so entsetzt ansehen, wie Elias Antonides sie jetzt. Zumindest brauchte sie sich keine Sorgen mehr zu machen, dass er in das Spiel ihres Vaters eingeweiht war.

Also ergriff sie Elias’ Hand und schüttelte sie bestimmt. „Sie müssen Elias sein. Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen. Und schön, dass Ihnen meine Kekse schmecken. Ich dachte, ich fange gleich am ersten Tag so an, wie ich weitermachen möchte.“

„Mit Plätzchen backen?“ Er starrte sie an, als sei sie verrückt geworden. Dann stieß er ein Knurren aus und zog die Augenbrauen zusammen. Jeder normaler Mann hätte jetzt ratlos und verwirrt ausgesehen, Elias hingegen ließ die Geste nachdenklich, gefährlich und verführerisch zugleich wirken. Insgeheim verfluchte Tallie ihren Vater.

„Ja“, sagte sie voller Überzeugung. „Menschen mögen Kekse … so macht ihnen die Arbeit mehr Spaß.“

„Spaß wird deutlich überbewertet, Miss Savas“, entgegnete er von oben herab.

Tallie seufzte erleichtert. Sehr gut. Wenn er sich so steif und arrogant aufführte, würde es ihr viel leichter fallen, ihm zu widerstehen.

„Dem stimme ich ganz und gar nicht zu“, sagte sie freiheraus. „Ich denke, Spaß ist sehr wichtig. Wenn die Arbeitsmoral der Mitarbeiter niedrig ist, leidet das Geschäft darunter.“

„Die Arbeitsmoral bei Antonides Marine ist nicht niedrig.“

„Natürlich nicht. Und genauso soll es auch bleiben.“

„Kekse sorgen nicht für eine neue Arbeitsmoral.“

„Sie schaden aber auch nicht. Und sicherlich verbessern sie die Lebensqualität, meinen Sie nicht auch?“ Tallie schaute sich zu dem Grüppchen Mitarbeiter um, die alle heftig mit dem Kopf schüttelten.

Ein Blick von Elias ließ sie innehalten. „Habt Ihr nichts zu tun?“, fragte er unwirsch.

Die Gruppe löste sich auf.

„Einen Moment noch“, warf Tallie ein. „Wenn wir schon mal alle beisammenstehen, möchte ich auch meine Mitarbeiter persönlich kennenlernen.“

Schweigend beobachtete Elias, wie sie allen die Hand gab und versuchte, sich die neuen Namen zu merken.

Der blonde Paul trug eine Brille, hatte einen Bürstenhaarschnitt und war die Verkörperung von Effizienz.

Dyson war dunkelhäutig, hatte Dreadlocks und trug einen goldenen Piratenohrring.

Die kleine Rosie war ein bisschen mollig und hatte die Haare flammend rot gefärbt.

Lucys silbergraue Haare waren zu einem Dutt zusammengefasst. Auf mehreren Armbändern standen die Namen ihrer Enkelkinder.

Trina besaß lange schwarze Haare mit einer blauen Strähne darin, Cara hingegen hatte sich für eine pinkfarbene Igelfrisur entschieden. Guilia sah so aus, als würde sie jede Minute Drillingen das Leben schenken.

Eine gute Truppe, entschied Tallie, nachdem sie mit allen ein paar Worte gewechselt hatte. Freundlich und herzlich. Jeder hatte gesagt, er freue sich, dass sie hier war. Gut, außer Elias Antonides natürlich.

Er hatte überhaupt nichts gesagt.

Schließlich, als die Mitarbeiter gegangen waren, sah sie ihn an. Er betrachtete sie, als sei sie eine Bombe, die er entschärfen müsste.

„Vielleicht sollten wir uns unterhalten“, schlug sie vor. „Uns kennenlernen.“

„Vielleicht“, stimmte er zu und rief Paul und Dyson nach, sie würden sich später wegen des Corbett-Projekts zusammensetzen.

„Ich entschuldige mich, nicht Bescheid gesagt zu haben, dass ich schon hier bin“, setzte sie an. „Ich bin um sieben gekommen. Ich konnte es einfach nicht erwarten. Schon am ersten Schultag bin ich viel früher gekommen als nötig. Haben Sie so etwas auch gemacht?“

„Nein.“

Okay, gut. Versuchen wir es mit einer anderen Taktik.

„Ich habe mein Büro gefunden. Danke übrigens für das Namensschild. Ich glaube, es ist mein erstes. Und vielen Dank für die Finanzberichte. Dazu habe ich ein paar Fragen. Haben Sie zum Beispiel darüber nachgedacht, dass Corbett möglicherweise nicht die beste Expansionsstrategie sein könnte.“

„Schauen Sie, Miss Savas“, unterbrach er sie. „Dieses Frage-und-Antwort-Spiel wird nicht funktionieren. Sie backen Kekse und stellen mir dann Fragen über Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben. Für so etwas habe ich keine Zeit. Ich muss eine Firma führen.“

„Eine Firma, deren Präsidentin ich bin.“

„Auf der Grundlage einer Wette.“

Tallie erstarrte. „Wette? Was für eine Wette?“

„Wissen Sie das nicht?“

Doch bevor sie mehr tun konnte, als den Kopf zu schütteln, seufzte er tief. „Nein, vermutlich nicht.“ Er hielt kurz inne. „Nicht hier“, murmelte er und schaute sich um. „Kommen Sie.“

Er griff ihren Arm und führte Tallie in sein Büro. Hinter ihnen fiel die Tür mit einem lauten Klicken ins Schloss.

Elias Antonides’ Büro war kleiner als ihres. Es gab keine Fenster. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Papiere und Unterlagen, daneben standen zwei Aktenschränke sowie drei Bücherregale. Eine Wand war von demselben Künstler gestaltet worden wie die in der Eingangshalle.

„Wow“, entfuhr es Tallie unwillkürlich. Sie deutete auf das Wandgemälde. „Es ist atemberaubend. Sie brauchen gar kein Fenster.“

„Nein.“ Mit angespannten Kiefermuskeln betrachtete er einen Moment das Bild. Dann wandte er den Blick abrupt ab und bedeutete ihr, auf einem Stuhl Platz zu nehmen.

Tallie setzte sich und wartete darauf, dass er ebenfalls Platz nahm. Was er nicht tat. Stattdessen ließ er seine Knöchel knacken und ging hinter seinem Schreibtisch auf und ab.

„Die Wette?“, drängte sie schließlich.

„Mein Vater hält sich für einen herausragenden Segler“, erwiderte er endlich. „Und nachdem er vierzig Prozent von Antonides Marine, ohne irgendjemand etwas davon zu sagen, verkauft hatte …“

Oh oh.

„… waren ihm die Dinge noch nicht verfahren genug. Also haben er und Ihr Vater eine kleine Wette abgeschlossen.“

„Und worum ging es in dieser Wette?“, fragte Tallie vorsichtig.

„Der Gewinner bekommt die Villa des anderen und die zweijährige Präsidentschaft über Antonides Marine.“

„Aber das ist doch lächerlich!“, protestierte Tallie. „Was sollte mein Vater mit noch einem Haus anfangen?“ Schließlich besaß er bereits fünf.

„Ich habe keine Ahnung“, entgegnete Elias finster. „Aber ich glaube, auf die Häuser kam es auch nicht an. Obwohl es sich in unserem Fall um die Villa handelte, die sich seit Generationen im Familienbesitz befindet.“

Also war es ihrem Vater um die Präsidentschaft gegangen. Aber den wahren Grund würde sie Elias nicht auf die Nase binden.

„Mein Vater mag Herausforderungen. Vor allem, wenn er glaubt, er könne gewinnen. Mit Ihrem Bruder, dem Olympiasegler, hat er nicht gerechnet.“ Schwer ließ Elias sich auf seinen Stuhl fallen.

„Oh nein“, sagte Tallie. „Daddy hat Theo das Rennen segeln lassen.“

Natürlich war es so abgelaufen. Denn genau wie Aeolus Antonides, spielte Socrates Savas, um zu gewinnen. Und in diesem Fall besaß Aeolus etwas, dass ihr Vater weit mehr wollte als ein Haus: Die Präsidentschaft für seine Tochter … zusammen mit dem uneingeschränkten Zugang zu Aeolus’ griechischem Göttersohn.

„Dann machen wir alles rückgängig“, sagte Tallie mit fester Stimme. Sosehr sie auch auf die Chance aus war, sich selbst zu beweisen, war dies nicht der richtige Weg. „Ich höre auf, und Sie bekommen Ihr Haus zurück.“

Ungläubig blickte Elias sie an. Dann überraschte er sie durch sein Kopfschütteln. „Das wird nicht funktionieren. Ihr Vater hat gewonnen. Ende, aus. Er hat das Haus bekommen, er wird es behalten.“

„Ich sage ihm, er soll es zurückgeben. Und ich werde nicht hier arbeiten.“

„Sie müssen aber.“

„Warum?“

„So lautete der Deal. Es ist die einzige Möglichkeit, die Villa zurückzubekommen.“

Deals, Wetten, am liebsten hätte Tallie ihren Vater erwürgt.

„Was genau besagt der Deal?“

„Socrates hat meinem Dad gesagt, er würde es in zwei Jahren zurückgeben …“ Elias hielt inne und schüttelte den Kopf.

„Wenn …?“, drängte Tallie.

„Wenn ich zwei Jahre lang als Geschäftsführer bei Antonides Marine bliebe“, stieß er zähneknirschend hervor. „Und Sie als Präsidentin.“

„Zwei Jahre?“

Offensichtlich besaß ihr Vater kein großes Vertrauen in ihre Fähigkeiten, wenn er glaubte, sie brauche zwei Jahre, um Elias vor den Altar zu zerren, ging es Tallie durch den Kopf.

„Das ist doch absurd“, meinte sie. „Wir müssen ihr Spiel nicht mitspielen.“

„Das Haus …“

„So toll kann es auch nicht sein!“

„Mein Vater ist dort geboren worden. Ebenso wie sein Vater und dessen Vater. Der einzige Grund, warum ich hier zur Welt kam, ist, dass meine Familie ein Jahr zuvor nach New York gekommen war. Aber in diesem Haus haben Generationen von Antonides’ gelebt. Wir verbringen immer noch unsere Ferien dort. Als ich ein kleiner Junge war, habe ich dort mit meinem Großvater Boote gebaut.“ Jetzt klang seine Stimme nicht mehr gleichgültig, sondern war voller unterdrückter Gefühle. „Meine Eltern haben dort geheiratet, verdammt noch mal! Das Haus ist unsere Geschichte, das Herz unserer Familie.“

„Dann hatte Ihr Vater kein Recht, es als Wetteinsatz zu verwenden.“ Tallie war fast so wütend auf seinen wie auf ihren Vater.

„Natürlich nicht. Und Ihr Vater hatte kein Recht, ihn über den Tisch zu ziehen.“

Sie starrten einander an.

Was Elias gesagt hat, ist richtig, dachte Tallie. Ihr Vater besaß ein Gespür für gute Gelegenheiten. Seine eigenen bettelarmen Eltern waren Einwanderer, sie hatten ihn diese Lektion gelehrt. Ihre Familie besaß keine Villa, in der Generationen gelebt hatten. Tallie war mit Geschichten aufgewachsen, wie hart die Familie für wenig Geld arbeiten musste. Wenn also eine Chance vorbeikam, ergriff man sie. Und Glück … ja, für sein Glück war man selbst verantwortlich.

„Was schlagen Sie also vor, sollen wir tun?“, fragte sie höflich.

Wir tun gar nichts“, entgegnete Elias scharf. „Ich bin die letzten acht Jahre sehr gut alleine zurechtgekommen. Und genau das werde ich auch weiterhin tun. Da Sie nun einmal hier sein müssen, Miss Präsident, schlage ich vor, Sie setzen sich in Ihr Büro oder backen Plätzchen oder feilen sich die Fingernägel.“

„Das werde ich nicht tun!“

„Sie haben doch gar keine Ahnung vom Bootsbau.“

„Ich kann es lernen. Ich habe jeden Bericht gelesen, den mein Vater mir geschickt hat, ebenso jeden anderen Artikel über Antonides Marine, den ich finden konnte. Den Morgen habe ich damit verbracht, die Akten der Buchhaltung zu studieren. Und ich habe Ihnen gesagt, dass ich einige Bedenken wegen …“

„Die sind absolut unnötig.“

„Ganz im Gegenteil. Wenn Antonides Marine den reinen Bootsbau-Sektor verlassen wird, dann sollten eine ganze Reihe von Alternativen überdacht …“

„Was ich getan habe.“

„… und die gesamte Marketingstrategie muss neu …“

„Woran ich gedacht habe.“

„… bevor wir eine Entscheidung …“

„Und diese Entscheidung werde ich auch treffen.“

Wieder starrten sie einander an.

„Gut“, meinte Tallie endlich. „Wir sind uns einig, dass ich nicht einfach so gehen kann. Also bleibe ich. Und deshalb nehme ich auch Anteil am Firmengeschehen. Ich bin die Präsidentin von Antonides Marine, ob es Ihnen gefällt oder nicht.“

Elias’ Kiefernmuskeln arbeiteten. Er sah sie finster an. Sie hielt seinem Blick stand. Hätte das Telefon nicht geklingelt, hätten sie sich noch minutenlang so angesehen.

Er griff nach dem Hörer. „Was?“, fragte er barsch.

Die Antwort schien ihm nicht zu gefallen. „Meine Schwester“, wandte er sich an Tallie. „Ich muss mit ihr reden.“

„In Ordnung“, sagte sie.

Sie benötigte sowieso Zeit, die Neuigkeiten einzuordnen. Alles war noch viel schlimmer, als sie erwartet hatte. Die Wette, das Haus, der Deal, der arrogante griechische Gott, den ihr Vater als zukünftigen Schwiegersohn ins Auge gefasst hatte, ganz zu schweigen von der Haltung dieses Griechen, sie solle sich die Fingernägel feilen, anstatt ihren Job als Präsidentin wahrzunehmen.

Sie stand auf. „Ich bin in meinem Büro, falls Sie mich brauchen.“

„Na klar, als wenn das passieren würde“, murmelte Elias.

Sie bedachte ihn mit einem harten Blick, doch er hatte bereits das Telefonat mit seiner Schwester entgegengenommen.

„Nein“, sagte Elias.

Das sagte er immer zu Cristina. Dieses Mal ging es nicht um eine neue absurde Geschäftsidee, sondern um einen Segelausflug nach Montauk.

„Keine Zeit.“

„Komm schon, Elias. Mark würde dich gerne mitnehmen.“

Mark? Also war sie immer noch mit ihm zusammen? Seit zwei Monaten?

„Nein, ich bin beschäftigt. Ich stecke bis zum Hals in Arbeit. Und falls du es noch nicht gehört hast, es gibt einen neuen Präsidenten bei Antonides Marine.“

„Daddy hat es mir erzählt. Und es ist eine Frau!“ Sie kicherte. „Glaubst du, er verfolgt damit einen Plan?“

„Nein, das glaube ich verdammt noch mal nicht!“ Allerdings war ihm der Gedanke auch schon gekommen. Nur ging sein Vater selten so subtil vor. Aeolus bevorzugte normalerweise eine offensichtlichere Taktik.

„Aber wenn die neue Präsidentin dir Arbeit abnimmt, hast du ja jetzt mehr Zeit. Du kannst mich und Mark besuchen.“

„Nein.“ Womit sie wieder am Anfang ihres Gesprächs gelandet waren. „Cristina, ich muss jetzt weitermachen …“

„Du willst ihn gar nicht treffen“, warf sie anklagend ein.

„Ich kenne ihn. Wir waren zusammen in Yale.“

„Seitdem hat er sich verändert.“

Das hoffte Elias inständig. In Yale hatte Mark eine Party nach der anderen gefeiert. Nur weil sein Vater jemanden kannte, der jemanden kannte, war er überhaupt zugelassen worden. Was war das nur mit den griechischen Vätern?

„Wenn du unbedingt willst, dass ich ihn kennenlerne, kannst du ihn zum Familienessen am Sonntag mitbringen.“

„Das halte ich für keine gute Idee“, murmelte Cristina.

„Ich dachte, Dad mag ihn.“

„Ja, aber nur weil er Mark beim Golf schlagen kann.“

Elias lachte. „Das scheint mir doch eine gute Basis zu sein. Ich muss jetzt wirklich arbeiten, Crissie. Wir sehen uns am Sonntag.“

„Ich bringe Mark mit, wenn du die Präsidentin einlädst.“

„Bis bald, Crissie.“ Elias legte auf, bevor seine Schwester auf noch mehr brillante Ideen kam.

Er musste sich um wichtigere Dinge kümmern. Wie zum Beispiel Thalia Savas, alias Miss Präsident, davon zu überzeugen, dass es besser wäre, sich die nächsten zwei Jahre die Fingernägel zu feilen, als sich in die Geschäfte von Antonides Marine einzumischen.

Wenn sie glaubte, sie hätte ihre Hausaufgaben erledigt, sollte sie besser noch einmal nachdenken. Elias rieb sich die Hände. Er würde ihr zeigen, was Hausaufgaben bedeuteten. Und er wusste genau, womit er anfangen würde.

„Für mich?“ Tallie sah auf und lächelte freundlich, als Elias am späten Nachmittag mit einem knapp einen Meter hohen Aktenstapel ihr Büro betrat.

„Für Sie“, bestätigte er fröhlich und stellte den Turm auf ihrem Schreibtisch ab. „Da Sie an den Entscheidungen beteiligt sein wollen, möchten Sie sich bestimmt so schnell wie möglich auf den aktuellen Stand bringen.“

„Natürlich will ich das“, stimmte sie zu. „Vielen Dank.“

„Gern geschehen.“ Er wandte sich um, blieb aber an der Tür noch einmal stehen. „Morgen habe ich noch mehr Unterlagen für Sie.“

Tallie lächelte unbeirrt weiter. „Ich kann es kaum erwarten.“

Tatsächlich hatte sie, seit er den Anruf seiner Schwester entgegengenommen hatte, viel Spaß gehabt. Sie hatte sich zu Paul und Dyson in den Konferenzraum gesellt. Als Elias hinzukam, hatte er sie zunächst stirnrunzelnd angesehen, schließlich jedoch nur die Schultern gezuckt.

Sie lauschte der Diskussion der drei Männer und machte sich Notizen. Hin und wieder fing sie einen Blick von Elias auf, aber sie schwieg hartnäckig.

Das tat sie immer am ersten Tag.

Ihr Vater hatte ihr dieses Geheimnis verraten. Bevor man sprach, musste man zuhören.

Es beeindruckte sie, wie sorgfältig Elias mit den Informationen umging, die Paul ihnen präsentierte. Dennoch war sie immer noch nicht davon überzeugt, dass es ein guter Schachzug war, Corbett’s zu kaufen.

Deshalb würde sie alle Unterlagen lesen, die er ihr vorhin gebracht hatte, und eigene Überlegungen anstellen.

Um acht Uhr packte sie einen dreißig Zentimeter hohen Stapel zusammen, um ihn zu Hause zu lesen. Dann machte sie sich auf die Suche nach einem Karton dafür.

Die Büros waren verlassen. Rosie war bereits vor Stunden gegangen – nicht, ohne Tallie daran zu erinnern, ihr morgen das Plätzchenrezept mitzubringen.

„Großartig“, murmelte sie, als sie hinter einigen Schachteln mit weißem Papier einen geeigneten Karton entdeckte. Sie zog ihn hervor, drehte sich um und stieß gegen eine muskulöse männliche Brust.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Elias’ Tonfall war höflich, seine Haltung drückte jedoch das genaue Gegenteil aus. Grob übersetzt wollte er wissen, was zum Teufel sie hier noch tat.

Sie lächelte strahlend. „Sie sind auch noch hier? Ich habe nur eine Kiste gesucht, um ein wenig Arbeit mit nach Hause zu nehmen.“

„Was für Arbeit?“

„Einige der Unterlagen, die Sie mir zur Verfügung gestellt haben.“ Auch sie wählte einen höflichen Ton, doch als er keine Anstalten machte, sich zu bewegen, wich sie ihm aus und schlug ihm im Vorbeigehen – aus Versehen natürlich – mit dem Karton gegen die Brust. „Oh, Entschuldigung.“

Sie hörte ihn leise fluchen, als sie mit dem Karton unter dem Arm den Flur entlangeilte.

Schritte folgten ihr. „Sie müssen die Papiere nicht mit nach Hause nehmen.“ Er blieb an ihrer Bürotür stehen, als sie den Stapel in die Kiste packte.

„Nun, ich hatte nicht vor, die ganze Nacht hierzublieben.“

„Sie machen sich viel zu viele Umstände.“

„Ganz und gar nicht. Das ist mein Job.“

Seine Kiefernmuskeln zuckten, und sie wusste, dass er am liebsten gesagt hätte: „Nein, es ist meiner.“

Aber er sagte nichts und machte kehrt.

„Willkommen zu Ihrem ersten wundervollen Tag bei Antonides Marine International“, murmelte Tallie, als sie ihm nachsah.

Gar keine Frage, Tallie Savas würde ihm auf die Nerven gehen.

Wer zur Hölle brauchte eine Präsidentin, die Kekse backte? Die zu Meetings kam und dann schweigend dasaß und wild in ihren Notizblock kritzelte? Die sich mit Stapeln von Akten in ihrem Büro einschloss und sie tatsächlich durcharbeitete? Sie sogar mit nach Hause nahm?

Elias schaute ihr nach, wie sie zur Tür schritt, den Karton voller Unterlagen auf ihrer Aktentasche balancierend, obendrauf schwankten drei leere Plätzchendosen.

Ein Gentleman würde ihr helfen.

Aber Elias fühlte sich nicht wie ein Gentleman. Gerne hätte er gesehen, wie sie alles fallen gelassen hätte.

Doch so wie sein Leben im Augenblick verlief, würde sein Vater wahrscheinlich darauf bestehen, ihre Krankenhausrechnung mit dem Geld zu bezahlen, das Elias noch gar nicht verdient hatte! Grimmig eilte er ihr nach.

„Erlauben Sie“, sagte er mit kalter Höflichkeit und öffnete die Tür.

„Danke.“ Sie schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“

„Oh ja“, erwiderte er trocken.

Sie wandte den Kopf und grinste. Die oberste Blechdose vollführte einen kleinen Tanz, doch Tallie rettete sie.

„Brauchen Sie vielleicht Hilfe?“, bot Elias ihr gegen seinen Willen an.

Tallie schüttelte den Kopf – Aktentasche, Karton und Dosen wackelten. „Nein, danke.“ Damit marschierte sie in den Flur.

Eigentümlicherweise ärgerte ihn ihre Weigerung, sich helfen zu lassen. Elias schloss die Bürotür. Doch anstatt sich an seinen Schreibtisch zu setzen, blieb er stehen und beobachtete Tallie durch das Glas hindurch. Wenn sie die verdammten Dinge fallen ließ, würde sie seine Hilfe annehmen müssen.

In diesem Moment wurde eine Tür weiter hinten im Flur geöffnet, und ein Mann trat heraus. Elias erkannte Martin de Boer sofort an seinem Tweedjackett mit den Flicken an den Ellenbogen und an dem wichtig-und-zu-beschäftiger-Journalist-um-zum-Friseur-zu-gehen-Haarschnitt.

Martin schrieb für das snobistische Meinungsmagazin Fragen und Antworten, das einige Büroräume in dieser Etage gemietet hatte. Elias hatte geglaubt, er würde sympathische Mieter bekommen, und die Leute, die das eigentliche Magazin herausgaben, waren es auch.

Doch die Journalisten, die für Fragen und Antworten schrieben, waren von einer anderen Sorte. Sie glaubten, jedermann hätte Fragen, und nur sie besäßen die Antworten. Und nach den wenigen Gesprächen, die Elias mit ihnen gehabt hatte, besaß Martin de Boer die meisten Antworten. Er hielt den Journalisten für einen unsympathischen Besserwisser, der sich in alles einmischte, was ihn nichts anging.

Seine Meinung verbesserte sich nicht gerade, als er jetzt mit ansehen musste, wie Martin lächelnd Tallie seine Hilfe beim Tragen anbot. Zumindest erhielt er ein Lächeln zurück und eine Antwort, die ihn veranlasste, ihr galant den Karton abzunehmen und unter seinen eigenen Arm zu klemmen.

Verflucht! Elias starrte zornig durch die Glastür. Auf sein Angebot hatte sie praktisch mit einem Tritt gegen sein Schienbein reagiert! Halb war er versucht, durch den Flur zu marschieren und den Karton aus Martins dünnen Armen zu reißen.

Gut, dass in diesem Augenblick sein Handy klingelte.

Schlecht, dass er die joviale, gut gelaunte Stimme seines Vaters am anderen Ende vernahm. „Nun, wie ist der erste Tag mit unserer neuen Präsidentin verlaufen?“

Elias sah Tallie mit Martin im Aufzug verschwinden. Er stieß zwei Worte hervor: „Frag nicht.“

3. KAPITEL

Das Telefon klingelte, kaum dass Tallie ihre Wohnung betreten hatte.

„Ich wollte nur hören, wie alles gelaufen ist“, sagte ihr Vater. Er klang beiläufig und neugierig zugleich.

Tallie löffelte für ihren hungrigen Kater Harvey eine fischig riechende Substanz auf einen Teller. „Einfach großartig“, sagte sie.

Dabei hätte sie es gerne belassen, aber das reichte ihrem Vater natürlich nicht. Also begann sie mit einem nahezu vollständigen Bericht. Angefangen bei den Büros, dem Wandgemälde und der Geschichte von Antonides Marine. Sie erzählte ihm alles – bis auf das, was er eigentlich erfahren wollte.

„Gut, gut. Du hattest offensichtlich einen schönen Tag“, meinte er schließlich.

Harvey hatte sein verspätetes Abendessen beendet und beäugte nun interessiert die Spiegeleier mit Speck, die Tallie für sich selbst zubereitete. Sie schüttelte den Kopf und warf ihm einen strafenden Blick zu. Er starrte nur ungerührt zurück, was sie an Elias erinnerte, der ihr mit ähnlicher Miene zu verstehen gegeben hatte, dass Antonides Marine ihm und nicht ihr gehörte.

„Was ist mit den Menschen?“, fragte ihr Vater und näherte sich damit dem eigentlichen Ziel seines Anrufs. „Es sind die Menschen, die eine Firma ausmachen, Thalia.“

Also berichtete sie von den einzelnen Mitarbeitern und beschrieb ihre ersten Eindrücke.

„Und Aeolus Sohn? Elias war auch in der Firma, oder?“

„Elias? Oh ja, der war da.“

„Aha. Und … war er hilfsbereit?“ Eine gewisse Vorsicht hatte sich in Socrates’ Stimme geschlichen.

„Er hat mir viel zu lesen gegeben.“

„Zu lesen?“

„Geschäftsberichte, Unterlagen.“

„Sehr gut. Dann scheint er dich zu akzeptieren.“

„Als Präsidentin, meinst du? Du hast ihm nicht wirklich eine andere Chance gelassen, Dad.“

„Nein, das ist nicht wahr!“, entrüstete ihr Vater sich.

„Doch. Hast du nicht dafür gesorgt, dass Theo deine kleine Wette für dich gewinnt? Hast du Aeolus nicht angeboten, ihm das Haus seiner Vorfahren unter der einen Bedingung zurückzugeben, dass Elias für zwei Jahre als Geschäftsführer in der Firma bleibt?“

Ein kurzes Schweigen trat ein, in dem ihr Vater herauszufinden versuchte, was er zur Schadensbegrenzung anführen konnte.

„Ich habe es für dich getan, Thalia. Das ist deine Chance. Du wolltest doch immer ins große Geschäft einsteigen.“

„Als ob das der wirkliche Grund ist.“

Socrates räusperte sich, sagte aber nichts mehr.

„Hör auf, mein Leben manipulieren zu wollen, Dad. Hör auf, mir irgendwelche Junggesellen vorzustellen.“

„Das habe ich gar nicht. Außerdem kann ich ihn ja nicht zwingen, dich zu heiraten, oder?“

„Aber wenn du könntest, würdest du. Wenn Brian noch lebte, wäre ich längst verheiratet!“

„Er würde nicht wollen, dass du für immer Single bleibst, Thalia.“

„Ich weiß das! Aber er würde auch nicht wollen, dass ich irgendjemand heirate.“

„Natürlich nicht, aber …“

„Hör auf, Dad. Lass es bitte sein.“ Sie schwieg einen Moment. „Ich muss jetzt Schluss machen und die Unterlagen durcharbeiten, die Elias mir gegeben hat.“

Es ist keine große Sache, redete Elias sich jeden Morgen aufs Neue ein. Schön, dann stand jetzt eben Tallie Savas’ Name als Präsidentin auf dem Briefkopf von Antonides Marine.

Na und? An seiner Arbeit änderte sich dadurch nichts.

Nur entsprach das nicht ganz der Wahrheit.

Es war nicht so, dass Dyson und Paul Jasager waren. Sie sahen die Dinge nicht auf dieselbe Art wie Tallie. Dyson war der Theoretiker, Paul der Praktiker. Und Tallie … war Tallie.

Sie sah die Welt aus einer anderen Perspektive.

„Einer weiblichen Perspektive“, sagte sie schulterzuckend, als sei dies keine große Sache.

Aber verwirrenderweise war es das doch. Sie brachte Dinge in die Diskussion ein, die bislang niemand beachtet hatte. Zum Beispiel sprach sie über Menschen, und wie sie die Balance zwischen Arbeit und Familie fanden.

Mit dieser Art Balance kannte Elias sich nicht aus. Wenn er arbeitete, konzentrierte er sich ausschließlich darauf. Doch die Wahrheit war, dass Elias sich zum ersten Mal im Leben bei der Arbeit mit einer Ablenkung konfrontiert sah. Natürlich schätzte er schöne Frauen, aber bislang hatte er sich stets darum bemüht, Arbeit und Vergnügen voneinander zu trennen.

Das war nicht einfach.

Denn jetzt konnte es passieren, wenn er in einem Meeting saß und versuchte, Pauls oder Dysons Ausführungen zu folgen, dass sein Blick zu Tallie hinüberglitt. Und schon war es um seine Aufmerksamkeit geschehen.

Unvermittelt war er gefesselt von den lebendigen vorwitzigen Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gestohlen hatten. Wie es wohl sein würde, ihr Haar offen, wild und sexy zu sehen? Wie es wohl sein würde, wenn er selbst die Nadeln herauszog und mit den Fingern durch die seidigen Locken fuhr?

Unvermeidlich war es, dass Dyson dann sagte: „Was denkst du darüber, Elias?“

Verwirrt kehrte er in die Realität zurück und hatte keine Ahnung, worum es gerade ging. Mittlerweile war das schon mehrfach passiert.

Letzten Dienstag hatte Paul eine seiner komplizierten Skizzen an die Tafel gemalt, die nicht sonderlich spannend waren. Wie hätte er da nicht zu Tallie hinüberschauen können, die gerade ihre Beine überkreuzte? Der Anblick des Stückchens gebräunter Haut reichte aus, um ihn Pauls Linien und Kästchen völlig vergessen zu lassen.

„So weit einverstanden?“, fragte Paul und wandte sich zu ihnen um.

Tallie nickte. Elias schloss die Augen und versuchte, seine Gehirnzellen wieder zur Arbeit zu überreden.

Kein Wunder, dass er wütend wurde. Allerdings wusste er nicht, ob er auf Tallie wütend war, weil sie hier war, oder auf sich selbst, weil er sich so von ihr ablenken ließ. Also forderte er sie heraus und stellte ihr Frage um Frage.

Und sie gab ihm wohldurchdachte Antworten, die zeigten, dass sie dem Geschehen – im Gegensatz zu ihm – gefolgt war.

Und dann diese Kekse! Auch sie waren Teil des Problems. Denn Tallie hatte nicht nur am ersten Tag Plätzchen mitgebracht, sondern seither jeden Tag.

„In anderen Büros gibt es einen Teller mit Süßigkeiten“, grummelte er eines Tages. „Aber wir führen eine verdammte Konditorei.“

„Niemand außer Ihnen beschwert sich“, wies Tallie ihn ungerührt zurecht.

„Das werden sie noch, wenn sie ihre Cholesterinwerte überprüfen lassen.“

Anstatt endlich aufzuhören, brachte sie von nun an auch noch frisches Gemüse mit. Neben den gebackenen Delikatessen gab es immer auch eine Schale mit Karotten und Selleriestangen, mit Brokkoli- und Blumenkohlröschen oder mit grünen und roten Paprikastreifen.

Elias gefiel das gar nicht. „Dafür haben wir kein Budget.“

„Die Firma zahlt auch nicht dafür. Das geht auf mein Konto.“

Er murmelte etwas, aber sie lächelte nur und schleppte am nächsten Tag weitere Köstlichkeiten an. Wie sollte er ihr das auch verbieten? Sie war die verflixte Präsidentin!

Und sobald die Mitarbeiter herausgefunden hatten, dass sie regelmäßig mit Keksen versorgt wurden, begannen sie, sich vor den Tellern zu treffen.

Und sich zu unterhalten!

Noch nie hatte es so viel Geplauder im Büro gegeben. Stets hatte er geglaubt, er würde eine recht unkomplizierte Firma leiten, in der die Menschen offen miteinander sprachen. Aber nie hatte er ein solches Level an Kommunikation erreicht, wie Tallie mit ihren verdammten Plätzchen!

Ideen wurden ausgetauscht. Gedanken. Und nicht nur über das gestrige Baseballspiel oder wie weit fortgeschritten Pauls Hochzeitspläne waren oder wie es Lucys Enkelkindern ging. Die Mitarbeiter besprachen Geschäftliches. Manchmal entstanden über Tallies Keksen sehr vernünftige Einfälle.

„Sie ist gut für die Firma“, sagte Dyson einmal grinsend. Er lehnte mit der Hüfte gegen Elias’ Schreibtisch und sah zu Tallie hinüber, die sich gerade mit Rosie unterhielt. „Und sie sieht hervorragend aus.“

Elias warf ihm einen finstern Blick zu. „Das darfst du in einem Büro nicht sagen.“

„Tallie kümmert das nicht. Sie würde erwidern, dass ich ein hervorragend aussehender Mann bin.“ Dyson lachte selbstzufrieden.

„Das zeigt nur, wie schlecht ihr Geschmack ist“, meinte Elias und knallte eine Schublade zu.

Dysons Grinsen wurde noch breiter. „Seit sie hier ist, bist du ein bisschen griesgrämig. Bist du eifersüchtig?“

Wie gerne hätte er noch eine Schublade zugeknallt! „Vergiss es. Und wir bezahlen dich nicht fürs Rumstehen und Unsinn erzählen. Geh zurück an deine Arbeit.“

„Ich meine ja nur …“ Immer noch kichernd salutierte Dyson und schlenderte davon.

Aber es stimmte, was Dyson gesagt hatte. Stundenlang unterhielt Tallie sich mit den anderen Mitarbeitern nicht nur über die Arbeit, sondern über ihr Leben. Elias saß dann an seinem Schreibtisch und musste mit anhören, wie sie mit Rosie lachend über Männerprobleme diskutierte. Holte er sich eine Tasse Kaffee, plauderte sie mit Dyson über einen alten Film oder ein Mädchen namens Sybella, das er kürzlich kennengelernt hatte. Machte er sich auf die Suche nach Paul, fand er ihn meist mit Tallie über Hochzeitsangelegenheiten plaudernd vor.

Er hatte gar nicht gewusst, dass Paul vorhatte zu heiraten!

Tallie wusste alles. Sie kannte den Namen von Pauls Verlobten. Die Namen von Lucys Enkelkindern. Sie wusste, wie Giulia ihren Sohn genannt hatte, der am Samstag das Licht der Welt erblickt hatte.

„Giacomo“, teilte Tallie ihm mit. „Nach Vincents Vater.“

Wer um alles in der Welt war Vincent?

Tallie kannte sogar den Namen von Caras Friseur.

„Warum? Möchten Sie sich das Haar pink färben lassen?“, hatte Elias sarkastisch gefragt, nachdem Cara an ihren Schreibtisch zurückgekehrt war.

Tallie hatte gegrinst. „Tatsächlich wollte ich nur sichergehen, dass ich ihn nie an meine Haare heranlasse.“

Aber das war die einzige Gelegenheit, bei der sie ihm ein Lächeln geschenkt hatte. Ansonsten verhielt sie sich ihm gegenüber absolut kühl.

Allerdings musste er auch zugeben, dass sie hart arbeiten konnte. Sie kam früh ins Büro und ging spät nach Hause.

Was jedoch ihren Männergeschmack anging, hatte er einiges an ihr auszusetzen.

Sie ging doch tatsächlich mit Martin de Boer aus.

Nachdem Martin ihr den Karton getragen hatte, war er im Verlauf der Woche in die Firma gekommen und hatte gefragt, ob sie Zeit habe, mit ihm zum Lunch zu gehen.

„Nein, hat sie nicht“, hatte Elias eingeworfen, bevor Tallie antworten konnte. „Wir haben mittags eine Besprechung.“

„Wirklich?“, fragte sie zurück. „Das wusste ich gar nicht.“

„Wie wäre es dann mit Abendessen?“, ließ Martin nicht locker.

Elias’ Kiefernmuskeln spannten sich an. Tallie warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Ist da auch ein Meeting angesetzt, von dem ich nichts weiß?“

„Nein“, hatte er knapp erwidert.

„Schön. Dann gehe ich gerne mit Ihnen essen“, hatte sie sich an Martin gewandt.

Zähneknirschend hatte Elias sich umgedreht und war gegangen. Später hatte er erfahren müssen, dass sie am Wochenende sogar mit Martin in der Oper gewesen war.

„Oper?“, hatte er am Montagmorgen hervorgestoßen.

„Jazz mag ich lieber“, entgegnete sie. „Aber es war eine spannende Erfahrung. Martin weiß eine Menge über Opern.“

„Da gehe ich jede Wette ein“, hatte Elias kopfschüttelnd gemurmelt. Sie besaß wirklich einen lausigen Männergeschmack.

Nicht, dass es ihn kümmerte.

Er war an Tallie Savas nicht interessiert. Sie bedeutete nichts als Ärger. Er arbeitet mit ihr zusammen, weil er keine andere Wahl hatte. Sonst nichts!

Und doch ging sie ihm unter die Haut. Er dachte ständig an sie. Seit Millicent hatte er nicht mehr so viel über eine Frau nachgedacht. Und damals hatte das in einem Desaster geendet, erinnerte er sich.

Hartnäckig drängte er Tallie aus seinen Gedanken.

Trotzdem war es gut, dass er die Renovierungsarbeiten hatte. Wände mit einem Vorschlaghammer einzureißen wurde zu einer sehr guten Abendbeschäftigung. So verbrauchte er die Energie, die seine Hormone gerne auf andere Weise verwendet hätten. Und jede Nacht, die Elias wie ein Besessener mit Hämmern und Einreißen verbrachte, hörte er das Telefon nicht und musste auch nicht mit seinem Vater oder seinen Geschwistern oder seiner Mutter sprechen.

War das Leben nicht einfach perfekt?

Wissen ist Macht, oder?

Wenn Tallie also wusste, dass ihr Vater sie in die Falle locken wollte, dass er hoffte, sie würde sich in Elias Antonides verlieben, musste sie doch nichts weiter tun, als ihm zu widerstehen.

Richtig?

Genau.

Jeden Abend, wenn sie aus der Firma nach Hause kam, fütterte sie Harvey, kochte ihr eigenes Abendessen und machte anschließend Pilates, um Stress abzubauen. Danach kehrte sie wieder in die Küche zurück, nahm Mehl, Zucker, Butter und Gewürze aus den Schränken und entspannte sich endlich wirklich.

Vielleicht, dachte sie, bin ich gar nicht gestresst, sondern frustriert.

Welche Frau wäre das nicht, wenn sie ihre Tage damit zubrachte, ein Prachtexemplar der männlichen Gattung anzusehen, es aber nicht anfassen dürfte?

Gut, Rosie hatte einen Freund, Lucy war verheiratet, Cara und Trina schwärmten für Boygroups. Niemand schien zu bemerken, dass Elias Antonides einen unglaublichen Sexappeal ausstrahlte.

Die Glücklichen.

Leider hatte Tallie es bemerkt. Ihr war aufgefallen, wie Elias die Brauen runzelte, wenn er tief in Gedanken versunken war. Grübchen erschienen auf seinen Wangen, wenn er lächelte. Immer wenn sie in den Meetings saß und eigentlich zuhören sollte, fielen ihr neue Details an ihm auf. Seine großen kräftigen Hände, an denen sich Schwielen befanden, die kein Mann besitzen sollte, der den ganzen Tag nur einen Stift hielt.

Sie bemerkte die Muskeln, die sich unter seinem Hemd abzeichneten – auch die hatte er bestimmt nicht durch das Halten eines Kulis bekommen.

Und ständig forderte er sie heraus. Immer wieder starrte er sie an, als würde er nichts sehnlicher wünschen, als dass sie verschwände. Dann stellte er ihr eine pointierte Frage oder wartete, bis Paul einen besonders langweiligen Fakt erklärt hatte und fragte dann: „Was halten Sie davon, Miss Savas?“

Nachdem sie beim ersten Mal heftig errötet und sich irgendeine Antwort aus den Fingern gesogen hatte, die glücklicherweise halbwegs passte, schwor sie sich, dass er sie nicht noch einmal so überfallen würde.

Jetzt erschien es ihr fast wie ein Spiel … ihn heimlich zu beobachten, auf seine Fragen zu lauern und diese so klug sie konnte zu beantworten.

Nach einem Meeting kam sie sich vor, als habe sie einen intellektuellen Boxkampf mit Elias absolviert. Er brachte ihr Adrenalin zum Fließen.

Und das war sogar noch beängstigender.

Bislang war Brian der Einzige gewesen, der diese Gefühle in ihr ausgelöst hatte.

Nur dass Elias ganz anders als Brian war!

Er war attraktiv – viel attraktiver als der sommersprossige Brian. Er war arrogant – Brian nicht. Außerdem war Elias die Wahl ihres Vaters, nicht die ihre. Und wenn er sie zum Boxkampf aufforderte, dann weil er für die nächsten zwei Jahre mit ihr festsaß.

Nicht gerade eine ideale Situation.

Zudem irritierte sie nicht nur Elias äußerliche Erscheinung, sondern auch sein scharfer Verstand. Beides lenkte sie von der Arbeit ab. Und das hatte nicht einmal Brian geschafft.

Sie ertappte sich dabei, dass sie sich vorstellte, wie er ohne seine Hemden und die Khakihosen aussah. Sie fragte sich, wie er wohl nackt aussah.

Also backte sie. Und ging mit Martin aus.

Von Martin fantasierte sie nie.

Er sah nicht schlecht aus, hatte ein freundliches Lächeln, wenn man es ihm entlocken konnte und schöne haselnussbraune Augen. Sie mochte Augen. Aber war er in ihren Gedanken jemals nackt?

Nein. Nie.

Das Wochenende verbrachte sie damit, Elias’ ’Hausaufgaben’ durchzuarbeiten, wurde aber immer wieder von dem Bild vor ihrem geistigen Auge abgelenkt, wie Elias Giulias Baby im Arm gehalten hatte.

Giulia hatte den Kleinen mit ins Büro gebracht, und die Frauen hatten ihn abwechselnd halten dürfen. Trina war gerade an der Reihe gewesen, als Elias den Kopf aus seinem Büro streckte und sarkastisch gefragt hatte, seit wann sich die Firma in eine Kindertagesstätte verwandelt und wann Trina endlich mit dem Abtippen der Unterlagen fertig sei, die er ihr heute Morgen gegeben hatte.

Tallie wäre um eine ähnlich sarkastische Antwort nicht verlegen gewesen, aber Trina war in ihrer Hast, das Richtige zu tun, etwas noch viel Besseres eingefallen.

„Oh, klar, sofort“, meinte sie, drückte Elias das Baby in die Arme und war aus dem Zimmer gerauscht.

Tallie war sich nicht sicher, wer entsetzter aussah, Elias oder das Baby. Sie glaubte, er würde Giacomo gleich an seine Mutter weitergeben. Aber das tat er nicht.

Nach einem Moment bettete er den Kleinen in eine behaglichere Position, und die beiden sahen sich ernst an.

Und dann lächelte er.

Elias, nicht das Baby.

Es war absolut faszinierend. Wenn sie jetzt die Augen schloss, konnte sie dieses Lächeln immer noch sehen. In ihm lag keine Ungeduld, keine Verwirrung. Keines der Gefühle, mit denen er sie immer anschaute.

Einem gut aussehenden Mann zu widerstehen, war eine Sache. Schwieriger wurde es, diese Anziehungskraft zu ignorieren, wenn man ihn mit einem Baby auf dem Arm sah.

Nur deshalb hatte sie Ja gesagt, als Martin sie zu einem unglaublich langweiligen Vortrag über den globalen Klimawandel eingeladen hatte.

Seine Mutter hatte aufgehört, ihn auf immer neue Frauen anzusprechen. Zunächst war er erleichtert, doch dann hatte er den wahren Grund dahinter erkannt.

Sie brauchte keine anständige Ehefrau mehr für ihn zu finden, weil sie glaubte, sein Vater habe dies bereits erledigt.

Ihm blieb nur noch ein Ausweg. Er musste selbst eine Freundin finden.

Nicht, um sie zu heiraten. Aber um mit ihr auszugehen, zu flirten, Spaß zu haben und mit ihr zu schlafen.

Deshalb ging er am Montag nach der Arbeit nicht in den zweiten Stock hinauf, um noch ein paar Wände einzureißen, sondern in eine Bar namens Casey’s einige Blocks vom Büro entfernt. Er bestellte ein Bier und beobachtete die ohne Begleiter anwesenden Frauen.

Der Lärm war furchtbar, die Frauen einfältig. Und keine von ihnen besaß Haar, durch das er gerne mit den Fingern gestreift wäre. Also trank er sein Bier aus, ging zurück und schlug noch eine Wand ein.

Dienstag versuchte er es in einem Jazzclub. Er mochte Jazz und glaubte, hier auf Gleichgesinnte zu treffen. An die Frau aus dem Büro, die Jazzmusik liebte, aber mit Martin in die Oper ging, wollte er nicht denken.

Ein Mädchen namens Abigail flirtete mit ihm, und er ließ sich darauf ein. Er hörte ihr zu, wie sie sich über ihre verrückten Mitbewohner und ihre nervige Mutter beschwerte, und fragte sich, ob Tallie Jazz hörte, wenn sie backte. Abigail gab ihm ihre Telefonnummer, die er, wie er später entdeckte, im Club vergaß. Es kümmerte ihn nicht.

Am Mittwoch besuchte er das Fitnessstudio. Normalerweise spielte er dort Basketball. Aber in seinem Team gab es keine Frauen. Also spielte er Squash mit einer Französischlehrerin, die Clarice hieß.

Es war ein hartes Match, und sie sah verschwitzt und süß aus. Elias lud sie zum Essen ein.

Sie schüttelte den Kopf, klimperte kokett mit den Wimpern und schnurrte stattdessen: „Lass uns lieber zu mir gehen.“

Der Himmel allein mochte wissen, was in ihrer Wohnung passiert wäre – wenn sie dort angekommen wären.

Doch als sie das Studio verließen, klingelte Elias’ Handy. Seine Mutter. „Ich muss den Anruf annehmen“, sagte er. Und während er sprach, spürte er, wie Clarice sich von ihm entfernte. Als er auflegte, fiel ihr ein, dass sie just heute Abend einer älteren Nachbarin versprochen hatte, mit ihr Karten zu spielen.

Elias verstand den Hinweis. „Vielleicht ein anderes Mal?“

„Natürlich“, stimmte Clarice vage zu.

Aber nicht am Donnerstag. Denn diesen Tag verbrachte er mit Paul und Tallie in Corbetts Fabrik. Er stellte Frage um Frage, Paul sah sich die Bücher an, und Tallie schlenderte umher und plauderte lächelnd mit den Angestellten.

Sie hatte sternförmige Plätzchen mitgebracht, die nach Zimt dufteten. Kurze Zeit später tauschte sie sich mit den Mitarbeitern über Rezepte aus.

„Das ist die Präsidentin?“, sagte Corbett zweifelnd. Allerdings schien er Tallies Figur ein wenig mehr zu bewundern, als Elias für notwendig hielt.

„Ist sie“, entgegnete er scharf.

„Keine Ahnung, wie du in ihrer Nähe ans Geschäft denken kannst“, erklärte Corbett offen. „Oder wie es dir gelingt, deine Hände von ihr fernzuhalten.“

Das war eine dieser vollkommen politisch unkorrekten Aussagen, die heutzutage niemand mehr äußern sollte. Dummerweise entsprach sie darüber hinaus der Wahrheit.

Tallie Savas war eine Versuchung.

Und es wurde jeden Tag schlimmer.

4. KAPITEL

Sie war nicht da.

Freitagmorgen, zehn nach zehn. Zehn Minuten nachdem er, Paul, Dyson und Miss Präsident sich in einem Meeting befinden sollten.

Nicht einmal angerufen hatte sie.

Zeugte das etwa von Verantwortungsbewusstsein?

Natürlich, dachte Elias, sollte ich nicht überrascht sein. Hatte er sie nicht von Anfang an für ein verwöhntes Kind gehalten, dass nur mal Präsidentin spielen wollte?

Allerdings hatte ihre Arbeit in den letzten drei Wochen ihn sich fragen lassen, ob er nicht vielleicht unrecht mit seiner Einschätzung gehabt hatte. Sie schien ihren Job wirklich ernst zu nehmen.

Die Stimmung in der Firma wirkte gedrückter als sonst. Kein Zimtduft lag in der Luft, kein fröhliches Geplauder war zu hören. Aber alle Mitarbeiter steckten den Kopf in sein Büro und fragten, wo Tallie war.

„Woher soll ich das wissen?“, antwortete Elias zunehmend gereizter.

Er wusste nicht, wo sie war, und es kümmerte ihn auch nicht – redete er sich zumindest ein. Unruhig griff er nach einem Kugelschreiber, lehnte sich auf seinem Sessel zurück und atmete tief ein. Zum ersten Mal, seit sein Vater ihn mit den schrecklichen Neuigkeiten überfahren hatte, fühlte er sich leichter.

Leerer.

Leerer?

Unsinn. Er hatte sich nur an das Stimmengewirr gewöhnt, das Tallie normalerweise umgab. In null komma nix würde er sich auch wieder an die Stille gewöhnen. Das war alles.

Sein Telefon klingelte. Er wünschte, es wäre sein Vater, damit er ihm sagen konnte, dass die neue Präsidentin von Antonides Marine heute nicht aufgetaucht war.

Stattdessen drang eine schroffe männliche Stimme an sein Ohr. „Savas hier.“

Elias richtete sich auf. „Ja, Mr. Savas“, sagte er. „Was kann ich für Sie tun?“

„Holen Sie meine Tochter an den Apparat.“

„Wie bitte?“, fragte er stirnrunzelnd.

„Ich möchte mit Thalia sprechen.“ Pause. „Sie geht nicht an ihr Mobiltelefon, weil sie weiß, dass ich sie anrufe.“

„Warum?“, musste er einfach fragen.

„Vermutlich weil Sie es ihr gesagt haben“, erwiderte Socrates.

Weil ich es ihr gesagt habe? Elias Gedanken rasten.

„Was halten Sie von meiner Tochter?“, fragte Socrates unvermittelt.

„Sie ist … sehr intelligent.“

„Selbstverständlich ist sie das. Sie ist eine Savas! Und hübsch dazu, finden Sie nicht?“

„Sehr hübsch“, stimmte Elias so leidenschaftslos zu, wie er konnte. Sie war atemberaubend attraktiv, aber das würde er dem alten Mann nicht auf die Nase binden.

„Genau das sage ich ihr auch immer. Warum will sie dann unbedingt Karriere machen? Sie ist eine Frau! Und zwar hundertprozentig. Eine Frau wie meine Thalia sollte heiraten und Kinder bekommen, nicht wahr?“

Vor Elias’ geistigem Auge flackerten Bilder von kleinen Martins auf Tallies Schoß auf. Er umklammerte den Hörer fester. „Wenn sie das möchte. Wer weiß?“, entgegnete er beiläufig.

„Ich weiß es!“

Unvermittelt empfand Elias Mitleid mit Tallie. Ihr Vater war ebenso schlimm wie seine Mutter.

„Und wenn sie verheiratet ist, brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen, wo sie steckt“, fuhr Socrates fort. „Das ist dann das Problem ihres Ehemannes. Sagen Sie ihr, sie soll mich anrufen.“ Das war ein Befehl, keine Bitte.

Elias konnte sich genau vorstellen, wie Tallie darauf reagieren würde. Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln. Er ging ins Vorzimmer, froh, endlich einen Grund zu haben, um herauszufinden, wo zur Hölle sie war.

„Rufen Sie Miss Savas an“, sagte er zu Rosie. „Sie hat sich verspätet.“

Ungeduldig tappte er mit dem Fuß auf, während seine Assistentin es sowohl bei Tallie zu Hause, als auch auf ihrem Handy versuchte. Offensichtlich nahm sie auch seine Anrufe nicht entgegen.

„Glaubst du, sie ist krank?“, fragte Paul.

„Dann sollte sie zu Hause im Bett sein, oder? Ich bin sicher, sie hat einfach bessere Dinge zu tun.“

„Was denn zum Beispiel?“ Paul sah ihn verwirrt an.

„Woher soll ich das wissen? Wir warten nicht länger.“ Elias wandte sich um und marschierte ins Besprechungszimmer.

Gehorsam, aber durchaus besorgt, folgten Paul und Dyson ihm.

Das Meeting verlief wie alle Meetings vor Tallies Zeit. Einer von ihnen, in diesem Fall Dyson, spielte den uninteressierten Zuschauer, der weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren hatte. So waren sie schon oft vorgegangen, die Strategie hätte ihnen längst zur zweiten Natur werden sollen. Aber irgendwie hatten sie sich daran gewöhnt, dass Tallie fragte: „Ja, aber was ist mit den Kindern?“

Jetzt gab es immer wieder Pausen, in denen Elias spürte, wie sie auf ihren Beitrag warteten.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.

Alle drei blickten auf.

Etwas Silbernes erschien auf der Schwelle. Es folgte ein dumpfer Schlag, ein Rums, dann eine verärgerte Frauenstimme. Rosie öffnete weit die Tür und sagte: „Um Himmels willen, lass mich das machen! Was machst du eigentlich hier?“

„Ich arbeite hier!“, ließ Tallie sich vernehmen, trotzig und entschlossen und …

Was zum Teufel?

Verwundert starrten sie zur Tür, in der jetzt Tallie sichtbar wurde. Auf Krücken gestützt kam sie ins Zimmer gehumpelt. Die drei Männer sprangen auf.

Paul und Dyson überschlugen sich, ihr einen Stuhl anzubieten, während Elias sich damit zufriedengab zu fragen: „Was um alles in der Welt ist passiert?“

Sie sah furchtbar aus. Die Kleidung hatte Risse, ihre Haare waren zerzaust und über ihre Wange zog sich ein Kratzer. Ihr linkes Bein steckte bis zum Knie in einem lilafarbenen Gipsverband.

Tallie lächelte kläglich. „Ich bin von einem Auto angefahren worden.“

Elias starrte sie an. „Was?“

„Nicht wirklich angefahren. Eher gestreift. Ich habe gerade die Straße überquert, und ein Fahrer hat gewendet und …“, sie zuckte die Schultern, „… er hat mich wohl auf dem Zebrastreifen übersehen.“

„Und was zum Teufel tun Sie hier? Warum sind Sie nicht im Krankenhaus?“

„Schreien Sie nicht.“ Tallie war zusammengezuckt. „Und hören Sie auf, hin und her zu laufen. Davon bekomme ich Kopfschmerzen.“

Elias blieb stehen und wirbelte herum. „Haben Sie eine Gehirnerschütterung? Ihre Wange ist verletzt“, fiel ihm erst jetzt auf. Rasch beugte er sich über sie, um sich die Wunde genauer anzusehen. Ihre großen braunen Augen waren nur wenige Zentimeter von seinen entfernt. Abrupt richtete er sich wieder auf. „Warum sind Sie nicht im Krankenhaus?“, wiederholte er.

Es gelang ihm gerade noch, seinen Tonfall zu mäßigen. Am liebsten hätte er jemand erwürgt, am allerliebsten diesen Autofahrer.

„Weil“, entgegnete Tallie gelassen, „man heutzutage die Menschen nicht mehr im Krankenhaus behält. Man verarztet sie und schickt sie nach Hause. Und …“, sie hob die Hand, um seiner nächsten Frage zuvorzukommen, „… weil es keinen Grund gibt, zu Hause zu sitzen, wenn ich genauso gut hier sein kann. Ich habe mir nur den Knöchel gebrochen. Dazu ein paar Schnittwunden und blaue Flecken.“ Sie veränderte ihre Sitzposition und zuckte zusammen, dann lächelte sie wieder. „Keine große Sache.“

Elias starrte sie an. Ebenso Paul und Dyson.

„Sie hätten tot sein können!“, schrie Elias.

„Ich weiß“, antwortete Tallie leise. Ein kleines Zittern lag in ihrer Stimme. „Aber ich lebe noch. Offensichtlich hat das Schicksal andere Pläne mit mir …“, sie grinste, „… zum Beispiel Ihnen das Leben zur Hölle zu machen?“

Elias stieß ein Schnauben aus und fuhr sich durch die Haare. Er ließ die Fingerknöchel knacken, griff nach einem Stift und begann wieder, auf und ab zu laufen. Wie konnte sie erwarten, dass er still stehen blieb? „Mit Ihnen komme ich schon zurecht“, murmelte er. Oder zumindest würde er das, wenn sie aufhörte, so dumme Dinge zu tun oder, wenn sie nach Hause ging und sich ausruhte oder die Nägel feilte oder ihre verdammten Plätzchen backte …

Der Bleistift zerbrach in der Mitte.

„Mir geht es gut, alles in Ordnung.“ Nun hörte sie sich an, als würde sie ihn beruhigen! „Ich habe mir schon früher den Knöchel gebrochen. Das ist jetzt das dritte Mal. Schlimm ist nur“, meinte sie traurig, „dass meine Zimtschnecken im Rinnstein gelandet sind.“

„Das ist das Schlimme, ja?“ Elias konnte es nicht fassen. „Niemand braucht diese verfluchten Zimtschnecken!“

„Ich wette, sie waren fantastisch“, sagte Dyson grinsend.

Tallie ignorierte Elias und erwiderte Dysons Lächeln. „Ich backe neue“, versprach sie.

„Großartig.“

„Das wäre toll“, stimmte auch Paul begeistert ein.

Sahen diese Idioten denn nicht, dass ihre Hände verletzt waren? Den Gipsverband um ihr Bein? Elias knirschte mit den Zähnen. „Sie hat sich den Knöchel gebrochen. Sie wird keine Zimtschnecken backen!“

„Ich meinte natürlich, wenn es ihr besser geht“, beeilte Paul sich zu versichern.

Tallie nickte zustimmend. „Können wir jetzt mit der Besprechung fortfahren? Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ich wurde …“

„Von einem Auto angefahren“, fiel Elias ihr ins Wort. „Haben Sie Ihren Vater angerufen?“

„Selbstverständlich nicht!“ Tallie zog ein Gesicht, als würde ihr das im Traum nicht einfallen.

„Er weiß es nicht?“

„Niemand weiß es. Außer den Leuten im Krankenhaus und euch. Mein Vater würde sich nur unnötig aufregen.“

„Das hat er bereits. Er hat heute Morgen angerufen.“

Die wenige Farbe, die noch auf ihren Wangen lag, verschwand. „Er hat hier angerufen?“

„Er hat Sie gesucht. Hat sich Sorgen gemacht. Er meinte, Sie gehen ihm aus dem Weg. Aber Sie müssen ihn nicht zurückrufen, wenn Sie nicht wollen. Ich habe mit ihm gesprochen.“

„Wirklich?“, fragte sie verwundert.

„Ja, kein Problem. Und jetzt gehen Sie nach Hause.“

„Auf keinen Fall. Ich bin hergekommen, damit wir unser Meeting abhalten können.“

Schulterzuckend wandte Elias sich an Paul. „Mach weiter. Wenn Miss Savas so uneinsichtig und stur sein will, ist das ganz allein ihre Sache.“

Paul schien etwas den Faden verloren zu haben. Verwirrt blätterte er in seinen Unterlagen. Elias half ihm auf die Sprünge. „Die wasserfeste Kleidung.“

„Ach, richtig.“ Er straffte die Schultern und nahm seinen Bericht wieder auf.

Elias hörte nicht zu.

Diese störrische Frau! Er konnte den Blick einfach nicht von ihr abwenden. Er wusste, er sollte Paul zuhören. Was er sagte, war wichtig.

Aber er konnte nicht. Er beobachtete Tallie, während Pauls Worte an ihm abglitten.

Aufrecht saß sie auf ihrem Stuhl, einen Stift in der Hand, Notizblock auf dem Schoß, den eingegipsten Fuß vor sich ausgestreckt. Sie lauschte aufmerksam.

Nur hin und wieder sah er, wie sie das Gesicht verzog und auf dem Stuhl herumrutschte, um eine bequemere Position zu finden. Der einzig bequeme Ort für sie war ihr Bett. Sie musste Schmerzen haben. Eine vernünftige Frau wäre nach dem Krankenhaus sofort nach Hause gefahren.

Er wartete darauf, dass sie lächelte und das Ende des Meetings verkündete. Was sie nicht tat. Sie blieb still sitzen und atmete vorsichtig ein und aus.

Was wollte sie damit beweisen?

Nun, eigentlich wusste er das längst. Sie wollte sich ihrem Vater beweisen, der glaubte, sie gehöre ganz und gar nicht in die Geschäftswelt.

Und auch ihm, Elias, wollte sie etwas beweisen. In den letzten Wochen hatte er ihr das Leben nicht leicht gemacht. Immer wieder hatte er sie herausgefordert und provoziert.

Stets hatte sie mit Entschlossenheit reagiert – und ihren Job gemacht.

Es war nicht nötig, dass sie mit bleichem Gesicht hier saß und sich unauffällig kleine Schweißtröpfchen von der Oberlippe tupfte.

Abrupt stand Elias auf. „Okay, das reicht für heute. Ich muss erst die neuen Fakten überdenken. Wir machen am Montag weiter“, sagte er zu dem überraschten Paul und wandte sich dann an Tallie. „Kommen Sie, Präsidentin, wir gehen jetzt nach Hause.“

Tallie brauchte einen Moment, um zu reagieren. „Was? Wovon sprechen Sie?“

„Zeit, den Laden zu schließen.“ Während er sprach, ließ er die Jalousien herunter und öffnete die Tür zum Vorzimmer. „Ende des Meetings. Es ist Freitag. Freitags machen wir im Sommer früher Schluss.“

„Seit wann?“

„Seit jetzt“, entgegnete er in einem Tonfall, der keine Widerrede duldete.

Dyson grinste breit und rieb sich die Hände. „Richtig. Beinahe hätte ich es vergessen. Ich bin weg.“

„Aber ich bin die Präsidentin“, hielt Tallie dagegen.

„Und das können Sie von zu Hause aus ebenso gut sein.“ Elias trat neben ihren Stuhl und hielt ihr seine Hand entgegen. „Gehen wir.“

Sie betrachtete seine Hand, ergriff sie aber nicht.

„Tallie.“ Ungeduldig tappte er mit dem Fuß auf.

Seufzend nahm sie seine Hand und ließ sich aufhelfen. Doch als sie ihm ihre Hand wieder entziehen wollte, hielt er sie einfach fest. Dann reichte er ihr die Krücken und hielt die Tür für sie auf.

„Ich gehe nirgendwohin. Ich bin mit Martin zum Lunch verabredet.“

„Nichts da.“

Tallie versuchte, sich auf ihre Krücken gestützt, an ihm vorbeizumogeln. Allerdings schienen die Nachwirkungen ihres Unfalls endlich ihren Tribut zu fordern. Sie schwankte und wäre gefallen, wenn Elias sie nicht aufgefangen hätte.

Wow.

Tallie hart-wie-Stahl Savas war unglaublich weich. Kurvig. Weiblich. Die Worte ihres Vaters hallten durch seinen Kopf. Hundertprozentig eine Frau.

Oh ja.

„Ganz ruhig“, sagte er und schob sie ein Stückchen von sich fort, damit er nicht länger den wundervollen Zitrusduft ihres Haarshampoos einatmen musste.

„Ich bin ruhig.“

„Sicher.“ Vorsichtig steuerte er sie durch das Vorzimmer. Rosie und die Sekretärinnen sahen ihnen neugierig zu.

„Was schaut ihr denn? Habt ihr keine Arbeit zu erledigen?“

„Sie wollen alle gerade gehen“, entgegnete Tallie schelmisch. „Oder nicht?“

„Genau“, stimmte Dyson zu.

Niemand bewegte sich. Alle beobachteten, wie Elias Tallie stolpernd durch das Büro geleitete. So würde das nie funktionieren.

„Hier“, sagte Elias zu Paul. Mit einer geschmeidigen Bewegung nahm er Tallie die Krücken ab und übergab sie Paul. Dann hob er die Präsidentin von Antonides Marine in seine Arme und steuerte auf die Tür zu.

„Was soll denn das?“, fragte Tallie wütend.

Elias öffnete die Tür mit einem Fußtritt. „Ich bringe Sie nach Hause.“

„Martin …“

„Der kann jemand anderen langweilen.“

Tallie wand sich in seinen Armen und verschaffte ihm so ein paar sehr interessante taktile Eindrücke. Der Aufzug hielt in ihrer Etage. Elias betrat die Kabine, gefolgt von Paul mit den Krücken. Als der Aufzug wieder anhielt, sprintete Paul nach draußen. „Ich halte ein Taxi an“, rief er ihnen noch zu.

In diesem Moment betrat Martin de Boer das Gebäude. „Tallie!“, sagte er schockiert.

„Oh, Martin! Hi. Ich habe mir den Knöchel gebrochen. Was unseren Lunch heute angeht …“

„Sie wird es nicht schaffen“, sagte Elias und ging an Martin vorbei nach draußen.

„Moment!“ Tallie stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen und verrenkte sich fast den Hals, um sich umzusehen. „Ich muss mit Martin sprechen.“

„Rufen Sie ihn an.“

„Wenn du möchtest“, rief sie über Elias’ Schulter hinweg, „können wir bei mir essen.“

Elias gab de Boer gar nicht erst die Chance zu einer Antwort auf diesen idiotischen Vorschlag. Er eilte auf den Bürgersteig zu, wo Paul gerade ein Taxi herangewunken hatte.

Wie ein kleines Hündchen folgte de Boer ihnen und tätschelte unbehaglich Tallies Arm. „Nun, vielen Dank, aber … hm, ich glaube nicht.“ Er schenkte ihr sein nichtssagendes Lächeln. „In Anbetracht der Umstände sollten wir es auf einen anderen Termin verschieben. Geht es ihr wirklich gut?“, fragte er Elias zweifelnd.

„Alles in Ordnung“, bestätigte Tallie, während Elias sie auf den Rücksitz des Taxis gleiten ließ.

„Es geht ihr gut“, wiederholte Elias trocken, nahm Paul die Krücken ab und setzte sich neben Tallie.

„Es scheint, als sei alles unter Kontrolle. Ich rufe dich …“

Aber da hatte Elias schon die Tür geschlossen.

„Wohin?“, fragte der Fahrer.

Elias wartete, dass Tallie ihre Adresse nannte.

„Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, Leute“, murrte der Taxifahrer und verdrehte die Augen.

Seufzend sagte Tallie ihre Anschrift, und der Wagen fuhr los.

Tallies Apartment lag nur wenige Blocks entfernt, wie Elias überrascht feststellen musste. Er hatte sie der quirligen hippen Upper West Side zugeordnet.

Der Wagen hielt vor einem vierstöckigen Backsteingebäude. Wie so viele Häuser neben dem East River war auch dieses ein umgebautes Lagerhaus. Im Erdgeschoss befanden sich ein trendiger Secondhandladen, ein Musikgeschäft und eine Pizzeria, darüber drei Stockwerke mit Wohnungen und weiteren Büros. Elias bezahlte den Taxifahrer, stieg aus und wollte dann nach Tallies Krücken greifen. Aber sie war schneller.

„Ich komme schon zurecht“, sagte sie mit gereizter Miene.

„Sie werden noch hinfallen.“ Tallie war bleich wie ein Gespenst. „Stellen Sie sich nicht so an. Geben Sie mir die Krücken und … Autsch!“

Damit hatte er nicht gerechnet. Er war sich nicht sicher, ob sie es absichtlich getan hatte, aber der Kontakt zwischen Schienbein und Krücke erwies sich als äußerst schmerzhaft.

„Entschuldigung.“ Tallie errötete. „Alles in Ordnung?“

„Nein, verdammt noch mal. Sie kämpfen mit schmutzigen Tricks, Miss Präsident.“

Sie besaß den Anstand, eine beschämte Miene aufzusetzen. Doch dann hob sie das Kinn und sagte trotzig: „Wenn Sie sich mir nicht in den Weg gestellt hätten …“

Er humpelte beiseite. „Schön. Dann steigen Sie eben alleine aus.“ Er sah ihr zu, wie sie sich langsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Wagen wand. Als sie neben ihm stand, schlug er die Wagentür zu, und das Taxi brauste davon.

„Jetzt müssen Sie ein neues Taxi anhalten“, murmelte sie.

Elias reagierte nicht. Er marschierte auf die Eingangstür des Gebäudes zu, wandte sich zu ihr um und streckte dann wortlos die Hand aus.

Einen Moment schien sie mit sich zu ringen, dann traf sie eine Entscheidung. Mit einem leidenden Seufzen gab sie ihm den Schlüssel.

Das Foyer bestach durch seine Funktionalität. Backsteine und Stahl, kühl und sauber. Eine Tür führte ins Treppenhaus, am anderen Ende befand sich der Aufzug.

„Okay, jetzt haben Sie mich nach Hause gebracht. Mission erfüllt. Vielen Dank. Wir sehen uns am Montag.“

„Keine Chance.“ Ohne auf sie zu warten, ging Elias auf den Aufzug zu.

Tallie sah ihm nach. „Sie sind wirklich unerträglich, Antonides.“

„Das sagt man mir häufiger.“

Sehnsüchtig blickte sie zur Treppe hinüber. Erst dreißig Sekunden später humpelte sie zu ihm hinüber und betrat, ihm einen verdrießlichen Blick zuwerfend, die Liftkabine.

Tallie drückte den mit der Ziffer drei beschrifteten Knopf.

Der Lift kam zum Stehen, die Türen glitten auf. Sie traten auf einen Flur hinaus, dessen Wände in einem hellen fröhlichen Rot gestrichen waren. Vor ihnen gab es drei Türen. Mit einem Nicken deutete Tallie auf die lilafarbene ihnen gegenüber.

„Das ist meine Wohnung“, sagte sie und beugte sich dem Unvermeidlichen. Sie wartete, bis Elias die Tür aufgeschlossen hatte. Sie betrat ihr Apartment, drehte sich um und schenkte ihm ein wirkliches, wenn auch mattes Lächeln. „Jetzt bin ich aber wirklich zu Hause und nicht in Ohnmacht gefallen. Auch wenn es nicht nötig war, dass Sie mich den ganzen Weg begleitet haben, sollte ich wohl dankbar sein.“

„Ich denke schon“, meinte er. „Allerdings lasse ich Sie jetzt auf keinen Fall alleine, Miss Präsident.“

5. KAPITEL

Was sollte sie nur tun? Sich ihm in den Weg stellen und ihn aufhalten?

Für heute hatte Tallie sich anderen oft genug in den Weg gestellt, auch wenn das nicht unbedingt ihre Idee gewesen war.

Nachdem sie durch die Straßen von New York getragen – getragen! – worden war und zu allem Überfluss auch noch Martin begegnen musste – der von Terroristen angeschossen worden war und davon wie von einem Spaziergang durch einen Park berichtet hatte –, glaubte Tallie nicht, eine weitere Demütigung ertragen zu können.

Also betrachtete sie Elias’ geraden Rücken, als er an ihr vorbei in das Apartment trat, und tat das Einzige, wozu sie noch im Stande war: Sie streckte ihm die Zunge heraus.

Dann machte sie auf ihren Krücken eine vorsichtige Drehung. Schon häufiger war sie auf Krücken angewiesen gewesen. Sie wusste, die Geschicklichkeit würde rasch wiederkommen, aber im Moment fühlte sie sich einfach unsicher auf den Beinen. Ihre Arme, nicht daran gewöhnt, ihr Gewicht zu tragen, waren müde. Die Wunde an der Wange und die blauen Flecken schmerzten. Und ihr Knöchel, den der Arzt ihr empfohlen hatte zu kühlen und auszuruhen, pochte heiß und unangenehm.

Der Arzt hatte ihr einige Schmerztabletten mitgegeben, die sie sich geweigert hatte zu nehmen. Während des Meetings hatte sie bei klarem Verstand sein wollen. Jetzt schien ihr Verstand entbehrlich zu sein. Wo war das Döschen mit den Tabletten?

„Wo ist meine Aktentasche?“ Tallie konnte ihre Tasche nirgends entdecken.

„Oh, bitte! Sie werden jetzt nicht arbeiten.“ Elias hatte aufgehört, sich in ihrem kleinen Apartment umzuschauen und richtete seinen Blick direkt auf Tallie. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, was ihm ein sehr maskulines und verwegenes Aussehen verlieh.

Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein sexy Revolverheld!

Sie atmete tief ein. „Ich wollte nicht arbeiten“, erklärte sie mit aller Geduld, die sie aufbringen konnte. „Ich brauche nur meine Aktentasche, weil sich darin meine Medikamente befinden.“

„Warum haben Sie das nicht früher gesagt? Die Tasche ist im Büro. Ich rufe Rosie an. Sie kann sie herbringen.“ Elias zückte sein Handy und wählte. Unruhig mit dem Fuß auftappend wartete er. Offensichtlich meldete sich niemand.

„Wo zur Hölle ist sie?“, fragte er wütend.

„Ich glaube“, entgegnete Tallie mit einem schwachen Lächeln, „dass im Sommer freitags alle den Nachmittag freihaben.“

„Verdammt!“ Elias fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, dann ging er mit großen Schritten auf Tallie zu, um sich bedrohlich vor ihr aufzubauen.

Er war gar nicht so viel größer als sie, zehn Zentimeter vielleicht, aber die reichten aus, um tatsächlich bedrohlich zu wirken. Sie fragte sich, ob er Unterricht im bedrohlich Wirken genommen hatte? Gab es Kurse dafür? Wo?

Oh Gott, sie verlor den Verstand. Sie musste sich dringend hinlegen und ihre Schmerztabletten nehmen.

„Ich hole die Medikamente“, sagte Elias in diesem Moment. „Sie setzen sich hin.“

„Sehr gerne.“ Sehnsüchtig blickte Tallie zu dem Sofa und dem Sessel auf der anderen Seite des Zimmers.

Ihr Apartment war hell und luftig – und nicht größer als eine Postkarte. Normalerweise. Nun schien das Sofa so weit entfernt zu sein wie der Mond. Der Sessel wie eine andere Galaxie.

Und als hätte er ihre Gedanken gelesen, hob Elias Antonides sie zum zweiten Mal an diesem Tag in seine Arme. Schlimmer war jedoch, dass sie diesmal Dankbarkeit empfand. Für die muskulöse Stärke, an die sie sich schmiegte, für die kräftige Brust, an die sie sich kuschelte, für das markante Kinn, an …

Augenblick mal! Eine Sekunde. Ein markantes Kinn hatte nichts damit zu tun, dass Elias sie zum Sofa trug.

Selbstverständlich wusste sie das. Sie sprach im Delirium. Wegen der Schmerzen. Oder … so ähnlich.

Trotzdem spürte sie seinen Herzschlag überdeutlich, während er sie trug. Sie beobachtete, wie sich sein Adamsapfel bewegte, als er schluckte. Und sie bemerkte eine kleine Verletzung, wo er sich beim Rasieren geschnitten haben musste. Darunter, an der Seite seines Kinns, befand sich eine ältere Narbe.

Vorsichtig ließ er sie auf das Sofa gleiten. Sein Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Und, Narbe hin oder her, er war zweifellos der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte. Selbst mit ihrem schmerzumwölkten Gehirn konnte sie das erkennen. Ihr Körper kam zu derselben Erkenntnis. Ohne willentliches Zutun lehnte sie sich ihm entgegen.

Ihre Blicke trafen sich. Irgendetwas passierte zwischen ihnen. Oh, Hilfe!

Doch bevor sie einschätzen konnte, was genau geschehen war, hatte Elias sich schon wieder aufgerichtet und war hastig einen Schritt zurückgewichen.

„Ich hole Ihnen noch ein paar Kissen.“ Er sammelte die farbenfrohen Kissen ein und errichtete einen weichen Turm am Fußende des Sofas. Dann wartete er, dass sie ihren Fuß darauf bettete. Der Kissenstapel hätte ebenso gut der Mount Everest sein können.

Elias schien das im selben Moment zu bemerken wie sie. Behutsam hob er ihren eingegipsten Knöchel auf den Turm.

„Danke.“ Erleichtert atmete Tallie auf.

„Okay, ich fahre zurück ins Büro und hole Ihre Tabletten. Sie bleiben hier.“

Tallie sah ihn einfach nur an. „Als wenn ich zu etwas anderem in der Lage wäre.“

Er hätte die Medikamente mit einem Boten schicken sollen. Ein Taxi rufen und dem Fahrer auftragen, Tallie die Tabletten zu bringen. Das wäre auf jeden Fall klüger, als selbst zurückzukommen.

Es war schon schlimm genug, sich Fantasien über Tallie Savas hinzugeben, wenn sie ihm im Meeting gegenübersaß. Aber es war etwas ganz anderes zu wissen, wie weich und warm sie wirklich war.

Das Gefühl, ihren Körper in den Armen zu halten, als er sie zum Taxi trug, hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Und die kurze Strecke in ihrer Wohnung zum Sofa, die er sie nur getragen hatte, um sich selbst zu beweisen, wie resistent er gegen ihren Charme war, hatte ihm das genaue Gegenteil bewiesen.

Als er sie auf das Sofa hinunterließ, hatte er sich nur mit größter Mühe beherrschen können, sie nicht zu küssen oder sich neben sie zu legen. Musste ein Phänomen seiner Erinnerungen sein, versicherte er sich. In der Vergangenheit hatte er eine Frau nur auf ein Sofa oder Bett gesetzt, wenn er auch mit ihr schlafen wollte.

Und das war eine Richtung, die seine Gedanken definitiv nicht einschlagen sollten. Mit Tallie Savas schlafen? Sonst noch etwas?

Er würde ihr die Tabletten bringen und ihr viel Spaß damit wünschen. Dann würde er nach Hause fahren und – wie hieß sie noch? Denise? Patrice? – anrufen.

Clarice. Die Frau, die er im Fitnessstudio getroffen hatte.

Genau, er würde mit Clarice ausgehen. Und sich dann in ihre Wohnung einladen lassen. Diesmal würde er nicht ans Telefon gehen! Sie würden einen ungestörten Abend verbringen, und er könnte Tallie Savas’ weiche Kurven vergessen. Das schien ihm eine so gute Idee zu sein, dass er sie noch vom Büro aus anrief.

„Hier ist Elias“, sagte er. „Wie wäre es, wenn wir uns bei Casey’s treffen? Wir könnten einen oder zwei Drinks nehmen? Danach Dinner?“

„Klingt großartig“, schnurrte Clarice. „Ich freue mich.“

Und er freute sich auch. Es spielte keine Rolle, was nach dem Essen passierte, redete er sich auf dem Rückweg zu Tallies Apartment ein, solange es Tallie Savas’ große braune Augen, die sinnlichen Lippen und die weichen Brüste aus seinem Gedächtnis verbannte.

Tallie lag noch immer auf dem Sofa, ihr Kater Harvey schnurrte an ihrer Seite. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und die Nadeln aus ihren Haaren gezogen. Es fiel in grandiosen Wellen über ihre Schultern auf das helle Leder des Sofas. In einer Hand hielt sie ein Telefon.

Jeder Gedanke an Clarice war vergessen.

„Ja, Mom“, sagte Tallie gerade. Sie deutete begeistert auf die Tasche in Elias’ Hand. „Nein, Mom.“

Elias wusste, wie sie sich fühlte. Waren es eigentlich nur griechische Eltern, die jederzeit bereit waren, die Führung im Leben ihrer Kinder an sich zu reißen? Er schenkte ihr ein wissendes Lächeln.

Dann ging er auf der Suche nach einem Glas Wasser in die Küche. Auf der Arbeitsplatte stand ein Teller mit Blätterteiggebäck. An die kleinen süßen Teilchen konnte er sich nur allzu gut erinnern. Nur ihnen hatte er in der vergangenen Woche nicht widerstehen können. Selbst jetzt machte sich sein Magen mit einem Grummeln bemerkbar. Entschlossen ignorierte er die Köstlichkeiten, füllte ein Glas mit klarem Wasser und nahm eine Tablette aus dem Pillendöschen.

Tallie telefonierte immer noch. „Nein, Mom, du brauchst nicht herzukommen. Mach dir keine Sorgen. Es wird sich jemand um mich kümmern.“

Sie nahm das Glas von Elias entgegen und schluckte die Tablette. „Mom, ich muss jetzt Schluss machen. Ich rufe dich morgen wieder an.“ Sie legte auf. „Sie denkt, ich sei sieben“, murmelte sie.

„So sind Eltern nun mal.“

„Ich weiß. Aber ich werde mich nie daran gewöhnen. Danke, dass Sie mir meine Medizin gebracht haben.“

„Kein Problem. Trotzdem sollten Sie auf Ihre Mutter hören. Ruhen Sie sich aus. Es ist gut, dass Sie jemand Bescheid gesagt haben, der sich um Sie kümmern wird.“

„Ja, Daddy.“

„Übertreiben Sie es nicht“, warnte Elias. Er kam sich ganz und gar nicht väterlich vor und wünschte, sie würde aufhören, die Arme über den Kopf zu strecken. Die Bewegung betonte ihre Brüste.

Tallie rekelte sich auf dem Sofa, lehnte dann den Kopf gegen die Kissen und schloss die Augen. „Mmm. Ja.“

Was? Kein Protest?

Als sie die Lider wieder hob, lächelte sie. Die Wirkung der Schmerztabletten musste eingesetzt haben. So hatte sie ihn noch niemals zuvor angelächelt.

So verführerisch.

Abrupt steckte Elias die Hände in die Hosentaschen. „So“, sagte er brüsk, „kann ich Ihnen noch etwas bringen, bevor ich gehe?“

„Eine Pizza.“

Überrascht schaute er sie an. „Wie bitte?“

„Eine Pizza.“ Hoffnungsvoll hob Tallie den Blick und schenkte ihm ein weiteres Lächeln. „Ich bin am Verhungern. Zum Frühstück gab es eine halbe Grapefruit. Ich hatte vor, eine Zimtschnecke bei der Arbeit zu essen. Aber wir wissen ja, was mit denen passiert ist.“ Sie verzog das Gesicht. „Und dann haben Sie mich nicht zu meiner Lunchverabredung mit Martin gehen lassen. Gleich unten im Haus gibt es eine Pizzeria. Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, fügte sie zögernd hinzu. Nie zuvor hatte er sie zögern gehört. Ein Zeichen von Verletzlichkeit. Machte sie das absichtlich?

Elias fuhr sich mit der Hand über den Nacken. „Oh, na klar.“

Er könnte ihr eine Pizza bringen und sich immer noch später mit Clarice bei Casey’s treffen.

„Großartig! Was möchten Sie auf Ihre Pizza?“

„Ich?“

„Sie haben doch auch nicht zu Mittag gegessen“, erinnerte Tallie ihn. „Bestellen Sie, was Sie wollen. Sagen Sie einfach, sie sollen es auf meine Rechnung setzen.“

Tallie für seine Pizza bezahlen zu lassen, war wirklich das Letzte, was er wollte. Vermutlich konnte er ein oder zwei Stücke essen, während er darauf wartete, dass ihre Unterstützung eintrudelte.

„Bis gleich“, meinte er also und machte sich auf den Weg nach unten. Er brauchte dringend eine kurze Verschnaufpause, eine kleine Tallie-Pause.

Als er eine halbe Stunde später mit den Pizzakartons zurückkam, war Tallie eingeschlafen. Im Schlaf wirkte sie jünger und überraschend wehrlos. Elias hielt sich von ihr fern. Das war besser so. Doch dann öffnete sie die Augen und lächelte ihn an. Ihr Gesicht war gerötet, das Haar ein wenig zerzaust.

„Sie“, sagte sie und grinste verzückt, als sie die Pizza erblickte, „sind ein echter Prinz.“

„Und Sie stehen unter Medikamenteneinfluss“, entgegnete Elias. Er holte Teller aus der Küche und transportierte die Pizzakartons zu dem Couchtisch vor dem Sofa. Dann öffnete er die Schachtel.

Tallie beugte sich vor und atmete den warmen Duft ein. „Ich liebe Peperoni, und Sie sind sehr sexy.“

„Essen Sie Ihre Pizza“, befahl Elias mit finsterem Blick. Natürlich lag es nur an den Medikamenten, dass sie solche Dinge sagte. Morgen früh würde sie es bitter bereuen – falls sie sich überhaupt daran erinnerte.

Tallie lächelte … ein Lächeln, das seine Hormone in wilden Aufruhr versetzte.

Entschieden konzentrierte er sich auf sein eigenes Pizzastück. Er aß rasch, wischte dann seine Hände an einer Papierserviette ab und sah auf die Uhr. Es war kurz vor vier, er musste in seine Wohnung zurück, duschen und sich für die Verabredung mit Clarice umziehen.

Elias stand auf. „Ich muss jetzt gehen. Wann kommt Ihre Freundin?“

Tallie, die ein wenig eingedöst zu sein schien, öffnete die Augen und runzelte die Stirn. „Meine Freundin?“

„Sie haben Ihrer Mutter gesagt, dass jemand kommt und sich um Sie kümmert.“

„Ja. Sie. Sie haben mir Pizza gebracht.“

„Ich? Nein … Hören Sie, Sie brauchen Hilfe.“

„Sie sind doch da.“

„Ich kann nicht bleiben.“

„Oh.“ Das Funkeln in ihren Augen erlosch.

Elias kam sich vor, als habe er einem Kind den Lolli weggenommen. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Ich kann nicht.“

„Natürlich.“ Sie machte eine vage Handbewegung in Richtung Tür. „Dann auf Wiedersehen.“ Damit entließ sie ihn, als sei er vollkommen unwichtig, und widmete sich wieder ihrer Pizza.

Mehr Beweise, dass sie jetzt auf gar keinen Fall alleine sein sollte, brauchte er nicht.

„Ach verdammt.“ Elias marschierte in die Küche, zog sein Handy hervor und wählte Clarice’ Nummer. Als sie sich meldete, sagte er: „Ich schaffe es nicht. Mir ist etwas dazwischengekommen. Etwas Geschäftliches.“ Dies hier war geschäftlich. Immerhin war Tallie die Präsidentin der Firma!

Clarice schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Oh, mein Lieber, du arbeitest zu hart. Aber zumindest ist es diesmal nicht deine Mutter.“

Nein, Gott sei Dank, die war es nicht.

Aber dies hier könnte sich als weitaus schlimmer erweisen.

6. KAPITEL

Tallie träumte einen seltsamen Traum.

Sie schwamm, aber nicht mit der Leichtigkeit, die sie im Wachen stets besessen hatte. Nein, diesmal zog sie einen Anker hinter sich her und konnte sich kaum bewegen. Und obwohl sie im Wasser war, litt sie entsetzlichen Durst.

Sie schlug um sich, versuchte, Land zu erreichen, eine Oase, einen kühlen schattigen Platz an Land, um sich auszuruhen. Und Wasser. Wie sehr sehnte sie sich nach etwas zu trinken.

Und dann reichte ihr ausgerechnet Elias Antonides ein Glas.

Sie nahm es, trank rasch, nahm die Tabletten, die er ihr gab, ließ zu, dass er ihre verschwitzte Stirn trocknete, dass er ihre Kissen aufschüttelte, ließ ihn den lilafarbenen Anker um ihren Fuß umbetten, damit die Schmerzen verschwanden.

Es war erstaunlich, wie schnell sie verflogen.

Weil Elias da war.

„Kannst du zaubern?“, fragte sie.

„Wie bitte?“Verwirrt schaute er sie an. Das Hemd hing ihm aus der Hose, die Krawatte war fort. Um sein Kinn lag ein schwacher dunkler Bartschatten. In ihrem Traum sah er noch besser aus als im wirklichen Leben.

Auch war er viel netter als im wirklichen Leben. Entzückt lächelte sie ihn an. „Du musst ein Zauberer sein“, sagte sie. „Die Schmerzen sind weg.“

Einer seiner Mundwinkel zuckte. „Ich und meine kleinen weißen Pillen.“

Tallie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Tabletten, aber es gelang ihr nicht richtig. Weil sie immer noch träumte.

Dass Elias in ihrem Schlafzimmer war, träumte sie jetzt zum ersten Mal. Normalerweise befanden sie sich in ihren Träumen bei der Arbeit. Manchmal waren das ganz … na ja, interessante Träume.

„Nette Pillen“, murmelte sie.

„Offensichtlich.“ Elias’ Tonfall war trocken. Aber er lächelte. Sonst lächelte er nie. Er besaß ein wundervolles Lächeln. „Vielleicht möchtest du etwas dazu essen?“, schlug er vor. „Hast du Hunger?“

„Will nicht“, erklärte sie und runzelte die Stirn. Da waren vage Erinnerungen. Hatten Elias und sie nicht Pizza gegessen? Wahrscheinlich in einem anderen Traum. Sie war zu müde, um sich zu erinnern. Tallie schloss die Augen. Aber sie war hungrig.

„Blätterteig“, murmelte sie. Vielleicht konnte sie einfach träumen, dass sie aß. Das wäre schön.

„Hier.“ Die ruppige Stimme durchdrang den Nebel, der sich um ihre Gedanken gelegt hatte.

Tallie öffnete die Augen. Nein, doch nicht. Sie träumte immer noch, denn Elias war noch da. Tatsächlich stand er neben ihrem Bett und hielt einen Teller in den Händen.

Sie blinzelte verwirrt.

„Deine Blätterteigteilchen. Du hast gesagt, du willst welche.“

Was für ein Traum! Was für ein unglaublicher Traum! Nicht nur war ein verwegen und atemberaubend attraktiver Elias Antonides der Hauptdarsteller, nein, er brachte ihr auch noch Kuchen ans Bett!

Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante und reichte ihr ein kleines Stück. Tallie biss hinein. Himmlisch.

„Mmm.“ Sie schloss die Augen und leckte den Honig von ihren Lippen. Ein ersticktes Geräusch ließ sie die Lider wieder heben. Elias schaute sie mit seltsamer, fast verzweifelt wirkender Miene an.

„Oh“, sagte sie. „Du musst auch hungrig sein. Iss.“

„Tal…“ Weiter kam er nicht, denn sie hatte ihm bereits ein Gebäckstück in den Mund geschoben. Seine Lippen berührten ihre Finger. „Danke“, sagte er schließlich. Er klang sehr höflich und angespannt.

„Hör auf damit“, befahl sie ihm.

„Womit?“

„Dich so steif und korrekt zu verhalten. Das ist mein Traum, und darin sollst du dich nicht so benehmen.“

Auf seinem Gesicht erschien ein entsetzter Ausdruck, dann zuckte er die Schultern und lächelte. „Aha. Wie soll ich denn sein?“

„Nett“, bestimmte sie. „Nun, das warst du ja auch. Du hast mir etwas zu essen gebracht.“

Sie nahm das letzte Stück Blätterteig vom Teller, brach es in zwei Hälften und hielt ihm das eine auf Mundhöhe entgegen.

Nach einem kurzen Moment des Zögerns beugte Elias sich vor und aß das Stück. Und dieses Mal knabberte er nicht nur an dem Teilchen, sondern auch an ihren Fingern!

Das kam so unerwartet und war so verwirrend intim, dass sie schockiert zurückzuckte. „Elias!“

Er grinste.

Elias Antonides’ Grinsen war einfach wunderbar. Tallie hoffte inständig, das dies einer jener Träume war, an die man sich nach dem Aufwachen noch erinnern konnte.

„Okay“, sagte er und begann, die Krümel von der leichten Bettdecke zu wischen. Notgedrungen streifte er dabei mit den Händen über ihre Schenkel, über ihren Bauch und ihre Brüste. Die Berührung fühlte sich fast ebenso intim an wie seine Lippen an ihren Fingern.

Sein Blick aus tiefen dunklen Augen traf ihren, verschmolz mit ihrem. Seine Lippen befanden sich nur noch Millimeter von ihren entfernt … bevor er sie küsste.

Sie küsste?

Was?

Herrje, noch ein Traum? Ein Traum innerhalb eines Traumes? Tallie blinzelte heftig und schüttelte den Kopf.

Elias richtete sich auf. „Was ist los?“

Noch ein Kopfschütteln, sie versuchte verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber es war zu spät. Woran auch immer sie glaubte, sich zu erinnern, war fort.

Es war nur ein Gefühl, dachte sie. So hat es sich angefühlt, wenn Brian mich geküsst hat. Dann hat es immer jenen Moment der Verbindung gegeben, der Vorfreude, des Verlangens. Genau daran habe ich mich erinnert.

Sie vermisste Brian. Ihr Blick suchte das Bild auf der Kommode. Es war zu dunkel im Zimmer, in den Schatten konnte sie ihren Brian nicht erkennen. Sie sah nur Elias, groß, stark und verstörend sexy.

Seine Gegenwart war zu übermächtig, als dass sie sich auf etwas anderes konzentrieren konnte. Die Erinnerung an Brian verblasste – wie sie es in letzter Zeit immer häufiger tat. Außerdem träumte sie ja nur.

Warum sollte sie das nicht einfach genießen?

Sie streckte die Hand nach Elias’ Hemd aus und zog ihn wieder zu sich.

„Tallie?“

„Schh, das ist nur ein Test“, murmelte sie und presste ihre Lippen auf seine.

Was für ein realistischer Traum, schoss es ihr durch den Kopf, während der Kuss besser und besser wurde.

Selbst im Traum wusste sie, dass Elias Antonides zu küssen keine gute Idee war. Aber er küsste so gut!

Diesen Kuss konnte man sich in eisigen Alaskanächten ins Gedächtnis rufen, um sich warm zu halten. Er entzündete ein immer heller loderndes Feuer in ihr. Und Tallie wusste, sie würde freudig und mit einem Lächeln auf den Lippen untergehen.

Mit der Hand fuhr sie unter sein Hemd, streifte mit den Fingern durch die weichen Haare auf seiner Brust. Sie spürte die Wärme seines Körpers, der Schauer, der über seine Muskeln lief, als er den Atem anhielt. Er streichelte über ihre Haare, zupfte spielerisch an ihren Locken, zog ihren Kopf näher an sich.

Sie wollte mehr. Alles. Und, so schien es, er auch. Doch als sie begann, die Knöpfe zu öffnen, ertönte ein dumpfes Geräusch. Harvey war aufs Bett gesprungen. Ein letzter Funken Vernunft erinnerte sie daran, dass es selbst im Traum Dinge gab, die man nicht tun sollte.

Offensichtlich dachte der Traum-Elias dasselbe, denn er wich abrupt vor ihr zurück und starrte sie dann verwirrt an. Zumindest in ihren Träumen gelang es ihr also, ihn aus der Fassung zu bringen.

„Schlechte Idee, Miss Präsident, ganz schlechte Idee“, sagte er. Hastig richtete er sich auf und verließ das Zimmer.

Beim Anblick seines Rückens empfand Tallie tiefe Enttäuschung. Um wie viel interessanter wäre es gewesen, mit Elias Liebe zu machen. Sie berührte ihre noch prickelnden Lippen.

„Spielverderber“, schalt sie Harvey.

Dann schloss sie die Augen und wünschte sich in ihren Traum zurück. Wenn sie es schaffte, die Stelle zu träumen, an der sie sich geküsst hatten, konnte es gut sein, dass sie nie wieder aufwachen wollte.

Leider kam es anders.

Ihr Knöchel schmerzte. Tallie brauchte einen Moment, bis ihr alles wieder einfiel. Der Unfall, das Krankenhaus, der Gipsverband. Das Meeting im Büro und wie beschämend es war, von Elias ins Taxi getragen zu werden.

Gott sei Dank war heute Samstag. Sie würde ihn erst am Montag wiedersehen.

Vorsichtig drehte sie ihren schmerzenden Körper auf die Seite und erstarrte vor Entsetzen, als sie den großen Mann im alten Schaukelstuhl ihrer Großmutter neben dem Bett schlafen sah.

Oh nein!

Sie schloss die Augen, um ihre Halluzinationen zu vertreiben, aber als sie ein zweites Mal hinschaute, war Elias Antonides immer noch da! In ihrem Schlafzimmer!

Aber … das war doch nur ein Traum.

Und noch während sie die Mächte des Schicksals anflehte, ahnte Tallie, dass sie die Ereignisse des vergangenen Abends eben doch nicht geträumt hatte.

Niemals hätte sie diese Schmerztabletten nehmen dürfen. Aus leidvoller Erfahrung wusste sie doch, wie sie ihren Verstand vernebelten. Gut, sie vertrieben die Schmerzen, nahmen aber jeglichen klaren Gedanken gleich mit.

Tallie stöhnte auf.

Sofort zuckte Elias zusammen und öffnete die Augen. Einen Moment schien er verwirrt zu sein, dann klärte sich sein Blick. „Du bist wach“, sagte er, während er sich aufrichtete. „Möchtest du noch eine Schmerztablette?“

„Nein!“ Sie hatte sich wahrlich schon genug zur Idiotin gemacht.

„Bist du sicher?“, fragte er zweifelnd.

Sein dunkles Haar stand unordentlich vom Kopf ab. Das Hemd hing ihm aus der Hose und war halb aufgeknöpft. Der Schatten um sein Kinn war noch dunkler, als sie ihn vor dem Kuss in Erinnerung hatte.

„Ich brauche nichts. Es geht mir gut.“

Sollte sie den Kuss ansprechen? Ihn mit einem Lachen beiseite wischen? Oder war es besser vorzugeben, es sei nie passiert?

Denn ein Blick auf ihn reichte, um ihr mitzuteilen, dass, wie attraktiv er auch war, und wie verführerisch es sein würde, ihn noch einmal zu küssen, Elias keinerlei Interesse an einer Fortsetzung hegte.

Und sie auch nicht! Er war der Mann, den ihr Vater für sie ausgewählt hatte. Sie liebte ihn nicht. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen … auf einer körperlichen Ebene. Das war alles.

Was also sollte sie wegen des Kusses unternehmen? Am besten gar nichts. Wenn sie so tat, als könne sie sich an nichts erinnern, würde sie ihnen beiden unnötige Verlegenheiten ersparen. Und wenn er damit anfing, konnte sie immer noch sagen, sie hätte unter dem Einfluss der Schmerztabletten gestanden.

„Schön“, sagt Elias jetzt. „Vielleicht ein Glas Wasser?“

„Das wäre nett.“ Tallie bedachte ihn mit einem höflichen und entschieden förmlichen Lächeln. „Danke.“

Wortlos verließ er das Zimmer. Als er zurückkam, war sein Hemd zugeknöpft und ordentlich in den Hosenbund gesteckt. Auch die Haare wirkten, wenn nicht gekämmt, so doch mit den Fingern geglättet.

Sie trank das Wasser in einem Zug, gab ihm das Glas zurück und sah ihn dann mit – wie sie hoffte – geschäftsmäßiger Ruhe an. „Es war sehr freundlich von dir, letzte Nacht bei mir zu bleiben.“ Er hatte sie mittlerweile mehrfach geduzt, ihn jetzt siezen, kam ihr merkwürdig vor.

„Kein Problem.“

„Trotzdem danke, du hättest es nicht tun müssen.“

Elias zuckte die Schultern. „Jemand musste bei dir bleiben.“

Ihre Blicke trafen sich und hielten einander fest. Die Vorstellung, dass die Schmerztabletten für alle Ereignisse verantwortlich sein sollten, wurde sehr schwer zu akzeptieren.

Abrupt wandte Elias den Blick ab. „Wie geht es deinem Knöchel?“

„Er tut weh, aber ich komme zurecht.“

„Gut. Ich denke, ich werde dann gehen.“ Er setzte sich in den Schaukelstuhl und zog Socken und Schuhe an. „Deine Tabletten stehen auf dem Waschbecken im Badezimmer, die Krücken lehnen hier am Bett.“ Er berührte sie mit den Zehen. „Und dein Handy liegt auf dem Nachttisch. Soll ich dir noch etwas zu essen bringen, bevor ich gehe?“

„Nein, ich kümmere mich später selbst darum.“

Alles sehr höflich, förmlich, distanziert. Und unbehaglich wie die Hölle, weil sie an ihrer Wange noch seine Bartstoppeln spüren konnte und an ihren Lippen die weiche und hungrige Berührung der seinen.

Tallie räusperte sich. „Wir sehen uns am Montag.“

Elias öffnete den Mund, um zu antworten, schien es sich dann aber anders zu überlegen. „Richtig“, meinte er schließlich nickend. „Bis Montag.“

Diese Frau war noch sein Todesurteil … oder zumindest das seiner guten Absichten!

Elias benötigte das gesamte Wochenende, um sein seelisches Gleichgewicht wiederzugewinnen und die Erinnerung an Tallie Savas’ weiche Lippen und ihre zarte Haut zu verdrängen.

Mittlerweile gelang es ihm immerhin schon für kurze Momente, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Aber es kostete viel Kraft.

Am Samstag hatte er sich zunächst wieder den Büroräumen gewidmet, die er renovieren wollte. Doch das hatte ihm viel zu viel Zeit gelassen, an den wundervollen Kuss zu denken, den er und Tallie geteilt hatten. Deshalb rief er Dyson an und fuhr mit ihm zusammen zu der kleinen Werft, die nach seinen Wünschen ein Boot für ihn baute.

Dort verbrachten sie den ganzen Tag, was zur Folge hatte, dass Elias an seinen Großvater und seinen eigenen Traum, eines Tages Boote zu bauen, denken musste. Auch seine anderen Träume fielen ihm wieder ein: Eine Frau zu heiraten, die dieselben Dinge liebte wie er, und mit ihr zusammen eine Familie zu gründen.

Nichts davon hatte er erreicht.

Der Gegensatz zwischen seinen Hoffnungen und der Realität ließ ihn mürrisch werden. Natürlich war es seine eigene Schuld. Niemand hatte ihn gezwungen, Millicent zu heiraten. Niemand hatte ihn gezwungen, Antonides Marine International zu übernehmen und seine Träume zu begraben.

Und niemand hätte ihn aufgehalten, wenn er vergangene Nacht mit Tallie geschlafen hätte – am allerwenigsten Tallie selbst.

Es lag an seinem eigenen verfluchten Empfinden, was das Richtige war. Wenn es eine Frau in seinem Leben gäbe, würden ihn Tallies Reize bestimmt kaltlassen.

Sobald Dyson ihn zu Hause abgesetzt hatte, rief er Clarice an und verabredete sich mit ihr.

Um acht Uhr holte er sie ab. Sie speisten in einem guten Restaurant. Sie unterhielten sich angeregt. Zumindest glaubte Elias das. Das Problem war, dass er immer wieder den Faden verlor. Seine Gedanken kehrten zu gestern Abend zurück … zu der Pizza, die er mit Tallie geteilt hatte, wie sie dann eingeschlafen war, wie sie …

Unvermittelt seufzte Clarice laut. „Du hast gesagt, heute Abend gebe es kein Geschäft. Aber du …“, sie deutete auf ihren Kopf, „… denkst unentwegt daran.“

Jetzt konnte er schlecht antworten, dass es nicht die Firma war, an die er dachte!

„Es tut mir leid. Ich bin nur … abgelenkt. Wir könnten woanders hingehen“, schlug er vor und griff nach ihrer Hand. „Etwas tun, was jeden Gedanken ans Geschäftliche aus meinem Kopf vertreiben würde.“

Er war sich sicher, sie wusste, was er meinte. Doch sie lächelte nur bedauernd und schüttelte den Kopf. „Ich würde dich ja zu mir nach Hause einladen“, sagte Clarice, „aber meine Schwester ist zu Besuch aus Paris gekommen.“

„Wir können zu mir gehen.“

Noch ein Kopfschütteln. „Ich kann nicht die ganze Nacht fortbleiben, wenn meine Schwester in der Stadt ist.“

Elias drückte ihre Hand. „Dann ein anderes Mal?“

Diesmal ein strahlendes Lächeln. „Aber natürlich.“

Er brachte sie nach Hause und schaffte es, einen Kuss von ihr zu stehlen. Immerhin ein Anfang, sagte er sich. Vielleicht aber auch ein Fehler. Denn jetzt musste er wieder an Tallies Kuss denken, der viel, viel aufregender gewesen war.

Das spielt keine Rolle, befahl er sich auf dem Nachhauseweg zu denken. Es gab wieder eine Frau in seinem Leben. Eine Frau, die eine unproblematische Beziehung ohne Verpflichtungen und Erwartungen versprach.

Genau das, was er wollte.

Am Montagmorgen kam Tallie so früh wie üblich ins Büro. Mit einer gebackenen Köstlichkeit, wie üblich. Mit einem Teller mit Karotten- und Selleriestiften für Elias – wie üblich. Sie wirkte fröhlich und ausgeruht, als habe es Freitagabend nie gegeben.

Gut. Dann würde er auch nicht mehr daran denken. Oder an sie. Er hatte zwei Tage Zeit gehabt, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken. Und er hatte sich für die beste Lösung entschieden: Er würde alles vergessen und Tallie von nun an ignorieren.

Was gar nicht so einfach war, wenn man ihr in einem zweistündigen Meeting gegenübersaß.

So war er fast dankbar, als Rosie in der Mitte der Konferenz anklopfte und ihn zu einem dringenden Anruf bat. Seine Dankbarkeit schwand, als sich herausstellte, dass der Anrufer Cristina war.

Nach den altbekannten Vorwürfen, nie bist du da!,nie gehst du an dein Telefon!, kam Cristina rasch zum eigentlichen Grund ihres Anrufs.

„Ich möchte, dass du Mark einen Job gibst.“

„Ich bitte dich, Cristina, was soll denn das? Dergleichen wird nicht passieren.“

„Siehst du“, jammerte sie. „Ich wusste, dass du so reagierst. Du willst nicht einmal darüber nachdenken.“

„Stimmt. Und jetzt muss ich los. Meine Mitarbeiter warten auf mich.“ Er trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte und schaute zum Konferenzraum hinüber.

„Du kennst ihn doch gar nicht!“

„Ich kenne Mark, genau das ist ja das Problem.“

„Aber ich liebe ihn!“

Sie liebte Mark Batakis? Ach herrje! Elias verzog das Gesicht und rieb sich mit den Fingern über die Nasenwurzel. „Und deine unsterbliche Liebe verleiht ihm welche Qualifikationen?“, fragte er höflich.

„Ich weiß es nicht!“ Cristinas Stimme zitterte. „Aber du brauchst nicht so altklug zu sein. Mark ist nicht dumm. Er kann alles lernen. Immerhin war er in Yale. Und … und er weiß eine Menge über Boote.“

„Er fährt Rennen, das ist nicht ganz dasselbe.“

„Ich will doch nur, dass du mit ihm sprichst“, sagte Cristina.

„Und ihm einen Job gebe.“

„Nun, ja, aber …“

„Nein. Und außerdem, selbst wenn ich wollte, könnte ich es nicht. Ich bin nicht mehr der Chef.“

„Was soll das bedeuten?“

„Wusstest du das nicht? Dad hat vierzig Prozent der Firma verkauft.“

„Dad hat was?“, fragte Cristina ungläubig.

„Vierzig Prozent verkauft“, wiederholte Elias. „Damit ist er nicht länger der Präsident.“

„Dann bist du …“

„Nein, bin ich nicht“, sagte er mit einer gewissen Befriedigung. „Wenn du deinem Freund einen Job bei Antonides Marine International verschaffen willst, Cristina, musst du mit dem neuen Präsidenten verhandeln.“

Es entstand eine kurze Pause, dann fragte Cristina entschieden: „Gut, das werde ich. Wie heißt er?“

Sie heißt Tallie Savas.“

Es würde alles gut werden.

Zumindest redete Tallie sich das ununterbrochen ein, um sich – und Elias – davon zu überzeugen, dass sie an die Ereignisse von Freitagabend in ihrem Apartment keinerlei Erinnerungen besaß.

Elias hatte sie ein- oder zweimal seltsam angeschaut, doch als sie nicht reagierte, hatte er seine Aufmerksamkeit ganz den geschäftlichen Angelegenheiten gewidmet.

Sie wünschte, ihr gelänge das auch.

Sie wünschte, sie könnte vergessen, wie er sie geküsst hatte, wie fest und warm seine Lippen gewesen waren, wie rau sich die Bartstoppeln an seinem Kinn angefühlt hatten, wie heiß sie seine Haut unter ihren Fingerspitzen gespürt hatte.

Sie wünschte …

Sie wünschte sich viele Dinge. Am meisten, dass sie nie von Antonides Marine gehört, nie diesen Job angenommen und erst recht nie Elias Antonides getroffen hätte. Er weckte Wünsche in ihr, wie es bislang nur Brian gelungen war. Nach Brians Tod hatte sie geschworen, nur einen Mann in ihr Leben zu lassen, der es wirklich wert war. Der sie um ihrer selbst willen liebte, nicht das Geld und das Geschäftsimperium ihres Vaters.

Natürlich war Elias nicht auf das Geld ihres Vaters aus. Er wollte nur sein eigenes Imperium zurück. Aber er liebte sie nicht, er wollte nur Sex.

Tallie fragte sich, warum er am Freitag aufgehört hatte.

Sie wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Dass er während des Meetings ans Telefon gerufen wurde, verschaffte ihr eine kurze Atempause. Es fiel ihr leichter, sich zu konzentrieren, wenn er nicht im selben Raum war. Doch als er zurückkam, fühlte sie sich sofort wieder angespannt und nervös.

Sie versuchte, sich auf Pauls Vortrag zu konzentrieren, und brachte dann endlich ihre Bedenken zum Ausdruck. „Und es geht nicht nur mir allein so“, schloss sie. „Niemand hier empfindet große Freude über den möglichen Kauf.“

„Wir lassen uns Zeit, überdenken die Auswirkungen“, sagte Elias. „Beschäftigen uns mit den Zahlen.“

„Es kommt nicht allein auf die Zahlen an. Du musst diese Firma wirklich kaufen wollen, du musst seetüchtige Kleidung herstellen wollen.“

Elias starrte sie an, als sei sie verrückt geworden.

„Du musst mit Leidenschaft dabei sein.“ Dann fiel ihr jene andere Art von Leidenschaft ein, die sie vor zwei Tagen geteilt hatten. Tallie errötete heftig. Sie presste die Lippen zusammen und wandte ihren Blick Paul und Dyson zu. „Ich halte Corbett’s für eine gute Firma, aber vielleicht ist sie nicht die richtige Firma für uns.“

Als sie sich endlich traute, in Elias’ Richtung zu schauen, blickte er auf die Tafel hinter Paul und machte den Eindruck, als würde auch er sich nicht an Freitagabend erinnern wollen. Gott sei Dank.

Schließlich sah er sich fragend um. „Ja? Nein?“

Dyson räusperte sich. „Tallie könnte recht haben“, sagte er langsam. „Ich meine, wie oft haben wir uns jetzt schon zusammengesetzt?“

„Oft“, murmelte Paul.

Elias wirkte nicht sonderlich überzeugt, widersprach aber auch nicht. „Okay. Wir sprechen morgen früh noch einmal darüber.“ Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Jetzt fahren Dyson und ich erst einmal nach Long Island.“

Erleichterung durchströmte Tallie. Elias verbrachte den Nachmittag nicht im Büro? Hurra! „Was gibt es denn dort?“

„Die Werft von Nikos Constanides.“

Der Nikos Constanides?“

„Du kennst ihn?“

„Ich habe von ihm gehört.“ Nikos hatte einst auf der Liste ihres Vaters mit griechischen Junggesellengestanden. Aber weil sie zu dem Zeitpunkt gerade Brian kennenlernte, hatte sie Nikos nie getroffen. Und während sie mit ihrem Navypiloten ausging, jettete Nikos um die Welt und pflegte skandalöse Affären mit wunderschönen Frauen.

Nach Brians Tod, als ihr Vater seine Liste wieder herauskramte, hatte sie erfahren, dass der wilde Playboy Nikos mittlerweile verheiratet war und sogar Kinder hatte.

„Wir waren bereits am Wochenende da und haben uns Dysons neues Boot angesehen.“ In Elias’ Augen leuchtete ein helles Licht, das Tallie noch nie zuvor gesehen hatte. „Und vielleicht hast du recht, was den Teil mit dem Enthusiasmus angeht.“

„Ach?“

„Wir werden sehen. Ich lasse dir meine Notizen da, und wir sprechen morgen noch einmal über alles. Dann rufen wir Corbett an.“

Tallie nickte. „In Ordnung.“ Sehr korrekt. Sehr cool. Sehr geschäftsmäßig. Großartig.

Elias öffnete die Tür, und Tallie folgte ihm in den Empfangsbereich. Dort saß eine junge Frau, die gelangweilt in einem Magazin blätterte.

„Neun Uhr? Ich will nur …“ Elias unterbrach sich, als er die Frau sah, und warf ihr einen finsteren Blick zu. „Was zur Hölle machst du denn hier?“

„Gleichfalls erfreut, dich zu sehen, Elias.“ Sie schenkte ihm ein fröhliches Lächeln und küsste ihn auf die Wange.

Sie war die umwerfendste Frau, die Tallie je gesehen hatte. Groß und attraktiv, mit kurzem dunklem Haar, das nur ein unglaublich teurer Haarschnitt auf diese elegante Weise zerzausen konnte. Hohe Wangenknochen, wie man sie sonst nur in Werbeanzeigen zu sehen bekam.

War sie die Frau, die er Freitagabend versetzt hatte?

„Geh nach Hause“, teilte er ihr jetzt brüsk mit.

„Nein, das werde ich nicht. Du hast gesagt, ich soll mit der Präsidentin reden.“

„Präsidentin?“ Tallie runzelte die Stirn.

Die junge Frau richtete ihren Blick auf sie, in ihren braunen Augen schimmerte Neugier. „Ist das …?“

„Ja“, bestätigte Elias. „Und du kannst jetzt nicht mit ihr sprechen. Sie ist beschäftigt.“

„Sie sieht nicht beschäftigt aus“, beobachtete die Fremde scharfsinnig.

„Es ist Mittagszeit“, sagte Elias.

„Dann essen wir zusammen.“ Sie streckte die Hand aus. Ihre Nägel waren perfekt manikürt. Tallies hingegen kurz geschnitten – praktisch, wenn man Plätzchenteig kneten wollte. „Ich bin Cristina.“

„Cristina?“, wandte Tallie sich für eine Erklärung an Elias.

Die bekam sie auch, kurz und wütend. „Meine Schwester!“

7. KAPITEL

Tallie Savas aß mit seiner Schwester Lunch.

Allein der Gedanke daran ließ Elias die Nackenhaare zu Berge stehen. Fast hätte er seinen Entschluss, nach Long Island zu fahren, geändert. Aber wie hätte er das tun können, wenn Tallie meinte, sie freue sich auf das gemeinsame Essen, und Cristina wie ein Honigkuchenpferd gegrinst hatte?

Zumindest erwartete er, während des gesamten Nachmittags an die möglichen Ereignisse zu Hause in Brooklyn denken zu müssen.

Aber es kam anders. Denn Nikos Constanides war ein überaus faszinierender Mann.

Vor Samstag, als Nikos nur zur Werft gekommen war, um ein paar Akten abzuholen, hatte Elias ihn nicht kennengelernt. Doch als Nikos herausfand, dass Elias ebenfalls aus einer Bootsbauerfamilie stammte, hatte er ihn und Dyson für heute Nachmittag eingeladen. Er wartete bereits auf sie und brannte darauf, ihnen alles zu zeigen.

Nikos und Elias schienen dieselben Kindheitsträume geträumt zu haben – nur dass Nikos sie verwirklicht hatte. Anders als Elias hatte er seiner Familie den Rücken gekehrt und seine eigene Firma gegründet. Jetzt baute er wunderschöne Boote.

Als dann später noch seine umwerfende Frau und die drei niedlichen Kinder auftauchten, verspürte Elias regelrechte Eifersucht. Von diesem Leben hatte er mit Millicent immer geträumt. Doch als er die Universität hatte verlassen müssen, um Antonides Marine zu übernehmen, hatte sich alles verändert.

Für Millicent war das kränkelnde Familienunternehmen nicht die glänzende Firma, die sie sich erhofft hatte. Und deshalb war Elias auch nicht der Mann, den sie wollte. Was sie wollte, war die Scheidung.

Zunächst hatte er es nicht glauben können. Er hatte argumentiert, es sei noch nicht zu spät, sie könnten zu einer Eheberatung gehen.

Aber sie hatte Nein gesagt. Einfach Nein. Und ihn verlassen. Sie war nach Kalifornien gegangen, wo ihre Eltern leben. Als er sie endlich wiedergefunden hatte, meinte sie, sie liebe ihn nicht mehr, und es gebe einen neuen Mann in ihrem Leben.

Die Erinnerung schmerzte immer noch tief in seiner Seele.

Also dachte er nicht mehr daran. Aber manchmal kehrten die Gefühle zurück, wie heute, bei der Begegnung mit Nikos und seiner Familie.

Wie Freitagabend in Tallie Savas’ Schlafzimmer.

Elias drängte die Gedanken beiseite.

Kurz vor acht kehrten sie nach Brooklyn zurück. Dyson setzte ihn vor dem Firmengebäude ab und fuhr dann weiter zu seiner Freundin, um ihr von seinem wunderschönen neuen Boot zu erzählen.

Elias ging ins Büro und tat, was er jeden Abend tat. Er arbeitete.

Im Gebäude war es ruhig. Alle anderen waren schon vor Stunden nach Hause gegangen. Auf seinem Schreibtisch lagen ein halbes Dutzend Nachrichten, ein weiteres Dutzend befand sich auf dem Anrufbeantworter. Rasch hörte er das Band ab und empfand Erleichterung, keine Beschwerde von Tallie über seine kleine Schwester zu hören.

Auch Cristina hatte sich nicht gemeldet, was ein gutes Zeichen war. Es bedeutete, Tallie hatte ihre Pflichten als Präsidentin ernst genommen und Cristina und ihren Rennfahrerfreund so bestimmt nach Hause geschickt, dass seine Schwester wusste, es war zwecklos, noch einmal mit ihm zu verhandeln.

Halleluja.

Instinktiv griff er nach dem Telefonhörer, um sich bei Tallie zu bedanken. Dann überlegte er es sich anders. Er würde sie nicht außerhalb der Arbeitsstunden anrufen. Doch da er den Hörer nun schon einmal in der Hand hielt, rief er eine Zulieferfirma in San Diego an.

Sämtliche Workaholics der Westküste befanden sich noch in ihren Büros. Er verbrachte zwei Stunden am Telefon. Was hatte er auch sonst zu tun?

Erst um zehn machte er Feierabend. Seine Halsmuskeln schmerzten. Sein Rücken tat weh.

Als er das alte Lagerhaus gekauft hatte, schien es eine großartige Idee zu sein, das Gebäude selbst zu renovieren, Antonides Marine International in einem Teil der Räume unterzubringen, andere Büros an weitere Firmen zu vermieten, um den Kredit zu bezahlen und für sich selbst ein Loft im obersten Stockwerk herzurichten. Sehr schmuck, sehr praktisch.

So entkam er der Arbeit nicht einmal, wenn er es versuchte.

Er schloss die Tür zu seinem Apartment auf und trat ein.

Als er mit der Renovierung begann, hatte er große Pläne für seine eigene Wohnung gehabt. Mit Holz zu arbeiten, erinnerte ihn an seine Kindheit mit seinem Großvater auf Santorin. Und es kam dem am nächsten, was er immer hatte tun wollen, aber nie tun würde. Nachdem die Zwischenwände gemauert, verputzt und gestrichen waren, hatte er Holz bestellt, um eine Theke zwischen Wohnzimmer und Küche zu bauen. Dann hatte er noch die dazu passenden Schränke gezimmert.

Die restlichen Möbel – das Sofa, der Sessel, zwei Barhocker und das Bett – waren gekauft. Gerade als er dabei war, ein Bücherregal zu bauen, hatte die Firma wieder verstärkt nach seiner Aufmerksamkeit verlangt.

Fünf Monate später befanden sich die meisten seiner Habseligkeiten immer noch in Umzugskisten, die entlang der Wände gestapelt waren. Bis auf das Wandgemälde seiner Schwester Martha, war seither nichts mehr geschehen.

Es war kein Zuhause. Es erinnerte eher an einen Campingplatz.

Und er war nicht alleine.

Jemand saß im Schatten verborgen auf dem Sofa. Eine Frau, die langsam aufstand.

„Martha?“

„Nein, ich bin es, Tallie.“ Auf die Krücken gestützt humpelte sie ins Licht.

Ungläubig starrte Elias sie an. „Tallie?“

Sie legte einen Finger auf ihre Lippen. „Schh. Nicht so laut. Sonst weckst du Cristina noch.“ Sie deutete auf die Tür zu seinem Schlafzimmer.

„Was zum Teufel macht Cristina hier? Warum ist sie in meinem Schlafzimmer.“

„Schh“, zischte Tallie, griff nach seinem Arm und zog Elias in Richtung Küche – was mit den Krücken gar nicht so einfach war.

„In Ordnung, lass mich los. Ich schreie nicht mehr. Was ist los? Ist Cristina krank?“

„Nein.“

„Was dann?“

Tallie blickte ihn nervös an. „Das ist etwas … kompliziert. Möchtest du vielleicht eine Tasse Tee?“

„Tee?“ Er konnte ihr nicht ganz folgen. „Wovon sprichst du überhaupt? Ich habe keinen Tee.“

„Jetzt schon“, erklärte sie ihm und nickte zu einer Dose hinüber, die auf der Theke stand. Sie wandte sich um und humpelte zum Herd, auf dem ein Kessel stand, den er ebenfalls noch nie gesehen hatte. Die beiden Tassen daneben erkannte er immerhin. Sie waren benutzt. Er beobachtete Tallie, wie sie einen Schrank öffnete und eine weitere Tasse herausnahm.

„Du fühlst dich hier ganz wie zu Hause, oder?“

„Ich dachte, du hättest nichts dagegen. Schließlich hast du dasselbe auch in meiner Wohnung gemacht.“

Elias setzte eine finstere Miene auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und schaukelte auf den Absätzen vor und zurück. „Okay, trinken wir Tee. Und dann kannst du mir endlich sagen, warum meine Schwester hier ist.“

„Das ist der leichte Teil. Sie wartet auf Mark.“

„Mark?“ Elias schrie fast. „Warum kommt der denn hierher?“

Mit einer Geste hieß Tallie ihn wieder schweigen. „Cristina abholen. Im Moment ist er noch in Greenport. Oder er war dort. Ich konnte ihn erst um sieben Uhr erreichen.“

Warum sie überhaupt versucht hatte, ihn zu erreichen, war Elias ein Rätsel. Eines von vielen, wenn er es recht bedachte. Er wartete, bis das Wasser kochte, und brühte dann den Tee auf. Dann ging er mit den beiden Tassen ins Wohnzimmer hinüber.

Dort stellte er sie auf die Umzugskiste, die er zurzeit als Tisch benutzte, und wartete, dass Tallie sich ein wenig unbeholfen auf das Sofa fallen ließ.

„Okay“, sagte er. „Jetzt die ganze Geschichte.“

Tallie holte tief Luft. „Du weißt ja, dass wir zusammen zu Mittag gegessen haben. Wir haben uns ein bisschen kennengelernt. Ich mag Cristina. Sie ist lustig.“

„Ein Scherz pro Minute“, erwiderte Elias trocken.

Tallie bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick. „Sie denkt, du magst sie nicht.“

„Ich liebe sie. Sie treibt mich nur in den Wahnsinn. Sie springt von einer Sache zur nächsten. Und sie erwartet, dass ich jeden Unsinn finanziere, den sie sich ausdenkt.“

„Das hat sie auch gesagt.“

Elias zog eine Augenbraue hoch. „Hat sie?“

„Ja. Aber von nun an wird sie damit aufhören. Sie ist fest entschlossen, ruhig und verantwortungsbewusst zu werden.“

„Na klar.“

„Sei nicht so zynisch. Du gibst ihr ja gar keine Chance.“

„Es ist nicht meine Schuld, dass sie eine unrealistische Träumerin ist.“

„Nein, natürlich nicht. Es ist ihre. Aber sie ist nicht wirklich eine Träumerin. Sie ist …“ Tallie schien nach dem passenden Wort zu suchen.

Gespannt wartete Elias, was ihr einfallen würde.

Schließlich zuckte sie hilflos die Schultern. „Eine Träumerin“, gab sie zu und unterdrückte ein Lachen.

Und plötzlich spürte er, wie die Spannung zwischen seinen Schultern nachließ. Er lächelte schief, empfand aber zugleich eine seltsame Erleichterung, dass jemand – sogar Tallie Savas – ihn tatsächlich verstand.

„Aber eine niedliche Träumerin“, fügte Tallie rasch hinzu.

„Eine niedliche Träumerin, die in meinem Bett liegt. Warum eigentlich?“

„Es war während des Lunchs. Wir unterhielten uns, und sie ist ein wenig hysterisch geworden.“

„Hysterisch?“ Die Verspannung kehrte zurück.

„Ich wollte sie nicht alleine nach Hause schicken. Rosie meinte, ich sollte sie einfach nach oben, in deine Wohnung bringen. Sie hat mir den Schlüssel gegeben. Cristina hatte damit nichts zu tun.“

„Weiter“, sagte er.

Unbehaglich zupfte Tallie an einer ihrer Locken. „Ich habe befürchtet, dass du das sagst. Jetzt kommt der schwierige Teil.“

Die Anspannung zwischen seinen Schulterblättern wurde noch größer.

„Eigentlich bin ich nicht diejenige, die dir das erzählen sollte. Cristina ist schwanger.“

Was!“ Tallie umklammerte ihre Tasse. „Bitte. Pst. Du weckst sie auf.“

„Oh ja, das werde ich. Schwanger? Wie konnte das passieren?“

„Ich … glaube nicht, dass es geplant war.“

Elias fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Ich nehme an, Mark ist der Vater?“

„Natürlich.“

Dieses Wissen machte Elias auch nicht glücklicher. Er stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Manchmal bringt ein Baby das Beste in den Menschen zum Vorschein“, versuchte Tallie ihn zu beschwichtigen. „Außerdem werden sie heiraten.“

Elias verdrehte die Augen. „Und inwiefern soll ich mich deswegen besser fühlen?“

„Um deine Gefühle geht es hier überhaupt nicht.“

Elias ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Es war nicht sein Kind. Es war nicht seine Entscheidung. Er rieb sich über den Nacken. „Wann wollen sie heiraten?“

Freudestrahlend schaute Tallie ihn an. „Ich wusste, dass du vernünftig bist.“

Ja, klar, das wusste schließlich jeder. Wann war er in seinem Leben nicht vernünftig gewesen? In seiner verrückten Familie war er der einzig Vernünftige.

„Sie heiraten morgen.“

„Morgen?“

„Warum sollten sie warten?“ Das war eine rhetorische Frage, denn Tallie ließ ihn gar nicht erst antworten. „Ich habe Cristina gesagt, du würdest dich für sie starkmachen.“

„Du hast was?“ Er war ernstlich entsetzt.

„Ich weiß, dass du das tun willst. Du liebst deine Schwester und kümmerst dich um deine Familie.“

Es waren schlichte Worte, und doch ließ Tallie sie klingen wie eine in Stein gemeißelte Wahrheit. Und dann, gerade als er protestieren wollte, griff sie nach seiner Hand und drückte sie zärtlich.

Elias starrte sie an, schaute in ihre geweiteten dunklen Augen, in denen eine stumme Bitte schimmerte. Er senkte den Kopf und betrachtete ihre übereinandergelegten Hände.

Wann hatte ihn das letzte Mal jemand auf diese Weise berührt? So persönlich, intensiv, aufrichtig. Es war, als rege sich durch die Berührung etwas tief in seinem Inneren – als führe man mit einem Stock durch die Asche eines fast erloschenen Feuers, um die Funken neu zu entfachen.

Er wappnete sich gegen diese Empfindung.

„Ich weiß, dass es nicht das ist, was du für sie willst“, sprach Tallie ernst weiter. „Cristina weiß das auch, aber hier geht es nur um sie und Mark und das Baby. Sie will Mark heiraten. Natürlich hätte sie es gerne anders gehabt, doch manchmal passieren die Dinge im Leben einfach so.“

„Vor allem Cristina“, sagte Elias trocken.

Ganz leicht drückte Tallie seine Hand. „Vor allem Cristina“, wiederholte sie lächelnd.

„Was werden die anderen Familienmitglieder wohl dazu sagen?“

„Sehr wenig, wenn du ihre Entscheidung unterstützt“, meinte Tallie. „Sie werden sich ein bisschen aufregen, weil sie so schnell und ohne Beisein der Familie geheiratet hat.“

„Was soll das heißen, ohne die Familie?“

„Cristina will unter keinen Umständen, dass sie kommen. Sie meint, dann gäbe es nur Stress und Ärger. Aber wenn sie eure Eltern vor vollendete Tatsachen stellen kann, und du ihre Entscheidung unterstützt, dann werden sie keine Einwände erheben.“

So seltsam es auch schien, ahnte Elias doch, dass seine Schwester mit ihrer Einschätzung richtiglag. Vielleicht wusste Cristina zur Abwechslung wirklich, was das Richtige war.

„Trotzdem können sie nicht morgen heiraten“, sagte er. „Es dauert länger, um einen Termin im Standesamt zu bekommen und eine Hochzeit zu organisieren.“

„Mark hat sich bereits darum gekümmert.“

„Wie?“

„Keine Ahnung. Er hat vor ein paar Stunden angerufen und gesagt, alles sei für morgen, zwei Uhr, vorbereitet.“

„Morgen um zwei haben wir ein Meeting mit Corbett.“

Tallie sah ihn einfach nur an. „Elias.“ In ihrer Stimme lag ein leiser Vorwurf.

Seine Mundwinkel zuckten, doch bevor er noch etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür.

„Mark“, prophezeite sie.

Er ballte die Hand zur Faust. „Am liebsten würde ich ihn k. o. schlagen.“

Tallie schloss ihre Finger um seine. „Ich weiß.“ Zärtlich drückte sie seine Hand ein letztes Mal, ließ dann los und erhob sich mühsam. „Aber das wirst du nicht. Du öffnest die Tür, ich wecke Cristina.“

Wieder ertönte die Klingel. Zähneknirschend stand Elias auf und marschierte zur Wohnungstür.

Mark Batakis sah in der Tat so aus, als erwarte er den Schlag, den Elias ihm so gerne versetzt hätte.

„Mach schon“, sagte er und streckte sein Kinn vor. „Schlag mich. Aber es wird nichts ändern. Ich werde deine Schwester heiraten.“

„Das sagte man mir.“ Er trat beiseite, um den anderen Mann in die Wohnung zu lassen. „Also spare ich es mir und schlage dich später, falls du es jemals wagen solltest, ihr wehzutun.“

„Ich werde sie nicht verletzen. Ich liebe sie. Wo ist sie?“ Er sah sich um. „Tina? Tina!“

Die Schlafzimmertür flog auf. „Hier bin ich!“ Und Cristina warf sich an Marks Brust, der sie beschützend in die Arme schloss. Großes Drama. Elias zuckte zusammen, da er sich an Millicent erinnerte, der die emotionalen Ausbrüche der Familie Antonides stets verhasst gewesen waren.

Tallie hingegen schien sich ganz wohl zu fühlen. Sie trat zu dem verliebten Paar und hielt Mark die Hand hin. „Ich bin Tallie Savas. Wir haben vorhin telefoniert. Schön, Sie kennenzulernen.“

Dann ging alles ganz reibungslos. Mark bedankte sich für alles, woraufhin Tallie meinte, sie habe nichts getan, was Elias nicht auch getan hätte. Und bevor Elias noch protestieren konnte, hatte Tallie sich dicht neben ihn gestellt, und er musste dem offensichtlich glücklichen Paar gratulieren und versprechen, morgen um zwei Uhr in dunklem Anzug auf dem Standesamt zu erscheinen.

Cristina umarmte ihn stürmisch. „Oh, ich liebe dich, Elias. Du bist der beste Bruder auf der ganzen Welt.“

„Schön, dass du das endlich einsiehst“, entgegnete er und erwiderte, weil natürlich auch er sie liebte, die Umarmung herzlich. „Und jetzt geh nach Hause, Cristina.“

Kichernd küsste sie ihn auf die Wange und griff dann nach Marks Hand. „Wir gehen ja schon.“ Sie wandte sich an Tallie. „Danke, Tallie. Sie sind die Beste.“

„Freut mich zu hören.“

Beschützend legte Mark einen Arm um Cristinas Schultern, öffnete die Tür, bevor auch er zu Tallie schaute. „Können wir Sie irgendwohin mitnehmen?“

„Ich …“

„Ich bringe sie nach Hause“, fiel Elias ihr ins Wort.

Cristinas Augen weiteten sich, als sie von einem zum anderen blickte. Doch bevor sie die Angelegenheit kommentieren konnte, schob Elias sie mit sanfter Gewalt aus der Wohnung. „Gute Nacht. Wir sehen uns morgen bei deiner Hochzeit.“

Endlich schloss sich die Tür hinter ihnen. Stille trat ein, so intensiv, dass Elias glaubte, seinen Herzschlag hören zu können. Oder vielleicht war es auch Tallies.

Sie stand immer noch neben ihm, so nahe, dass ihre Arme sich berührten. Nahe genug, um die Erinnerungen zu wecken, wie es sich angefühlt hatte, ihr so nahe zu sein … sogar noch näher. Wie ihre Lippen sich berührt hatten.

Alle Gedanken, die er seit Freitagnacht nicht hatte denken wollen, kehrten mit aller Macht zu ihm zurück.

Er räusperte sich. „Danke … dass du dich um Cristina gekümmert hast.“ Er versuchte, ruhig und beherrscht zu klingen – aber er klang rau und atemlos.

„Ich habe es gern getan.“ Auch in ihre Stimme hatte sich eine seltsame Note geschlichen.

Ihre Blicke trafen sich. Es war wie schon Freitagnacht … nur schlimmer. Denn diesmal gab es keine Schmerztabletten, auf die sie die Schuld schieben konnten.

Dieses Mal schimmerte reine Sehnsucht in ihren Augen.

Es war verrückt. Ein Fehler. Eine sehr schlechte Idee. Alles davon.

Er sollte sie in ein Taxi setzen und nach Hause schicken, denn Tallie Savas war eine Komplikation, die er gerade jetzt in seinem Leben überhaupt nicht gebrauchen konnte.

Doch zum ersten Mal in seinem Leben interessierte Elias sich weder für die Firma noch für seine Familie. Es scherte ihn nicht, ob sein Verhalten klug oder vernünftig war.

Nur einmal, nur ein einziges Mal, wollte er für den Moment leben.

„Ach, was soll’s“, stieß er hervor.

Er nahm Tallie die Krücken ab und ließ diese zu Boden fallen.

„Elias!“

Mit liebevoller Bestimmtheit schloss er Tallie in seine Arme und zog sie so eng an sich, dass ihre weichen Kurven sich perfekt an seinen Körper schmiegten. Und dann neigte er den Kopf und küsste sie mit sehnsüchtigem Verlangen.

8. KAPITEL

Es blieb nicht bei einem Kuss.

Und Tallie war sehr froh darüber.

Eines Tages, sagte sie sich, würde sie es bereuen. Doch noch während sie diesen Gedanken formulierte, trug Elias sie in sein Schlafzimmer hinüber. Und jetzt erfüllte nur noch ein Wort ihre Gedanken: „Ja, ja, ja!“

Sie küsste seinen Hals, sein Kinn, spürte die Bartstoppeln rau an ihrer weichen Wange. Er ließ sie auf das Bett gleiten, und sie wehrte sich nicht.

Tallie streckte die Hände nach ihm aus, aber Elias legte sich nicht neben sie. Stattdessen stützte er die Arme links und rechts von ihr auf der Decke auf und betrachtete sie eingehend.

„Das ist nicht klug“, murmelte er.

„Nein“, entgegnete sie kopfschüttelnd.

Es war wahrscheinlich das Unvernünftigste, was sie je in ihrem Leben getan hatte. Elias war nicht Brian. Er liebte sie nicht, so wie Brian es getan hatte. Hier ging es nicht um Liebe.

Es ging darum, ins Leben zurückzukehren … wieder etwas zu fühlen, jemanden zu begehren …

Und um nichts anderes.

Elias war unterdessen dazu übergegangen, sanft in ihr Ohrläppchen zu beißen, dann ihren Hals mit Küssen zu bedecken. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn zu sich hinunter. Dann widmete sie sich den Knöpfen an seinem Hemd, getrieben von dem Drang, mit den Fingerspitzen über seine weiche warme Haut zu gleiten.

Er hatte es einfacher. Langsam zog er ihr Top aus dem Hosenbund und fuhr mit den Händen darunter, er besaß talentierte Hände. Seine Berührung ließ ihre Haut erzittern und weckte die Sehnsucht nach mehr.

Endlich waren die Hemdknöpfe geöffnet, und er erhob sich gerade so weit, dass sie ihm das Kleidungsstück ausziehen konnte. Er revanchierte sich, indem er ihr das Top ebenfalls über den Kopf streifte. Elias neigte den Kopf und küsste ihre nackten Schultern, ihre Brüste.

Tallie erschauerte. Zärtlich strich sie über seine dichten Haare, fuhr über seine Schultern und seine Wirbelsäule entlang. Die Haut war weich, mit festen Muskeln darunter.

Jetzt erst fanden ihre Lippen einander, und Elias rollte sich mit ihr in den Armen auf den Rücken, sodass nun sie auf ihm lag. Geschickt öffnete er den Verschluss ihres BHs. Kaum war die letzte Barriere gefallen, umfasste er liebkosend ihre Brüste. Er hob den Kopf und küsste sie leidenschaftlich, umkreiste jede Spitze mit der Zunge.

„Elias“, stöhnte sie auf.

Während er sich wieder in die Kissen sinken ließ, lächelte er zu Tallie hinauf. Gleichzeitig zeichnete er sinnliche Muster auf ihre Haut, streichelte ihren flachen Bauch.

Fasziniert hielt Tallie still, gab sich dem Gefühl hin, von seinen rauen sanften Händen berührt zu werden, die ein Feuer des Verlangens in ihr entbrannten. Und dann löste Elias den Knopf an ihrer Hose und zog den Reißverschluss hinunter.

Instinktiv erhob sich Tallie auf die Knie, damit er die Hose über ihre Hüften ziehen konnte. Er schob die Finger in ihr Höschen und fand ihre geheime Stelle.

Keuchend stieß Tallie den Atem aus. Sie biss sich auf die Lippen und schmiegte sich an seine suchende Hand, stöhnte lustvoll, als er mit der anderen ihre Brüste verwöhnte. Ihr Körper spannte sich, sie erzitterte vor Verlangen.

Es war so lange her.

Und doch war sie noch nicht bereit, die Erfüllung, die er ihr anbot, anzunehmen. Nein! Noch nicht!

Sie ließ sich zur Seite fallen. Jetzt war sie an der Reihe, ihm Lust zu bereiten. Auf einen Ellenbogen aufgestützt, bedeckte sie seine Brust mit leichten Küssen. Elias beobachtete sie, Schatten der Sehnsucht schimmerten in seinen Augen. Schließlich fuhr sie mit der Zunge in kleinen Kreisen über seinen Oberkörper. Er stöhnte auf und verspannte sich unter ihrer Berührung.

„Tallie“, murmelte er, die Finger in die Bettdecke verhakt.

„Mmm? Möchtest du etwas?“

„Dich.“

„Du hast mich.“ Sie hob den Kopf und schaute ihm lächelnd in die Augen. Er erwiderte das Lächeln. Erst jetzt ließ sie ihre Finger zu seinem Hosenbund wandern. Sie öffnete die Gürtelschnalle, zog den Reißverschluss hinunter und neigte den Kopf, um die Linie feiner dunkler Haare zu küssen, die unter seinen Boxershorts zum Vorschein kam.

Elias zuckte zusammen. „Tallie!“

Sie gab keine Antwort, widmete sich allein ihren Liebkosungen, ließ ihre Haare über seinen Bauch streifen. Schließlich schob sie die Hand unter den Gummizug und umfasste seine erregte Männlichkeit. Scharf den Atem ausstoßend, hob er sich ihren Bewegungen entgegen.

„Stopp!“, rief er kurz darauf. „Warte.“

Tallie wartete. Sie küsste seine Brust und spürte seinen hämmernden Herzschlag unter ihren Fingerspitzen. Dafür war sie verantwortlich. Sie hatte seine Lust geweckt.

Wortlos griff Elias nach ihrer Hand, zog sie an seine Lippen und küsste jeden Finger einzeln, knabberte daran und entfachte so ihre Erregung aufs Neue.

Er schloss Tallie in seine Arme und rollte sie beide herum. Und irgendwie gelang es ihm, ihr – trotz Gipsverband – die Hose auszuziehen.

„Unglaublich“, seufzte Tallie. „Du bist gut in allem, was du tust.“

Schelmisch grinste er. „Freut mich, dass du so denkst.“ Er küsste ihr Knie oberhalb des Verbandes, dann ihre Zehen. Fast wäre sie ihm hier und jetzt erlegen.

Als er sich anschickte, ein Kondom überzustreifen, musste sie wieder lächeln – dieses Verhalten entsprach so sehr Elias’ Wesen, ohne ein Wort zu sagen, übernahm er die Verantwortung.

Er bemerkte ihren Blick. „Was?“

Sie schüttelte nur den Kopf und breitete die Arme nach ihm aus. Und er kam zu ihr, kniete zwischen ihren Beinen nieder und zeigte ihr, wie sehr er sie begehrte.

Tallie verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und zog Elias zu sich hinunter. Näher konnten zwei Menschen einander nicht sein. Und als er anfing, sich in ihr zu bewegen, folgte sie diesen Bewegungen instinktiv. Mit den Fingernägeln streifte sie seinen Rücken, bedeutete ihm, einen härteren und schnelleren Rhythmus einzunehmen. Bis er schließlich die Pforten des Paradieses aufstieß und sie mit ihm den Garten der höchsten Erfüllung betrat. Jetzt trennte sie nichts mehr voneinander.

Sie waren eins geworden.

Etwas Derartiges hatte Tallie nicht erwartet. So hatte sie sich gefühlt, wenn sie mit Brian zusammen gewesen war … als ob ihre Körper, ihre Herzen, ihre Seelen miteinander verschmolzen wären.

Ohne ihn hatte sie sich so leer, so einsam gefühlt. Mit den Jahren hatte sie sich an das Alleinsein gewöhnt, ja es sogar als ihre Zuflucht angesehen. Es war sicherer, als sich zu verlieben.

Allmählich begann sie zu fürchten, sie könne sich in Elias Antonides verlieben.

Und das war ganz und gar nicht sicher … geschweige denn vernünftig.

Es hatte nicht funktioniert.

Er hatte mit Tallie Savas geschlafen, um sie aus seinen Gedanken zu vertreiben. Damit er sie nicht mehr vor sich sah, wenn er die Augen schloss. Damit er sie nicht mehr jede Minute eines jeden Tages begehrte …

Aber innerhalb weniger Minuten, nachdem er sie geliebt hatte, wollte er es schon wieder tun.

Sie hatten sich ausgeruht, hatten Koseworte gemurmelt, sich gestreichelt. Und dann hatte er noch einmal mit ihr geschlafen, und sie mit ihm.

Doch es war immer noch nicht genug.

Mit Tallie Liebe zu machen hatte sein Verlangen nicht verstummen lassen, sondern es im Gegenteil noch angefacht. Er wollte sie in Ekstase versetzen, wollte fühlen, wie ihr Körper auf ihn reagierte. Wollte ihre Fingernägel an seinem Rücken spüren, wenn sie ihren Höhepunkt erreichte und unter ihm erschauerte. Er wollte, dass sie auf ihm saß und ihm Lust bereitete. Wollte ihr Haar mit den Händen greifen und sein Gesicht an ihren Hals schmiegen. Wollte das Gefühl erleben, ganz er selbst zu sein.

Und zur gleichen Zeit wollte er eine Millionen Meilen weit weglaufen!

Tallie Savas war nicht für ihn bestimmt.

Die ganze Nacht über wiederholte er diese Worte. Denn abgesehen von ihrer erzwungen Partnerschaft bei Antonides Marine International war Tallie nicht auf eine Beziehung aus. Sie interessierte nur das Geschäftliche. Und ihn auch!

Was zur Hölle war bloß los mit ihm?

Seit Millicent ihn verlassen hatte, war er mit einigen Frauen ins Bett gegangen, aber bei keiner hatte er an irgendeine Art von Zukunft gedacht. Allein das Wort Beziehung war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen.

Jetzt jedoch lag er mit offenen Augen neben Tallie und starrte an die Decke, während sie – hoffte er zumindest – zufrieden in seinen Armen schlief.

Das sollte genug sein. Sie hatten sich zueinander hingezogen gefühlt, ja. Sie hatten ihr Verlangen nacheinander gestillt. Mit Tallie zu schlafen, kam einer aufregenden Mischung aus Geben und Nehmen gleich, einer Mischung aus Zärtlichkeit und Leidenschaft. Eine wunderschöne und atemberaubende Erfahrung.

Vergleichbares hatte er noch nie erlebt.

Vielleicht war das der Grund, warum er nicht genug bekommen konnte. Das Verlangen war nämlich unbestreitbar noch da. Doch es gab noch etwas anderes, das sich auf verstörende Weise dazugesellt hatte. Er wollte mehr.

Tallie musste seine innere Unruhe gespürt haben, denn sie bewegte sich im Schlaf, kuschelte sich noch enger an ihn. Mit den Lippen streifte sie seine nackte Brust. Der Duft ihres Haarshampoos stieg ihm in die Nase. Er glaubte, schier verrückt zu werden vor Verlangen.

Vorsichtig stand Elias auf. Es war beinahe sieben Uhr. Er konnte duschen und sich rasieren, bevor Tallie aufwachte. Kühl und distanziert zu sein, würde ihm leichter fallen, wenn er korrekt und geschäftsmäßig aussah.

Allerdings wurde es schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. Als er unter der Dusche stand, kehrten die Erinnerungen daran zurück, wie sich seine Hände auf ihrem Körper, ihre Hände auf seinem, angefühlt hatten. Fast wäre er der Versuchung erlegen, ins Schlafzimmer zu gehen, sie aufzuwecken und unter die Dusche zu tragen, damit er sie noch einmal überall berühren konnte.

Verflucht, konnte man dieses Wasser denn nicht kälter stellen?

Seine Zähne klapperten, als er endlich mit dem Rasieren anfing. Doch zumindest hatte er seine Selbstbeherrschung wiedergefunden.

Elias öffnete die Schlafzimmertür und sah sich einer völlig nackten Tallie gegenüber, die gerade in eines seiner Hemden schlüpfte.

So viel zum Thema Selbstbeherrschung.

So viel zum Thema kalte Duschen!

„Oh, guten Morgen.“ Tallie lächelte ihm flüchtig zu. Die leidenschaftliche Geliebte, die sie noch im Bett gewesen war, hatte sich wieder in die schneidige Präsidentin verwandelt.

„Morgen.“ Er hoffte, seine Stimme klang in Wirklichkeit nicht ganz so rau, wie sie es in seinen Ohren tat.

„Hoffentlich hast du nichts dagegen, dass ich dein Hemd angezogen habe. Ich brauche nur etwas, bis ich mich gewaschen habe. Ich nehme nicht an, dass du einen Föhn besitzt?“ Sie sprach schnell, augenscheinlich um die unbehagliche Situation zu überspielen und einem erneuten Liebesspiel vorzubeugen.

Er schüttelte den Kopf. „Keinen Föhn.“

„Ich kann nicht duschen, wenn ich den Gips nicht anschließend trocken föhnen kann“, erklärte Tallie bedauernd. „Wie steht es mit einer Waschmaschine und einem Trockner?“

„Hinter der Küche befindet sich ein extra Raum.“

„Wunderbar. Kann ich meine Sachen dort waschen?“

„Ich kümmere mich darum.“ Was viel besser war, als sie in seinem Hemd anzustarren, das er ihr eh nur vom Leib reißen wollte. Hastig sammelte Elias ihre Kleidungsstücke ein und eilte aus dem Schlafzimmer. Er steckte die Wäsche in die Maschine und bereitete anschließend Kaffee. Gerade als er fertig war, kam Tallie in die Küche.

Er räusperte sich. „Kaffee?“

„Bitte.“

Er schenkte zwei Tassen ein. „Speck? Eier? Toast?“ Das Hemd reichte ihr bis zur Mitte des Oberschenkels. Hastig wandte er den Blick ab. Ein Mann konnte einfach nur einen gewissen Grad an Versuchung ertragen.

„Toast“, entschied sie. Er hörte das Klappern ihrer Krücken, dann wurde ein Stuhl zurückgeschoben und sie setzte sich. „Danke“, meinte sie, als er eine Tasse vor sie stellte. „Das ist eine schöne Wohnung.“

Elias steckte Brotscheiben in den Toaster. „Ich arbeite daran.“

„Cristina hat mir davon erzählt. Ich wusste ja gar nicht, dass du das ganze Gebäude eigenhändig renovierst. Ich wusste noch nicht einmal, dass es dir gehört.“

„Es war eine gute Investition“, entgegnete er schulterzuckend. „Und ich habe nicht alles alleine gemacht, mit dem Verlegen der Kabel und dergleichen habe ich eine Firma beauftragt. Nur die schmutzigen Arbeiten habe ich selbst erledigt … und alles, was mit Holz zu tun hat.“

„Du hast das gebaut?“ Aufmerksam betrachtete sie die Küchenschränke und strich mit den Fingern über die hölzerne Theke.

Elias versuchte, nicht daran zu denken, was ihre Finger noch berührt hatten. „Ja.“

„Warum verschwendest du dann deine Zeit bei Antonides Marine?“

Stirnrunzelnd sah er sie zum ersten Mal an, seit sie in die Küche gekommen war. „Wie bitte?“

„Tut mir leid. Natürlich ist es keine Verschwendung. Es ist nur … diese Arbeiten sind wunderschön. Viel schöner als Bilanzen und Akquisitionen.“ Noch einmal fuhr sie über die glatte Oberfläche. „Und offensichtlich steckt dein Herzblut darin.“ Sie lächelte verständnisvoll.

Er wollte nicht, dass sie ihn verstand. Es machte seinen Plan zunichte, alles so oberflächlich wie möglich zu halten. „Keine Zeit.“ Die fertigen Toastscheiben sprangen hoch. Elias legte sie auf Teller und nahm Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank. „Außerdem lässt sich damit kein Lebensunterhalt verdienen“, sagte er ausweichend. „Bedien dich.“

„Ich wette, du könntest es“, fuhr sie unbeeindruckt fort, während sie Butter auf ihrem Toast verteilte. „Viele Menschen würden morden, um ihr Haus mit etwas so Schönem einzurichten.“

„Morden, vielleicht. Dafür bezahlen? Unwahrscheinlich.“ Elias schüttelte den Kopf. Aber sie bezahlten Nikos, sogar sehr gut – meldete sich eine leise Stimme in seinem Kopf. Er brachte sie zum verstummen. „Es ist nur ein Hobby. Ich habe wichtigere Dinge zu tun.“

„Antonides Marine.“

„Genau. Und schlag jetzt nicht vor, alles in deine Hände zu geben“, sagte er scharf.

„Das geht auch gar nicht, oder? Nicht, wenn du das Haus zurückhaben willst.“

Richtig. Schlussendlich lief alles auf das Haus hinaus. Die Intimität der vergangenen Nacht war nur ein Nebenprodukt einer Geschäftsvereinbarung.

„Ja“, antwortete er finster. „Und ich sollte mich sofort an die Arbeit machen.“ Elias schaute auf die Uhr. „Es ist beinahe acht. Die Wäsche ist dort drüben.“ Mit dem Kopf deutete er auf eine Tür. „In ein paar Minuten kannst du sie in den Trockner geben.“

Er trank einen letzten Schluck Kaffee, stellte die Tasse auf die Theke und eilte an Tallie vorbei Richtung Wohnungstür.

„Ich wollte nicht unhöflich sein, Elias“, rief sie ihm nach.

An der Tür blieb er stehen und wandte sich um. Ihre Blicke trafen sich. Er versuchte, die Erinnerung an die letzte Nacht auszublenden. Hier ging es ums Geschäft; was sie verband, war nur die Firma. „Ich weiß.“

„Und könntest du Mark ausrichten, dass ich mich ein wenig verspäte?“

„Mark?“

Tallie verdrehte die Augen. „Dein zukünftiger Schwager.“

„Ich dachte, die Hochzeit findet erst um zwei statt.“

„Allerdings. Und deshalb gibt es auch keinen Grund, warum er nicht bis mittags arbeiten könnte.“

„Was?“ Elias glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. „Das hast du nicht getan.“

Sie zuckte nur glücklich die Schultern. „Doch, ich habe ihn eingestellt.“

Es war bereits halb neun, als Tallie endlich die Räume von Antonides Marine International betrat. Sie hätte ein wenig früher dort sein können, hatte aber noch in der Bäckerei gegenüber ein paar Bagels gekauft. Hoffentlich bemerkte niemand, dass sie dieselbe Kleidung wie gestern trug.

Während Dyson und Rosie genüsslich in die Bagels bissen, sah Tallie sich suchend um.

„Wo ist Paul?“, fragte sie und wollte eigentlich wissen: Wo ist Elias? Hat er Mark schon umgebracht?

Die Tür zu Elias’ Büro war geschlossen, kein lautes Geschrei war zu hören – vielleicht ein gutes Zeichen.

„Sie wollten sich mit jemandem aus einer Werbeagentur treffen. Mark kennt ihn von seiner Zeit als Rennfahrer. Er meinte, er könne vielleicht eine Werbekampagne für unsere Sportbootlinie machen.“

„Wirklich?“ Das war ja noch viel besser, als sie zu hoffen gewagt hatte. Entgegen Elias’ anfänglichem Widerstand schien Mark ihn für sich eingenommen zu haben.

Tallie schloss sich in ihrem Büro ein und dachte an den Morgen zurück. Sie war es nicht gewöhnt, in Männerwohnungen aufzuwachen. Andererseits war sie auch nicht daran gewöhnt, mit ihnen ins Bett zu gehen. Seit Brians Tod hatte sie mit keinem Mann mehr geschlafen. Und jetzt musste der erste ausgerechnet Elias Antonides sein.

Zweifellos ein kolossaler Fehler. Sie hatte mit einem Mann geschlafen, der ganz offensichtlich auf keine Beziehung aus war.

Begannen so Affären?

Tallie hatte sich nie für eine Frau gehalten, die Affären einging. Aber vielleicht, überlegte sie, dachten die meisten Frauen so von sich. Doch dann fanden sie sich in bestimmten Situationen wieder und reagierten darauf – so wie sie letzte Nacht. So wie sie es wieder tun würde, wenn er jetzt in ihr Büro käme.

Es war schon ein kleiner Schock, dass es ausgerechnet jetzt an der Tür klopfte und ein schwarzhaariger Pirat ins Zimmer spazierte.

„Theo?“ Verwundert und dann erfreut, starrte sie ihren ältesten Bruder an. „Theo!“ Sie sprang auf. „Was tust du denn hier?“

Dass sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war Monate her. Theo Savas war ständig unterwegs.

Er schloss die Tür, eilte zu Tallie und nahm sie in die Arme. „Ich bin auf dem Weg nach Newport, um dort ein neues Boot zu testen. Wenn es ein gutes ist, überführe ich es nach Spanien. Ich habe unseren alten Herrn vom Flughafen aus angerufen, aber er war beschäftigt. Seine Sekretärin hat mir gesagt, wo du steckst.“ Er runzelte die Stirn. „Was um alles in der Welt machst du hier?“ Dann fiel sein Blick auf den Gipsverband. „Was hast du nun wieder angestellt?“

„Gegen ein Auto verloren?“

Entsetzt schaute Theo sie an. „Du hättest tot sein können!“

„Ja, bin ich aber nicht. Setz dich doch.“

Er nahm Platz. „Tolle Aussicht.“

„Die verdanke ich dir.“

„Mir?“

„Du hast das Segelbootrennen gegen Aeolus Antonides gewonnen“, erinnerte sie ihn. „Der Wetteinsatz war die Familienvilla und die Präsidentschaft in der Firma.“

Sie erwartete ein triumphierendes Grinsen, aber er wirkte nur müde und abgespannt.

„Geht es dir gut?“, fragte sie besorgt.

„Ich habe eine furchtbare Woche hinter mir. Ich muss dringend schlafen.“

„Okay, du kannst in meiner Wohnung ein Nickerchen machen“, sagte Tallie entschieden.

Der Besuch ihres Bruders war genau die Ablenkung, die sie brauchte.

„Komm mit“, sagte sie und führte Theo ins Empfangszimmer. „Wir sind für eine Weile außer Haus“, meinte sie zu Rosie.

Rosie nickte, warf Theo einen langen Blick zu und lächelte dann strahlend. „Viel Spaß.“

Theo grinste zurück und zwinkerte ihr zu. „Werden wir haben.“

Während Theo schlief backte Tallie Mohngebäck, das sie morgen mit ins Büro nehmen wollte. Die ganze Zeit über versuchte sie an etwas anderes als Elias zu denken, was sich aber als ziemlich unmöglich erwies.

Sie empfand es als Erleichterung, als Theo endlich aufstand. Doch er wirkte immer noch müde und unkonzentriert. Jede Frage wurde mit einem finsteren Blick und dem Hinweis, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, beantwortet.

Da war es nicht sehr ermutigend, ihn wegen ihrer eigenen Probleme um Rat zu bitten.

Schließlich fragte sie ihn, was er tat, um einen freien Kopf zu bekommen.

„Segeln gehen“, erwiderte er sofort.

„Kein Boot“, sagte sie.

„Was ist los, Schwesterherz?“, wollte Theo, neugierig geworden, wissen.

Tallie wandte sich um und widmete sich dem Abwasch. „Nichts. Mir geht es gut.“ Sie zuckte die Schultern. „Ich versuche nur, einige Dinge zu ordnen. Du weißt schon, der neue Job und so.“

Theo grinste. „Du bist die Präsidentin. Du kannst tun, was du willst.“

„Wenn es doch nur so einfach wäre.“

„Macht Antonides dir Probleme?“

„Nein, nein“, erwiderte Tallie rasch. „Wir kommen gut miteinander aus … jetzt. Es ist nur etwas … kompliziert.“

„Inwiefern kompliziert?“

„Ach, schon gut.“ Sie trocknete die restlichen Teller ab und hängte das Handtuch besonders ordentlich über das Geschirrgestell.

Als sie sich umdrehte, starrte Theo sie immer noch an. Herausfordernd hielt sie seinem Blick stand.

Er schaute zuerst weg. Doch seine Mundwinkel zuckten, und er schüttelte den Kopf. „Wir brauchen ein Boot“, entschied er. „Lass uns an die frische Luft gehen.“

Theo wäre nicht Theo, wenn es ihm nicht gelungen wäre, ein Boot aufzutreiben – natürlich kein Segelboot. Er nahm sie mit zu den Ruderbooten im Central Park.

Das Einsteigen fiel ihr mit dem Gipsbein nicht leicht, aber als sie endlich saß, und Theo sie über den See ruderte, wurde sie erstaunlicherweise viel ruhiger. Die Nachmittagssonne schien warm auf ihr Gesicht, der Himmel über ihr war von einem sanften Blau und der Lärm der Stadt drang nur gedämpft an ihre Ohren.

Die Gefühle, die die letzte Nacht mit Elias hervorgerufen hatte, schienen weniger heftig zu sein. Das Problem, erkannte sie, bestand in ihren Erwartungen.

Sie hatte kein Recht, irgendetwas zu erwarten. Sie waren zwei erwachsene Menschen, die eine Nacht der Leidenschaft miteinander verbracht hatten. Und ja, sie mochte ihn. Andernfalls hätte sie nicht mit ihm geschlafen.

Aber damit würde sie zurechtkommen. Auf keinen Fall würde sie sich ihm an den Hals werfen. Sie war ihm einfach nur dankbar, dass er sie aus ihrer Lethargie geweckt hatte und sie sich endlich wieder lebendig fühlte.

Er hatte bewiesen, dass es ein Leben nach Brian gab. Es würde nur nicht an seiner Seite sein.

Diese Erkenntnis ließ sie endgültig zur Ruhe kommen. Sie suchte Theos Blick und lächelte. „Du hast recht. Es hilft.“

„Wirklich?“

Und dann hing wieder jeder seinen eigenen Gedanken nach.

Eine Stunde verbrachten sie auf dem See, aßen anschließend in einem kleinen Restaurant, woraufhin Tallie ihren Bruder zu der Firma begleitete, bei der er einen Mietwagen reserviert hatte.

„Ich danke dir“, sagte Tallie zum Abschied. „Ich hatte heute viel Spaß.“ Sie küsste ihn auf die Wange.

„Pass auf dich auf. Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.“ Theo zwinkerte ihr zu und schloss sie dann fest in die Arme.

Tallie lachte. Sie fühlte sich viel besser, stabiler und wesentlich ausgeglichener.

Sie hatte ihr inneres Gleichgewicht zurückgewonnen – bis sich die Türen des Aufzugs zu ihrem Apartment öffneten und sie Elias dort stehen sah.

9. KAPITEL

„Wo bist du gewesen?“

Das war nicht der richtige Weg, ein Gespräch zu beginnen, Elias wusste das. Aber es war fast zehn Uhr.

Nachdem er Cristina und Mark in ein Flugzeug auf die Bermudas gesetzt hatte und ins Büro zurückgekehrt war, hatte Dyson ihm gesagt, dass Tallie die Firma in Begleitung eines Mannes bereits am Nachmittag verlassen hatte.

„Was für ein Mann?“, fragte er. „Martin?“

„Nein“, erwiderte Dyson. „Ein dunkelhaariger Playboy. Ich habe nicht mit ihm gesprochen.“

Ein Playboy?

Nicht, dass ihn das etwas anging. Tallie hatte jedes Recht der Welt, mit einem Playboy auszugehen.

Aber nicht mitten am Tag. Um diese Zeit hatte sie zu arbeiten, schließlich war sie Präsidentin von Antonides Marine! Wenn sie ihren Job nicht erledigte, sollte sie gefeuert werden.

Elias stürmte in seine Wohnung und rief sie an, um herauszufinden, was eigentlich vor sich ging. Er erreichte nur den Anrufbeantworter.

Fünf Mal!

Wieder zurück im Büro, ließ er sich von Rosie die Nummer von Tallies Mobiltelefon geben. Das Handy war ausgeschaltet.

Wo zum Teufel steckte die perfekte Geschäftsfrau jetzt?

Ging es ihr gut? sorgte er sich. Genau dieser Gedanke hatte ihn schließlich zu ihrem Apartment getrieben. Er wollte nur sicher sein, dass alles in Ordnung war, und sie nicht von einem dunkelhaarigen Fremden angegriffen worden war.

Sie war nicht zu Hause.

Also wartete er. Und wartete. Seit zwei Stunden … und befürchtete die ganze Zeit über das Schlimmste.

Und nun war sie hier, die Haare vom Wind zerzaust, die Wangen rosig von der Sonne und sah einfach atemberaubend aus.

„Elias?“

„Nein, der große böse Wolf“, knurrte er. „Wo warst du? Dyson hat gesagt, du seist heute Nachmittag verschwunden.“

„Ich habe Rosie Bescheid gegeben. Gab es ein Problem?“

„Nein, aber es hätte verflucht noch mal eines geben können.“ Elias wusste, dass er völlig übertrieb, aber er konnte nicht anders. „Wer war der Kerl?“

Tallie starrte ihn an. „Welcher Kerl?“

„Dieser dunkelhaarige Fremde, mit dem du das Büro verlassen hast.“

„Theo“, antwortete sie und schloss die Wohnungstür auf. „Mein Bruder.“

„Theo?“ Er hatte keine Ahnung, warum sich seine Knie plötzlich so weich anfühlten.

„Ja. Er ist unterwegs nach Newport. Wir haben uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Er war erschöpft. Deshalb habe ich ihn in meine Wohnung gebracht, damit er ein wenig schlafen kann. Ich bin mitgekommen, weil mein Knöchel wehtat. Und … warum lehnst du eigentlich mit dem Rücken gegen die Tür?“

Weil es ihm besser erschien, als zu ihr zu gehen, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und wilden leidenschaftlichen Sex mit ihr zu haben. Doch in der Sekunde, als er das dachte, wusste er, dass er falschlag. Es gab keine bessere Idee, als mit Tallie zu schlafen.

„Tue ich gar nicht“, meinte er und stieß sich von der Tür ab, schlenderte auf Tallie zu und schloss sie in die Arme.

Zum ersten Mal hatte er heute das Gefühl, das Richtige zu tun.

„Elias!“ Einen Moment versteifte sie sich, dann überließ sie sich der Umarmung. Sie schlang die Arme um seinen Nacken, drückte sich an ihn und küsste ihn.

Tallie zu küssen, Tallie zu berühren, sein Gesicht an ihrem Hals zu verbergen, fühlte sich an wie nach Hause zu kommen.

Und sie erwiderte seine Küsse.

Sie schien ebenso zu empfinden wie er, zerrte sein Hemd aus dem Hosenbund, fuhr mit den Händen darunter und streichelte seine warme Haut. Er tat es ihr gleich. Knöpfe wurden geöffnet, Reißverschlüsse nach unten gezogen.

„Tallie!“

„Mmm?“

„Wir schaffen es nicht bis zum Bett, wenn du … Tal!“ Seine Stimme brach, während er um Selbstkontrolle rang.

Sie hielt inne, zog die Hände zurück und hielt sie in die Luft wie ein Bankräuber, der vom Sheriff gestellt wurde. Klar zu denken und Tallie zu lieben schlossen einander aus.

Andererseits, wer wollte schon klar denken?

Er hob sie hoch, hastete zum Schlafzimmer hinüber und ließ sie auf das Bett gleiten.

„Okay, wo waren wir?“, fragte sie lächelnd. „Ach, jetzt fällt es mir wieder ein.“ Und ihre Hände begannen wieder ihre fieberhafte Reise auf seinem nackten Körper.

„Oh, Tallie!“ Ihre Berührungen fühlten sich einfach unglaublich an. In dem heißen Verlangen nach mehr ließ er sich zwischen ihre Beine gleiten und drang in sie ein. Und dies fühlte sich so richtig an wie nichts anderes auf der Welt.

Doch dann war er an der Reihe, innezuhalten und den Kopf zu schütteln, während sie ihn zu einem rascheren Rhythmus anspornte. „Ich möchte“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „dass es lange dauert.“

„Warum?“

Warum?“ Ihre Frage verwirrte ihn.

Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. „Je eher du anfängst, desto früher können wir es ein zweites Mal machen.“ Hoffnungsvoll blickte sie zu ihm hinauf. „Ich versuche nur, logisch zu sein.“

Wer war er, dass er sich über diese Art von Logik hinwegsetzte?

Und als sie ihn dann küsste und sich frech unter ihm wand, benötigte er keine weiteren Argumente mehr.

„Was immer du sagst“, murmelte er, neigte den Kopf und küsste sie lange und hart, als könne er sich so für immer in ihre Erinnerung einschreiben. Dann begann er, sich zu bewegen.

Es dauerte in der Tat nicht lange. Binnen Augenblicken verlor er sich in seiner Lust. Tallie erging es nicht anders. Sie flüsterte seinen Namen, als er sich ein letztes Mal in ihr bewegte. Einander in den Armen haltend, blieben sie erschöpft und still liegen.

Und es war immer noch nicht genug.

Gerade hatte er mit ihr geschlafen … und doch begehrte er sie schon wieder.

„Sie haben geheiratet! Cristina hat geheiratet, Elias!“ Die Stimme seiner Mutter drang immer lauter und schriller an sein Ohr.

Auch dir einen guten Morgen, dachte er müde. Wie schön wäre es, wenn jetzt Tallie in sein Büro getanzt käme und ihm eine ihrer gebackenen Köstlichkeiten präsentierte? Doch das würde nicht passieren. Natürlich war sie zur Arbeit gekommen, hatte auch Gebäck mitgebracht, aber sie trug auch wieder ihren Präsident Tallie Hut. Sie war charmant und freundlich … und absolut professionell.

Und das bedeutete, sie hatten eine Affäre: Nachts heißen und leidenschaftlichen Sex, tagsüber business as usual.

Selbstverständlich wollte er es gar nicht anders haben.

Dennoch …

„Elias! Hörst du mir zu?“

„Ja, Ma, ich weiß“, erwiderte er und bedauerte sehr, Rosie erlaubt zu haben, seine Mutter durchzustellen.

„Seit wann erlaubst du deiner Schwester, solche Dummheiten zu begehen?“

„Es ist ihr Leben, nicht meines.“

„Ich hätte dort sein müssen“, beschwerte sich seine Mutter.

„Du kannst doch für das Baby da sein.“

Baby? Welches Baby?“

Oh verflixt. Er hatte vergessen, dass sie davon noch nichts wusste.

„Nun, für das Baby, das sie irgendwann haben werden“, meinte er hastig. „Cristina liebt Kinder, und Mark auch“, improvisierte er.

„Ein Baby.“ Die Stimme seiner Mutter hatte alles Schrille verloren und dafür eine zärtliche nachdenkliche Note angenommen. „Ja, ich denke, sie werden bald eines bekommen.“

„Bestimmt. Ich muss wirklich weiterarbeiten, Ma …“

„Natürlich“, stimmte seine Mutter zu. „Aber in letzter Zeit hast du nicht mehr so viel Arbeit, oder? Dein Vater hat doch diese nette Präsidentin eingestellt, um dir zu helfen, nicht?“

Die nette Präsidentin? Tallie? Die sein Vater eingestellt hatte, um ihm zu helfen?

Nicht zum ersten Mal fragte Elias sich, was sein Vater seiner Mutter eigentlich über seine Geschäfte erzählte.

„Sie arbeitet sehr hart“, sagte er, weil es die Wahrheit war.

„Gut. Dann hast du ja jetzt Zeit.“ Seine Mutter klang, als würde sie sich voller Vorfreude die Hände reiben.

„Ma, ich …“

„Ich habe die perfekte Frau für dich gefunden. Letzte Woche war ich beim Friseur. Du kennst doch Sylvia Vrotsos, die mir immer die Haare macht? Sie hat eine Cousine, deren Tochter …“

„Mom! Hör auf!“

„Reizendes Mädchen. Sylvia hat mir ein Foto gezeigt. Sie wird dir gefallen. Und sie ist klug. Klug und schön. Sylvia meint, sie macht bald ihren Abschluss an der Universität.“

Elias kannte bereits eine wunderschöne kluge Frau mit Universitätsabschluss. Er schlief mit ihr.

„Ich lade sie für mein Dinner am Sonntag ein“, fuhr seine Mutter ungerührt fort. „Du kannst sie dort treffen.“

„Ich will nicht …“

„Du, wenn du sie nicht magst … Sophia Yiannopolis Tochter, übrigens eine Börsenmaklerin, hat gerade ihre Verlobung mit einem Anwalt aus New Haven gelöst.“

„Mom!“

Doch Helena war zu sehr von ihren eigenen Ideen begeistert, um die Proteste ihres Sohnes zu hören. Glücklicherweise suchte Rosie sich diesen Moment aus, um an die Tür zu klopfen.

„Jemand möchte Sie sehen. Er sagt, es sei wichtig“, flüsterte sie.

„Mom“, sagte Elias in den Hörer. „Mom, ich muss auflegen. Ich habe jetzt einen Termin.“

„Aber die Präsidentin …“

„Auf Wiederhören, Mom.“ Er knallte den Hörer auf die Gabel und starrte das Telefon wütend an. Dann wandte er sich an Rosie. „Schicken Sie ihn herein.“

Rosie blickte sich zu einem Mann an der Rezeption um. „Mr. Antonides hat jetzt Zeit für Sie.“ Sie trat zur Seite, und ein schlaksiger, lässig gekleideter Antonides schlenderte in Elias’ Büro.

„Hi, Bruderherz! Wie läuft’s?“

„Peter?“

Sein Bruder trug ausgeblichene Jeans mit Löchern an den Knien und ein grellrotes Hawaiihemd, auf das bunte Palmen gedruckt waren. Ein Dreitagebart zierte sein Kinn, das schwarze Haar war zerzaust und schon länger nicht mehr geschnitten worden.

„Schau nicht so überrascht. Ich habe dir doch gesagt, ich will mit dir sprechen, aber du rufst ja nie zurück.“

„Ich bin beschäftigt.“

Seit ungefähr drei Jahren hatten sich die Geschwister nicht mehr gesehen. Vor zehn Jahren war Peter nach Hawaii aufs College gegangen, und bei seinen gelegentlichen Besuchen in der Heimat hatte Elias im Familienunternehmen aufzusuchen, keinen hohen Platz auf seiner Prioritätenliste eingenommen.

Beim letzten Mal hatte Peter ihn in seiner Wohnung besucht und gefragt, ob er ihm Geld leihen könnte – Geld, das er immer noch nicht zurückgezahlt hatte.

Jetzt ließ sich Elias auf den Sessel hinter seinem Schreibtisch sinken und bedeutete seinem Bruder, in dem auf der anderen Seite Platz zu nehmen. Er strich glättend über einige Unterlagen auf seinem Schreibtisch, griff dann nach einem Stift, rollte ihn zwischen den Fingern hin und her und wartete darauf, dass Peter ihm endlich den Grund seines Kommens verriet.

Aber der war offensichtlich noch nicht dazu bereit. Er schritt im Raum umher, jonglierte mit Elias’ gläsernem Briefbeschwerer, tippte mit den Fingern gegen den Türpfosten und steckte schließlich die Hände tief in die Hosentaschen.

„Ich habe an einem Surfbrett gearbeitet.“

An einem Surfbrett zu arbeiten, kam Elias wie ein Widerspruch in sich vor. Zu surfen und das Segel in den Wind zu halten, machte schlicht und einfach Spaß.

Doch er schwieg und ließ Peter erzählen, wie er, während er sein altes Brett repariert hatte, auf eine bahnbrechende neue Idee gekommen war.

„Ich zeige dir, was ich meine“, sagte Peter. Er ging ins Empfangszimmer und kehrte mit einer großen quadratischen Mappe zurück, die er auf Elias’ Schreibtisch öffnete.

Darin befanden sich viele Zeichnungen, überraschend detailliert und mit Zahlen, Pfeilen und Angaben über Geschwindigkeit und Windkräfte versehen. Peter schien ihm jeden einzelnen Punkt erklären zu wollen, inwiefern das neue Modell schneller und leichter zu manövrieren, wie einfach es herzustellen und erst recht zu verkaufen sei. Nach einer halben Stunde hielt er inne und blickte Elias an.

„Also?“, fragte er. „Was hältst du davon?“

Elias, der in Überlegungen versunken war, wie er Tallie heute Nacht in seine Wohnung einladen könnte, blinzelte. „Halten? Von was?“

„Von dem Surfbrett.“ Seinem Bruder gelang es kaum, seine Ungeduld zu zügeln. „Hast du mir denn gar nicht zugehört?“

„Doch, natürlich.“ Nun, irgendwie. Elias zuckte die Schultern. „Es ist … interessant.“

„Möchtest du es tun?“

„Was tun?“ Sicherlich bat sein Bruder ihn doch nicht, mit ihm surfen zu gehen.

„Ach du meine Güte, Elias! Ich bin den ganzen Weg von Honolulu gekommen, um dir die Pläne zu zeigen …“

„Pläne? Für was? Um ein Surfbrett zu bauen?“

„Ja, verdammt noch mal.“

„Dann, verdammt noch mal, will ich es nicht tun.“

Es war Peters Pech, dass Elias seine gesamte Familie gerade satt hatte. Seinen Vater, der nur Golf spielen und segeln wollte, seine Mutter, die nur Enkelkinder wollte, die er ihr verschaffen sollte, Cristina, die bereits ein Kind erwartete, von dem niemand etwas wissen durfte, und jetzt auch noch Peter, Mr. Super-Surfer, der nur zu Besuch kam, wenn er etwas wollte. Und der ihm zu allem Überfluss eine lahme Idee präsentierte, die zu nichts anderem gut war, als noch mehr Geld aus Antonides Marine herauszuziehen und sein faules Strandleben zu finanzieren.

Peters Augen blitzten. Mit wütenden Bewegungen schichtete er seine Skizzen zu einem Stapel und stopfte ihn zurück in die Mappe. „Danke, dass du ernsthaft darüber nachgedacht hast“, sagte er sarkastisch. „Es war schön, dich zu sehen und wirklich ermutigend zu wissen, dass du so hilfsbereit bist. Bemüh dich nicht, ich finde den Weg hinaus.“

Alle Gegenstände wackelten, als er die Tür hinter sich zuknallte.

Einen Moment blieb Elias regungslos sitzen. Was, fragte er sich, würde jetzt noch passieren. Er betrachtete die Tür, wartete auf die Katastrophe und wünschte zugleich, Tallie möge in sein Büro kommen, ihn anlächeln und alles wäre wieder gut.

Sie kam nicht.

Weil, rief er sich wieder ins Gedächtnis, das Leben nun mal nicht so war. Deshalb öffnete er die Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und versuchte, sich auf den Inhalt zu konzentrieren.

Es gelang ihm nicht.

10. KAPITEL

„Tallie? Du hörst mir ja gar nicht zu!“

„Natürlich höre ich zu, Dad.“ Nun ja, zumindest ein bisschen. In Wahrheit befasste sich ihr Gehirn mit weit wichtigeren Dingen, zum Beispiel, was während des Liebesspiels letzter Nacht eigentlich mit ihr passiert war.

„Dann antworte auch. Ich habe den Bericht vor mir liegen, den Elias mir geschickt hat. Ich mache mir Sorgen um die Gewinne.“

Bericht? Elias hatte einen Bericht geschickt? Sie hatte erwähnt, ihr Vater wolle einen Blick in die Bilanzen werfen. Verantwortungsvoller Elias.

Unverantwortliche Tallie. Törichte Tallie. Dumme Tallie.

Keine dieser Tallies wollte heute Morgen mit ihrem Vater über Geschäftliches diskutieren.

Alles, woran sie denken konnte, war Elias … und dass sie sich irgendwie in ihn verliebt hatte.

Anders als bei Brian hatte sie kein Blitz getroffen. Bei Elias war es ein langsamer Prozess gewesen. Sicher, er war attraktiv, sein Körper makellos. Er war klug, dynamisch und entschlossen. Er sorgte sich um seine Familie, seine Angestellten, sogar um die Präsidentin, die ihm vor die Nase gesetzt worden war.

Das Wunder war nicht, dass sie ihn liebte. Verwunderlich war, dass sie so lange gebraucht hatte, es zu erkennen.

Was sollte sie jetzt nur tun?

Elias war nicht Brian. Im Gegensatz zu Brian hatte er sein Herz mit einer eisernen Rüstung gepanzert.

Und obwohl Tallie sich sicher war, dass er sie mochte oder es zumindest genoss, mit ihr ins Bett zu gehen, würde ein Wort der Liebe ihm nicht so einfach über seine Lippen kommen.

„Was er wegen der Gewinne zu unternehmen gedenkt, habe ich gefragt“, meldete sich ihr Vater jetzt lauter zu Wort.

„Gewinne?“

„Herrje, konzentrier dich bitte. In den letzten zwei Quartalen sind die Gewinne zurückgegangen. Was ist denn los mit der Firma?“

Tallie durchforstete ihr Gehirn auf der Suche nach einer Antwort, die ihren Vater zufriedenstellen würde. „Wir nehmen einige Veränderungen vor. Rationalisierungsmaßnahmen, andere Bereiche fallen ganz weg. Außerdem sehen wir uns nach Expansionsmöglichkeiten um.“

„Ich weiß, ich weiß. Irgend so ein Laden mit Segelbekleidung“, entgegnete er ungeduldig. „Ich hoffe, ihr tut das Richtige, weil …“

„Weil du Geld investiert hast.“ Was, neben seine Tochter unter die Haube zu bringen, die Quintessenz des Ganzen war.

Er hatte gewollt, dass sie sich in Elias verliebte! Tatsächlich hatte er alles eingefädelt, damit seine Tochter eine gute griechische Ehefrau wurde und endlich aufhörte, in seine Fußstapfen treten zu wollen.

Sie fragte sich, wie er reagieren würde, wenn sie ihm sagte, sein Plan sei aufgegangen … zumindest der Teil, in dem sie sich verliebte.

„Du hast doch Erfahrung auf diesem Gebiet, Thalia. Du solltest mit Antonides zusammenarbeiten.“

„Das tue ich ja.“

„Ach ja? Jeden Tag?“

„Natürlich.“

„Warum hat er dich dann noch nicht um eine Verabredung gebeten?“

Weil er das nicht tun muss, wollte sie antworten. Ich bin in sein Bett gefallen, ohne dass er etwas Besonderes dafür hätte tun müssen. Und jetzt haben wir eine Affäre, und ich liebe ihn, und er wird mit mir Schluss machen, und das alles verdanke ich dir.

Stattdessen sagte sie: „Auf Wiederhören, Dad.“ Sie legte auf.

Tallie versuchte, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht. Schließlich stand sie auf, griff nach ihren Krücken und humpelte aus dem Büro.

„Rosie! Ich werde …“ Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie den schwarzhaarigen Mann in den verblichenen Jeans und dem bunten Hawaiihemd entdeckte. „Elias?“ Sie wollte ihren Augen nicht trauen.

Der Mann war in ein Gespräch mit Rosie vertieft, doch beim Klang ihrer Stimme drehte er sich um. Er war drahtiger als Elias. Jünger, die Haut von der Sonne gebräunt, und mit dem typischen Charme der Antonides’ ausgestattet.

„Glücklicherweise nicht“, sagte er und meinte es ganz offensichtlich auch genau so. „Ich bin Peter, sein Bruder.“ Er schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Und Sie sind?“

Tallie humpelte auf ihn zu und streckte die Hand aus. „Tallie Savas. Wie schön, Sie kennenzulernen. Sie sind der Surfer?“

„So bezeichnet er mich?“ Sein Lächeln verschwand, Wut funkelte in seinen Augen.

„Nein“, beeilte Tallie sich ihm zu versichern. „Nicht Elias. Das war Cristina.“

Sofort kehrte das Lächeln zurück. „Sie kennen Cristina? Wie geht es ihr? Wir haben uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.“

„Sie hat geheiratet.“

„Geheiratet? Crissie? Wen? Wann?“, fragte Peter fassungslos.

„Das sollten Sie Elias fragen. Er war dabei.“

Peter schüttelte den Kopf. „Der große Bruder will nicht mit mir reden. Ich verschwende nur seine Zeit … und sein Geld. Ich bin extra den weiten Weg aus Hawaii gekommen, um ihm einen Vorschlag zu machen“, er klopfte auf die Mappe unter seinem Arm, „aber er hat mich rausgeworfen.“

„Was denn für einen Vorschlag?“

„Einen Windsurfer. Ich habe ein Surfbrett entworfen“, entgegnete er. „Ich bin Surfer, aber ich besitze auch einen Abschluss in Maschinenbau. Ich weiß, wovon ich spreche. Doch mein eingebildeter Bruder will mir einfach nicht zuhören.“ Er wandte sich zur Tür.

Instinktiv ergriff Tallie seinen Arm. „Ich würde Ihren Vorschlag gerne hören.“

Tallie führte Peter in ihr Büro. „Setzen Sie sich.“ Sie deutete auf den Ledersessel. „Und jetzt erzählen Sie mir von Ihrer Idee.“

Sie hegte keine Vorurteile gegen Peter Antonides. Er war nicht ihr kleiner Bruder, der Jahre am College studiert hatte, während sie das Familienunternehmen retten musste. Deshalb besaß sie weit mehr Geduld, als Elias offensichtlich an den Tag gelegt hatte.

Und Peter, ermutigt durch ihre Aufmerksamkeit, zog erneut die technischen Zeichnungen aus seiner Mappe und erklärte sie mit einer Eindringlichkeit, die ganz und gar nicht zu einem Faulenzer passen wollte. Je begeisterter und aufgeregter er von dem Projekt erzählte, desto mehr erinnerte er Tallie an Elias, als er von seinen Arbeiten mit Holz sprach.

Während sie Peter zuhörte, fragte sie sich, was wohl aus Elias geworden wäre, wenn er seinem Traum hätte folgen können. Würde er häufiger lächeln und seltener finster dreinblicken?

„Das Brett funktioniert“, schloss Peter schließlich mit fester Stimme. „Ich habe unzählige Prototypen gebaut und modifiziert. Mir fehlt nur das Geld, um in Serienproduktion zu gehen. Ich habe in einer Zeitung über die Veränderungen gelesen, die Elias für die Firma plant. Deshalb bin ich hier. Ich dachte, ein Windsurfer würde gut zu Antonides Marine passen. Elias ist da leider anderer Meinung.“

Tallie befeuchtete sich die Lippen und dachte darüber nach, was sie antworten sollte. Elias hatte bereits Nein gesagt. Aber abgelehnt hatte er aufgrund von emotionalen Überzeugungen, nicht wegen des möglichen Potenzials von Peters Idee. Sie hatte keine Ahnung von Surfbrettern. Also würde sie Elias nicht widersprechen, doch ihr Bauch sagte ihr, dass ein Windsurfer viel besser zu Antonides Marine passte, als eine Bekleidungslinie.

„Ein interessantes Projekt“, sagte sie endlich. „Kann ich es meinem Bruder zeigen? Theo ist kein professioneller Windsurfer, aber er weiß eine Menge über Wind. Und alles über Segelboote.“

„Ihr Bruder ist Theo Savas?“ Peter sah sie fast ehrfürchtig an. Dann strahlte er über das ganze Gesicht. „Verdammt, klar. Sie können ihn fragen. Das wäre fantastisch.“

„Wie wäre es, wenn Sie ihn selbst fragen? Ich rufe Theo an und vereinbare einen Termin. Im Moment ist er in Newport. Sie könnten ihn dort treffen.“

„Kein Problem. Hier hält mich sowieso nichts.“ Er nannte ihr seine Handynummer und sammelte seine Zeichnungen ein.

„Ich melde mich, sobald ich ihn erreicht habe. Aber, Peter“, sie fasste ihn am Arm, „Ich verspreche nicht, Elias’ Entscheidung zu widerrufen. Ich verspreche nur, Theo zu bitten, einen Blick auf Ihre Entwürfe zu werfen. Wenn er glaubt, Ihre Idee ist gut, spreche ich mit Elias.“

Peter nickte ernst. „Verstanden. Alles, was ich will, ist eine faire Chance. Und wenn Antonides Marine meinen Windsufer nicht will, finde ich eine andere Firma.“ Er wandte sich zur Tür, blieb dann aber noch einmal stehen. „Ich weiß, wie schwer Elias es in den letzten Jahren hatte. Doch da Sie nun hier sind, muss irgendjemand endlich eingesehen haben, dass er nicht die ganze Arbeit alleine erledigen kann. Und ich möchte auch meinen Teil beitragen.“

Tallie lächelte. „Ich rufe meinen Bruder an.“

Es war, vorsichtig ausgedrückt, ein Tag in der Hölle.

Erst der Anruf seiner Mutter und ihre Beschwerden, nicht bei Cristinas Hochzeit gewesen zu sein, gefolgt von der Auflistung potenzieller Heiratskandidatinnen für ihn.

Dann Peter und sein verrückter Plan zum Bau eines Windsurfers, der Elias’ Meinung nach nur eine Ausrede war, immer noch keinen richtigen Job angenommen zu haben.

Und danach hatte er versucht, seine Unterlagen bezüglich des Kaufs von Corbett’s für Tallie zusammenzustellen, und sein Computer war abgestürzt.

„Ein Virus“, sagte Paul. Vermutlich mit der E-Mail von Lukas gereist, in der er schrieb, er habe sich den Arm beim Skifahren gebrochen, und wenn Elias eine Stelle für ihn hätte, dann doch bitte eine, die er einarmig bewerkstelligen könnte.

„Ich kümmere mich darum.“ Paul war mit dem Prozessor verschwunden, Elias hingegen ohne Dossiers zurückgeblieben. Also sagte er Rosie, sie solle Tallie Bescheid geben, sie müssten ihr Meeting verschieben. Aber Tallie war beschäftigt, sie hielt mit irgendjemand eine Besprechung in ihrem Büro ab.

Tallie. Sie spukte ständig durch seine Gedanken … ihr Lächeln, ihr scharfer Verstand, ihr Lachen, ihre Berührungen.

Er begehrte sie auf eine Weise, wie er Millicent nie begehrt hatte. Mit ihr konnte er über alles sprechen, sogar über seine Liebe zur Arbeit mit Holz. Sie verstand ihn. Wahrscheinlich verstand sie sogar den Neid, den er beim Anblick von Nikos Constanides’ Werft empfunden hatte. Sie verstand ihn einfach.

Und er liebte sie.

Er wartete auf das typische instinktive Gefühl der Ablehnung von allem, was – seit Millicent ihn verlassen hatte – mit Liebe zu tun hatte.

Es blieb aus.

Denn Tallie war nicht Millicent.

Tallie war ein ganz anderer Mensch. Aufrichtig, liebevoll, warmherzig. Freundlich, angenehm und witzig. Enthusiastisch und energisch. Ganz zu schweigen von leidenschaftlich.

Aber sie liebte ihn nicht.

Sein Magen verkrampfte sich. Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Er musste über alles nachdenken. Doch bevor er auch nur damit beginnen konnte, meldete Rosie sich.

„Ihr Vater auf Leitung zwei.“

„Ah, Elias. Wie läuft das Geschäft?“ Wie immer ließ Aeolus sich Zeit. Er sprach über das Wetter, sein neues Neuner Eisen, dann darüber, dass er gestern einen achtzehn Loch Kurs gegen Socrates Savas gespielt hatte. „Ich habe ihn besiegt“, fügte er mit großer Befriedigung hinzu.

„Ich nehme nicht an, dass du das Haus zurückgewonnen hast“, sagte Elias.

„Um ehrlich zu sein, doch.“

Elias setzte sich auf. „Du machst Witze.“

„Nein. Ich muss zugeben, es hat mich selbst überrascht. Ich sagte, ich möchte das Haus zurück, wenn ich gewinne, und er war einverstanden.“

Elias fragte nicht, was der Einsatz war, wenn sein Vater verloren hätte.

„Er macht sich Sorgen um seine Tochter“, erklärte Aeolus.

„Sorgen? Um Tallie? Was meinst du damit?“ Jetzt hörte Elias aufmerksam zu.

„Sie arbeitet zu viel und verpasst das Leben. Seit ihr Verlobter vor ein paar Jahren gestorben ist, ist sie alleine.“

„Verlobter?“ Bisher hatte sie nie einen Verlobten erwähnt.

„Sein Name war Brian. Ein Pilot bei der Navy. Sie wollten heiraten. Er starb bei einem Trainingsunfall. Mehr weiß ich auch nicht.“

Doch es reichte bereits, um eine Menge zu erklären.

„Socrates ist der Meinung, sie habe lange genug getrauert. Sie muss wieder ausgehen und Menschen treffen. Männer kennenlernen.“

Sie brauchte keine Männer mehr kennenzulernen. Sie kannte bereits einen.

„Ihr wird es gut gehen“, sagte er und schwor sich insgeheim, Wort zu halten.

„Leicht gesagt. Nicht so leicht, wenn es dein Kind ist“, erwiderte Aeolus. „Eltern machen sich nun mal Sorgen um ihre Kinder. So wie wir uns um dich. Du kannst dich nicht für immer vom Leben ausschließen, Elias. Du hast eine schlechte Erfahrung gemacht. Aber du kannst dich nicht weigern zu leben.“

„Ich weigere mich ja gar nicht.“ Warum sprachen sie auf einmal von ihm?

„Du bist unser Sohn. Wir lieben dich. Du arbeitest so hart für die Familie. Jeden Tag deines Lebens widmest du uns. Es ist Zeit, dass wir dir etwas zurückgeben.“

„Indem ihr eine Frau für mich findet?“

„Es ist nur zu deinem Besten, Elias.“

„Bitte, tut mir keine Gefallen mehr.“

„Du magst doch Frauen, oder?“ Sein Vater klang ein wenig entsetzt, als ihm diese Möglichkeit einfiel. „Ich meine, ich hätte nie gedacht, dass Millicent dich aus diesem Grund …“

„Auf Wiederhören, Dad.“ Elias knallte den Hörer auf die Gabel.

Es war fast sechs, als Tallie die letzten Worte ihrer abschließenden Einschätzung zum Kauf von Corbett’s niederschrieb. Dann las sie und unterzeichnete die Briefe, die Rosie ihr vorgelegt hatte. Sie hätte dies schnell erledigen können, doch sie ließ sich Zeit. Wartend, hoffend, dass Elias vielleicht in ihr Büro käme.

Während ihres beschäftigten Arbeitstages hatte sie ihn kaum zu Gesicht bekommen. Allerdings waren immer wieder Erinnerungen an ihr Liebesspiel ungebeten vor ihrem inneren Auge aufgeflackert. Der Hunger, die Leidenschaft, das Versprechen seines letzten sehnsüchtigen Kusses.

Welches Versprechen?

Sie starrte aus dem Fenster auf die Skyline des nächtlichen Manhattans, ohne wirklich etwas zu sehen. Erst eine Bewegung aus den Augenwinkeln ließ sie aufschrecken.

Elias lehnte gegen den Türrahmen, den obersten Hemdknopf geöffnet, die Krawatte gelockert. Wie lange er dort schon stand und sie beobachtete, wusste Tallie nicht. Sein Anblick sandte eine Woge der Freude durch sie hindurch.

„Hey!“ Sie lächelte fröhlich.

Elias richtete sich auf. „Selber hey.“ Er bedachte sie mit einem flüchtigen Grinsen, das so schnell wieder verschwand, wie es gekommen war.

„Was ist los?“, fragte Tallie stirnrunzelnd. Er wirkte nervös.

„Ich möchte dir einen geschäftlichen Vorschlag machen.“ Er betrat das Büro. Vor dem Schreibtisch blieb er stehen.

Ohne sie anzusehen, begann er, auf und ab zu gehen, steckte die Hände in die Hosentaschen, zog sie wieder heraus.

Allmählich machte sein Verhalten ihr Angst.„Was für einen Vorschlag?“

Elias hielt inne, wandte sich zu ihr um und schaute sie an. Dann atmete er tief ein. „Heirate mich.“

Was auch immer er gesagt hatte, sie hatte ’Heirate mich’ gehört. Das konnte auf keinen Fall stimmen.

Oder doch?

Plötzlich wurde ihr leicht ums Herz. Ihre Ängste verschwanden.

Sie liebte einen Mann, der ihre Liebe erwiderte.

Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihren Lippen aus, aber Elias sah es nicht. Er hatte sich bereits wieder umgewandt. Nun war er es, der auf die Skyline hinausstarrte. „Ich weiß, dass du nicht auf der Suche nach einem Mann bist“, erklärte er tonlos. „Ich weiß, dass du mich nicht liebst.“

„Ich …“

„Doch das spielt keine Rolle. Hier geht es nicht um Liebe, sondern um eine vernünftige Entscheidung.“

Tallies Herzschlag stockte. Es ging nicht um Liebe?

„Du solltest heiraten“, fuhr er unbeirrt fort. „Und eine Familie gründen. Dein Vater will, dass du eine Familie hast.“

„Mein Vater? Was hat mein Vater mit alledem zu tun?“ Ihre Stimme klang schrill. Ein weit schrecklicherer Gedanke kam ihr in den Sinn. „Hat er dir das gesagt?“

Sie würde ihren Vater umbringen, ihn mit bloßen Händen erwürgen.

„Nein, nicht mir.“ Elias fuhr sich mit einer Hand über den Nacken. „Er hat es meinem Vater gesagt, und der hat es mir erzählt.“

Anschließend hacke ich ihn in kleine Stückchen, dachte Tallie. Glücklicherweise hatte Elias wieder begonnen, auf und ab zu gehen.

Sie tat einen Atemzug, dann noch einen. „Und du heiratest mich also“,sagte sie mit größtmöglicher Ruhe,„weil mein Vater denkt, ich brauche einen Ehemann.“

„Es könnte dir helfen, dich auf die Arbeit zu konzentrieren.“

„Meinst du nicht, dass ich das bereits tue?“

„Ja, aber es ist alles, was du tust. Nun, nicht ganz.“ Sie wusste, woran er sich erinnerte, denn auch sie dachte an die vergangenen Nächte. Die hatten ihr offensichtlich mehr bedeutet als ihm. „Ich denke nur, es würde die Dinge einfacher machen.“

Sie antwortete nicht. Selbst wenn ihr Leben davon abgehangen hätte, wäre ihr keine Antwort eingefallen.

„Ich weiß von Brian“, sagte er, als sie weiterhin schwieg. „Du hast ihn geliebt. Das ist in Ordnung. Es hat nichts mit uns zu tun. Aber dein Vater würde endlich aufhören, sich in dein Leben einzumischen. Du könntest deine Karriere vorantreiben. Und …“, er zuckte unbehaglich die Schultern, „… du musst zugeben, der Sex ist gut.“

Vielleicht würde sie nicht nur ihren Vater umbringen.

„Der Sex ist gut?“ Tallie verschränkte die Hände im Schoß, damit sie Elias nicht auf der Stelle erwürgte.

Auf seinen Wangen erschienen hektische rote Flecken. „Ja! Du weißt es. Besser als gut. Fantastisch.“

„Ja.“

„Und?“ Erwartungsvoll schaute er sie an.

„Sonst noch etwas?“, fragte sie nach einem Moment. Was ist zum Beispiel mit Liebe?

Elias’ Blick verfinsterte sich. Er fuhr mit den Fingern durchs Haar und nahm sein ruheloses Umhergehen wieder auf.

Komm schon, Elias, drängte sie ihn in ihrem Kopf. Du kannst es. Ich weiß, sie hat dich verletzt, aber ich werde dir niemals wehtun. Ich liebe dich. Du kannst diese drei kleinen Worte sagen.

„Es würde auch meinen Vater zum Schweigen bringen“, murmelte er. „Er und meine Mutter haben sich in den Kopf gesetzt, mich mit jedem ledigen griechischen Mädchen der Stadt bekannt zu machen.“

„Ich verstehe.“

„Nein, das tust du nicht!“ Er schrie fast. „Ich will nicht, dass sie mich mit einer Frau nach der anderen verkuppeln wollen. Ich kann nicht denken, wenn sie hinter meinem Rücken Pläne schmieden. Und jetzt bist du hier, und sie glauben, ich hätte Zeit und könnte noch mehr Frauen kennenlernen und …“

„Was für ein schreckliches Schicksal.“

„Ja, das ist es. Dein Vater tut genau dasselbe mit dir. Eine Hochzeit würde uns also beiden zum Vorteil gereichen. Dann könnten wir den Rest unseres Lebens in Ruhe leben, ohne dass unsere Eltern uns auf die Nerven gehen.“

„Und der Sex ist gut.“ Tallie wusste nicht genau, ob sie lachen oder weinen sollte.

„Genau.“ Elias nickte begeistert, offensichtlich erleichtert, dass sie ihn verstand. „Also, wie ist es? Heiratest du mich?“

Tallie schluckte und betete, die Tränen würden nicht jetzt kommen, da sie das schlimmste Wort ihres Lebens sagen musste. „Nein.“

11. KAPITEL

Sosehr Tallie auch Ja sagen wollte, sie konnte es nicht.

Für sie war eine Ehe ein heiliger Bund zwischen zwei Menschen, die einander liebten. Sie bedeutete lebenslange Treue, ein Zeugnis von Glaube und Liebe und Vertrauen.

Es war nicht einfach ein ’Geschäft’.

„Nein“, sagte sie deshalb noch einmal heiser. „Vielen Dank, aber es würde nicht funktionieren.“

Sie konnte ihn nicht aus den falschen Gründen heiraten. Sie konnte ihn nicht lieben, wenn er nur auf guten Sex und eine angenehme geschäftliche Beziehung aus war. Aber das konnte sie ihm nicht erklären. Nicht ohne zu gestehen, dass sie sich verliebt hatte … und sich nichts sehnlicher wünschte, als dass er sie auch liebte.

Elias starrte sie an, als habe sie den Verstand verloren. Doch dann zuckte er nur gleichgültig die Schultern. „Was auch immer“, sagte er leichthin. „War nur so ein Gedanke.“ Als spiele es wirklich überhaupt keine Rolle.

Weshalb ich dankbar sein sollte, abgelehnt zu haben, schoss es Tallie durch den Kopf. Irgendwann würde sie das auch sein – eines Tages. Im Moment jedoch wollte sie nur noch, dass er ging.

„Also“, meinte er einen Augenblick später. „Ich mache Feierabend.“ Er bewegte sich auf die Tür zu, blieb dann stehen und sah sich zu ihr um. „Fürchte, heute Abend habe ich keine Zeit für guten Sex. Ich habe bereits eine andere Verabredung.“

Tallie fühlte sich, als habe er sie geschlagen.

Sie brachte ein Nicken zustande. „Kein Problem“, sagte sie, fest entschlossen, ihn nicht sehen zu lassen, wie sehr seine Oberflächlichkeit sie verletzte.

Einen endlosen Moment sahen sie einander an. Elias’ Miene blieb ausdruckslos. Dann wandte er sich wie in Zeitlupe ab und ging.

Sekunden später fiel die Tür zu Antonides Marine leise ins Schloss.

Lange blieb Tallie in der Stille des verlassenen Büros sitzen. Es ging mir besser, dachte sie und blinzelte eine Träne fort, als ich all die Jahre seit Brians Beerdigung nichts gefühlt habe.

Langsam, wie eine alte Frau, stand sie auf und humpelte auf ihre Krücken gestützt in den Empfangsbereich. Vor Rosies Schreibtisch hielt sie inne und betrachtete ein letztes Mal die Räumlichkeiten, in denen sie so gerne geblieben wäre. Aber hier konnte sie nicht mehr arbeiten. Elias jeden Tag sehen zu müssen, wäre unerträglich.

Tallie setzte sich an Rosies Schreibtisch und schrieb eine Nachricht für Elias.

Als sie fertig war, legte sie diese auf den Tisch in seinem Büro. Daneben platzierte sie ihren Bericht mit der detaillierten Auflistung aller Gründe, warum sie ihrer Meinung nach auf den Kauf von Corbett’s verzichten sollten. Darunter hatte sie hinzugefügt, dass ihr Bruder Theo sich vielleicht mit einer besseren Idee melden würde.

Ans Ende ihrer Nachricht schrieb sie: „Alles, was ich getan habe, habe ich für das Wohl der Firma getan. Und aus diesem Grund höre ich auch auf.“

Sie war gegangen.

Elias saß an seinem Schreibtisch und starrte auf den Brief in seiner Hand.

Seine Finger zitterten, seine Kehle verengte sich, seine Augen brannten. Er biss die Zähne zusammen und versuchte, keinerlei Empfindungen zuzulassen. Aber er fühlte sich zerschmettert. Verloren. Leer. Und wütend.

Wie konnte sie einfach gehen? Wie verantwortungslos war ein solches Verhalten?

Nun, zur Hölle mit ihr. Wenn sie so dachte, war es in der Tat besser, dass sie aufgehört hatte. Er brauchte sie nicht.

Doch es tat so unendlich weh.

Den Angestellten hatte er nur kurz ihre Entscheidung kundgetan: „Miss Savas hat die Firma verlassen.“ Er hatte geschwiegen und in die entsetzten Gesichter geschaut. „Dort drüben liegen Bagels. Bedient euch.“

Natürlich hatten sie Fragen gestellt.

„Was ist passiert?“

„Wo ist sie?“

„Einfach so zu gehen, sieht ihr gar nicht ähnlich.“

„Ob wir sie verärgert haben?“

„Nein, das glaube ich nicht!“ In Elias’ Tonfall hatte sich eine ungeduldige Schärfe geschlichen. Er war sich mit der Hand durch die Haare gefahren und hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. „Vergesst es einfach.“

Auch er versuchte, alles zu vergessen.

Er stürzte sich in die Arbeit. Während der nächsten Woche rief er Corbett an und teilte ihm mit, dass sie sich gegen den Kauf seiner Firma entschieden hatten.

„Wir haben eine lange Diskussion über die Zukunft von Antonides Marine geführt“, erklärte Elias ihm. „Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen. Und obwohl wir neue Wege beschreiten wollen, möchten wir doch bei dem bleiben, was wir kennen. Und das sind Boote, nicht Kleidung.“

„Es war diese Frau“, murmelte Corbett. „Sie mochte uns nicht.“

„Miss Savas arbeitet nicht mehr in der Firma. Es war meine Entscheidung.“

Aber selbstverständlich hatte Tallies Beurteilung eine Rolle gespielt. Sie hatte den Wert eines Geschäfts wie Corbett’s für Antonides Marine richtig eingeschätzt. Sie wusste um die Geschichte, die Erfolge und die Fehler von Antonides Marine International. Sie war eine gute Präsidentin gewesen.

Eine gute Freundin. Eine gute Partnerin.

Elias schob sämtliche Erinnerungen beiseite und arbeitete Tag und Nacht. Er baute ein Bücherregal. Danach Schränke und Vitrinen. Er beendete die Renovierung im ersten Stock, und riss dann im Erdgeschoss die Wände ein.

Jeden Tag erwartete er von seinem Vater die Nachricht zu hören, sie habe einen erstklassigen Job in einer größeren Firma ergattert. Aber sein Vater sagte nichts.

Eines Nachmittags, zweieinhalb Wochen nachdem sie gegangen war, erhielt er einen Anruf von ihrem Bruder Theo.

„Der Windsurfer funktioniert.“

„Wie bitte?“ Elias hatte keine Ahnung, wovon Theo sprach.

„Tallie hat Ihren Bruder Peter zu mir geschickt, damit er mir die Pläne für sein Surfbrett zeigt. Es ist wirklich beeindruckend. Sie sollten ernsthaft darüber nachdenken.“

Weder der Windsurfer noch sein Bruder erregten Elias’ Aufmerksamkeit. „Tallie hat ihn geschickt?“, fragte er. „Wann?“

„Vor ein paar Wochen. Vielleicht drei. Ich hatte in der Nähe zu tun. Peter ist zu mir nach Newport gekommen. Wir sind zusammen nach Boothbay und zurück gesegelt. Danach haben wir das Surfbrett gebaut.“

„Gebaut?“

Autor

Anne Mc Allister
Anne Mcallister, Preisträgerin des begehrten RITA Award, wurde in Kalifornien geboren und verbrachte ihre Ferien entweder an kalifornischen Stränden, auf der Ranch ihrer Großeltern in Colorado oder bei Verwandten in Montana. Genug Gelegenheiten also, um die muskulösen Surfer, die braungebrannten Beach-Volleyballer und die raubeinigen Cowboys zu beobachten! Am Besten gefielen...
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