Die Braut des Wüstenprinzen

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Entführt! Ein großer dunkelhaariger Mann stürmt in die Kirche und reißt Elenor vom Altar mit sich fort. Kein Bitten, kein Flehen hilft da, das weiß sie genau! Zu gut kennt sie den glutäugigen Scheich, der mit ihr in wildem Galopp durch die Wüste sprengt, auf die Grenzen seines Königreichs zu. Denn sie und Prinz Karim waren schon einmal ein Paar. Jeder Tag wie ein Märchen, jede Nacht wie ein sinnlicher Traum - bis ein grausames Schicksal ihr Glück zerstörte. Nur eins versteht Elenor nicht: Wenn wirklich alles aus ist - warum nimmt Karim sie erneut so leidenschaftlich in die Arme?


  • Erscheinungstag 19.01.2010
  • Bandnummer 68
  • ISBN / Artikelnummer 9783862953967
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Er schlief unruhig. Das dunkle, leicht gewellte Haar fiel nach hinten und bedeckte kaum das markante Gesicht. So bot er einen majestätischen Anblick – ausgeprägte Wangen, eine kühne Nase und einen stolzen Mund.

Als er sich zur Seite drehte, rutschte die raue Decke ein wenig zur Seite. Ganz kurz erhellte ein Lichtstrahl, der durch eine Lücke in der Zeltwand fiel, seinen muskulösen Oberkörper. Gleich darauf war es wieder vollkommen dunkel.

„Nuri!“, schrie er plötzlich, als würde er spüren, wie die Nacht das Licht vertrieb. In seiner Sprache bedeutete das Wort „Licht“. „Nuri!“, schrie er wieder – sehnsüchtig und verzweifelt. Aber die Nacht hüllte ihn endgültig ein.

In dem Traum suchte er nicht nach Licht, sondern nach seinem Licht – einer Frau …

Eilig durchschritt er die Festung. Aber er konnte den hauchdünnen Stoff, die immer wieder vor ihm aufblitzende graue Seide nicht einholen. Mal glitt sie um eine Ecke, mal verschwand sie durch eine Tür – zum Greifen nah, aber dennoch unerreichbar. Er öffnete Türen und sah in leere Räume. Wieder und wieder griff er nach dem Stoff, ohne ihn berühren zu können.

Unaufhörlich blies der Wind. Die ganze Zeit über spürte er ihn und sah, wie er den dünnen Stoff bauschte. Er wusste, dass der Wind aus dem Innersten der Festung kam. Und er wusste, dass die Frau ihn dorthin führte.

Endlich war sie zum Greifen nah. Dicht vor ihm fiel eine Tür zu. Er hatte sogar einen kurzen Blick auf ihr Gesicht erhaschen können, bevor der wehende Stoff hinter der zweiflügeligen Tür verschwand. Nur Sekunden später stieß er die Tür weit auf und betrat den Raum.

Da war sie. Der Wind wehte durch ihr Haar und presste die graue Seide dicht an ihren Körper. Gleichzeitig war sie selbst der Wind.

Einen Moment konnte er sich kaum bewegen. Mit wild klopfendem Herzen stand er reglos da und sah sie an. Die Tür war der einzige Ausgang des Raums. Jetzt gehörte sie ihm. Ihr helles, vom Wind leicht flatterndes Haar und der sich unter der Seide deutlich abzeichnende, perfekte Körper riefen in ihm eine nahezu unerträgliche Sehnsucht wach.

Lächelnd streckte sie beide Hände aus. Sie war wie die Göttin des Wassers, treu und rein. Seinen Körper erfüllte eine lähmende Leidenschaft, sein Herz angstvolle Liebe.

Er überwand seine Erstarrung und Furcht und näherte sich ihr. Erst als er sie in die Arme schloss, gehörte sie ihm ganz. Eine Frau aus Fleisch und Blut, seine ihm angetraute Ehefrau. Sie war Vollkommenheit und Makel zugleich, Feuer und Eis, Wasser und Dürre, sie war Licht.

„Nuri!“, schrie er. „Mein Licht!“ Fest drückte er sie an sich, sie sollte ihn nie wieder verlassen.

Als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hielt er inne. Aber es kam kein Wort über ihre vollen Lippen, die zu küssen er versäumt hatte. Stattdessen lächelte sie, und ihr Blick entglitt ihm. Dann löste sich ihre Gestalt in Luft auf.

Mit einem verzweifelten Schrei wachte er auf. Draußen wehte ein stürmischer Wind, der jedoch nicht bis ins Zelt drang. Er stützte sich auf den Ellenbogen und tastete neben sich. Doch das Bett neben ihm war leer.

„Habt Ihr gerufen, Herr?“ Ein besorgter Wächter eilte herbei.

„Es war nur ein Traum.“

„Ein Traum vom Sieg, so Gott will.“

„Ja, ein Traum vom Sieg“, stimmte er zu. Sie war sein persönlicher Sieg.

„Möge Gott Eure Worte hören“, erwiderte der Wächter und ging zurück in die Nacht.

1. KAPITEL

„Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Pilot.“

Elenor Brooke hatte gerade geistesabwesend vor sich hingesehen.

Der Pilot räusperte sich. „Wir überqueren jetzt die östliche Grenze des Königreichs Parvan. Momentan befinden wir uns über der Großen Zentralwüste. Wenn Sie rechts sitzen, können Sie in wenigen Minuten in der Ferne die Hauptstadt Shahr-i Bozorg sehen. Sie liegt am Fuße des Kohishir-Gebirges.“

Folgsam wandte Elenor den Blick dem Fenster zu. Tausende haarfeiner Furchen auf dem Kunststoffoval brachen das blendende Licht der Sonne. Elenor kniff die Augen zusammen und ließ den Blick über die Wüste zu den zerklüfteten, schneebedeckten Bergen in der Ferne schweifen. Gerade hatten sie eine Flughöhe, die unterhalb des höchsten Gipfels Shir lag.

Shir. Nach diesem Berg war der gesamte Gebirgszug benannt. Elenor fröstelte. Koh-i shı¯r. Sie sagte den Namen leise vor sich her. Löwenberg. Milchberg. „Der Löwen-Milch-Berg gehört uns, und wir gehören dem Löwen-Milch-Berg“, hatte er zitiert, als sie das Gebirge zum ersten Mal gesehen hatte. Shir an-ı¯ma¯ hast, o ma¯ an-ı¯ shı¯r …

Energisch verdrängte Elenor die Erinnerung an die allzu bekannte Stimme und wandte sich ihrer Sitznachbarin zu, die gerade fragte: „Holt Ihr Verlobter Sie vom Flughafen ab?“

„Ja, sicherlich.“ Natürlich würde Gabriel sie abholen. Er war ein englischer Gentleman, wie er im Buche stand. Außerdem würden seine Beziehungen die Einreiseformalitäten erleichtern. Was den Umgang mit Ausländern betraf, so verhielten sich die kaljukischen Behörden noch immer ein wenig übervorsichtig. Während der Sowjetherrschaft waren kaum Fremde ins Land gekommen. Nach deren Zusammenbruch verlief die Einreise einige Jahre recht unkompliziert. Doch dann führte der Krieg gegen Parvan zum erneuten Abriegeln der Grenzen für Reisende. Außerdem war Kaljukistan nun offiziell ein islamischer Staat und sie eine allein reisende Frau. Gabriel würde sie in jedem Fall abholen.

„Übrigens musste man auf den Ausblick, den Sie gerade genießen, bis vor Kurzem weitgehend verzichten“, erklärte der Pilot, als in der Ferne die Türme von Shahr-i Bozorg auftauchten.

Erst als ihre Augen vom grellen Gegenlicht zu schmerzen begannen, wandte Elenor den Blick ab. Parvan.

„Inzwischen können Verkehrsflugzeuge die Große Zentralwüste wieder überqueren. Aber während des Kriegs zwischen Kaljukistan und Parvan galt das Überfliegen der Wüste als sehr gefährlich. Die Grenze zwischen den Ländern verläuft in dieser Wüste, und nur die Ansässigen kennen ihren genauen Verlauf. Wer sich während des Kriegs hier im Luftraum aufgehalten hat, lief Gefahr, abgeschossen zu werden. Durch den jüngst erlangten Frieden zwischen den beiden Ländern verkürzt sich Ihre Flugzeit um zwei Stunden. In etwa einer halben Stunde werden wir in Shahriallah, der erst kürzlich umbenannten Hauptstadt Kaljukistans landen.“

Elenor blinzelte. Shahriallah. Ach ja, richtig. Sie hatte erwartet, dass er stattdessen Shahr-i Bozorg sagen würde.

Gerade so, als hätte es die vergangenen Jahre nicht gegeben. Oder als wäre ihr Leben in eine andere Spur geraten und sie gerade auf dem Flug nach Hause.

Nein, nicht nach Hause. Ihre Züge verhärteten sich. Was immer er gesagt hatte, Parvan war viel für sie gewesen, aber niemals ein Zuhause. Missmutig griff sie nach ihrer Tasche und stellte sie sich auf den Schoß.

„Haben Sie etwas verloren?“, hörte sie eine Stewardess mit sanfter Stimme fragen und drehte sich zu ihr um. Die Flugbegleiterin hielt ihr ein Stück Papier entgegen. Es war in den Gang gefallen, als Elenor ihr Handgepäck an sich genommen hatte.

Zwar kam ihr der Zettel nicht bekannt vor, aber die letzten Tage vor ihrer Abreise waren sehr hektisch gewesen. Möglich, dass sie ihn eingesteckt hatte, ohne weiter darüber nachzudenken. Also nahm sie ihn entgegen und bedankte sich.

Doch kaum, dass sie das Papier berührte, fühlte sie sich sonderbar bedroht. Von einem plötzlichen Widerwillen gegen das Stück Papier erfüllt, wollte sie seine Annahme nun lieber verweigern. Aber die Stewardess hatte ihn bereits losgelassen und kümmerte sich um einen anderen Fluggast.

Also faltete Elenor den Zettel auseinander.

Kehr nach Hause zurück.

Elenor rang nach Luft und sah sich beunruhigt um. War diese Botschaft für sie bestimmt? Von wem konnte sie stammen? Sie versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wer während des Flugs an ihrem Platz vorbeigekommen war, erinnerte sich jedoch an nichts Ungewöhnliches. Nur an die Stewardessen mit dem Kaffee und den exotischen Snacks.

Die Kaljukin auf dem Platz neben ihr hatte offensichtlich nichts bemerkt. „Das hier muss Ihnen gehören“, sagte Elenor zu ihr und hielt ihr den Zettel hin.

„Nein“, verkündete die Frau, nachdem sie einen Blick auf das Papier geworfen hatte. „Ich kann es nicht lesen.“

Selbst gebildete Kaljuken konnten die arabische Schrift nicht lesen. Nach Jahrzehnten der Sowjetherrschaft wurde sie bei der Errichtung des islamischen Gottesstaats wieder eingeführt. Das machte fast die gesamte Bevölkerung Kaljukistans von einem Tag auf den anderen zu Analphabeten. Nur die Mullahs waren noch in der Lage zu lesen.

Parvan dagegen hatte nie unter sowjetischer Herrschaft gestanden. Dort hatte man nie die Demokratie oder den Islam aufgegeben. Auch dieser Umstand führte zu Spannungen, die letztlich den Krieg zwischen den beiden Ländern auslösten. Nach der Wiedereinführung des Islams wollte das postkommunistische Kaljukistan Parvan einen religiösen Fundamentalismus aufzwingen, den dort keiner brauchte oder wollte.

Unruhig versuchte Elenor, sich einzureden, dass der Zettel schon an ihrem Platz gelegen haben konnte, bevor sie sich gesetzt hatte. Aber dann hätte sie ihn beim Verstauen des Handgepäcks sehen müssen.

Ihr Handgepäck! Hatte sie den Zettel womöglich selbst mit an Bord gebracht? Vielleicht hatte man ihn ihr im Gedränge am Flughafen von Samarkand zugesteckt, und nun war er herausgefallen …

Kehr nach Hause zurück. Möglicherweise war das völlig bedeutungslos. Vielleicht stammte der Zettel von jemandem, den die Anwesenheit von Fremden in seinem Land störte. Aber warum hatte ausgerechnet sie ihn bekommen? Auf dem Flughafen waren Hunderte Fremde gewesen. Selbst in diesem Flugzeug saßen mindestens zehn Personen, die offensichtlich nicht aus der Region kamen.

Bar gard maı¯hanet. Noch einmal las Elenor den in arabischer Schrift geschriebenen Satz. Sie konnte sich nicht länger weismachen, dass diese Botschaft nicht an sie gerichtet war. Gleich drei Dinge wiesen darauf hin. Erstens war der Satz in der persönlichen Form verfasst. Er richtete sich also nicht an eine dem Schreiber unbekannte Person. Zweitens war die Sprache nicht Kaljukisch, sondern Parvanisch.

Drittens hatte sie eine ähnliche Nachricht schon einmal gesehen. Auch damals war sie auf mysteriöse Weise in ihren Besitz gelangt.

Damals – und damit vermutlich auch jetzt – hatte es nicht bedeutet, dass sie nach Hause zurückgehen, sondern dass sie nach Hause zurückkommen sollte.

„Dies ist jetzt deine Heimat“, hatte er mehr als ein Mal zu ihr gesagt, ala¯n ı¯n maı¯hanet ast …

Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Wer hatte ihr den Zettel gegeben, und wann? Wo mochte der Überbringer jetzt stecken?

Und wie töricht war es, in seine Welt zurückzukehren?

Die Männer, die im vorderen Teil saßen, verließen das Flugzeug zuerst.

Elenors Sitznachbarin nutzte die Wartezeit, um ihr Kopftuch zurechtzurücken. Auch Elenor zog ein großes Seidentuch hervor und wickelte es sich so um den Kopf, dass es ihr langes, dickes, aschblondes Haar verbarg.

Missmutig sah ihre Nachbarin in einen Taschenspiegel. „Dass wir uns das immer noch gefallen lassen, obwohl es inzwischen mehr Frauen als Männer in Kaljukistan gibt. Es sind so viele in diesem unnötigen Krieg gestorben“, murmelte sie.

Inzwischen hatten alle Männer das Flugzeug verlassen. Die Stewardess, die den Frauen eben noch den Rücken zugekehrt hatte, drehte sich nun um, um sie herauszuwinken.

Draußen schlug ihnen eine fürchterliche Hitze entgegen. Die trockene Luft glühte auf der Haut und brannte in der Lunge. Eine Stewardess geleitete sie aufs Rollfeld hinunter und führte sie in das kleine Flughafengebäude.

Die Schlange am Einreiseschalter war zwar nicht lang, schmolz aber nur sehr langsam. Hier, hinter dem Schalter, hätte Elenor Gabriel treffen sollen, damit er den Beamten den Grund ihrer Einreise bestätigte. Aber sie konnte ihn nirgendwo erblicken.

Endlich kam sie an die Reihe. Ein dunkelhaariger, verschwitzter Mann saß am Schalter, neben sich eine Maschinenpistole. Mit einer routinierten Bewegung griff er nach Elenors Reisepass. Dann sprach er sie in gebrochenem Englisch an. Sie widerstand der Versuchung, ihm auf Kaljukisch zu antworten.

„Morgen ist meine Hochzeit mit Gabriel Horne. Er arbeitet bei der Britischen Botschaft“, erklärte sie und zwang sich, ruhig zu bleiben.

„Morgen. Ist er Ihr Verlobter? Kennen Sie ihn?“, erkundigte sich der Beamte.

Beunruhigt sah sie, wie er in ihrem Pass hin und her blätterte. Geduldig lächelnd schluckte sie den aufkommenden Ärger herunter. „Ja, wir haben uns in England kennengelernt. Dort habe ich Kaljukisch studiert“, erklärte sie lächelnd und hoffte, den Beamten damit von ihrem Pass ablenken zu können. Wenn er nun den parwanischen Stempel sah! Wieder warf sie einen verzweifelten Blick auf den Bereich hinter dem Schalter. Gabriels Anwesenheit und seine Erklärungen hätten genau dies verhindern können. Es war nicht vorherzusehen, wie ein kaljukischer Beamter reagieren würde, wenn er in einem Reisepass einen parvanischen Stempel entdeckte. Einen Stempel aus der Zeit vor dem Krieg.

„Wir werden sie mit Dokumenten und Papieren ablenken“, hatte Gabriel gesagt. „Es wäre das Beste, wenn sie gar nicht erst auf die Idee kommen, deinen Pass genauer anzugucken.“

Elenors Herz schlug heftiger. Wo war Gabriel? War ihm etwas zugestoßen?

Der Beamte, der mit seinem Dreitagebart eher aussah wie ein Desperado, gab nur einen grunzenden Laut von sich und fuhr fort, in ihrem Pass herumzublättern. Vermutlich gehörte er zu einem der Wüstenstämme, deren Angehörige nach der Islamisierung die meisten Ämter in der Verwaltung übernommen hatten.

„Eigentlich sollte er jetzt mit den Unterlagen hier sein“, versuchte Elenor, auf sich aufmerksam zu machen.

„Unterlagen?“ Er sah zu ihr auf. Beim Gedanken an Dokumente horchte er also auf. Vielleicht war er trotz seines Äußeren ein Bürokrat, dachte Elenor.

„Was für Unterlagen?“, hakte er nach.

„Eine Lizenz vom Erzbischof von Canterbury“, antwortete Elenor. Ohne diese Erlaubnis konnten sie nicht in der englischen Kirche in Shahriallah heiraten. Elenor hatte den Fragebogen zum Einholen der Lizenz ausgefüllt, und diese war direkt an den Geistlichen vor Ort geschickt worden.

‚Waren Sie schon einmal verheiratet?‘ So lautete eine der zu beantwortenden Fragen. Elenor kämpfte lange mit sich, bevor sie die Frage antwortetete. Das war keine echte Ehe, es gab nicht einmal eine richtige Hochzeitszeremonie, hatte sie sich gesagt und die Frage am Ende mit Nein beantwortet. Alles andere hätte die Dinge unnötig erschwert.

„Miss Brooke!“, hörte sie jetzt eine Stimme neben sich. „Es tut mir furchtbar leid, es gab ein Missverständnis! Ich hatte angenommen, Sie würden erst morgen kommen.“

Als Elenor aufsah, bemerkte sie einen Engländer in einem hellen Leinenanzug. Er redete bereits mit schuldbewusster Miene auf den Beamten ein. Sein Arabisch war ziemlich schlecht, aber er hatte ein Bündel Papiere bei sich. Erleichtert beobachtete Elenor, wie der Beamte ihren Ausweis beiseitelegte und die Dokumente entgegennahm.

„Gabriel musste sehr kurzfristig weg“, fuhr der Engländer, an sie gewandt, fort. „Erst als meine Sekretärin mir vorhin sagte, die Hochzeit sei morgen, wurde mir klar, dass Sie bereits heute ankommen. Es tut mir wirklich schrecklich leid.“

Nach ein wenig bürokratischem Geplänkel stempelte der Grenzbeamte Elenors Pass und gab ihn ihr zurück.

Nun betrat sie ganz offiziell Kaljukistan.

2. KAPITEL

Die Botschaft war ein schmuckloses Betongebäude im Stil des sozialistischen Realismus. Das Innere des Gebäudes entsprach genau dem, was das Äußere vermuten ließ.

„Es war nichts anderes in der geeigneten Größe und Lage zu finden“, versicherte Margaret, die Frau des Botschafters. Sie führte Elenor in ein Schlafzimmer, in dem drückende Hitze herrschte. „Nachdem die diplomatischen Beziehungen hergestellt wurden, gehörte es zu den ersten Aufgaben meines Mannes, ein geeignetes Quartier für die Botschaft zu finden. Das war gar nicht so einfach. Danke, Abdul.“

Sobald der kaljukische Portier Elenors Gepäck abgestellt hatte und gegangen war, griff Elenor nach dem Kleidersack und hängte ihn an einen Haken an der Innenseite der Tür.

„Dein Hochzeitskleid?“, riet Margaret. „Darf ich es anschauen?“

Weil Elenor ihr die Bitte nicht abschlagen konnte, öffnete sie den Kleidersack und zog das Kleid vorsichtig daraus hervor.

„Es ist atemberaubend!“, hauchte die Frau des Botschafters. „Wo bekommt man denn so ein wunderschönes Kleid?“

Bei der Hochzeit wollte Elenor traditionell gekleidet sein – und vor allem westlich. Das Kleid war aus dicker, glänzender Seide. Der stark gerüschte Ausschnitt ließ die Schultern frei. Unter dem V-förmig zulaufenden, schmalen Oberteil bauschte sich schimmernder Taft über üppigem Tüll. Das Kleid schien für eine Prinzessin gemacht zu sein.

Nur weil sie im Orient heiratete, hatte Elenor nicht auf die Dinge verzichten wollen, die zu einer westlichen Hochzeit gehörten. Als sie nun jedoch das Kleid betrachtete, kam es ihr ein wenig töricht vor, so viel Wert darauf gelegt zu haben.

„Wunderbar …“, flüsterte Margaret wieder. „Und was wirst du auf dem Kopf tragen?“

„Leider kann ich es noch nicht zeigen. Es ist gekühlt verpackt, daher kann ich es erst morgen herausholen“, antwortete Elenor verlegen.

Margaret blinzelte. „Ach, du liebe Güte! Aber ich bin sicher, dass du zauberhaft aussehen wirst.“ Das musste richtig sein, was auch immer gekühlt wurde, sagte sie sich. Selbst in Sack und Asche würde dieses Mädchen noch bezaubernd aussehen. Auf anziehende Weise verbanden sich in ihr Zerbrechlichkeit und Stärke. Von ihrer schlanken Gestalt ging eine Anmut aus, die man sonst nur bei Japanerinnen oder Inderinnen fand. Das dichte helle Haar, das weich über ihre Schultern floss, zog die Männer sicherlich an wie die Fliegen, vor allem in diesem Teil der Erde. Und diese graugrünen Augen …

„Gabriel kann sich glücklich schätzen“, beteuerte Margaret.

„Ich bin diejenige, die sich glücklich schätzen kann“, erwiderte Elenor. Und das stimmte. Gabriel war einfühlsam, ehrenhaft und so … verlässlich. Er gehörte zu jener Sorte Mann, die einer Frau Wertschätzung entgegenbrachte, sie umsorgte und beschützte. Er war ein Mann, der das Eheversprechen ernst nahm. Ein Mann, der auf einer traditionellen Hochzeitszeremonie bestand. Aber keine Angst, du

musst mir keinen Gehorsam schwören, mein Schatz, hatte er ihr geschrieben.

Plötzlich kam Elenor in den Sinn, dass es vielleicht sogar besser wäre, Gabriel Gehorsam zu schwören. Falls sie jemals versucht wäre, irgendetwas Verrücktes zu tun – ihm wegzulaufen, beispielsweise. Wenn sie Gabriel Gehorsam schwören würde, wäre sie davor sicher …

„Jetzt sollten wir uns auf den Weg zur Kirche machen, um den Ablauf der Hochzeit noch einmal vor Ort durchzugehen“, unterbrach Margaret ihre Gedanken. „Einer von Berties Assistenten wird für Gabriel einspringen“, fuhr sie unbekümmert fort, während sie Elenor die Treppe hinunterführte. „Es tut mir furchtbar leid, dass ich dich so hetzen muss. Sicherlich bräuchtest du erst mal ein wenig Ruhe. Aber ich habe versprochen, dass wir vor der Abendandacht kommen würden.“

Die kleine alte Kirche lag am anderen Ende der Stadt. Zwischenzeitlich hatte sie nichtreligiösen Zwecken gedient und war ein wenig heruntergekommen, wurde aber gerade restauriert. Zwar war das große Fenster hinter dem Altar nie zerstört worden, aber die kleineren Fenster hatten allesamt neue Scheiben aus fast schon grellem Glas. Sie passten nicht zu der unaufdringlichen Schönheit des Hauptfensters, das eine riesige rote Rosette im Zentrum eines weißen Achtecks auf blauem Grund zeigte.

Hätte Elenor noch irgendwelche Zweifel daran gehabt, ob es richtig war, Gabriel zu heiraten, so wären sie beim Anblick dieses Fensters verschwunden. Als sie das bunte Glas sah, wusste sie, dass es richtig war, in diesen Teil der Welt zurückzukehren, um Gabriel zu heiraten.

Allahu akbar, allahu akbar, allahu akbar … Seit mehr als drei Jahren hörte sie diesen hohen, leicht monoton klingenden Ruf nun zum ersten Mal wieder. „Allah ist groß. Kommt zum Gebet.“ Asr, das Nachmittagsgebet, hatte begonnen.

Trotz der Hitze, die in der kleinen Kirche herrschte, fröstelte Elenor. Schnell wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Priester zu, der gerade erklärte, wie die Zeremonie am folgenden Tag ablaufen würde.

Alles war ganz anders als beim letzten Mal. Auf beruhigende und tröstliche Weise anders.

Später, als sie sich für das Abendessen anzog, sah Elenor die Moschee. Von ihrem Schlafzimmerfenster aus konnte sie die frisch gestrichene grüne Kuppel in der untergehenden Sonne glitzern sehen. Es sollte eine kleine Verlobungsfeier für Elenor geben. Sie war sicher, dass Gabriel sie abholen würde, damit sie nicht allein unter lauter Fremden wäre. Am Fenster sitzend, erwartete sie ihn und beobachtete, wie die Sonne hinter der Moschee unterging. Erst als feststand, dass sie zu spät käme, wenn sie noch länger wartete, ging sie hinunter in die Wohnung des Botschafters.

„Übrigens, hier ist einer von den Ehrengästen!“ So stellte Bertram Willard Elenor vor, als sie den geschmackvoll eingerichteten Salon betrat. Etwa ein Dutzend Gäste war anwesend. Dem Klang ihrer Sprache nach waren die meisten Engländer oder Amerikaner. Alle begrüßten Elenor mit einem freundlichen Lächeln.

„Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Gabriel heute nicht mehr zurückkommt. Wir haben es eben erfahren. Sie sehen sich erst morgen in der Kirche“, teilte ihr der Botschafter bedauernd mit.

Elenor erschrak. Eine derartige Unzuverlässigkeit passte überhaupt nicht zu Gabriel. Aber sie ließ sich nichts anmerken. „Oh. Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich nur.

„Leider war die Verbindung sehr schlecht. Er wollte noch mit Ihnen sprechen, aber plötzlich war das Gespräch unterbrochen. Jedenfalls hat er versprochen, Sie morgen in der Kirche zu treffen.“

„Furchtbar, dass Gabriel überhaupt wegmusste“, bemerkte ein Gast und schüttelte Elenors Hand. „Konntest du nicht einen anderen schicken, Bertram? Wo musste er überhaupt so dringend hin?“

„Er handelt sich nicht um eine diplomatische Angelegenheit“, erwiderte Bertram freundlich. „Es ist etwas Privates. Er hat eine Nachricht erhalten und ist sofort abgereist.“

Plötzlich lief es Elenor eiskalt den Rücken hinunter. Sie sah den Botschafter direkt an.

„Wirklich?“, fragte sie ruhig. Dabei hätte diese neue Information sie völlig aus der Fassung bringen müssen. Denn allein schon der Gedanke, er wäre im Auftrag der Botschaft abgereist, war verwunderlich genug. Jetzt fand sie seine Abwesenheit nahezu unerklärlich. Gabriel hatte ihr gesagt, dass er niemanden in Kaljukistan kannte. „Ich wusste nicht, dass Gabriel außerhalb dieses Kreises jemanden kennt“, raunte sie dem Botschafter leise zu.

„Ja, mich hat es auch überrascht. Aber er muss denjenigen ziemlich gut kennen, sonst wäre er nicht so überstürzt aufgebrochen.“

„Wie schrecklich, dass Gabriel ausgerechnet jetzt wegmusste“, sagte eine Frau, die ein paar Jahre älter war als Elenor, als Bertram sie Elenor vorstellte. „Aber morgen wird er da sein. Und das ist alles, was zählt.“

„Ich habe gehört, Sie sprechen fließend Kaljukisch“, wandte sich kurz darauf ein Australier an Elenor, der selbst erst vor wenigen Tagen angekommen war. „Wie kommt das?“

„Vor dem Krieg habe ich ein Jahr hier gelebt“, antwortete sie. „Ich habe meinen Hochschulabschluss hier gemacht.

„Tatsächlich? In Kaljukistan?“

Sie zögerte. Eigentlich hätte sie sich denken können, dass sie heute alles Mögliche gefragt werden würde, und sich passende Antworten zurechtlegen sollen. Aber sie hatte angenommen, dies alles vorher noch einmal mit Gabriel besprechen zu können.

„Ja, ich war an der Universität von Shahriallah“, erklärte sie ausweichend. „Kurz nach der Unabhängigkeit Kaljukistans hat die Universität von London ein Austauschprogramm eingerichtet. Allerdings lief es nur wenige Jahre, und dann kam der Krieg. Ich hatte das Glück, an dem Programm teilnehmen zu können.“

Glück? Hatte sie wirklich „Glück“ gesagt? Wenn sie damals getan hätte, was man an der Universität von ihr erwartete, hätte sie es als Glück bezeichnen können. Aber so?

Kein einziges Seminar hatte sie an der Universität von Shahriallah besucht. Nicht einen Tag hatte sie in Kaljukistan verbracht. Aber sie hatte fließend Kaljukisch gelernt, das stimmte. Trotz der sehr unterschiedlichen Geschichte Kaljukistans und Parvans waren die Sprachen einander sehr ähnlich.

Als Elenor in ihr Schlafzimmer zurückkam, überfiel sie bleierne Müdigkeit. Erst jetzt merkte sie, dass sie seit fast vierundzwanzig Stunden wach war. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und fühlte sich, als müsste sie eine ganze Woche schlafen.

Seufzend drehte sie den Schlüssel im Schloss. Gabriel fehlte ihr. Zu gern hätte sie sich jetzt an ihn gekuschelt und sich von ihm versichern lassen, dass er alles unter Kontrolle hatte. Stattdessen war er aus geheimnisvollen Gründen abgereist, und niemand wusste warum.

Kurz kam ihr der Gedanke, dass er möglicherweise auch morgen nicht zurückkehren würde. Vielleicht hatte er es sich anders überlegt und mochte es ihr nicht sagen? Energisch schüttelte sie den Kopf. Natürlich wäre er morgen da. Wenn es einen Mann gab, auf den man sich verlassen konnte, dann war es Gabriel. Schon einmal hatte sie sich in jemandem getäuscht, aber bei Gabriel war sie sich sicher. Selbst wenn er es sich anders überlegt hätte, wäre er viel zu ehrenhaft, um es sich so leicht zu machen.

Im Zimmer war es völlig dunkel. Irritiert tastete Elenor nach dem Lichtschalter. Sie war sicher, beim Weggehen das Licht angelassen zu haben. Wahrscheinlich war die Birne kaputtgegangen, sagte sie sich. Aber wo war der Schalter?

Ein kühler Windzug streifte Elenor. Sie fröstelte. Ganz sicher hatte sie vorhin das Fenster geschlossen. Denn Margaret hatte sie noch gewarnt, da die starken Winde um diese Jahreszeit viel Sand und Staub hineinwehten. Eine plötzliche Vorahnung erschreckte sie. Endlich fand sie den Schalter und knipste das Licht an.

Ein Vorhang bauschte sich in dem Luftzug von der offenen Balkontür. Sonst war nichts verändert und keine Menschenseele zu sehen.

Erst ein paar Sekunden später entdeckte sie den Zettel auf ihrem Kopfkissen.

3. KAPITEL

Schon bevor Elenor den Zettel berührte, wusste sie, dass etwas auf Parvanisch darauf stand. Es war ein kleines, weißes Stück Papier, genauso wie im Flugzeug. Schon dort hätte sie es wissen müssen. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie es auch gewusst.

Du bist meine Frau. Ich werde nicht zulassen, dass du einen anderen heiratest. Zitternd drehte Elenor sich nach der offenen Balkontür um. Wer immer den Zettel gebracht hatte, er war längst wieder fort. Auch wenn die Feindseligkeiten zwischen den Ländern offiziell beendet waren, wollte sicher kein Parvaner bei einem Einbruch in Kaljukistan erwischt werden.

Du bist meine Frau. Zanam hasti. Nur einer konnte diese Worte geschrieben haben, obwohl ihr einst versichert worden war, dass sie nie seine Frau gewesen war. Du bist meine Frau.

Vielleicht hatte er das tatsächlich einmal gedacht. Doch zehn Monate nach der vermeintlichen Hochzeit hatte er sie verstoßen. Sie war niemandes Frau – außer Gabriels.

Plötzlich bemerkte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Voller Angst hob Elenor den Kopf, sah aber nur sich selbst – im Spiegel am anderen Ende des Raums. Mit einem schwachen Lächeln atmete sie auf, doch ihr Gesicht war weiß vor Schreck. Wo mochte Gabriel nur stecken? Was für eine Nachricht hatte er bekommen, dass er so plötzlich und unerwartet abreisen musste?

Trotz der Hitze, die hier auch nachts herrschte, fröstelte es Elenor. Ich werde es nicht zulassen, dass du einen anderen heiratest. Auf einmal wusste sie, wer Gabriel zu sich gerufen hatte – und warum. Und als stünde es ebenfalls auf dem Zettel, wusste sie auch, dass er morgen nicht in der Kirche sein würde. Prinz Karim von Parvan hielt Gabriel gefangen, um ihn davon abzuhalten, sie zu heiraten.

„Elenor! Du siehst wunderschön aus!“, rief die Frau des Botschafters.

Elenor saß vor dem Spiegel und befestigte den Kranz aus zarten Blüten in ihrem langen blonden Haar. Neben den hellblauen und rosafarbenen Blüten wirkten ihre grauen Augen blau. Der dazu passende, üppige Strauß lag auf dem Bett.

Doch es war alles umsonst. Für einen Mann, der womöglich schon nicht mehr lebte. Aber sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Er hatte gesagt, sie würden sich in der Kirche treffen. Also musste sie sich so verhalten, als würde es auch tatsächlich geschehen. Was sollte sie sonst tun? Hier gab es niemandem, dem sie die Wahrheit sagen konnte. Zumindest nicht, bevor alle wussten, dass Gabriel tatsächlich verschwunden war.

Autor

Alexandra Sellers

Alexandra Sellers hat schon an vielen verschiedenen Orten gelebt – wie viele genau, kann sie selbst nicht mehr sagen. Schon als kleines Mädchen träumte sie von fernen Ländern, inspiriert von den Märchen aus 1001 Nacht. Und irgendwann sah sie sich selbst an diesen geheimnisvollen Orten als Schriftstellerin. Prompt wurde die...

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