Ein Mann nach meinem Geschmack - 6 leidenschaftliche Geschichten

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  • Erscheinungstag 01.07.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733774141
  • Seitenanzahl 768
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Katherine Garbera, Molly Liholm, Sara Orwig, Elizabeth Bevarly, Peggy Moreland, Janice Kaiser

Ein Mann nach meinem Geschmack - 6 leidenschaftliche Geschichten

IMPRESSUM

Viel mehr als nur ein Nachbar erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 1997 by Katherine Gardener
Originaltitel: „The Bachelor Next Door“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARA
Band 982 - 1998 by CORA Verlag GmbH, Hamburg
Übersetzung: Christiane Bowien-Böll

Umschlagsmotive: Mike Watson Images /Thinkstock

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2014 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733786946

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

„Mom kann nicht aus dem Badezimmer raus, und ich muss zur Schule.“

Rafe Santini fuhr sich verschlafen mit der Hand über die Augen, in der Hoffnung, die kleine Gestalt vor seiner Haustür würde sich als Fata Morgana entpuppen. Schließlich war es erst sieben Uhr. Ratlos rieb er über sein unrasiertes Kinn. Er hatte keine Ahnung, wie man mit Kindern umging, und legte auch keinen Wert darauf, es zu wissen.

„Bitte helfen Sie mir.“ Der Kleine hatte Tränen in den Augen. Sicher würde er gleich anfangen zu weinen.

Mit einem Seufzer lehnte sich Rafe gegen den Türrahmen. Verdammt, er konnte dem Kleinen schlecht seine Hilfe verweigern. „Schon gut. Ich komme gleich.“

Rafe schlüpfte rasch in seine Schuhe. Unwillkürlich fuhr er sich mit der Hand über die nackte Brust. Sollte er nicht wenigstens noch ein Hemd überziehen? Ach was, der kleine Junge sah so verzweifelt aus. Besser, er verlor keine Zeit.

Der Junge kam aus dem Haus gegenüber. Er hatte ihn schon ein paarmal dort im Garten Hausaufgaben machen sehen. Der Garten wirkte immer sehr gepflegt und aufgeräumt. Nichts wies darauf hin, dass hier ein Kind wohnte. In der Einfahrt stand ein Volvo, der wohl schon bessere Tage gesehen hatte.

Der Junge packte seine Hand und zog ihn mit sich ins Haus. Es roch gut hier, frisch und sauber. Das Haus war ähnlich aufgeteilt wie seins. Doch im Gegensatz zu seinem war es komplett renoviert. Handgeknüpfte Teppiche lagen auf einem glänzenden Parkettboden, und das hölzerne Treppengeländer war abgeschliffen und frisch poliert. Seins war immer noch von einer jahrzehntealten Farb- und Schmutzschicht bedeckt.

„Andy, wo bist du?“, erklang eine besorgte Stimme aus dem oberen Stockwerk. „Komm sofort hoch!“

Rafe musste grinsen. Genau so hatte seine Mutter ihn auch immer gerufen, wenn er etwas angestellt hatte. Der Junge erwiderte sein Grinsen.

„Andy!“ Die Stimme klang jetzt eindeutig verärgert. Ihr Grinsen erlosch.

„Wir beeilen uns besser.“ Der Junge hastete die Stufen hinauf.

Rafe folgte ihm. Vor der Badezimmertür blieben sie stehen. „Mach dir keine Sorgen, Mom. Ich habe Hilfe geholt.“

„Wen denn? Die einzige Person, mit der du reden darfst, ist in Urlaub.“

„Es ist schon in Ordnung. Ich habe den Mann von gegenüber mitgebracht. Von dem du immer sagst, dass dir sein Po gefällt.“

„Andy!“ Die Stimme klang jetzt sehr scharf, und Rafe hielt es für besser, die Frau so schnell wie möglich aus ihrem Gefängnis zu befreien, bevor sie noch vor Wut explodierte. Er musste lächeln. Es gab unangenehmere Anlässe, früh aufzustehen.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die verschlossene Tür. Das Problem schien darin zu bestehen, dass unter der Tür eine Reihe von Spielzeugsoldaten eingeklemmt war. „Du spielst wohl gern alte Schlachten nach“, wandte er sich an den Jungen.

Der lächelte und entblößte eine Reihe perfekter, strahlender Zähne. „Ja, Gettysburg. Wir nehmen in der Schule gerade den Bürgerkrieg durch.“

„Andy, bitte heb dir deine Kriegsgeschichten für später auf“, ließ sich wieder die Stimme aus dem Badezimmer vernehmen. „Im Moment haben wir ein Problem mit dieser Tür. Sie klemmt.“

„Tut mir leid, Mom.“

„Schon gut. Ich denke, mit einer Haarnadel müsste es gehen.“

„Leider sind mir die Haarnadeln ausgegangen“, erwiderte Rafe trocken.

Ihre Stimme hatte diesmal etwas normaler geklungen. Die Frau schien sich zu beruhigen. Eigentlich gefiel ihm ihre Stimme sehr gut; sie war weich und voll und weckte die angenehmsten Assoziationen in ihm.

„Aber mir wird schon was einfallen. Gibt es hier im Haus einen Schraubenzieher?“, fragte er.

„Unten in der Küche. Was haben Sie vor?“ Wieder klang Besorgnis aus ihrer Stimme, und er überlegte, wie lange sie dort wohl schon eingeschlossen war. Sicher war es ihr zuwider, dass ein Fremder im Haus war, allein mit ihrem Sohn. Aber sie würde ihm nun einmal vertrauen müssen.

„Geh und bring ihn mir, Andy.“

Der Junge gehorchte ihm sofort.

Rafe bückte sich und betrachtete eingehend Türklinke und Schloss.

„Entschuldigen Sie. Sind Sie noch da?“ Jetzt klang ihre Stimme ganz anders. Regelrecht formell, fast abweisend.

„Ja, ganz zu Ihren Diensten“, erwiderte er, um sie zu provozieren.

„Was wollen Sie nun tun?“ Ihr Ton war ein klein wenig freundlicher.

„Ich werde erst einmal die Klinke entfernen. Wenn das nicht hilft, muss ich die Tür aus den Angeln heben.“

„Es wäre mir lieber, wenn Sie das nicht täten.“ Ihr unpersönlicher Ton fing an, ihm auf die Nerven zu gehen. „Zum Teufel, mir wäre das auch lieber. Aber wenn Sie nicht den ganzen Tag da drinnen verbringen wollen, wird mir vielleicht nichts anderes übrig bleiben.“

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie in diesem Haus nicht fluchen würden. Andy ist in einem Alter, in dem ein Kind sich sehr leicht beeinflussen lässt.“

Er brummte nur unwillig. Was hätte er darauf auch antworten sollen? Jetzt wollte er diese Lady nur noch so rasch wie möglich aus ihrem Badezimmer befreien und von hier wegkommen. Er lachte in sich hinein. Wahrscheinlich war sie darüber verärgert, dass er nun wusste, dass ihr sein Po gefiel.

Er konnte hören, wie sie unruhig hinter der Tür auf und ab ging. Sobald sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, würde sie sicher den größtmöglichen Abstand zu ihm einhalten. Schließlich gehörte er nicht gerade zu der Sorte Männer, die Mütter gern in der Nähe ihrer Söhne sahen. Ihm war das nur recht. Er legte auch keinen Wert auf die Gesellschaft von Kindern.

„Wer sind Sie eigentlich?“, fragte sie. Jetzt klang ihre Stimme fast gelassen, oder eher resigniert?

„Aber Sie haben mich doch schon gesehen.“

Sie antwortete nicht gleich. „Aber wir haben noch nie miteinander gesprochen.“

„Ich bin Ihr neuer Nachbar von gegenüber.“ Er zog sein Taschenmesser aus der Hosentasche und stocherte in dem Schlüsselloch herum. „Wie lange sind Sie schon da drinnen?“

„Ungefähr eine Stunde. Ich habe ein Bad genommen.“ Sie hielt inne und räusperte sich. „Mr Santini, ich … äh … halten Sie mich nicht für undankbar, aber …“

„Hier ist er.“ Andy kam mit dem Schraubenzieher zurück.

Rafe entfernte die Türklinke. Das hätte nicht länger als eine Minute dauern dürfen, aber Andy stand die ganze Zeit neben ihm und löcherte ihn mit Fragen. Er dachte daran, dass er als Kind genauso gewesen war, und brachte deshalb die Geduld auf, ihm jede Frage zu beantworten.

Endlich ließ sich die Tür öffnen. Er hatte eine rundliche, matronenhafte Gestalt erwartet. Die Frau war schließlich Mutter, und wenn sie diesen vorwurfsvollen Ton in der Stimme hatte, erinnerte sie ihn an seine altjüngferliche Tante Florence. Aber Andys Mutter war nichts von alledem. Sie war – verdammt, er wehrte sich gegen das Wort –, aber sie war attraktiv. Einfach höllisch sexy.

Sie hatte ihr dunkles Haar hochgesteckt. Ein paar Locken fielen ihr ins Gesicht; ein herzförmiges Gesicht mit einem zarten, karamellfarbenen Teint. Ihre Augen waren braun, ein samtweiches, dunkles Braun. Der leichte, rosa Morgenrock, den sie trug, verbarg kaum etwas von ihren weiblichen Formen. Sie war wirklich äußerst attraktiv.

Beim Hinausgehen trat sie auf einen der Spielzeugsoldaten, hüpfte auf einem Bein und verlor das Gleichgewicht. Er fing sie auf. Sie fühlte sich leicht und zerbrechlich an – und war die Versuchung selbst. Für einen Moment vergaß er das Kind, ihre abweisende Haltung, ihre lächerliche Ansicht über seinen Po. Alles – bis auf die Tatsache, dass sie eine Frau war.

„Lassen Sie mich bitte los.“ Es war wieder dieser kalte Ton.

„Natürlich.“

Abweisend sah sie ihn an, offenbar ganz darauf bedacht, würdevoll zu erscheinen. Ein sinnloser Versuch, wenn man bedachte, dass sie nichts als einen zarten, seidenen Morgenrock anhatte, der sich wie eine zweite Haut um ihren Körper schmiegte.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie. „Ich bin übrigens Cassandra Gambrel. Andy kennen Sie ja schon.“

Überraschenderweise klang ihre Stimme jetzt wieder weich und angenehm, und die Hand, die sie ihm reichte, war klein und zierlich. Ihre Nägel waren in einem zarten Rosa lackiert, das perfekt zu dem natürlichen Ton ihrer Lippen passte.

„Rafe Santini“, erwiderte er.

„Danke, dass Sie mich befreit haben.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Er hatte noch nie eine Frau mit so wundervoller Haut gesehen. Am liebsten hätte er die Stelle an ihrem Hals geküsst, wo eine kleine Ader pulsierte.

„Das Schloss an dieser Tür hat schon immer ein bisschen geklemmt“, erklärte sie.

„Ich werde es in Ordnung bringen.“ Er war froh über die Ablenkung.

„Du solltest dich besser anziehen, Mummy.“

Cassandra nickte und ging den Flur hinunter. „Stör den Mann nicht, Andy.“

„Schon gut, Mom.“

Rafe lachte leise in sich hinein. Er erinnerte sich gut daran, wie es war, ein kleiner Junge zu sein und gegen die elterliche Fürsorge anzukämpfen.

Andy nickte wissend. „Ich bin jetzt der Mann im Haus. Aber Mummy lässt mich nicht viel machen.“

„So sind Mütter nun mal.“

Andy seufzte. „Ja, so sind sie wohl.“ Es klang, als sei er schon zehn Jahre älter.

Seine Aufmerksamkeit galt wieder der Gestalt, die jetzt den Flur hinunterging. Ihr Gang war leicht und anmutig, ihr Hüftschwung verführerisch … Oh, verdammt!

Sobald sie in ihrem Schlafzimmer war, zog Cassandra sich hastig an, frisierte sich und versuchte dabei, möglichst nicht an ihn zu denken.

Bereits Rafe Santinis Po war sehr ansehnlich, aber von vorn sah dieser Mann einfach atemberaubend gut aus. Das Blaugrau seiner Augen erinnerte sie an vereiste Gletscher – aber mit einem glühenden Vulkan darunter. Sein schwarzes Haar war dicht und gelockt und weckte in ihr den Wunsch, es zu berühren. Und beim Anblick seines nackten Oberkörpers war ihr Blut schneller durch die Adern geschossen.

„Der, von dem du immer sagst, dass dir sein Po gefällt …“ Wenn sie nur daran dachte, würde sie sich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen. Es war zu peinlich. Aber das war noch das geringste Problem.

Weitaus mehr Sorgen machte ihr die Art, wie Andy diesen Mr Santini angehimmelt hatte. Als ob er ein Held wäre oder, schlimmer noch, ein möglicher Vaterersatz.

Seit Carls Tod vor zwei Jahren war Andy auf der Suche nach einem neuen Vater. Nicht dass er es jemals offen zeigen würde. Aber sie merkte, wie er insgeheim Maß anlegte an jeden Mann, der ihnen begegnete.

Ich muss mich irgendwie bei Rafe Santini entschuldigen, dachte Cass. Der Gedanke war ihr zwar zuwider, aber sie war wirklich nicht sehr freundlich zu ihm gewesen. Doch es war ihr unangenehm gewesen, die Hilfe eines Fremden in Anspruch nehmen zu müssen.

Sie würde einfach so tun, als hätte Andy diese Bemerkung nie von sich gegeben, und wenn Mr Santini nur ein bisschen Anstand hatte, würde er das auch tun. Außerdem, was wäre das für ein Mann, der über die Qualitäten seines Pos reden wollte?

Als sie wieder auf den Flur hinaustrat, war sie überrascht zu sehen, wie geduldig Mr Santini auf ihren Sohn einging. Dabei war es offensichtlich, dass der Mann nicht an den Umgang mit Kindern gewöhnt war. Sein Wortschatz war fürchterlich. Aber er gab sich Mühe mit ihrem Sohn, und das stimmte sie ihm gegenüber ein wenig freundlicher.

Andy konnte einen mit seiner endlosen Fragerei zum Wahnsinn treiben. Manchmal ging er damit sogar ihr auf die Nerven. Aber dieser Mann, dieser Fremde, zeigte erstaunlich viel Geduld mit ihm. Ihr wurde warm ums Herz.

Sie räusperte sich. „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten, Mr Santini?“

„Ja, gern.“

„Andy geh und mach dich für die Schule fertig.“

„Aber, Mummy …“

„Sofort, bitte.“

Andy trollte sich widerwillig.

„Sind Sie fertig mit der Tür?“, fragte sie.

„Im Moment, ja. Sie braucht einen neuen Beschlag. Ich habe das Schloss erst einmal ausgebaut, damit Sie nicht noch einmal drinnen feststecken.“

In dem weichen Licht der Flurlampe schienen seine Augen zu glühen. Sie hatte noch nie so nah bei einem Mann gestanden, der so eine starke männliche Ausstrahlung hatte wie Rafe Santini. Seine Muskeln zeichneten sich unter der Haut ab, ohne dass er übermäßig muskulös wirkte. Sie musste daran denken, wie lange sie keine Gymnastik mehr gemacht hatte, und kam sich neben ihm plötzlich schlaff und unattraktiv vor.

„Ich bin bereit für den Kaffee.“

„Natürlich. Folgen Sie mir.“

Überraschend leichtfüßig für seine Größe ging er hinter ihr die Treppe hinab und in die Küche. Anstatt sich an den Tisch zu setzen, blieb er stehen und lehnte sich mit der Hüfte lässig an die Arbeitsplatte. Er trug verwaschene Jeans, die seine langen Beine wie eine zweite Haut umhüllten. Sein nackter Oberkörper war fast noch verführerischer als sein Po. Rafe Santini erinnerte sie an eine große Katze, die auf Beute wartete, und sie beteuerte sich zu ihrer Beruhigung, dass sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Maus hatte.

Begierde auf den ersten Blick, sagte sie sich. Himmel, dieser Santini war wirklich ein Bild von einem Mann. Es war nicht fair, dass er so umwerfend gut aussah, nicht, nachdem er so nett zu ihrem Kind gewesen war.

Doch er machte sie nervös. Es war eben zu lange her, dass ein Mann in ihrer Küche gewesen war. Ob er ihren Kaffee auch zu dünn finden würde, so wie Carl?

„Nochmals vielen Dank, dass Sie gekommen sind, um uns zu helfen“, brach sie das Schweigen. Small Talk war nicht gerade ihre Stärke, aber etwas musste sie schließlich sagen.

„Keine Ursache.“

„Mr Santini …“

„Hm?“

Sie hasste es, wenn jemand mundfaul war, doch sie widerstand der Versuchung, ihn zu korrigieren. „Es tut mir leid, dass ich vorhin so unfreundlich war.“

Er starrte sie an, bis sie das Gefühl hatte, Hörner zu haben oder einen Makel im Gesicht.

„Einen Fremden im Haus zu haben ist für mich sehr ungewöhnlich.“

„Dann hätten Sie Ihr Kind nicht losschicken sollen, um einen herbeizuholen.“

Cass straffte die Schultern. „Ich habe ihn nicht losgeschickt, jemanden zu holen. Ich habe ihm sogar verboten, aus dem Haus zu gehen, aber Andy …“ Sie brach ab.

„Jedenfalls ist er aus dem Haus gegangen, und er kam zu mir. Wie, zum Teufel, konnten Sie sicher sein, dass ich kein Mörder, Sexualverbrecher oder Kinderschänder bin?“

Fieberhaft suchte sie nach einer Entschuldigung, doch es gab keine. „Sie haben recht. Ich weiß wirklich gar nichts über Sie, außer …“

„Dass Ihnen mein Po gefällt.“

Oh nein! Warum hatte sie das jemals ihrer Schwester gegenüber erwähnt? Sie ging nicht auf seine Bemerkung ein. „Und dass Sie einen Hund haben.“

„Tundra?“

„Wir sehen Sie manchmal, wenn Sie mit ihr spazieren gehen. Andy liebt Tiere.“

Die Kaffeemaschine begann zu gurgeln, sodass es endlich nicht mehr so still in der Küche war. Nervös richtete sie den Blick auf den durchlaufenden Kaffee, nur um nicht den Mann vor ihr ansehen zu müssen.

„Mummy, ich bin fertig.“ Andy kam in die Küche. Seine Schuhe waren wie immer zu lose geschnürt.

„Komm her.“ Dankbar für die Ablenkung kniete sie sich vor ihn und band ihm die Schuhe richtig zu. Sie und Andy würden gleich gehen, und sie würde nicht länger Small Talk mit Mr Santini machen müssen. „So, fertig. Vergiss dein Schulfrühstück nicht, Liebling.“

Sie schenkte zwei Becher Kaffee ein und reichte einen davon Mr Santini. „Milch oder Zucker?“

„Danke, weder noch.“

Andy nahm eine Handvoll Vollkornkekse und bot Mr Santini davon an. Er nahm sie.

„Wir sind spät dran. Komm, Andy.“

„Bye, Mr Santini.“ Andy winkte zum Abschied.

Cass und Andy stiegen in den alten Volvo, und Cass fragte sich, wie sie mit ihrem neuen Nachbarn von jetzt an umgehen sollte. Den ganzen Weg über plapperte Andy über diesen Mr Santini, und das machte ihr Sorgen, so ungern sie sich das auch eingestand.

Als sie Andy an der Schule absetzte, läutete gerade die Schulglocke. Cass sah ihm nach, wie er zum Eingang rannte. Obwohl er erst sieben war, sah er seinem Vater schon sehr ähnlich, klein und drahtig. Vor zwei Wochen war er mit einem blauen Auge nach Hause gekommen. Seitdem hatte er ihr Gebot, sich auf keine Raufereien einzulassen, befolgt, war aber ängstlicher geworden, und sie wusste nicht recht, wie sie ihren Sohn jetzt behandeln sollte.

Cass wünschte, er würde immer ihr kleiner Junge bleiben, doch das war natürlich unmöglich. Sie seufzte. Mit Andy wurde es beständig schwieriger. Sie hatte stets geglaubt, dass man mit Erziehung alles in den Griff bekommen könnte. Doch Andy hatte einen starken Willen. Es fiel ihr nicht leicht, es zuzugeben, aber sie benötigte Hilfe.

Und nun lebte ein Mann mit der Ausstrahlung eines Supermachos direkt gegenüber, und Andy hatte ihn offenbar sofort ins Herz geschlossen. Das würde Probleme geben.

Noch hatte sie Andy im Griff, aber wenn es ihr nicht gelang, die Zügel in der Hand zu behalten, würde er ihre Autorität in ein paar Jahren nachdrücklich infrage stellen und dann vielleicht bald in Schwierigkeiten stecken. Mr Santini versprach da keine Hilfe. Allein wie er jeden Morgen in kurzen Hosen joggen ging! Er sah genau so aus, wie ein Jugendlicher sich einen richtigen Mann vorstellt. Athletisch, sportlich, muskulös. Und für jede Frau war er die fleischgewordene Versuchung.

Außerdem fuhr er einen teuren Sportwagen und hatte wahrscheinlich jede Menge blonder, vollbusiger Freundinnen. Er war eindeutig nicht ihr Typ, und eindeutig keine passende Gesellschaft für ihren Sohn.

Doch dann musste sie daran denken, wie nett er zu ihm gewesen war und wie er ihr vorwarf, dass sie ihn hatte, allein aus dem Haus gehen lassen. Ob hinter der Macho-Fassade noch etwas anderes verborgen war?

Wieder zu Hause, holte Cass die Kaffeekanne aus der Maschine und ging über die Straße. Rafe Santini saß vor seinem Haus. Sein sibirischer Schlittenhund lag zu seinen Füßen. Beide hatten die Augen geschlossen.

„Oh nein“, murmelte sie. „Er schläft.“

Rafe öffnete ein Auge.

Cass räusperte sich und hob die Kaffeekanne hoch. „Wie wär’s mit Nachschlag?“

„Also das nenne ich gute Nachbarschaft.“ Lässig hielt er seinen leeren Becher hoch.

Wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen, und Cass musste der Versuchung widerstehen, einfach zurückzugehen, in die Sicherheit ihres eigenen Hauses. Ihre Erfahrungen mit Männern beschränkten sich auf ihren verstorbenen Mann Carl. Sie hatte sehr jung geheiratet und nie Gelegenheit gehabt, mit anderen Jungs Erfahrungen zu sammeln.

„Mr Santini…“

„Rafe.“

Sie nickte nur. „Ich habe ein Angebot für Sie.“

Er lächelte. „Hat es etwas mit meinem Po zu tun?“

Sie merkte, dass sie rot wurde. Andy würde etwas zu hören bekommen nach der Schule. „Nein, mit etwas ganz anderem.“

Er hob eine Augenbraue und musterte sie. „Und das wäre?“

„Ich wollte …“ Es war schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte. „Ich wollte Ihnen noch mal danken, dass Sie mir heute geholfen haben, und fragen, ob ich nicht auch etwas für Sie tun kann.“

„Jetzt, da Sie davon sprechen, fällt mir etwas ein, das ich gern hätte.“

Er senkte die Lider eine Spur und ließ den Blick von oben bis unten über ihren Körper gleiten. Es verursachte ihr ein Kribbeln, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Unsicher trat sie einen Schritt zurück. „Und was wäre das?“

„Sie. Was halten Sie davon?“

Ihr Puls raste, und sie fühlte sich wie ein Schulmädchen. Nachdem sie ein paarmal tief Luft geholt hatte, zwang sie sich zu einem Lächeln. „Im Ernst, Mr Santini.“

„Nennen Sie mich Rafe.“

Seine Augen waren wirklich außergewöhnlich. Hell und strahlend in dem dunklen Gesicht, auf dem offenbar immer ein leicht spöttischer Ausdruck lag. Sie fragte sich, ob dieser Mann jemals etwas ernst meinte.

„Na gut … Rafe.“ Sein Name kam ihr nicht leicht von den Lippen. Wenn Rafe Santini doch nur ein bisschen mehr wie Tony, ihr Schwager, wäre, oder wie Marcus mit der Halbglatze, der ein Stück weiter die Straße hinunter lebte, dann hätte sie so tun können, als sei er ein Kumpel.

Aber das war er nicht. Er war ein dunkelhäutiger Italoamerikaner mit dem stärksten Selbstbewusstsein der Welt. „Was ich sagen wollte, war eher: Willkommen in unserer Straße, und falls Sie sich einmal selbst im Bad einschließen sollten, bin ich gern bereit, zu helfen.“

Wieder hob er spöttisch eine Braue, und seine Mundwinkel zuckten. „Hätte Mr Gambrel nicht etwas dagegen?“

„Mein Mann ist tot.“

Er fluchte leise. Es war ein ziemlich vulgärer Fluch, und sie hatte ihn noch nie zuvor gehört. Niemand in ihrem Bekanntenkreis fluchte.

Da streckte er auf einmal die Hand aus und berührte sie am Arm. Die raue Haut seiner Finger stand in seltsamem Kontrast zu der Sanftheit seiner Stimme. „Tut mir leid.“

„Ist schon gut.“ Und das war es auch. Sie hatte Carls Tod verwunden. Es war fast so, als ob die Zeit mit ihm zu einem anderen Leben gehört hätte. Außer dass er ihr Andy hinterlassen hatte.

Sie blickte Rafe Santini an. In seinen blaugrauen Augen lag etwas, das den Schmerz widerzuspiegeln schien, den der Verlust ihres Mannes für sie gewesen war.

Wen hatte er wohl verloren? Sie wollte es ergründen, wollte plötzlich so viel wie möglich über ihn erfahren. Obwohl es sie doch eigentlich nichts anging, ganz zu schweigen davon, dass es unklug wäre. Trotzdem, die Trauer in seinem Blick stand in einem solchen Gegensatz zu seinem selbstbewussten Auftreten, dass sie sich einfach Gedanken darüber machte.

Sie wusste so gut wie nichts über Rafe Santini. Er war zwei Wochen zuvor in dieses Haus eingezogen, und sie hatte ihn immer nur kurz gesehen, wenn er joggen ging oder mit seinem Hund spielte.

Vielleicht sollte sie es dabei auch belassen. Denn solange sie ihn nicht wirklich kannte, könnte sie in aller Ruhe von ihm träumen, oder mit Eve, ihrer Schwester, über ihn sprechen.

Ihr Verstand sagte ihr, dass es das Beste sei zu gehen, aber dieser gequälte Ausdruck, den sie in seinen Augen gesehen hatte, ließ ihr keine Ruhe.

„Ich hatte gehofft, Sie würden mir anbieten, meine Fenster zu putzen.“ Er grinste.

„Kommt nicht infrage“, gab sie zurück und zwang sich, nicht zu lächeln. Er war ein charmanter Gauner, dieser Mr Santini. „Rufen Sie mich, wenn Sie einmal irgendwo feststecken, weil die Tür klemmt.“

Rafe hatte geistesabwesend eine Hand auf die Brust gelegt, und aus irgendeinem Grund blickte Cass wie gebannt darauf.

„Müssen Sie nicht zur Arbeit?“, fragte sie unvermittelt. Warum machte es sie nur so nervös, dass er kein Hemd anhatte? Jeder Mann in dieser Straße lief im Sommer in seiner Freizeit ohne Hemd herum. Aber bei diesem hier war es anders. Als Kind hatte man sie gelehrt, dass man niemals das Haus verlassen sollte, solange man nicht vollständig angezogen war. Jetzt begriff sie, warum.

„Ich habe Urlaub“, erwiderte er trocken.

„Oh, da haben Sie sicher etwas vor.“ Sie hoffte, er würde nach Key West fliegen oder nach Hawaii, oder Afrika. Dann hätte sie wenigstens Zeit, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Ein Teil von ihr, einer, den sie lange verborgen gehalten hatte, war plötzlich zu neuem Leben erwacht. Warum war sie überhaupt zu Rafe herübergekommen?

„Ja“, bestätigte er. „Ich werde dieses Haus renovieren.“

„Tatsächlich? Sie allein?“

„Meine Leute kommen am Wochenende, um das Gröbste zu erledigen. Die Innenausstattung mache ich selbst.“

„Sie haben eine eigene Baufirma, nicht wahr?“ Emily, eine Nachbarin, hatte es ihr erzählt.

„RGS Haus- und Innenausbau“, sagte er mit einem Anflug von Stolz. Wieder musterte er sie. „Sind Sie berufstätig?“

„Ja. Ich habe einen Antiquitätenservice. Das geht von zu Hause aus. Ich restauriere Antiquitäten und helfe meinen Kunden dabei, Stücke für ihre Einrichtung zu finden.“

„Klingt interessant. Ich werde auf Sie zukommen, wenn ich anfange, mein Haus einzurichten.“

Cass betrachtete angelegentlich den Rasen vor Rafes Haus. Es war ihr unangenehm, mit einem Nachbarn über Geschäftliches zu reden.

„Wofür steht RGS?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

„Raphael G. Santini.“ Er nippte an seinem Kaffee.

Raphael, dachte sie. Was für ein schöner Name. Seine Mutter muss eine romantische Ader haben. „Und wofür steht das G?“

„Für meinen zweiten Vornamen.“ Sein Ton war wie meistens spöttisch, als ob die ganze Welt ein großer Witz für ihn wäre.

„Ach wirklich? Da wäre ich nicht draufgekommen. Nun kommen Sie schon. So schlimm kann der Name doch nicht sein?“ Sie versuchte, ihn durchbohrend anzusehen.

„Niemals.“ Er verzog keine Miene. Sein Ausdruck sagte ihr, dass er sich eher foltern lassen würde, als ihr seinen zweiten Vornamen zu verraten. Interessant.

„Ich mache Ihnen wohl gar keine Angst, was?“ Es machte Spaß, sich mit Rafe Santini zu unterhalten.

„Absolut nicht.“ Er lächelte.

„Darf ich raten?“

„In diesem Land ist jeder frei.“

„Ist es George?“

Er schüttelte den Kopf.

„Gary?“

Wieder folgte Kopfschütteln. „Gregory?“

„Geben Sie es auf Mrs Gambrel. Niemand wird jemals diesen Namen erraten.“

„Nennen Sie mich Cass“, erwiderte sie spontan. Er würde es ihr nicht sagen, und es ging sie ja auch gar nichts an. Hänge ich hier nicht wie eine nach Sex ausgehungerte Witwe herum? fragte sie sich.

Sie straffte die Schultern und schickte sich an zu gehen. „Also dann, Rafe.“

„Danke für den Kaffee, Cass.“

Sie ging zu ihrem Haus und verbat sich jeden weiteren Gedanken an ihn. Er war ein Nachbar, weiter nichts. Vielleicht jemand, der ihr helfen könnte, Andy ein bisschen Disziplin beizubringen. Aber das wäre auch alles.

„Ich bin nicht an Rafe Santini interessiert“, sagte sie laut, in der Hoffnung, dass es dadurch mehr Gültigkeit erlangte.

Zum Teufel mit diesem umwerfend gut aussehenden Mann und seinem sexy Po! Oh nein! Man fluchte doch nicht!

2. KAPITEL

Rafe arbeitete bis in den Nachmittag hinein an seinem Dach. Alte Dachziegel gegen neue auszutauschen war eine ermüdende Arbeit, doch er konnte seinen Gedanken dabei freien Lauf lassen. Allerdings kreisten sie immer nur um diese junge Frau von gegenüber, obwohl es schon eine Woche her war, seit er sie aus ihrem Badezimmer befreit und für ein paar Sekunden in den Armen gehalten hatte.

Aber schließlich wurde er durch Andy täglich aufs Neue an sie erinnert. Anfangs hatte er geglaubt, der Junge würde ihm bald auf die Nerven gehen, weil er nicht recht wusste, wie er mit ihm umgehen sollte. Doch Andy war so ernsthaft, fast wie ein kleiner Erwachsener, dass es ihm nicht schwerfiel, mit ihm zu reden.

Er hielt sich von Frauen, die auf der Suche nach Mann und Familie waren, möglichst fern. Er war nun einmal kein Typ für eine langfristige Beziehung. Er lebte gern allein. So konnte er kommen und gehen, wann er wollte, und war niemandem Rechenschaft schuldig. Er hatte sein Leben im Griff und Erfolg im Beruf. Das würde er nicht aufs Spiel setzen, indem er sich von einer alleinerziehenden Mutter umgarnen ließ.

Dagegen signalisierte sein Körper ihm etwas völlig anderes. Doch Rafe war sicher, alles unter Kontrolle zu haben. Schließlich war er nicht mehr sechzehn.

Er kletterte vom Dach herunter und genehmigte sich ein Bier aus dem Kühlbehälter auf der Terrasse. Ob er seinen Basketballkorb an der Garage anbringen sollte? Vielleicht gab es Leute in der Nachbarschaft, die Lust auf ein kleines Spiel hatten.

Es dauerte keine Viertelstunde, bis der Basketballkorb oben an der Garagenwand hing. Rafe holte seinen orangefarbenen Ball und dribbelte damit auf dem Betonboden hin und her.

„Hallo, Mr Santini.“ Andy Gambrels scheuer Ruf unterbrach ihn.

Am liebsten wäre er sofort ins Haus gegangen. Da tat er sein Bestes, um Cassandra Gambrel zu vergessen, und dieser kleine Kerl erinnerte sie immer wieder an sie. Die beiden waren eine Familie. Und er wollte nichts mit Familien zu tun haben. Familie bedeutete Schmerz.

„Hi, Andy. Wie war’s in der Schule?“

Der Junge lächelte und zeigte dabei eine Zahnlücke. „Gut. Was machen Sie da?“

„Ich spiele Basketball. Hast du Lust auf ein Spiel?“

Andy spähte über die Schulter. Offenbar würde er gegen ein Verbot seiner Mutter verstoßen, wenn er Ja sagte.

„Hast du schon mal Basketball gespielt?“

„Nein.“ Andy trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Nervös blickte er noch mal über die Schulter.

„Soll ich es dir zeigen?“ Er hatte noch nie ein so ernsthaftes Kind erlebt. Andy schien über jede mögliche Folge seiner Entscheidungen nachzudenken.

Schließlich schüttelte Andy den Kopf. „Mom sagt, Sport ist nur was für große, starke Muskelprotze. Kleinere Jungs wie ich sollten sich mit anderen Sachen beschäftigen.“

Das durfte doch nicht wahr sein! Sport half kleinen Jungs, sich zu Männern zu entwickeln. Aber er hatte kein Recht, sich einzumischen.

„Na schön. Deine Mutter ist der Boss. Aber lass es mich wissen, falls sie ihre Meinung ändert.“ Er warf den Ball in den Korb. Ein sauberer Wurf. Der Ball berührte nicht einmal den Ring.

„Ich hab eigentlich noch nie gefragt, ob ich spielen darf. Mom hätte vielleicht gar nichts dagegen, wenn ich den Ball ein- oder zweimal werfe.“

Das musst du selbst wissen, Junge, dachte Rafe, dribbelte ein paarmal mit dem Ball und warf ihn dann Andy zu. „Du bist dran.“

Andy versuchte es mit aller Kraft und starrte dabei zum Korb hoch, als sei dieser sein erbittertster Feind. Doch es gelang ihm nicht, hineinzutreffen.

„Es liegt nicht daran, dass du es nicht kannst, Andy. Der Korb ist einfach zu hoch für dich.“

„Mom hat also recht.“ Es klang zu Tode betrübt.

„Du brauchst nur einen tiefer hängenden Korb“, erwiderte er. „Oder jemanden, der dir hilft. Fang an zu dribbeln. Wenn du zum Wurf bereit bist, hebe ich dich einfach hoch.“

Er hörte die Tür vom Haus gegenüber schlagen und spürte Cassandras Blick im Rücken, und es kostete ihn all seine Willenskraft, sich nicht umzudrehen.

Andy dribbelte los, er hob ihn dann hoch, und gemeinsam warfen sie ein Tor.

Das Gesicht des Jungen glühte vor Stolz. „Geschafft! Oh Mann, ich kann es kaum glauben. Mummy, hast du das gesehen?“ Er rannte zu Cass und umarmte sie.

Rafe sah ihr an, dass sie mit sich kämpfte. Sie war stolz auf ihren Jungen, aber gleichzeitig besorgt und verärgert.

„Gut gemacht, Schatz, aber du weißt, was ich von Sport halte.“

„Aber es war ja unter Aufsicht.“

„Das stimmt, Andy. Aber nächstes Mal möchte ich, dass du mich erst um Erlaubnis fragst.“

„Ja, Mommy.“

„Geh ins Haus und wasch dir die Hände. Es gibt jetzt Abendessen.“

Andy verschwand ohne ein weiteres Wort.

„Rafe, ich möchte nicht, dass Andy so etwas anfängt. Er ist eher schmächtig für sein Alter, und ich möchte nicht, dass er sich verletzt.“

„Wir haben ja kein Football gespielt, sondern nur ein bisschen gedribbelt.“

„Ich übertreibe es vielleicht ein bisschen. Es ist nur … Ich bin einfach nicht sicher, ob Andy schon so weit ist, dass er richtig Sport treiben kann. Er ist doch erst sieben.“

„Es wird bestimmt nichts passieren. Er weiß ja, was Sie von Sport halten, Cass.“

Sie nickte nur. Dann straffte sie die Schultern, als ob sie sich für einen Angriff wappnen müsse. „Übrigens, ich bin Vorsitzende des Hauseigentümerverbandes von Hollow Acres.“

„Ah ja? Das ist sicher ein anstrengender Job.“

„Nicht allzu sehr.“ Sie blickte angelegentlich an ihm vorbei, bevor sie ihn endlich wieder ansah. „Dieser Basketballkorb an der Garage ist gegen die Vorschrift.“

„Wie bitte?“

„Ich muss Sie warnen. Sie haben zwei Tage Zeit, den Korb zu entfernen. Sonst ist eine Geldstrafe fällig.“

„Das meinen Sie doch nicht im Ernst, oder?“

„Und ob, Mr Santini.“ Sie bückte sich und kraulte Tundra am Hals. „Haben Sie die Vorschriften nicht gelesen?“

Hatte er nicht. Aber jetzt konnte er sich ohnehin nur auf diese langen Beine konzentrieren, die dank der Shorts, die Cass heute trug, sehr gut sichtbar waren. Der Stoff war noch ein Stückchen höher gerutscht, als sie sich zu Tundra beugte. Er hatte schon bemerkt, dass sie gut in Form war, doch er hätte nicht gedacht, dass ihre Beine so schlank und fest waren, und er wünschte, sie würden sich um seine Taille legen …

Was war mit seiner Selbstkontrolle geschehen? Verflixt, worüber hatten sie gerade geredet? Über den Hauseigentümerverband. „Seit wann gelten diese Vorschriften denn?“

„Seit 1983.“ Cass richtete sich auf, drehte sich um und ging zu ihrem Haus.

„Nun, dann ist es vielleicht an der Zeit, dass wir die Vorschriften ein wenig an die heutige Zeit anpassen.“

Sie warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu. „Ja, vielleicht. Aber vorerst muss dieser Basketballkorb von Ihrer Garage verschwinden.“

„Und wenn nicht?“ Er wollte sie provozieren.

Sie ging weiter. „Einen schönen Abend, Mr Santini.“

„Ihnen auch, Cass.“

Zum Teufel mit dieser Frau. Aber er wurde das Gefühl nicht los, das unter der korrekten Oberfläche ein Vollweib schlummerte. Und er beschloss, Cassandra Gambrel näher kennenzulernen.

Cass blickte versonnen die Straße entlang. Es war schon dunkel und die altmodischen Straßenlaternen bereits angeschaltet. Sie liebte dieses Viertel mit den alten Häusern.

Andy saß auf der Terrasse vor dem Haus und machte Hausaufgaben. Er hatte Rafe Santini zum Abendessen einladen wollen, aber sie hatte es ihm ausgeredet. Rafe beeinflusste den Jungen ohnehin schon viel zu stark.

Es war nicht so, dass er den Jungen anstachelte, aber Andy fing bereits an, ihn zu imitieren. Erst vor ein paar Tagen hatte sie ihn dabei beobachtet, wie er ohne Hemd herumlief und dabei die gleiche betont männliche Gangart ausprobierte, die ihr an Rafe aufgefallen war.

Am Samstag zuvor hatte Rafe mit Andy Softball gespielt. Seitdem lag ihr Sohn ihr ständig in den Ohren, wann er denn endlich in einen Football- oder Baseballverein gehen dürfe. Andy wollte unbedingt so sportlich wie ihr neuer Nachbar sein. Sie musste dem ein Ende setzen, und zwar so rasch wie möglich.

Cass hörte Tundra bellen und wusste, gleich würde Rafe die Straße herunterjoggen. Sie versuchte, so zu tun, als habe sie ihn nicht bemerkt, doch ihr Blick wurde wie magisch von ihm angezogen. Dieser Mann sah einfach viel zu sexy aus in seinen knappen Joggingshorts.

Er winkte Andy zu. Andy legte seinen Stift hin und schaute sie fragend an.

Sie zögerte. Schließlich nickte sie leicht. Andy strahlte.

„Darf ich mit Tundra spielen, Mr Santini?“

„Sicher.“ Rafe setzte sich zu ihr auf die Stufen vor dem Haus, und Andy sprang mit Tundra auf den Rasen.

Am liebsten hätte sie sich an Rafe angelehnt und tief seinen männlichen Geruch eingeatmet und seinen muskulösen Arm berührt. „Darf ich Ihnen etwas Kühles zu trinken anbieten?“, fragte sie stattdessen.

„Haben Sie denn Bier im Haus?“, entgegnete er.

„Nein. Aber Eistee wäre sowieso besser für Sie.“ Sie war nun einmal so erzogen worden, dass man Alkohol nur auf Familienfeiern und zu besonderen Gelegenheiten trank.

„Nicht, wenn er gezuckert ist.“

Immer dieser Widerspruchsgeist, dachte sie amüsiert. Aber der kleine Schlagabtausch machte ihr Spaß. „Als ob Bier gesünder wäre.“

„Das vielleicht nicht, aber es schmeckt.“

Das konnte er doch nicht ernst meinen! Bier schmeckte einfach … unbeschreiblich. „Mein Tee ist nicht süß.“

„Dann nehme ich das Angebot gern an.“

Cass ging in die Küche und kam mit zwei gefüllten Gläsern zurück. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, aber wie? Wie sagte sie einem Mann, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen, dass er nicht die richtige Gesellschaft für ihren Sohn war?

Andys Erziehung gestaltete sich ohnehin zunehmend schwierig. Ihm beizubringen, aufs Töpfchen zu gehen oder seine Schuhe zuzubinden, war einfach gewesen. Doch jetzt ging es darum, ihn davon zu überzeugen, sich nicht von Stärkeren provozieren zu lassen.

„Danke“, sagte Rafe, als sie ihm den Eistee reichte, und nahm einen großen Schluck.

„Keine Ursache“, erwiderte sie und setzte sich wieder neben ihn. Etwas angespannt bemühte sie sich, seine männliche Ausstrahlung und seine Körperwärme zu ignorieren.

Plötzlich sprang er auf. „He, Andy. Hast du einen Fußball?“

„Nein, warum?“

„Basketball ist hier nicht erlaubt. Aber vielleicht können wir ein bisschen herumkicken.“

„Mummy?“

„Wenn Mr Santini einen Ball hat, habe ich nichts dagegen“, erwiderte sie zögernd.

„Zufällig habe ich einen Fußball.“ Rafe grinste.

„Okay.“ Andy ließ den Stock fallen, den er für Tundra werfen wollte, und folgte Rafe über die Straße.

Dieser Santini! Und Cass fragte sich, was ein Mann, dessen hauptsächliches Interesse schönen Frauen und Sportwagen galt, wohl davon hielt, dass ein kleiner Junge ihn anhimmelte.

Sie wollte Andy schon zurückrufen, aber Rafe zeigte ihm gerade, wie er den Ball halten musste. Er half Andy, so wie ein Vater seinem Sohn helfen würde.

Allerdings konnte sie sich Rafe nicht als Vater vorstellen. Er war zwar sehr nett zu Andy, aber manchmal schien er nicht zu wissen, was er mit ihm anfangen sollte. Einem Mann wie Rafe müsste ein Kind eigentlich auf die Nerven gehen.

Cass sah zu, wie die beiden im Garten Fußball spielten, und ihr Gedanke, dass Rafe nicht zum Vater tauge, trat mehr und mehr in den Hintergrund. Offenbar fühlte Rafe sich rundum wohl mit ihrem Sohn, vielleicht zum ersten Mal, seit sie sich kannten. Sie mochte kaum glauben, dass dies derselbe Mann war, der jeden Tag mit seinem Jaguar aus der Einfahrt schoss.

Wehmütig dachte sie, wie schön es doch wäre, wenn diese Szene tatsächlich ein Spiel zwischen Vater und Sohn wäre. Sie brauchte einen Mann, und Andy brauchte einen Vater. Nur leider war Rafe Santini nicht der geeignete Kandidat.

Sie ging hinein und bereitete für Rafe und Andy einen Imbiss zu. Hier stand sie nun und machte für zwei verschwitzte Männer etwas zu essen – wie eine treu sorgende Hausfrau. Sie musste über sich selbst lächeln. Tundra lag dösend unter der Eiche im Vorgarten. Und Cass fühlte sich so zufrieden wie schon seit Jahren nicht mehr.

Rafe warf Andy den Ball zu und beobachtete, wie der Junge dem Ball nachsprang. Der Kleine war sportlich begabt. Sein Wunsch zu siegen war offenkundig. Andy glühte förmlich vor Begeisterung und steckte damit auch ihn an.

Er hatte die meiste Zeit seines Lebens nichts mit Kindern zu tun gehabt. Kinder waren für ihn fremdartige Geschöpfe, mit denen er nicht umzugehen wusste. Sie schrien und heulten, hatten klebrige Finger und waren immer zu laut und im Weg. Aber Andy Gambrel war anders. Andy schien für sein Alter ungewöhnlich reif zu sein.

Die Kinder in der Nachbarschaft waren alle älter als Andy, und er hatte die ganze letzte Woche beobachtet, dass Andy mit sich allein spielte. Das hatte sein Mitgefühl geweckt. Kein Kind sollte so viel sich selbst überlassen sein.

Andy warf ihm den Ball zurück, und er fing ihn mit einer Hand. „Hast du schon mal bei einem richtigen Basketballspiel zugesehen, Andy?“

„Nein. Oh Mann, das wäre toll.“

Wusste Cass überhaupt, wie sehr der Junge sich wünschte, mal bei einem Spiel zuzuschauen? Wahrscheinlich nicht, sonst wäre sie bestimmt schon mit ihm hingegangen. Schließlich war sie eine liebevolle Mutter.

„Haben Sie die Magics mal spielen sehen?“

Er nickte. „Ich habe eine Saisonkarte.“

„Oh.“ Es klang so wehmütig, dass er ein Schmunzeln unterdrücken musste. Der Kleine war nicht dumm. Andy hatte es schon gut heraus, wie er die Erwachsenen für sich gewinnen konnte.

Sie kickten noch eine Weile hin und her. „Möchtest du einmal mitkommen zu einem Spiel der Magics?“

„Oh Mann, ja, und ob! Aber Mom würde das bestimmt nicht erlauben. Sie ist immer noch sauer wegen des Softballspiels letzten Samstag.“

Cass musste unbedingt etwas nachgiebiger werden. Ihr Sohn wollte ein Mann werden, und sie legte ihm beständig Steine in den Weg. „Was war denn falsch an dem Softballspiel?“

„Ich hatte sie ein bisschen angelogen“, gestand Andy etwas kleinlaut.

„Mal schauen, ob sie nicht vielleicht auch mitkommen möchte.“

„Glauben Sie wirklich, dass Sie sie zum Mitkommen überreden können?“

Nein, das glaubte er nicht im Ernst. Aber Nein zu ihrem Sohn zu sagen, würde ihr schon schwerer fallen. „Fragen kostet ja nichts.“

Sie gesellten sich zu Cass, die noch mehr Eistee und einen Korb frisch gebackene Vollkornbrötchen herausgebracht hatte. Sie erinnerte ihn an das amerikanische Idealbild einer Mutter – liebevoll, fürsorglich, aber auch streng. Sie backte, hielt das Haus in Ordnung und war daheim, wenn Andy von der Schule kam.

Außerdem hatte sie einen Körper, der seine Fantasie anregte. Das war auch der Grund, weshalb er immer wieder herüberkam und weshalb er ihre Ermahnungen, nicht zu fluchen, über sich ergehen ließ. In seinen Augen war sie die perfekte Frau, und genau deshalb würde er sich eben doch nicht mit ihr einlassen. Sie war keine Frau, mit der man einen kurzen Flirt hatte. Sie war eine Frau, zu der man sich entweder ganz bekannte oder gar nicht. In seinem Fall also gar nicht. Denn eine feste Beziehung könnte er ihr nicht bieten.

„Cass, ich habe Andy eingeladen, morgen Abend mitzukommen, wenn die Magics spielen. Ich fände es schön, wenn Sie auch mitgingen.“

Ihre dunklen Augen weiteten sich. „Vielen Dank, aber ich glaube kaum, dass wir noch Karten bekommen. Soviel ich weiß, sind die längst ausverkauft.“

So leicht würde sie nicht entkommen. „Ich habe Saisonkarten.“

Cass schaute ihren Sohn an.

Rafe sah es an ihrem Gesicht, dass sie die möglichen Folgen einer Absage und einer Zusage gegeneinander abwog.

„Nun, ich denke, dann kommen wir wohl mit.“ Es klang nicht sehr freudig.

3. KAPITEL

Den ganzen Vormittag tat Cass so, als bemerke sie Rafe nicht. Andy hatte auf dem Weg zur Schule nur über das bevorstehende Spiel geredet. Das würde ihm bei seinen Freunden sicher viel Achtung verschaffen. Nicht viele Zweitklässler wurden zu einem Spiel der Orlando Magics eingeladen.

Cass seufzte. Sie war eigentlich nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, aber Rafe Santini brachte sie dazu, das zu vergessen. Er hatte in seinem Vorgarten mehrere geschmacklose weibliche Gipsbüsten aufgestellt und seine Terrasse mit entsetzlichen Plastikblumen in fluoreszierenden Farben dekoriert. Er hatte den schrecklichsten Vorgarten in der ganzen Straße.

Die totale Geschmacklosigkeit, die in seinem Vorgarten herrschte, stand im Widerspruch zu dem Mann, der sich so geduldig mit ihrem Sohn beschäftigte und ihm die Feinheiten des Basketballspiels beizubringen versuchte.

Es ließ ihr einfach keine Ruhe. Sie musste dauernd über Rafe nachdenken. Er war so sexy, dass sie in seiner Gegenwart immer ein bisschen nervös war, denn er weckte Gefühle in ihr, von denen sie gar nicht mehr gewusst hatte, dass sie in ihr schlummerten. Er gab ihr das Gefühl, schwach und verletzlich zu sein, ohne dass es ihr unangenehm war, und in seiner Gegenwart lachte sie auch viel mehr als früher.

Sie mochte seinen trockenen Humor. Sie mochte die Art, wie er mit Andy umging, Sie mochte es, dass er jede Arbeit, gleichgültig wie schmutzig oder mühsam sie war, in Angriff nahm und hinter sich brachte. Sie mochte Rafe Santini einfach, und das war das Gefährliche.

Während er an seinem Haus arbeitete, trug er beständig Shorts aus abgeschnittenen Jeans, eng anliegenden Jeans, die seine langen, muskulösen Beine besonders zur Geltung brachten. So etwas gehörte verboten.

Erneut ertappte sie sich dabei, dass sie ihn anstarrte, als er sich nun einen Stapel Dachziegel auf die Schultern lud. Er sang dabei einen nicht ganz jugendfreien Countrysong und passte seine Gangart dem Rhythmus des Songs an.

Wie immer arbeitete er mit nacktem Oberkörper. Sie versuchte, nicht hinzusehen. Warum konnte er nicht wenigstens ein bisschen Bauchansatz haben? War das zu viel verlangt?

Hingerissen beobachtete sie das Spiel seiner Rückenmuskeln, während er mit dem Hammer arbeitete. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich schließlich.

Plötzlich winkte Rafe ihr zu, und sie wusste, er hatte ihr Starren bemerkt. Sie erwiderte seinen Gruß. Er grinste nur.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den viktorianischen Sessel, den sie für Mrs Parsons restaurierte. Rafes Bild ging ihr trotzdem nicht aus dem Kopf. Sie würde ihm noch total verfallen, wenn das so weiterging. Wenn er doch wenigstens ein Hemd trüge.

Das Hämmern hörte auf, und sie hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt, dass sie schon wieder zu ihm hinübersah. Rafe machte die ganze Arbeit alleine. Er rollte immer erst eine Bahn Dachpappe aus, hämmerte sie fest und begann dann die nächste Reihe Dachziegel anzubringen. Auf diese Weise würde er sicher bis zum Abend damit beschäftigt sein.

Sie richtete sich auf und ging über die Straße. Ihre Mutter hatte sie schließlich zur Hilfsbereitschaft erzogen.

„Hallo, Santini.“ Wenn sie ihn so salopp beim Nachnamen nannte, fiel es ihr leichter, ihn als Kumpel zu betrachten.

Rafe vollführte erst noch ein paar Hammerschläge, bevor er zu ihr hinuntersah. „Morgen, Gambrel.“

Zum Glück verlor er kein Wort darüber, dass er sie dabei ertappt hatte, wie sie ihn anstarrte. So viel Taktgefühl hatte sie ihm gar nicht zugetraut. In der nächsten Sekunde bereute sie, dass sie Shorts trug. Irgendwie kam es ihr immer so vor, als starre Rafe auf ihre Beine. Sie war eigentlich ganz zufrieden mit ihrem Aussehen, musste jetzt aber daran denken, dass sie seit Weihnachten fünf Pfund zugenommen hatte.

„Brauchen Sie Hilfe?“

„Nein“, erwiderte er. „Dachdecken kann ich im Schlaf.“

Vielleicht sollte sie besser wieder gehen. „Aber ein zweites Paar Hände würde die Sache doch sicher beschleunigen.“

„Ja, das schon.“ Er sah ihr in die Augen. „Sie schämen sich wohl gar nicht, oder?“

Der schelmische Ausdruck in seinem Blick hätte sie eigentlich warnen müssen. „Schämen? Wofür?“

„Dafür, dass Sie auf Ihrer schattigen Terrasse sitzen, während ich in der Gluthitze schufte.“

„Santini! Ich hab’s nur gut gemeint.“ Sie machte kehrt.

„Ja, Gambrel. Ich weiß.“

Sie blieb stehen und blickte über die Schulter zurück. „Soll ich bleiben?“

„Ja, bitte.“

Warum war er plötzlich so nett? Oder wollte er sie wieder zum Besten halten? Sie machte Anstalten, die Leiter hinaufzuklettern.

„Bleiben Sie unten, Gambrel. Ich komme runter.“ Eine Minute später stand er neben ihr. „Sie brauchen einen Werkzeuggürtel und einen Hammer.“

„Ich dachte, ich reiche Ihnen die Sachen herauf und halte die Pappe fest.“ Schließlich kannte sie sich mit solchen Arbeiten überhaupt nicht aus.

„Was für ‚Sachen‘, Cass?“ Er schüttete Zimmermannsnägel in eine der Taschen an seinem Gürtel.

„Na ja, Nägel und so.“ Verlegen trat sie von einem Fuß auf den anderen.

„Sie sind ja eine wahre Expertin.“ Es klang nicht abwertend, nur belustigt, wie immer. „Ich warne Sie, Santini.“

„Jetzt bekomme ich aber Angst, Gambrel, wirklich.“ Er reichte ihr einen Gummihammer. „Drehen Sie sich um.“

Sie gehorchte. Im nächsten Moment spürte sie seine Arme um sich und die Hitze seines Körpers. Er legte ihr den Werkzeuggürtel um die Taille. Wenn sie sich einen Zentimeter nach hinten bewegte, würde sie seine Brust berühren. Ein Schauer überlief sie.

„So, das hätten wir.“ Seine Stimme klang etwas tiefer und rauer als sonst.

„Danke“, erwiderte sie und hatte plötzlich eine trockene Kehle.

Sie steckte den Hammer in eine der Schlaufen, und Rafe reichte ihr noch ein paar Werkzeuge, von denen sie keine Ahnung hatte, wozu sie gut waren.

„Haben Ihre Schuhe feste Sohlen?“

„Ich denke schon.“

Er kniete sich vor sie. „Zeigen Sie sie mir.“

Sie spürte seinen Atem an ihrem Schenkel, und es kostete sie ihre ganze Selbstbeherrschung, die Hände nicht in sein dichtes schwarzes Haar zu graben. Sie schwankte leicht, und ihr Bein streifte seine Wange. Es fühlte sich rau an auf ihrer glatten, weichen Haut. Eilig wich sie ein Stück zurück. Wahrscheinlich hielt er sie schon wieder für sexuell ausgehungert.

„Halten Sie sich an meiner Schulter fest“, sagte er in befehlendem Ton, und sie hatte den Eindruck, dass die kurze Berührung ihn genauso durcheinandergebracht hatte wie sie. Jedenfalls hoffte sie das.

Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie glaubte, man müsse es meilenweit hören.

Oh, verflixt! Sie wollte das alles nicht. Sie wollte ihn nicht begehren. Nicht jetzt, wo sie endlich wieder ihr Gleichgewicht gefunden und ihr Leben im Griff hatte. Sie war selbstständig und unabhängig, aber ein Teil von ihr sehnte sich danach, jemanden zu haben, der sie nachts festhielt. Nicht einfach irgendjemanden, sondern einen Mann, der die Leere in ihrem Herzen ausfüllen konnte.

Sie spürte Rafes harte Muskeln, als sie ihm die Hände auf die Schultern legte, während er ihre Sohlen prüfte.

Er richtete sich wieder auf und musterte sie von Kopf bis Fuß. „Okay, Sie können anfangen.“

Die nächsten zwei Stunden arbeiteten sie gemeinsam auf dem Dach. Es war anstrengend, aber interessant. Am frühen Nachmittag waren sie fast fertig, und Cass war stolz, dass sie Rafe eine wirkliche Hilfe gewesen war.

Die Sonne strahlte unbarmherzig auf sie herab, und Cass spürte, dass sich ihre Haut zu röten begann.

„Ich brauche eine Pause, Rafe.“

Er blickte auf. „Die brauchen Sie bestimmt. Setzen Sie sich dort drüben in den Schatten.“

Ein großer Ahornbaum sorgte für Schatten auf der anderen Hälfte des Daches. Und sie sollte allein dort hinübergehen, in dieser schwindelnden Höhe? Niemals.

„Ich bleibe lieber hier.“

„Angst, Gambrel?“

Sie gab ihre Schwäche offen zu. „Ja, allerdings.“

Ganz sacht berührte er mit dem Finger ihre Wange. „Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Ich passe schon auf, dass Sie nicht fallen.“

Jetzt hatte sie erst recht Angst. Nein, vom Dach würde sie wohl nicht fallen, in der Hinsicht konnte sie Rafe sicherlich vertrauen. Aber mit jeder Minute, die sie mit diesem Mann verbrachte, drohte sie in anderer Hinsicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Was womöglich weitaus gefährlicher war. Besonders da sie auf dem erotischen Terrain nur in ihrer kurzen Ehe mit Carl Erfahrungen gemacht hatte.

Rafe nahm sie bei der Hand und führte sie auf die Schattenseite, bevor er zwei Dosen Limonade aus einem Kühlbehälter holte. Er bewegte sich mit katzenhafter Sicherheit auf dem Dach, und sie beneidete ihn um sein Selbstvertrauen.

Cass hatte sich die meiste Zeit ihres Lebens unsicher und schwach gefühlt. Wahrscheinlich deshalb zog es sie instinktiv zu starken Männern hin, obwohl ein Teil von ihr sich gleichzeitig gegen deren Stärke wehrte.

Sie nahm die Dose, die Rafe ihr reichte, und trank in großen Schlucken. „Ich würde Sie gern zum Abendessen einladen, bevor wir heute Abend zu dem Spiel gehen.“

„Es wäre sicher einfacher, wenn wir uns im Stadion etwas kauften.“ Er schwieg eine Weile. „Warum wollten Sie eigentlich nicht, dass Andy allein mit mir hingeht?“

Er hatte es also gemerkt. Angestrengt suchte sie nach einer Ausrede, doch ihr fiel keine ein. „Ich mag es nicht, dass Sie dem Sport so viel Bedeutung beimessen. Andy himmelt Sie an. Er will alles tun, was Sie tun, und dabei ist er noch so klein. Ich habe Angst, dass er sich dabei verletzen könnte.“

„Sich verletzen, indem er sich ein Spiel ansieht?“

„Sie wissen doch, was ich meine. Wenn er erst einmal angefangen hat, sich für eine Sportart zu begeistern, wird er nicht mehr davon loskommen. Und ich werde die Böse sein, wenn ich es ihm nicht erlaube.“

„Cass, ich will Ihren Sohn nicht beeinflussen. Ich dachte nur, es wäre schön für ihn, sich ein Spiel einmal live anzusehen. Aber wenn Sie nicht wollen, dass er hingeht, hätten Sie sofort unmissverständlich Nein sagen müssen.“

„Sicher, andererseits braucht Andy tatsächlich eine Beschäftigung außerhalb der Schule. Ich wollte Sie deshalb schon um Ihre Hilfe bitten.“

Rafe starrte blicklos auf seine Limonadendose. „Ich habe überhaupt keine Erfahrung mit Kindern.“

„Ich weiß. Aber Sie waren doch schließlich selbst mal eins. Ein Junge.“

Er lächelte. „Ja, das kann man so sagen.“

„Eben.“ Cass überlegte kurz und gab sich dann einen Ruck. „Andy hat mich gefragt, ob er nicht beim Juniorenfootball mitmachen darf.“

„Das müssen Sie entscheiden.“

Sie verstand. Es war ihre Verantwortung, und er wollte nichts damit zu tun haben. „Rafe, ich will nicht, dass Andy ein Angsthase wird, weil ich ihm nie erlaube, etwas auszuprobieren. Aber ich will auch nicht, dass ihm etwas passiert, und Football ist gefährlich, Ich habe da schon einiges gehört von anderen Müttern.“

Er sah sie mit seinen hellen, blaugrauen Augen durchdringend an. „Verletzungen passieren nun einmal, Cass. Aber beim Sport lernt man auch Disziplin.“

Disziplin, das war es, was ihrem Sohn fehlte. Und sie wusste, es war ihre Schuld. „Hätten Sie keine Alternative zu Football?“

„Ich werde darüber nachdenken.“ Rafe stand auf und bot ihr die Hand. „Aber jetzt dürfen Sie auf keinen Fall mehr hier oben bleiben.“

„Wieso denn das?“

„Weil Sie einen Sonnenbrand bekommen.“

Sie hielt Rafes Hand umklammert, als er sie über das recht steil abfallende Dach zur Leiter führte. Vorsichtig spähte sie in die Tiefe, und sofort wurde ihr schwindlig.

„Ich glaube, ich bleibe doch noch ein Weilchen hier.“

„Nun kommen Sie schon, Angsthase. Ich helfe Ihnen.“ Seine Stimme klang geradezu zärtlich. „Ich gehe zuerst.“

Rafe hielt sie mit beiden Armen umfangen, während sie die Leiter hinabstiegen. Ihre Brustspitzen richteten sich auf und stießen gegen den Spitzenstoff ihres BHs, als Erregung sie erfasste.

Atemlos lehnte sie sich an Rafes Brust und blieb stehen. Er blieb ebenfalls stehen und ließ sie nicht los.

„Rafe?“ Sie wusste nicht genau, was sie sagen wollte, was sie überhaupt wollte. Doch etwas trieb sie mit aller Kraft zu ihm. Mit Rafe fühlte sie sich wieder lebendig, als hätte sie die letzten Jahre in einer Art Zauberschlaf verbracht, aus dem sie nun endlich aufwachte.

Rafe berührte mit den Lippen ihren Hals, und ein Schauer überlief sie, so prickelnd und heiß wie ein elektrischer Schlag. Sie spürte Rafes Wärme und seine Kraft in ihrem Rücken und fühlte sich so sicher und geborgen, als hätten sie beide festen Boden unter den Füßen. Und erfüllt von einer Sehnsucht, für die weder der Ort noch der Augenblick richtig waren, ließ sie sich gegen ihn sinken.

„Cassie“, murmelte er an ihrem Hals.

Seine Hände lagen immer noch um ihre Taille, doch sie spürte, dass er mit den Fingern nach ihren Brüsten tastete.

Plötzlich bellte Tundra und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Ihre Wangen glühten. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sich so ihren Gefühlen hinzugeben? Und das in den Armen eines Mannes, dem die Frauen sicher in Scharen nachliefen und der in der Liebe bestimmt viel mehr Erfahrung hatte, als sie es jemals haben würde.

Rafe stieg weiter die Sprossen hinab, und nach wenigen Augenblicken hatten sie den sicheren Grund erreicht.

„Alles in Ordnung, Cass?“ Es klang aufrichtig besorgt, und sie ärgerte sich, weil sie sich in ihrer brennenden Sehnsucht so schwach und ihm ausgeliefert fühlte.

„Ja, natürlich“, antwortete sie. „Bis heute Abend.“

Cass ging rasch fort, bevor Rafe ihr irgendwelche Fragen stellen konnte, auf die sie nicht hätte antworten wollen. Sie zitterte, als sie ihr Haus betrat. Da begehrte sie leidenschaftlich einen Mann, der überhaupt nicht zu ihr passte. Was, um alles in der Welt, sollte sie tun?

Rafe trug immer ein T-Shirt mit dem Magic-Logo, wenn er zu einem ihrer Spiele ging. Sicher hatten Cass und Andy noch keins, deshalb hatte er ihnen welche mitgebracht.

Er freute sich darauf, Cass einen Teil seiner Welt zu zeigen. Und er freute sich darauf, sie zum ersten Mal zu küssen. Denn keine Frage, das würde er noch an diesem Abend tun. Ihre vollen, weichen Lippen waren wie zum Küssen geschaffen.

Außerdem würde er heute Gelegenheit haben, Cass davon zu überzeugen, dass es für Andy nicht schädlich wäre, selbst Basketball zu spielen.

Rafe erstarrte, als ihm schlagartig bewusst wurde, wie sehr er am Leben von Cass und Andy Anteil nahm. Dabei hatte er sich nach dem Tod seiner Familie geschworen, nie wieder tiefere Gefühle für jemanden zu entwickeln. Bisher hatte er sich auch stets daran gehalten. Bis er Cass Gambrel kennengelernt hatte. Eine innere Stimme warnte ihn, bei dieser Frau mehr zu wollen. Seine Mutter, sein Vater und Angelica hatten sich auf ihn verlassen, und er hatte versagt.

Entschlossen verjagte er die Gesichter der Vergangenheit aus seinen Gedanken und klopfte an Cass’ Tür. Rafe konnte hören, wie drinnen jemand eilig die Treppe herunterrannte.

Er lächelte. Andy war wirklich ein liebenswertes Kind.

„Hi, Mr Santini. Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr.“

Er gab Andy eins der T-Shirts.

„Wow, danke! Mummy, er ist da“, rief der Junge ins obere Stockwerk hinauf.

„Ich weiß, Schatz.“ Cass stand auf der Treppe, und sie sah genau so aus, wie er es erwartet hatte. Elegant.

Hoffentlich half Andy ihm dabei, sie zu überreden, ebenfalls Jeans und T-Shirt anzuziehen. „Sie sehen wundervoll aus, aber ich fände es schön, wenn Sie heute Abend das hier trügen.“

Er hielt das T-Shirt hoch. Obwohl er die kleinste Größe gekauft hatte, schien es für Cass immer noch zu groß zu sein.

„Ich weiß nicht. Ich sehe nicht gut aus in T-Shirts.“

„Bitte, Mummy“, flehte Andy.

„Keine falsche Scheu, Cass. Alle haben das an.“

„Na gut. Ich ziehe mich rasch um.“

Wenig später waren sie mit Cass’ Wagen unterwegs. Rafe saß am Steuer und versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Doch immer wieder musste er daran denken, wie sexy Cass ausgesehen hatte, als sie in hautengen, ausgebleichten Jeans die Treppe heruntergekommen war. Er hatte die Hände in die Taschen gesteckt, weil es ihn in den Fingern juckte, sie in ihren festen kleinen Po zu kneifen.

Das T-Shirt hatte sich über ihre Brüste gespannt, als sie in die Jacke geschlüpft war. Für einen Moment war er so erregt gewesen, dass ihm der Atem stockte. Wie angewurzelt war er stehen geblieben und hatte sie nur angestarrt.

Kaum waren sie beim Stadion angekommen und ausgestiegen, nahm Cass Andy an die Hand, was der Junge sich nicht lange gefallen ließ.

„Mummy, lass los. Ich lauf schon nicht weg.“

„Nein, Andy. Hier sind viel zu viele Autos.“

Rafe wusste, jetzt würde es gleich eine ernsthafte Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn geben, und sagte spontan: „Ich werde die Hand deiner Mutter halten. Bist du dann zufrieden?“

Andy nickte, wogegen Cass ihn misstrauisch ansah. Er nahm ihre Hand und beugte sich zu Cass. „Ich werde Sie auch nicht beißen.“

Lachend gingen sie zum Eingang.

Sosehr es Cass auch erstaunte, doch mit Rafe fühlte sie sich so wohl wie schon lange nicht mehr.

Das ganze Spiel über jubelte Andy den Spielern zu wie der größte Magic-Fan aller Zeiten. In den Pausen flehte er seine Mutter immer wieder an, ihm doch zu erlauben, Football zu spielen. Cass sagte jedes Mal freundlich, aber bestimmt Nein. Als einer der Spieler verletzt wurde, sah sie erst ihren Sohn, dann Rafe vielsagend an.

Rafe saß auch auf dem Heimweg am Steuer. Er parkte den Wagen in Cass’ Einfahrt und drehte sich nach Andy um. Der Junge war auf dem Rücksitz eingeschlafen.

„Soll ich ihn hinauftragen?“

„Ja, bitte“, antwortete Cass.

Sie ging voraus, und Rafe folgte ihr in Andys Zimmer. Er legte den Jungen aufs Bett, blieb in der Tür stehen und sah zu, wie Cass ihm seinen Pyjama anzog.

Verflucht! dachte Rafe. Das darf doch nicht wahr sein. Eine Frau und Mutter wie Cassandra, die nicht nur für eine Nacht zu haben war, sollte nicht solche Gefühle in ihm wecken. Es war für ihn kein Problem, wenn er eine Frau begehrte. Doch was er für Cass empfand, war mehr als Begierde. Es ging tiefer.

Aber er, Rafe Santini, war ganz bestimmt kein Mann für eine solche Frau. Er war ein Einzelgänger, arbeitete hart und viel – und, was das Wichtigste war, er wollte keine emotionalen Bindungen.

Wie ein Mantra wiederholte er das immer wieder, während er die Treppe hinunterging.

4. KAPITEL

Cass betrachtete den nachtblauen Himmel, an dem die Sterne glitzerten. Der Klang von Rafes Stimme und der Wein machten sie benommen.

Noch nie zuvor hatte sie ohne besonderen Anlass Alkohol getrunken. Rafes Einfluss wirkte sich jetzt auch schon auf sie aus und machte jahrelange Erziehung und Belehrung zunichte. Cass musste allerdings zugeben, dass es Spaß machte.

„Basketball ist eine der ungefährlichsten Sportarten“, sagte Rafe nun. Er hatte einen Arm auf die Rückenlehne der Hollywoodschaukel gelegt, und Cass hätte am liebsten den Kopf daran gelehnt.

Rafe schwieg. Er schien darauf zu warten, dass sie ihm antwortete. Was hatte er gesagt? Etwas über Basketball. Sie lächelte ihn an, und dann begannen sie, über die Vor- und Nachteile dieses Sports zu diskutieren. Rafe ging ernsthaft auf ihre Argumente ein und versuchte keineswegs, wie sie erwartet hatte, den Sport zu glorifizieren. Er wollte ihr offenbar aufrichtig helfen, die richtige Entscheidung zu treffen, obwohl ihm das sicher nicht leichtfiel.

„Es war sehr nett, dass Sie uns zu dem Spiel mitgenommen haben.“

„Gern geschehen“, erwiderte er. „Ich hoffe nur, dass Andy sich jetzt keine falschen Hoffnungen macht.“

In dem schwachen Lichtschein, der durchs Küchenfenster fiel, schienen seine Augen zu glühen. Rafe gab sich immer den Anschein, als könne ihm nichts etwas anhaben, und sie hatte anfangs nicht einmal versucht, hinter diese betont männliche Fassade zu blicken. Doch mittlerweile hatte sie den empfindsamen Menschen dahinter entdeckt.

Sie kannten sich noch nicht lange, und doch mochten sie und Andy ihn schon sehr. Heute Abend waren sie fast wie eine Familie gewesen. Aber sie wusste, Rafe wollte das eigentlich nicht. Jedes Mal, wenn Andy nach seiner Hand getastet hatte, hatte er sie ihm entzogen.

Cass nippte an ihrem Weinglas. „Haben Sie als Junge Basketball gespielt?“

„Ja, ich habe alle Sportarten ausprobiert. Meine Mutter war erst sehr dagegen, hat sich aber schließlich damit abgefunden.“

In diesem Moment fühlte sie sich stark zu ihm hingezogen. Ein Teil von ihr würde sich ihm wohl immer nah fühlen, auch wenn sie niemals mehr als gute Freunde wären. Rafe Santini war in Wahrheit voller Gefühl, er erlaubte sich nur nie, das auszudrücken.

Einem Impuls folgend, streckte sie die Hand aus und strich ihm mit den Fingerspitzen über die Wange. Sie hatte keine Erfahrung, wie man einen Mann verführt. In ihrer Ehe mit Carl war die Initiative stets von ihm ausgegangen. Aber was das Sexuelle betraf, waren ihre Gefühle für Carl auch nicht sehr intensiv gewesen.

Dagegen hatte sie jetzt ein heißes Kribbeln im Bauch wie von tausend Schmetterlingen, und sie wünschte, Rafe würde den Arm um sie legen. Als sie ihm in die Augen blickte, erschrak sie fast. Aus seinem Blick sprach ein so drängendes Begehren, wie sie es nie zuvor bei einem Mann gesehen hatte.

Und seine Stimme war rau, als er erklärte: „Ich bin nicht gerade geeignet, einen guten Einfluss auf ein Kind auszuüben.“

„Das verlange ich ja gar nicht.“ Im Augenblick wollte sie nur seinen Körper spüren und seine Lippen auf ihren. Sie wollte ihn einfach und das auf eine sehr elementare Weise.

Er sah ihr ins Gesicht, und ihr Mut sank. „Sie sind keine Frau für eine Nacht, Cass, und ich bin nicht der richtige Mann für Sie.“

Seine Aufrichtigkeit rührte sie, und spontan strich sie ihm noch einmal über die Wange. „Ich will nur einen Freund.“

Skeptisch hob er eine Braue, wie er es so oft tat.

„Es ist wahr, Rafe. Freundschaft ist alles, was ich möchte.“

„Wir können nicht einfach nur Freunde sein.“

„Dann küss mich zum Abschied. Danach werde ich dich für immer in Ruhe lassen.“ Sie konnte kaum glauben, dass sie das zu ihm gesagt hatte. Doch, verflixt, etwas in ihr würde niemals Ruhe geben, wenn Rafe sie nicht wenigstens einmal geküsst hatte.

„Cassie, du weißt nicht, was du mir antust“, murmelte er, nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf den Tisch. „Komm her, Baby, ich werde dich küssen, aber nicht zum Abschied.“

Und Rafe küsste Cass. Für ihn war es wie die Heimkehr nach einer langen Reise.

Es war Jahre her, seit jemand durch seine Fassade hindurchgedrungen war, und er wusste nicht, ob es ihm überhaupt angenehm war. Alles ging so schnell, es brachte ihn durcheinander, und er konnte nicht mehr klar denken.

Er sollte besser die Finger von Cass lassen. Cassandra Gambrel war eine Bedrohung für ihn, für seinen lockeren, unbekümmerten Lebensstil – und für seinen Seelenfrieden. Aber ihm war so heiß vor Verlangen, dass er alle Bedenken beiseiteschob.

Wie zerbrechlich sie doch war, und mit welcher Hingabe sie die Lippen öffnete. Ein kleiner Seufzer entfuhr ihr, als ihre Zungenspitzen sich nun zum ersten Mal berührten.

Er fuhr durch ihr Haar. Es war wunderbar weich und seidig, und er wollte mehr von ihr spüren. Er wollte alles von ihr. Jetzt gleich. Er wollte sie nackt in den Armen halten, ihre zarte Haut streicheln und sie überall küssen. Er wollte sie lieben, mit seinem Körper und, so ungern er es auch zugab, mit seiner Seele. Sie sollte ihn voller Leidenschaft mit ihren langen Beinen umschlingen, während er sich seinem wilden, fordernden Verlangen hingab. Seiner brennenden Sehnsucht nach ihr.

Er spürte ihre Hände im Nacken und ihre Brüste an seinem Oberkörper, als sie sich näher an ihn schmiegte. Unwillkürlich stöhnte er auf, wissend, dass er nicht weitergehen durfte. Cass war keine Frau, die mit einem Mann gleich am ersten Abend ins Bett ging.

Trotzdem mochte er sich noch nicht von ihr lösen und bedeckte ihr Gesicht und ihren Hals mit kleinen Küssen.

Sie zog seinen Kopf wieder höher und fing seinen Mund ein. Zuerst zaghaft, dann immer leidenschaftlicher küsste nun sie ihn, grub die Finger in sein Haar und presste sich erschauernd an ihn.

Er erwiderte den Druck ihres glühenden Körpers und genoss den Triumph, sie so stark zu erregen. Sie wollte ihn, und er begehrte sie so heiß, dass er sie auf der Stelle nehmen würde, wenn er sich nicht Einhalt gebot.

Was Sex betraf, kannte er sich mit Frauen aus, und er hatte seine Kenntnisse immer geschickt einzusetzen gewusst. Wenn er wollte, könnte er Cass dazu bringen, dass sie vor Verlangen nach ihm sämtliche Skrupel vergaß.

Er hätte nicht sagen können, warum, doch er schreckte davor zurück, Cass auf diese Weise zu bekommen, und impulsiv schob er sie ein Stück von sich weg, stand auf und wandte sich ab. Schwer atmend stützte er sich auf das Geländer der Terrasse.

„Rafe?“

Ihre Stimme zitterte, doch er drehte sich nicht um, denn dann wäre es mit seiner Selbstkontrolle vorbei. Er hatte es zu weit kommen lassen. Verdammt, warum hatte er sich nicht von ihr ferngehalten? Warum hatte er sie geküsst?

Weil er gar keine andere Wahl gehabt hatte. Cass nicht zu küssen wäre ihm unmöglich gewesen. Seit Tagen schon waren ihm ihre vollen, weichen Lippen nicht aus dem Sinn gegangen. Ganz zu schweigen von ihrem schlanken Körper und der natürlichen Anmut, mit der sie sich bewegte. Sie war wirklich äußerst verführerisch. Vor allem ihre Beine, diese langen Beine, die wie dazu geschaffen schienen, sich um seinen Körper …

„Rafe?“

Es klang verletzt, ängstlich und unsicher. Er hatte sonst immer mit Frauen zu tun gehabt, die sich mit Männern auskannten. Auf Cass traf das offenkundig nicht zu. Zwischen ihrem Lebensstil und seinem lagen Welten.

Warum musste ausgerechnet die Frau, die ihm zum ersten Mal seit Jahren das Gefühl gab, wirklich lebendig zu sein, eine Frau sein, die er nicht haben konnte? Nun, er würde sich damit abfinden müssen. So wie er sich mit dem Tod seiner Familie abgefunden hatte. Damit, dass er selbst nie eine Familie gründen würde. Denn sein Mangel an Verantwortungsgefühl hatte zum Tod seiner Eltern und seiner Schwester geführt. Er taugte nicht zum Ehemann und Vater.

Er richtete sich auf und sah zu Cass hinüber. Sie saß in sich zusammengesunken da wie ein verwundetes Tier, und er kam sich vor wie ein Raubvogel, der eine Maus gefangen und verletzt und sie dann einfach fallen gelassen hatte.

Ich bin ein Schuft, dachte Rafe. Wie soll ich jemals wieder in diese braunen Augen sehen?

Und ohne ein weiteres Wort verließ er die Terrasse.

Cass pochte an die schwere Eichentür und wartete beklommen, dass Rafe öffnete. Sie hatte alle erdenklichen Ausreden erwogen, um nicht herkommen zu müssen, aber es waren mehrere Anrufe gekommen wegen Rafes Vorgarten und wegen seines verwilderten Rasens.

Sie fühlte sich entsetzlich. In der letzten Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Rafes plötzliches Verschwinden hatte sie in ihrem Selbstwertgefühl sehr verletzt. Heute, so schwor sie sich, werde ich nicht die kleinste Andeutung von Gefühl zeigen. Sie würde sich hundertprozentig sachlich und nüchtern geben.

Andy war bei einem Freund, und sie hatte sich vorgenommen, gleich nach dem Gespräch mit Rafe irgendwohin zu fahren, möglichst weit weg. Sie konnte nicht den ganzen Nachmittag zu Hause verbringen in dem Bewusstsein, dass Rafe nur wenige Meter entfernt war.

Die Tür öffnete sich, und Rafe stand vor ihr. Seine Augen hatten rote Ränder, und die dunklen Stoppeln auf Kinn und Wangen hätten ihm eigentlich ein bedrohliches Aussehen geben müssen. Aber zum ersten Mal wirkte er auf sie verwundbar.

Er stand bewegungslos da und sah sie nur an. Sein Blick war so intensiv, dass er fast einer Berührung gleichkam. Schließlich fuhr er sich mit der Hand durch seine zerzausten Haare und bedeutete ihr, hereinzukommen.

Aber sie holte tief Luft und schüttelte den Kopf.

„Cass, ich war …“

„Mr Santini.“ Sie hielt inne, um sicher zu sein, dass er ihr auch zuhörte. „Ich bin hier als Vertreterin des Hauseigentümerverbandes. Es gab mehrere Beschwerden wegen der Gestaltung Ihres Vorgartens. Und Ihr Rasen muss gemäht werden.“

Er streckte die Hand aus, um sie zu berühren, und sie wich unwillkürlich zurück. Er machte einen Schritt auf sie zu. Diesmal blieb sie unerschütterlich stehen.

„Okay, ich werde ihn heute mähen.“ Er trat aus dem Haus. „Cass, ich möchte …“

„Mr Santini, Sie haben drei Tage Zeit. Andernfalls wird eine Geldstrafe fällig“, unterbrach ihn Cass. Warum konnte Rafe nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen?

Verflixt, selbst mit rotgeränderten Augen und übernächtigt sah er unverschämt gut aus. Warum musste er ihr das antun? Sie selbst fühlte sich erschöpft und unansehnlich nach der letzten Nacht.

Wie immer trug er Jeans und sonst nichts. Sie würde in der Satzung des Verbandes nach einer Vorschrift suchen, die das Herumlaufen ohne Hemd verbot.

„Ich sagte ja, ich mähe den Rasen heute.“ Es klang verärgert.

Besser, sie ging jetzt, bevor sie ihre Selbstkontrolle und ihren Stolz vergäße und ihn rundheraus fragte, warum er gestern einfach fortgegangen war.

„Ja, das sagten Sie. Auf Wiedersehen, Mr Santini. Und vergessen Sie nicht, den Vorgarten aufzuräumen.“

„Cassandra Gambrel, jetzt ist es aber genug.“ Sein Ton war eisig.

Sie blickte über die Schulter zurück. „Haben Sie für die … eigenwillige Gestaltung Ihres Vorgartens eine Erlaubnis vom Hauseigentümerverband eingeholt?“ Wenn er anfing, von gestern Abend zu reden, sie würde es nicht ertragen.

„Du weißt verdammt gut, dass ich das nicht habe.“

Warum musste dieser Mann immer fluchen? „Mr Santini, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich gewählter ausdrücken könnten.“

„Und ich wäre dir dankbar, wenn du mir nicht ständig ausweichen würdest.“

„Das tue ich nicht.“

Unvermittelt sprang er die Stufen vor der Haustür hinunter. „Stopp, Sie … Sie heißblütiger Italiener.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um.

Rafe brach in Gelächter aus.

„Was ist denn so lustig?“ Aufgebracht wandte sie sich um.

„Cass, der Ausdruck in deinem Gesicht“, erwiderte er lachend. „Einfach unbezahlbar.“

Sie gestattete sich ein kleines Lächeln. Was sie gesagt hatte, war wohl tatsächlich komisch gewesen. War es ihr Schicksal, dass sie sich jedes Mal lächerlich machte, wenn sie in die Nähe dieses Mannes kam? Oder nahm sie das Leben einfach zu ernst?

„Und wenn schon“, gab sie zurück und wollte jetzt endlich gehen. Aber er hielt sie davon ab, indem er sie am Ellbogen fasste. Sie wäre gern willensstärker gewesen, doch vom ersten Moment an, als er die Tür geöffnet hatte, hatte sie sich gewünscht, ihn zu berühren. Und dass er sie berührte.

„Raphael Santini. Lassen Sie mich los.“

„Ich kann nicht“, sagte er leise.

Ihr Herz schlug schneller, als Rafe sie mit sich zog und praktisch dazu zwang, sich neben ihn auf die Stufen zu setzen. Er legte einen Arm um ihre Schultern und umfasste mit der anderen Hand ihr Kinn. „Bitte kein Wort mehr, bevor ich ausgeredet habe, okay?“

Sie nickte nur. Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in ihr aus. Rafe hatte sie noch nie so ernst angesehen.

„Als Erstes möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich gestern Abend so plötzlich verschwunden bin.“

Sie öffnete den Mund, doch Rafe legte einen Finger auf ihre Lippen. „Kein Wort. Ich bin deshalb verschwunden, weil ich mich sonst nicht länger hätte beherrschen können. Denn wenn ich geblieben wäre …“

„Du sagst das nur, weil du mich trösten willst. Ich bin nicht gerade eine Frau, die die Männer verrückt macht.“

„Ich weiß nichts über andere Männer, aber mich macht schon ein einziger Blick auf deine Beine verrückt … Oder in dein Gesicht, wenn du Andy beim Spielen zuschaust. Alles an dir macht mich an.“

„Aber warum bist du dann gegangen?“, fragte sie. Sie musste es einfach wissen. Etwas Neues geschah zwischen ihr und Rafe, etwas, das sie nicht ganz verstand, das ihr aber zum ersten Mal seit Carls Tod das Gefühl gab, wieder lebendig zu sein.

„Weil du nicht die Frau bist, die mit einem Mann nur so zum Spaß schläft. Ich weiß das, und du weißt das auch.“ Er zögerte und suchte offenbar nach Worten. „Cass, du brauchst einen Mann, der dir Heim und Familie bietet. Dieser Mann bin ich nicht.“

Sie verstand, dass er befürchtete, sie würde ihn als potenziellen Bräutigam betrachten. „Aber ich weiß doch gar nicht, was für ein Mann du bist.“

„Deshalb bin ich ja gegangen.“ Er seufzte. „Cass, ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll.“

Cass nahm seine Hand. Sie fühlte sich rau an und stark, und es gab ihr das Gefühl, keine Angst haben zu müssen. Rafe Santini war in Wahrheit ein sehr aufmerksamer und sensibler Mann, und sie konnte nicht anders, als sich ihm anzuvertrauen. „Wollen wir versuchen, Freunde zu sein?“

„Ich will verdammt viel mehr als das.“ Er hielt ihren Blick fest. Brennende Sehnsucht stand in seinen Augen. „Ich bin die ganze Nacht auf und ab gegangen, ohne eine Lösung zu finden. Aber ich will dich, so sehr, wie ich noch nie eine Frau gewollt habe.“

Sie spürte ein erregendes Kribbeln am ganzen Körper. „Ich will dich ja auch.“

Er beugte sich vor und berührte mit den Lippen ihre Stirn. „Dann lassen wir es langsam angehen und lernen uns erst einmal kennen.“

Rafe rutschte unruhig auf dem harten Stuhl hin und her. Es war am Nachmittag desselben Tages. Um ihn herum wimmelte es von Menschen, die alle auf der Suche nach dem perfekten antiken Möbelstück waren. Cass hatte ihn damit beauftragt, ihre Sitzplätze zu halten, während sie die neuesten Angebote begutachtete.

Sie kam jetzt zurück und ließ sich auf der Kante ihres Stuhls nieder. „Ich habe das perfekte Stück gefunden. Es wird dir gefallen.“

Ihre braunen Augen funkelten vor Enthusiasmus, und ein strahlendes Lächeln lag auf ihren Lippen. Cass war in ihrem Element und sprühte vor Begeisterung, und er musste daran denken, wie er diese weichen, rosigen Lippen geküsst hatte.

„Was ist es denn?“, fragte er.

„Ein Bett.“

Er blinzelte ungläubig. Sie scherzte wohl. Ein Bett? Er hob eine Braue.

„Es ist aus dem achtzehnten Jahrhundert. Die Schnitzereien am Kopfende passen genau zu denen an meinem Treppengeländer. Ist das aufregend. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas Wundervolles noch einmal finden würde.“

Und er würde nie wieder eine Frau finden, die so wundervoll war wie sie. Cass freute sich an Dingen, die andere nicht einmal bemerkten.

„Ich wünschte, ich könnte es kaufen“, sagte sie. „Warum kannst du es nicht?“

„Ich habe nicht genug Platz. Aber es ist ein wunderbares Stück. Du solltest es dir anschauen. Nummer 629.“

Er bezweifelte, dass ihn das Bett interessierte, aber Cass sah ihn so erwartungsvoll an, dass er es ihr nicht abschlagen konnte. „Komm lieber mit. Ich kann hier doch das eine Teil nicht vom anderen unterscheiden.“

Sie zögerte. „Na gut. Es ist dort drüben.“

Er folgte ihr durch die Menge. Cass blieb vor einem Wandschirm stehen und winkte Rafe zu. Er wollte nur einen flüchtigen Blick auf das Bett mit den vier Pfosten werfen. Doch dann war selbst er beeindruckt, und ging aufmerksam um das Bett herum.

Kopf- und Fußende waren handgeschnitzt. Bewundernd strich er über das Holz und fragte sich, wie viele Stunden konzentrierter Arbeit wohl darin steckten. Himmel und Vorhänge waren aus schwerem Samt, dessen Farbe etwas verblichen war. Aber das Gewebe war gut erhalten. Er zog den Samtvorhang zurück und pfiff beeindruckt durch die Zähne. Ein weiterer Vorhang aus reiner Seide verhüllte das Bett und gab ihm etwas Geheimnisvolles.

Cass schob den Seidenvorhang zur Seite. „Sieh dir mal die Schnitzerei an.“

„Dieses Bett wurde für die Liebe gemacht“, sagte er beinahe ehrfürchtig und stellte sich Cass darin vor, wartend auf ihn.

Er stellte sich vor, selbst darin zu liegen, im Rücken kühlen Satin und auf der Brust Cass’ heiße Haut. Ihr langes Haar würde über ihn fallen, und ihre Lippen würden seine berühren …

Der weiße Seidenvorhang würde sie beide wie eine weiche Wolke einhüllen und die raue Wirklichkeit ausschließen. Es gäbe nichts als Cass und ihn und ihre gemeinsame Lust.

„Rafe?“

Da war sie wieder, die Wirklichkeit. Er wandte sich angespannt vor Erregung um. Verdammt, er musste Cass haben, so bald wie möglich. So intensiv hatte er noch nie über eine Frau fantasiert.

„Ich kaufe es“, sagte er. „Und du kannst es für mich restaurieren.“

„Rafe! Es ist das teuerste Stück der ganzen Auktion, eine seltene Antiquität. Hast du überhaupt eine Ahnung, was du dafür zahlen musst?“

Zum Teufel, die hatte er nicht. Aber er konnte schon seit gestern Abend nicht mehr klar denken. Seit ihm klar geworden war, dass eine alleinerziehende Mutter ihm den Kopf verdreht hatte. „Ich will es haben, Cass.“

„Warum? Du hast doch sonst keine Antiquitäten.“

„Ich will dieses Bett haben, weil ich mir vorstelle, wie wir darin liegen und uns bis zum Wahnsinn lieben.“

Cass wurde rot und senkte den Blick. „Oh.“

„Ja, ‚oh‘. Wirst du mir nun helfen mit dem Bett?“

Ein Schauer überlief Cass. Sie nickte. „Es ist wirklich das schönste Stück, das ich je gesehen habe.“

Und Cass war das Schönste, das er je gesehen hatte. Sie war zum Anbeißen. „Oh, verdammt:“

„Rafe, bitte. Kein Fluchen!“

Er lächelte in sich hinein. Er wusste, er wäre nicht mehr er selbst, wenn er nicht ab und zu fluchen würde.

5. KAPITEL

Ein hartnäckiges Brummen störte Cass’ unerhört erotischen Traum. Sie versuchte, das Geräusch zu ignorieren und sich auf die Empfindungen in ihrem Körper zu konzentrieren. Ihr Puls raste, während sie Rafes Oberkörper mit Küssen bedeckte. Seine Brusthaare kitzelten sie an der Nase. Sie legte die Wange auf seine Brust. Er strich durch ihr Haar und zog sie näher an sein Gesicht.

Sie spürte seine Lippen und seine Zunge an ihrem Hals. Dann bewegte er den Kopf langsam tiefer …

Halt, dieses Geräusch! Es kam von draußen. Was, verflixt noch mal, ging vor ihrem Fenster vor?

Ihr ganzer Körper schmerzte vor unerfüllter Sehnsucht. Sie wusste, sie wäre in Wirklichkeit niemals so kühn so wie in diesem Traum. Sie hatte Rafe Santini verführt, und sie war damit noch nicht fertig. Sie wollte weiterträumen.

Cass wünschte sich sehr, auch in Wirklichkeit so mutig zu sein. Doch Sex machte ihr etwas Angst. Außerdem könnte sie es nicht ertragen, wenn Rafe sie noch einmal küssen würde, nur um sie danach allein zu lassen.

Sie sah auf die Uhr und stöhnte. Sechs Uhr! Sie drückte das Gesicht ins Kissen, in der Hoffnung, der Lärm würde aufhören. Erfolglos.

Schließlich ging sie ans Fenster. Die meisten ihrer Nachbarn arbeiteten montags bis freitags von neun bis fünf und waren froh, am Wochenende länger schlafen zu können. Es gab sogar eine Regel des Hauseigentümerverbandes, der zufolge laute Geräusche vor sieben Uhr grundsätzlich verboten waren.

Es war Rafe Santini mit seinem Rasenmäher. Typisch. Er mähte allerdings ihren Rasen. Wie üblich trug er nichts als knappe Jogging-Shorts und einen Walkman. Womit wie üblich sein Oberkörper nackt war.

Warum tat dieser verrückte Kerl das? Jetzt sah er zu ihr hoch und winkte. Sie winkte zurück und legte die Stirn an die kühle Fensterscheibe. Wie sollte sie mit dieser Situation umgehen?

Wieder einmal würde sie Mr Santini einen Verweis erteilen müssen. Dabei wusste sie, weshalb Rafe ihren Rasen mähte. Unter seiner rauen Fassade war er sehr mitfühlend, und sie hatte am Abend zuvor erwähnt, dass sie Gartenarbeit hasste.

Cass seufzte. Wie konnte sie ihn zurechtweisen, dafür, dass er so lieb zu ihr war? Noch nie zuvor hatte sich jemand ihr zuliebe so bemüht. Aber sie musste etwas tun, bevor andere Nachbarn aufwachten und sich beschwerten.

Rasch schlüpfte sie in ihre verwaschenen Jeans und das Orlando Magic T-Shirt, band sich das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, rannte die Treppe hinunter und auf die Terrasse.

„Rafe!“, rief sie laut.

Er mähte weiter, ohne auch nur in ihre Richtung zu blicken. Da stellte sie sich ihm in den Weg. Er schaltete den Rasenmäher aus und nahm Sonnenbrille und Kopfhörer ab. Himmel, war dieser Mann sexy. Was fand er nur an ihr?

„Guten Morgen, Cass.“

Seine Stimme war tief und rau, und plötzlich hatte sie vergessen, weshalb sie hier war. Gleichzeitig fragte sie sich, weshalb sie nicht früher gekommen war. Allein der Klang seiner Stimme weckte in ihr den Wunsch, sich an seinen nackten Oberkörper zu schmiegen.

„Hast du mich vermisst?“ Sein Blick lag auf ihren Lippen.

Sie nickte. Wollte er sie küssen? Sie hoffte es. Da erinnerte sie sich, weshalb sie nach unten gerannt war. „Du kannst hier nicht so früh am Morgen Rasen mähen.“

„Was?“ Er fuhr sich mit der Hand über die Brust, und wie gebannt folgte sie der Bewegung mit den Augen,

„Das ist wieder eine Regelverletzung. Du weißt schon, die Satzung des Hauseigentümerverbandes.“

„Was habe ich denn diesmal falsch gemacht? Verdammt noch mal, ich wollte doch nur ein guter Nachbar sein und dich davor retten, eine Strafe für Verwilderung des Rasens zahlen zu müssen.“

Er schien ernsthaft bekümmert zu sein. Vielleicht wusste er ja wirklich nichts von der Regel über die Ruhezeiten. Rafe war schließlich ein äußerst beschäftigter Mann.

„Ich weiß.“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu und streichelte seine Wange. „Es ist mir ja auch furchtbar unangenehm.“

„Warum?“ Er hielt ihren Blick fest.

„Warum was?“ Sie stand jetzt ganz nah bei ihm, spürte die Wärme seines kraftvollen Körpers und den leichten Geruch nach frischem Schweiß.

„Warum ist es dir furchtbar unangenehm?“ Er streckte die Hand aus, strich ihr jedoch nur eine Locke aus der Stirn. „Ich finde … es ist süß von dir.“

„Süß? Oh nein. Ich bin nicht süß. Es bringt mich nur total durcheinander, dich in deinen Shorts zu sehen, wenn du den Rasen selbst mähst.“

Sie lächelte. „Wieso denn das? Meine Shorts sind doch überhaupt nicht eng?“

„Oh doch! Dein Po ist sehr gut darin zu sehen.“

„Rafe!“

„Du wolltest es wissen. Übrigens hast du einen tollen Po, Süße.“

„Jetzt reicht es aber, Santini!“

Rafe lachte laut in die Morgenstille hinein. „Sag mir, welche Regel ich diesmal gebrochen habe.“

Sie bemühte sich, seine Bemerkung über ihren Po zu vergessen. „Es ist nicht erlaubt, vor sieben Uhr morgens draußen motorbetriebene Geräte zu benutzen.“

„Wie teuer wird es diesmal?“, fragte er resigniert.

„Die Strafe beträgt hundert Dollar. Aber ich erteile dir nur eine Verwarnung.“

Rafe legte den Kopf schief. „Ist das nicht auch gegen die Regeln?“

„Eigentlich schon. Aber es hat sich ja noch niemand beschwert.“

Sanft fasste er sie um die Schultern. „Gibt es wirklich eine Vorschrift gegen Lärm?“

„Ja.“ Ihre Lippen waren plötzlich ganz trocken, und sie wünschte sich, seinen Mund auf ihrem zu spüren. „Wann wirst du endlich die Satzung lesen?“

„Ich habe sie überflogen.“ Sein warmer Atem strich über ihre Wange.

„Das hat wohl nicht gereicht.“ Ihre Stimme war rau vor Sehnsucht, und ihre Brüste streiften seinen Oberkörper. Sie genoss es sehr, ihm so nah zu sein, und wenn er sie nicht bald küsste, würde sie ihn küssen.

„Ich war anderweitig beschäftigt.“ Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern.

„Inwiefern?“, hauchte sie.

Als Antwort zog er sie an sich und schmiegte seine Wange an ihre. Sein aufregend männlicher Duft hüllte sie nun ein, und sie wünschte sich, Rafe würde die Arme um sie legen, so wie damals auf der Leiter. Sie hob den Blick und sah in sein Gesicht. Wie immer lag eine Spur von Ironie in seinen blaugrauen Augen, vor allem aber Begehren.

„Mrs Gambrel, Sie sind eine verwirrend betörende Frau. Das kann einen Mann wahnsinnig machen …“ Und dann endlich küsste er sie. Doch nicht wild und fordernd, sondern ganz sacht berührte er ihre Lippen mit seinen.

Sie schlang die Arme um seine Schultern. Sie waren feucht von Schweiß, stark und fest. Der Kuss war wie eine Verheißung. Alles, was sie sich von Rafe wünschte, schien darin zu liegen. Hingerissen grub sie die Hände in sein Haar und hätte ihn am liebsten nie wieder losgelassen.

„Wo ist Andy?“, fragte er nach einem langen, köstlichen Moment.

„Er schläft noch. Ich wollte dich eigentlich zum Frühstück einladen.“ Sie küsste ihn rasch noch einmal und ließ dann den Zeigefinger seinen Hals hinunter über seinen nackten Oberkörper gleiten. „Aber nur wenn du dich richtig anziehst.“

„Ich dachte, du magst meinen Po.“

„Also, wirklich! Wenn du nur ein bisschen Anstand hättest, würdest du dieses Wort zwischen uns nie mehr erwähnen.“

Er hob ihr Kinn an und schaute ihr in die Augen. Sein Blick war so zärtlich wie noch nie, und sie glaubte zu spüren, dass zwischen ihnen ein Gefühl echter Zuneigung entstanden war.

„Ich gehe jetzt besser“, sagte sie leise. „In einer Stunde gibt es Frühstück.“

„Ich werde da sein. Danke, Cass.“ Er schob den Rasenmäher über die Straße.

„Und vergiss nicht, anständig angezogen zu erscheinen.“

Rafe lachte laut und herzlich, und Cass musste lächeln.

Kopfschüttelnd ging sie ins Haus und tat, als sei sie nicht so aufgeregt wie ein Schulmädchen, weil ihr sexy Nachbar zu ihr zum Frühstück kommen würde.

Als Rafe am späten Vormittag ihre Werkstatt betrat, summte Cass gerade ein Lied vor sich hin. Er hatte versprochen, sich um Andy zu kümmern, damit sie mit der Restaurierung seines Bettes anfangen könnte. Der Junge wuchs ihm von Tag zu Tag mehr ans Herz. Er stellte kluge Fragen und wusste immer, wann er zu schweigen hatte. Ein angenehmes Kind. Er selbst war nicht so gewesen. Manchmal vergaß er fast, dass er es sich eigentlich nicht mehr gestatten wollte, jemanden ernsthaft zu mögen.

Cass kniete am Kopfende des Bettes und polierte das Holz. Sie war vollkommen vertieft in ihre Tätigkeit, und sie sah dabei entzückend aus. Es war offensichtlich, dass sie ihre Arbeit liebte. Aus jeder ihrer Bewegungen konnte man erkennen, dass dies ihre Berufung war.

Erneut stellte er sich ihre geschmeidigen Hände auf seinem Körper vor. Er unterdrückte ein Stöhnen. Zum Teufel, dieses Verlangen nach Cass wurde langsam zur Besessenheit.

Er sollte besser gehen. Für immer weggehen, bevor die Dinge zu kompliziert wurden. Aber, verdammt noch mal, diese Frau und ihr Sohn hatten angefangen, ihm etwas zu bedeuten. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er es so weit hatte kommen lassen.

Cass hatte die langen Beine untergeschlagen und saß in einer Position, die er keine fünf Sekunden ausgehalten hätte. Sie hatte wundervolle Beine, schlank und fest, und er wollte sie um seine Taille spüren. Jedes Mal, wenn er sie sah, dachte er an Sex.

Rafe räusperte sich. „Lust auf eine Pause?“

„Ich brauche keine Pause.“ Cass lächelte schelmisch. „Ich habe … wie sagtest du neulich? Ich habe im Schatten gefaulenzt, während du dich in der glühenden Sonne abgeschuftet hast.“

Lachend trat er zu ihr. Er hatte gar nicht mehr gewusst, wie schön es war, mit jemandem zu lachen und Späße zu machen. Er verbeugte sich theatralisch. „Bitte untertänigst um Vergebung, dass ich den enormen Zeit- und Kraftaufwand deiner Tätigkeit nicht richtig eingeschätzt habe.“

Cass atmete hörbar aus und sprang auf. Sie legte eine Hand auf seine Stirn. „Bist du krank? Hast du vielleicht Fieber? Oder ist ein Alien in deinen Körper geschlüpft?“

„Vorsicht, Gambrel. Ich muss mir diesen Blödsinn nicht gefallen lassen.“ Er zog sie an sich. Ihre verlockenden Lippen waren ganz nah. Nachts, wenn er im Bett lag, konnte er an nichts anderes denken als an ihren Mund. Verdammt, er musste Cass haben.

„Im Ernst, Santini. Es ist das erste Mal, dass ich eine Entschuldigung von dir höre. Ich hätte nicht gedacht, dass du dazu fähig bist.“

Er verdrehte die Augen und zog sie an ihrem Pferdeschwanz, so wie er es als Junge immer bei seiner Schwester gemacht hatte. „Wie geht die Arbeit an meinem Bett voran?“

„Gut. Warum?“

„Hast du Lust, mit mir ins Kino zu gehen?“, fragte er spontan. Wo war die lässige Coolness geblieben, die er seit Jahren kultivierte?

„Jetzt?“

„Hm. Da läuft zurzeit ein Baseballfilm. Ich dachte, Andy würde ihn vielleicht gern sehen.“ Toll gemacht, Santini. Lass sie glauben, dir ginge es nur um den Kleinen. In Wahrheit wollte er mit ihr zusammen im Dunkeln sitzen, Popcorn essen und ihr ins Ohr flüstern.

„Okay“, sagte sie, „aber ich muss dich warnen. Andy verschlingt im Kino immer ein Vermögen an Süßigkeiten. Ihm nur dabei zuzuschauen, verursacht einem schon Bauchschmerzen.“

„Und du erlaubst das?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass Cass, die immer Dinkelbrötchen und Vollkornpfannkuchen backte, ihrem Sohn gestattete, sich mit einem so ungesunden Zeug vollzustopfen.

Sie sah ihn scharf an. Er hatte bereits gemerkt, dass sie es nicht leiden konnte, wenn ihre Erziehungsmethoden infrage gestellt wurden. „Wir gehen ja nicht oft ins Kino. Und warum soll ich ihn nicht auch mal über die Stränge schlagen lassen?“

„Ich wollte dich nicht kritisieren“, erwiderte er aufrichtig.

„Aber das hast du. Als Außenstehender ist es leicht zu sagen, wie man es besser machen sollte. Aber Andys Vater hat den Jungen samstagnachmittags immer ins Kino ausgeführt, und dort haben sie dann dieses Zeug um die Wette in sich hineingestopft.“

Jetzt verstand er. Er hatte nicht daran gedacht, dass Cass für ihren Sohn beides sein musste, Vater und Mutter. Dass sie manchmal eine Rolle ausfüllen musste, in der sie sich unsicher fühlte. „Tut mir leid, Cass. Ich hätte meinen Mund halten sollen.“

Sie schwieg so lange, dass er schon Angst bekam, er hätte sich ihre Sympathie verscherzt. Das tat weh. Denn sosehr er sie auch als Frau begehrte, so wünschte er sich doch ebenfalls ihre Freundschaft.

„Nein“, sagte sie schließlich. „Ich habe überreagiert. Und im Grunde mag ich es gar nicht, wenn er dieses Zeug isst. Aber du hättest sein sehnsüchtiges Gesicht sehen sollen, als ich ihn das erste Mal nach Carls Tod mit ins Kino nahm.“

„Komm her, Baby.“ Er drückte Cass an sich. Er hatte sich noch nie über die Schwierigkeiten des Elterndaseins Gedanken gemacht. Es war schließlich nicht sein Problem. Aber Cass brauchte offenbar jemanden, der sie bei ihren Entscheidungen unterstützte. Was hatte er da eigentlich in ihrem Leben zu suchen?

Insgeheim wusste er, dass sie mehr als flüchtige Zuneigung für ihn empfand. Cass würde sich nie gestatten, zu einem Mann eine nur oberflächliche Beziehung zu haben.

Cass schmiegte ihr Gesicht an seine Brust, und er war froh, dass er kein Hemd trug.

Ich sollte machen, dass ich fortkomme, dachte Rafe. Fort von dieser Frau, bevor es zu spät ist. Stattdessen küsste er sie aufs Haar.

„Ich hole dich in zwanzig Minuten ab. Andy und ich haben uns schon informiert, wann der Film anfängt.“

„Und wenn ich Nein gesagt hätte?“

„Hast du aber nicht.“ Er wandte sich zur Tür. „Geh dich lieber umziehen. Du hast nur zwanzig Minuten, und Andy sagt, dass du immer ewig lange brauchst.“

Cass gab sich entrüstet, und er verschwand mit einem Lächeln auf den Lippen.

Verdammt, das Leben konnte doch sehr schön sein.

Die Abendluft war kühl, und Cass fror ein bisschen in ihrer kurzärmeligen Bluse. Sie wollte sich eine Jacke holen, doch Rafe legte den Arm um sie und drückte sie an sich.

„Besser?“

Sie nickte.

Andy war kurz nach neun ins Bett gegangen, und Rafe und sie hatten sich mit einer Flasche Wein auf die Terrasse gesetzt. Es war ein schöner Abend. Man hörte Grillen zirpen und ab und zu ein Käuzchen rufen. Sie wollte Rafe einladen, gemeinsam mit ihrer Familie Thanksgiving zu feiern, wusste jedoch nicht so recht, wie sie es anstellen sollte. Ob er noch Familie hatte? Er sprach nie über sich oder seine Vergangenheit, aber soweit sie wusste, hatten alle Italiener eine riesige Familie.

Sie fröstelte erneut, und Rafe zog sie noch dichter an sich. „Sollen wir hineingehen, Cassie?“

„Nein“, antwortete sie leise. Sie mochte es, wenn er sie Cassie nannte. Das tat sonst niemand. Sie war immer viel zu selbstständig und eigensinnig gewesen, als dass jemand aus ihrer Familie auf die Idee gekommen wäre, sie anders als Cass zu nennen. „Nächste Woche ist Thanksgiving.“

„Hmm“, murmelte er und vergrub das Gesicht in ihrem Haar.

„Hast du schon etwas vor?“ Sie nahm seine Hand und verflocht ihre Finger mit seinen.

„Nein. Ich bin an Feiertagen gern allein.“

„Und deine Familie?“ Ob er einsam war? Es gab so vieles, das sie von ihm nicht wusste. Er hatte eine vielschichtige Persönlichkeit und war bestimmt nicht einfach. Ein Grund mehr, die Finger von ihm zu lassen. Aber gerade wegen seiner Vielschichtigkeit fühlte sie sich ja zu ihm hingezogen, und es drängte sie, mehr über ihn herauszufinden.

Er sagte nichts auf ihre Frage, sondern küsste ihren Hals. Ein Schauer rann ihr über die Haut, doch diesmal nicht vor Kälte. Sie wollte protestieren, weil er ihr nicht antwortete. Aber den Mund immer noch an ihrem Hals, streichelte er nun zärtlich ihren Rücken, und weich schmiegte sie sich an seinen breiten, starken Oberkörper. Schade, dass er jetzt ein Hemd anhatte.

Sie spürte seine Finger an ihrer Brust. Ihre Lippen trafen sich. Es war ein lockender, ein heißer und tiefer Kuss. Wie das Vorspiel zum Liebesakt. Doch sie wollte sich Rafe noch nicht vollkommen hingeben. Denn solange sie nicht mit ihm schlief, könnte sie immer noch so tun, als liebte sie ihn nicht.

Rafe schien ihr Zögern zu merken. „Ich weiß“, sagte er leise und sah ihr in die Augen. „Ich gehe nach Hause.“ Er begann, die Stufen hinunterzugehen.

„Gute Nacht, Rafe.“

„Nacht, Cassie.“ Er kam zurück und küsste sie noch einmal zärtlich auf den Mund.

„Ich will nicht, dass du gehst“, flüsterte sie. Ihre Stimme klang heiser vor Sehnsucht. Sie erkannte sie selbst kaum wieder, und rasch verbarg sie das Gesicht an Rafes Hals.

„Du willst aber auch nicht, dass ich bleibe“, erwiderte er.

Er hatte recht. Sie begehrte und mochte ihn. Doch sie war noch nicht bereit für etwas anderes als Freundschaft.

Oh, Rafe, dachte Cass. Was werden wir tun, wenn diese Leidenschaft außer Kontrolle gerät?

6. KAPITEL

Mit seiner Kaffeetasse in der Hand, trat Rafe auf die Terrasse hinaus. Wenn er vor halb acht draußen war, konnte er meistens sehen, wie Cass Andy zur Schule brachte. Sie wirkte immer so heiter und optimistisch. Der Tag ließ sich irgendwie besser an, wenn er als Erstes sie gesehen hatte.

Doch heute hatte er sie anscheinend verpasst. Ihr Wagen stand nicht mehr da. Verdammt, er wollte es sich nicht eingestehen, aber er fing an, von Cass Gambrel abhängig zu werden. Noch schlimmer war die Erkenntnis, dass sie angefangen hatte, ihm wirklich etwas zu bedeuten.

Etwas in ihm hatte sich verändert in der vergangenen Nacht. Gefühle, die er bisher sorgfältig unter Verschluss gehalten hatte, waren plötzlich zu neuem Leben erwacht. Cass glaubte, er habe aus Rücksicht gegenüber ihren Gefühlen gehandelt. Aber in Wahrheit war es eher Angst, die ihn bewogen hatte, den Rückzug anzutreten, Angst vor seinen eigenen Gefühlen.

Selbst bei Anne, die er so sehr begehrt hatte, dass er sogar seine Verantwortung gegenüber seiner Familie vernachlässigt hatte, war sein Verlangen nicht so intensiv gewesen. Zum Teufel, Cass war gefährlich für ihn, aber er war noch gefährlicher für sie. Er könnte ihr schrecklich wehtun.

Wenn er mit ihr zusammen war, hing seine Selbstbeherrschung stets nur an einem dünnen Faden. Auch sonst ertappte er sich in den ungeeignetsten Momenten dabei, wie er an Cass dachte. So durfte es nicht weitergehen. Aber wie sollte er seiner Qual ein Ende bereiten, ohne Cass zu verletzen? Sie einfach zu verführen würde wohl nicht funktionieren. Sie brauchte mehr, und wenn er mit ihr zusammen war, hatte auch er das Gefühl, mehr zu brauchen.

Nachdem er jahrelang nur flüchtige Frauenbekanntschaften gehabt hatte, war ihm nun eine Frau begegnet, die ihm erstmals wieder das Gefühl gab, wirklich lebendig zu sein. Und ausgerechnet sie durfte er nicht begehren. Durch sie hatte er begonnen, über sich nachzudenken. Jetzt war er sich der Leere und Sinnlosigkeit seines Lebens schmerzlich bewusst. Dadurch stiegen alte Erinnerungen und Empfindungen in ihm hoch, von denen er geglaubt hatte, sie unter Kontrolle zu haben.

Er wollte ins Haus gehen, da fiel sein Blick auf ein Päckchen, das offenbar der Postbote vor der Tür abgelegt hatte. „Was zum Teufel …“, brummte er. Er hob es auf und öffnete es.

Ein Kärtchen fiel heraus. Ein Hauch von Parfüm – das ihn automatisch an Cass denken ließ – stieg von dem Päckchen auf. Gespannt hob er das pastellfarbene Kärtchen auf.

Die Handschrift wirkte anmutig und feminin, drückte jedoch auch eine gewisse Stärke aus, ganz so wie Cass selbst.

„Ein Mann von Welt sollte zu jedem Anlass das richtige Hemd haben. Ein frohes Thanksgiving.“

Rafe schmunzelte und löste das Geschenkpapier. Sieben Hemden in den unterschiedlichsten Farben und Stoffen waren darin enthalten. Er nahm eins davon heraus und ging ins Haus, um zu duschen.

Solch ein Geschenk musste erwidert werden, aber wie?

Am besten auch etwas zum Anziehen. Vielleicht ein ganz besonderes Nachthemd, ein Einzelstück? Er wusste genau, wo er es bestellen würde. Cass liebte schöne Dinge, aber es war ihm aufgefallen, dass sie bei ihrer eigenen Kleidung mehr auf Zweckmäßigkeit achtete. Solch ein Kleidungsstück würde sie sich niemals leisten.

Er wusste, Cass’ Geschenk war humorvoll, aber auch ein wenig ernst gemeint. Dass er dauernd mit nacktem Oberkörper herumlief, schien ihr mehr auszumachen, als er gedacht hatte. Im Übrigen war es mittlerweile kühl genug, um ein Hemd zu tragen.

Als Rafe wenig später seinen Jaguar aus der Garage fuhr, bog Cass gerade in ihre Einfahrt ein. Er hielt an und ließ die Scheibe herunter.

Ihre Sonnenbrille bedeckte fast ihr ganzes Gesicht, dennoch sah er, dass ein zartes Rot ihre Wangen überzog. „’Morgen, Cassie.“

Ihr goldbraunes Haar war im Nacken zusammengebunden, was sie jünger aussehen ließ.

„Mr Santini.“ Sie lächelte schelmisch. „Ein schönes Hemd.“

„Danke.“ Er grinste. „Ich habe mir sagen lassen, ein Mann von Welt sollte zu jedem Anlass das richtige Hemd haben.“

Sie errötete noch mehr, und er lachte sie an. Er wusste, die Zeit des Wartens war vorüber, und er wollte den Abend mit ihr verbringen, allein mit ihr.

„Rafe, ich möchte dich gerne für Donnerstag zum Abendessen bei uns einladen.“

Er schwieg und schüttelte dann den Kopf. Ein Abendessen mit Cass? Nichts wäre ihm lieber – aber nicht an einem Feiertag. Feiertage erinnerten ihn immer an alles, was er verloren hatte.

„Am Donnerstag ist doch Thanksgiving, Rafe, und ich dachte, vielleicht würdest du gern meine Familie kennenlernen. Sie kommen immer alle zu mir an dem Tag. An Weihnachten sind wir dann bei meinen Eltern.“

„Ich kann nicht, Cass. Es tut mir leid.“

„Ja natürlich.“

Doch er sah es an ihren Augen, dass seine Absage sie verletzte.

„Du hast wohl schon etwas anderes vor, oder?“

„Hm.“ Er konnte ihr schlecht sagen, dass er vorhatte, in Jimmys Bar zu gehen und sich zu betrinken. Dass er nur mithilfe einer Flasche Whisky die Erinnerungen an den Tod seiner Familie ertragen konnte.

„Sicher mit Verwandten, nicht wahr?“

Ihre unschuldigen Fragen machten es ihm noch schwerer. „Ich muss los“, brummte er ließ den Motor an und schloss das Wagenfenster.

Er wollte so schnell wie möglich von Cass weg, um nicht daran zu denken, dass seine Mutter Cass sicher gemocht hätte und dass sein Vater ganz vernarrt in den kleinen Andy gewesen wäre.

Rafe fluchte in sich hinein, bis Cass nicht mehr im Rückspiegel zu sehen war. Mit überhöhtem Tempo fuhr er zur Baustelle, in der Hoffnung, die Arbeit würde ihn davon ablenken, an Cass zu denken. Doch er ahnte, es würde ihm nicht gelingen.

Zwei Tage später hockte Cass neben dem antiken Bett auf dem Boden und gab sich große Mühe, nicht an Rafe zu denken. Ihre Arbeit an dem Bett war fast beendet, und sie war froh darüber. Das Bett erinnerte sie ständig an Rafe und regte sie zu den wildesten Fantasien an.

Es war nur seine Schuld. Abend für Abend rannte er in diesen unanständig knappen Shorts durch die Gegend und machte sie damit verrückt. Sie hatte noch einmal höchst erotisch von Rafe und dem Bett geträumt. Dabei schenkte er ihr gar keine Beachtung mehr. Offenbar hatte Rafe den Gedanken aufgegeben, sie zu verführen.

Sie legte die Finger um einen der Bettpfosten. Dieses Möbelstück war eines der besten Stücke, die sie je restauriert hatte. Liebevoll fuhr sie mit der Hand über das polierte Holz und versuchte, alle Erinnerungen an Rafe zu verjagen. Erfolglos.

Warum fiel es ihr nur so schwer, nicht an ihn zu denken? Offenbar hatte es sie wirklich erwischt.

Das Schrillen der Türklingel unterbrach ihre Gedanken, und Cass rannte zur Haustür. „Wer ist da?“

„UPS-Service. Eine Lieferung für Mrs Gambrel.“

Aber sie hatte doch gar nichts bestellt? Sie nahm das Päckchen in Empfang. Als sie es dann öffnete, fand sie zu ihrer großen Überraschung ein Negligé aus rotem Satin darin.

„Wahnsinn“, murmelte sie. Das konnte nur von Rafe sein. So ein Geschenk machte nur ein Mann, der eine Frau verführen wollte. Und nur Rafe brachte es fertig, ihr ein solches Geschenk zu machen und sie dennoch nicht mehr zu beachten.

Cass zog das Negligé aus der Verpackung heraus und errötete, als sie sah, dass das Dekolleté aus einem V-förmigen Spitzeneinsatz bestand und fast durchsichtig war. Der ebenfalls V-förmige Rückenausschnitt reichte bis zur Taille. Dieses Nachthemd war nicht zum Schlafen gedacht. Nie würde sie es wagen, so etwas zu tragen.

Warum hatte er es ihr geschickt? Sie dachte an die Hemden, die sie ihm geschickt hatte. Er schien sich aufrichtig darüber gefreut zu haben, und ein verheißungsvolles Glitzern stand in seinen Augen, als er sie aus seinem Jaguar angeschaut hatte.

Aber dann war er abrupt weggefahren und hatte sich seitdem von ihr abgewandt. Jetzt war er wieder kühl und unnahbar wie am Anfang. Warum? Doch sie ahnte die Antwort. Er hatte Angst, sie würde ihn sich als potenziellen Ehemann vorstellen, und das konnte sie ihm nicht verübeln. Sie wollte wirklich eines Tages wieder heiraten. Aber sie wusste, Rafe war dafür nicht zu haben.

Sie schüttelte das Nachthemd auf der Suche nach einer Karte, und es fiel auch eine zu Boden. Trotz allem hoffte sie, dass etwas Versöhnliches darauf stand, und las dann: „Eine Frau von Welt sollte nachts immer das Richtige anhaben.“

Hatte sie sich geirrt, und hatte er ihr Geschenk als anmaßend empfunden?

Cass betrachtete das Negligé und musste mit den Tränen kämpfen. Noch nie hatte sie so ein Geschenk bekommen. Carl hatte ihr Küchenmaschinen und einmal einen Staubsauger geschenkt.

Da hörte sie einen Hund bellen und sah zum Fenster. Rafe und Tundra kamen auf das Haus zu, und sie fragte sich, ob er sein Erscheinen bewusst so eingerichtet hatte. Aber er konnte unmöglich den genauen Zeitpunkt der Lieferung gewusst haben.

Plötzlich stieg Wut in ihr hoch. Hier war ein Mann, für den sie sich interessierte. Ein Mann, mit dem sie ihre Zeit verbringen wollte, der Mann, mit dem sie gern ins Bett gehen würde. Aber sie passten nicht zusammen.

Ihre Lebensgeschichten waren zu gegensätzlich. Etwas in Rafes Leben hatte ihn gelehrt, vor tieferen Gefühlen zurückzuschrecken. Und ihre ganze Erziehung und bisherige Erfahrungen machten es ihr unmöglich, Sex zu haben, ohne mit dem Herzen dabei zu sein.

Rasch eilte sie nach draußen. „Raphael Santini“, rief sie energisch.

„Ja?“

„Ich möchte mit dir reden.“

Er ging die Stufen zu ihrer Terrasse hoch und blickte auf ihre Hände, in denen sie immer noch das Nachthemd hielt. „Danke“, sagte sie.

„Gern geschehen. Es sollte …“ Er zuckte mit den Schultern und wandte den Blick ab. „Was soll’s. Es ist jetzt egal.“

„Sag es mir trotzdem“, forderte sie ihn auf und fühlte sich dabei so mutig wie noch nie. Doch sie musste einfach wissen, weshalb er ihr dieses Geschenk gemacht hatte, wenn er gar kein Interesse hatte, sie darin zu sehen.

„Du wirst es nicht gern hören.“

Sie sah ihn fest an. Diesmal würde sie nicht nachgeben. Sie wollte eine Antwort von ihm. Sie wollte diesen Mann verstehen, den sie angefangen hatte, ernsthaft gern zu haben.

„Ich wusste, du würdest dir so etwas nie selbst kaufen.“ Er berührte den glatten, weichen Stoff. „Und ich wollte mir vorstellen, wie du in etwas schläfst, das genauso schön ist wie du.“

„Rafe“, flüsterte sie bewegt, und etwas schnürte ihr die Kehle zu. Er hatte sich offenbar sehr viel bei seinem Geschenk gedacht. Und sie wünschte, sie hätte in ihrem Leben andere Erfahrungen gemacht. Erfahrungen, die es ihr erlaubten zu erleben, wie es war, Rafe als Geliebten zu haben.

„Aber dieses Nachthemd ist nicht annähernd so schön wie du, Cass.“

Mit einem Finger streichelte er ihre Wange.

Lange blieben sie so stehen, bis Cass sich erinnerte, was sie noch beschäftigte.

„Was habe ich vor zwei Tagen Falsches gesagt?“, fragte sie. „Ich habe hundertmal darüber nachgedacht, aber ich verstehe einfach nicht, was dich verletzt hat.“

Rafe brummte etwas vor sich hin. Dann drückte er sie an sich und küsste sie sacht aufs Haar. „Du hast nichts Falsches gesagt.“

„Erklär es mir, bitte.“

Er setzte sich auf die Stufen und zog Cass neben sich. „Meine Eltern kamen an Thanksgiving bei einem Autounfall ums Leben.“

„Oh, Rafe. Es tut mir so leid.“ Cass wusste aus eigener Erfahrung, wie schmerzlich der Tod eines geliebten Menschen war. Ein Schmerz, den Rafe offenbar noch lange nicht verwunden hatte. „Ich finde, dann solltest du diesen Tag erst recht nicht allein verbringen.“

„Ich werde zu Jimmy gehen.“

„Ist das ein Freund von dir?“

„Nein.“ Rafe musste lachen. „Es ist ein Restaurant.“

„Ich habe noch nie davon gehört.“

„Es ist eine Bar in der City.“

„Eine Bar?“

Er nickte stumm und wandte den Blick ab.

„Rafe, Alkohol war noch nie eine Lösung“, sagte Cass streng. Doch er hatte den Arm um sie gelegt, und sie vergaß die Predigt, die sie ihm halten wollte, und lehnte sich seufzend an ihn.

„Ich weiß, Cassie. Aber es ist besser, als zu Hause zu sitzen und sich mit Erinnerungen zu quälen.“

„Dann solltest du zu mir kommen.“ Sie nahm seine Hand in ihre. „Mein Schwager ist der einzige Mann in unserer Familie. Er würde sich bestimmt freuen.“

Rafe starrte vor sich hin. „Ich glaube, das wäre noch schlimmer.“

Cass zuckte innerlich zusammen. „Wir sind schließlich keine Ungeheuer, und Tony ist wirklich ganz in Ordnung, solange man mit ihm über Football redet. Und das tust du doch gern.“

„Beruhige dich, Cass. Deine Familie ist bestimmt wundervoll – aber ich möchte sie lieber nicht kennenlernen. Ich werde mir keine nähere Beziehung zu jemandem gestatten, nie wieder.“

Rafe war also nur aus Selbstschutz so ablehnend. Er hatte Angst, verletzt zu werden, aber auch davor, sie und Andy zu verletzen. „Danke, dass du so offen warst. Jetzt habe ich verstanden.“

Sie schwiegen, doch Cass wusste, dass sie Land gewonnen hatte. Sie würde nicht so schnell aufgeben. Denn sie war sicher, dass Rafe ein wunderbarer, liebevoller Mann sein könnte. Und es war ihr Ziel, ihm das zu zeigen.

Rafe war nicht überrascht, als es an seiner Tür klopfte. Cass würde bestimmt nichts unversucht lassen, bis er zu ihr herüberkäme. Sie war zu herzlich und zu gefühlvoll, um zuzulassen, dass er Thanksgiving allein blieb.

Doch als er die Tür öffnete, stand nicht Cass vor ihm, sondern Andy. Der Junge fühlte sich sichtbar unwohl in dem feinen Anzug, in den man ihn gesteckt hatte, und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen,

„Hi, Andy? Was gibt’s?“ Er lehnte sich gegen den Türrahmen.

„Ich soll dir sagen, dass die anderen um sechs Uhr fortgehen.“

„Okay.“ Rafe verspürte ein seltsames Gefühl der Erleichterung. Cass würde immer einen Weg finden, ihm zu zeigen, dass er nicht allein war.

„Mom meint, du kommst danach vielleicht rüber für ein spätes Abendbrot.“

„Danke für die Botschaft, Kumpel.“

„Hab ich gern gemacht. Da drüben konnte ich es sowieso nicht mehr aushalten. Alle meine Cousinen sind da.“

„Was ist verkehrt an deinen Cousinen?“, fragte er belustigt.

„Es sind alles Mädchen. Und ich soll mit ihnen Hochzeit spielen. Das ist schlimmer, als Brokkoli essen.“

Rafe gab sich Mühe, nicht zu lachen. „Ich weiß genau, was du meinst. Ich musste mit meiner Schwester immer Kaffeeklatsch spielen.“

„Oh Mann. Wie schrecklich. Warum müssen Mädchen so sein?“

Was für eine tiefsinnige Frage, dachte Rafe. „Sie bleiben nicht so, Andy. Glaub mir.“

„Willst du mit mir rüberkommen? Onkel Tony hat sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen. Wir könnten uns zu ihm hineinschleichen.“

So wie der Kleine ihn ansah, konnte er einfach nicht Nein sagen. Was ihm nur bewies, wie viel er schon für den Jungen empfand. Doch was könnte es schon schaden, wenn er noch einmal ein paar Stunden für ihn opferte? Danach war immer noch Zeit, sich endgültig zurückzuziehen.

„Okay. Wart einen Moment. Ich ziehe mich nur rasch um.“

Rafe zog eins der Hemden an, die Cass ihm geschenkt hatte. Als er sich dann vor dem Spiegel kämmte, merkte er, dass seine Hände zitterten. Familien jagten ihm offenbar eine regelrechte Panik ein.

Er nahm den Schlüssel vom Haken und verließ das Haus, wild entschlossen, einen schönen Nachmittag zu verbringen. Andy war ungewöhnlich gesprächig. „Rafe?“

„Hm.“

„Ich sollte dich aber nicht überreden, mitzukommen.“

„Ist schon in Ordnung. Hast du ja auch nicht.“

Als sie die Küche betraten, fühlte Rafe sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Der typische Thanksgiving Day stieg ihm in die Nase. Im Ofen garte der Truthahn, auf dem Küchenschrank stand der Kuchen zum Abkühlen, weibliche Stimmen redeten durcheinander und weibliche Hände bereiteten leckere Vorspeisen.

Alles war vertraut. Wie sollte er das ertragen? Da sah er Cass auf sich zukommen, und als sie die Arme um ihn legte, wusste er, alles würde gut gehen. Es war ihm eigentlich nicht recht, dass diese eine Frau so viel Einfluss auf ihn hatte, aber für diesen Nachmittag war es in Ordnung.

„Ein fröhliches Thanksgiving, Rafe“, sagte sie leise, bevor sie ihn auf den Mund küsste.

Da hob spontaner Beifall an. Cass wurde rot, nahm Rafe bei der Hand und zog ihn in die Mitte des Raums. „Das ist … mein Nachbar von gegenüber, Rafe Santini. Rafe, das ist meine Familie.“

Der Nachmittag verging wie im Flug. Rafe plauderte mit Cass’ Mutter Iris, einer eleganten Lady, die nach Chanel duftete, mit Cass’ älterer Schwester Eve und ihrer jüngeren Schwester Sara. Doch die ganze Zeit hatte er eigentlich nur Augen für Cass. Sie strahlte wie ein Diamant im Sonnenlicht.

Er und Tony wurden zum Kartoffelstampfen und zum Tranchieren bestimmt. Tony war froh, männliche Gesellschaft zu haben, und plauderte mit ihm über Football.

Es war Rafes schönstes Thanksgiving seit dem Tod seiner Familie, und er verdankte es Cass.

7. KAPITEL

Am Abend drohten Cass die Gefühle zu überwältigen, die sich im Lauf des Tages in ihr angestaut hatten, und sie musste unbedingt allein sein. Andy und Rafe saßen wie zwei alte Freunde auf der Couch und unterhielten sich über das Footballspiel, das gerade im Fernsehen lief. Leise stahl sie sich aus dem Zimmer und trat auf die Terrasse in die frische Abendluft.

Von drinnen konnte sie die beiden lachen hören. Andy war nicht gerade ein extrovertiertes Kind, doch zu Rafe Santini hatte er Vertrauen gefasst. Oder vielleicht hatte Rafe sich das Vertrauen des Jungen erworben. Er war jetzt ganz anders als der Mann, der damals im Stadion ihrem Sohn immer wieder seine Hand entzogen hatte. Rafe war ein großherziger Mann, was er sorgfältig zu verbergen suchte, doch er schaffte es nicht ganz.

Sie hätte ihren Thanksgiving-Truthahn verwettet, dass Rafe sich nicht bei ihrer Familie sehen lassen würde. Doch Andy hatte ihn anscheinend auf eine Art angesprochen, die anders war als ihre. Vielleicht war es eine Sache zwischen Männern.

Cass musste an das rote Negligé denken. Abends, im Dämmerlicht, hatte sie es wieder hervorgeholt, und es war ihr nicht mehr schwergefallen, sich vorzustellen, es für Rafe zu tragen. Sie hatte darin geschlafen und wieder einmal von ihm geträumt. Wie war es nur möglich, dass er ihre geheimsten Gedanken beeinflusste?

Den gleichen Einfluss hatte er auch auf ihren Sohn. Nach ihrem Gespräch am Tag zuvor hätte sie niemals erwartet, dass Rafe sich mit ihm anfreunden würde. Andy war so verletzlich. Ihn würde es am härtesten treffen, denn er würde nicht verstehen, wenn Rafe sich von ihnen zurückzöge.

Aber Rafe hatte keinen Zweifel daran gelassen, was er von ihr wollte: einen kurzfristigen, zu nichts verpflichtenden Flirt. Sie dagegen wünschte sich eine dauerhafte, echte Beziehung.

Das Herz tat ihr weh, wenn sie daran dachte, dass sie niemals in Rafes Armen schlafen, niemals aufwachen und seinen Atem an ihrer Wange spüren würde. Niemals Sex mit ihm hätte.

Rafe, immer wieder Rafe. Was war nur mit ihr los? Seufzend schob sie all die traurigen Gedanken beiseite. Sie war schließlich eine starke Frau. Bis jetzt hatte sie immer alle Schwierigkeiten gemeistert.

„Cass?“

Es war Rafe. Seine tiefe, raue Stimme ließ sie an lange Nächte voller Zärtlichkeit denken. Wie rau seine Stimme wohl wäre, wenn er sie in dem roten Negligé sähe? Du lieber Himmel, sie hatte ja nur noch Sex im Kopf!

„Cassie? Ist alles in Ordnung?“

„Aber ja. Ich wollte nur ein bisschen frische Luft schnappen.“

Rafe trat still neben sie, und sie sehnte sich danach, ihn zu berühren, die Arme um diesen starken Mann zu legen und ihm ihr Herz zu schenken. Um der Versuchung nicht nachzugeben, trat sie von ihm weg. Sie setzte sich auf die Hollywoodschaukel und tat ihr Bestes, ihn nicht anzustarren.

Rafe stützte die Hände aufs Terrassengeländer und beugte den Kopf vor. Cass stand wieder auf und ging zu ihm. Sie konnte ihn nicht so stehen lassen. Nicht an diesem Abend.

Sie ahnte, wie er sich fühlte. Sie selbst fürchtete sich immer vor dem Tag, an dem sich Carls Tod jährte. An jenen Tagen war es kaum mit ihr auszuhalten, aber ihre Familie stand ihr stets zur Seite und half ihr über den Tag hinweg, wie launisch und schwierig sie auch sein mochte. Das Gleiche wollte sie für Rafe tun. Schließlich hatte er sonst niemanden, der die Last mit ihm teilte. Sie wollte ihn bei der Hand nehmen, ihm zeigen, dass sie verstand, was in ihm vorging. Doch das würde er sich von ihr wohl nie gefallen lassen. Er würde wahrscheinlich nicht einmal zugeben, dass er überhaupt Trost brauchte.

„Was ist mit Andy?“, fragte sie, um etwas zu sagen.

„Er schläft.“ Rafe drehte sich zu ihr und fasste sie um die Schultern. „Cass, ich möchte mit dir reden.“

Hoffentlich hatte die Erinnerung an das, was er verloren hatte, ihn nicht in seinem Entschluss bestärkt, sich niemals wieder an jemanden binden zu wollen.

„Es tut mir leid, dass meine Mutter dich nach deinen Eltern gefragt hat. Ich hatte ihr gesagt, dass sie nicht davon anfangen soll, aber sie …“

Rafe unterbrach ihren Redefluss mit einem zärtlichen, behutsamen Kuss. Es war, als würde er damit ihr Trost spenden und nicht umgekehrt. Er zog sie an sich, und sie legte hingebungsvoll die Arme um ihn.

Verlangend schob er seine Zunge zwischen ihre Lippen, und überwältigt von seiner Glut, öffnete sie sie. Er schmeckte nach Espresso und Kürbistorte. Sie hätte ihn am liebsten nie wieder losgelassen. Rafe strahlte so viel Kraft und Stärke aus, dass ihr der Gedanke, er brauche Trost, plötzlich lächerlich vorkam.

Rafe Santini war unbesiegbar. Er brauchte ihre Hilfe nicht. Er kam sehr gut allein zurecht und wollte es nicht anders.

Er bedeckte ihr Gesicht mit kleinen Küssen und knabberte an ihrem Ohrläppchen. „Deine Mutter hat mich nicht genervt.“

Fieberhaft versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Wenn ihre Mutter nicht das Problem war, was dann? Sie selbst? fragte sie sich bedrückt. „Hat Andy dich das Spiel in Ruhe ansehen lassen?“

„Hm.“

„Es heißt nicht hm, es heißt: ja, Rafe. Manchmal glaube ich, du bist noch mundfauler als Andy.“

„Wahrscheinlich hast du recht“, erwiderte er lächelnd. „Soll ich dir helfen, Andy ins Bett zu bringen?“

„Das wäre schön. Er ist so groß geworden. Ich kann kaum glauben, dass das mein kleines Baby war. Ich kann mich noch erinnern …“ Sie brach ab. Was plapperte sie da? „Aber du musst nicht bleiben.“

„Ich möchte aber.“

Wenn er doch für immer bleiben wollte.

Rafe sah zu, wie Cass ihrem Sohn die Bettdecke feststopfte. Andy schlief selig. Er selbst konnte das seit Jahren nicht mehr. Seine Dämonen schienen ihn Nacht für Nacht enger zu umkreisen und machten Schlaf fast unmöglich.

Cass beugte sich über Andy und küsste ihn.

Rafe musste daran denken, wie seine Mutter ihn als Kind vorm Einschlafen immer geküsst hatte. Oh, er vermisste sie.

Feiertage waren sonst schrecklich für ihn, aber heute war es erträglich gewesen, dank der Familie Gambrel. Es war ihm nicht schwergefallen, sich wohlzufühlen, die Erinnerungen zu verdrängen und den Tag zu genießen. Es hatte ihm gefallen, mit Cass und ihrer Familie zusammen zu sein. Es hatte ihm sogar viel zu sehr gefallen.

Jetzt, wo er mit seinen Gedanken wieder allein war, tauchten seine Dämonen wieder auf, die Erinnerungen an seine Familie, und er fühlte sich plötzlich unendlich müde, als läge eine schwere Last auf seinen Schultern.

Andy wünschte sich so sehnlich einen Vater. Er unterdrückte einen Seufzer. Und Cass sehnte sich nach einem Ehemann, der ihr bei der Erziehung ihres Sohnes half. Er dürfte eigentlich gar keine Zeit mit ihnen verbringen. Er sollte sie in Ruhe lassen, damit Cass einen Mann finden konnte, der zu ihr und Andy passte. Einen anständigen Mann, keinen ausgebrannten Kerl mit einer Vergangenheit, die ihn quälte.

Rafe verließ den Raum. Die kleine familiäre Szene setzte ihm mehr zu, als er zugeben wollte. Er hätte Cass gern gesagt, dass er versuchen wollte, alles zu sein, was sie wollte. Dass er der Mann sein könnte, der ihre Familie vollständig machte. Dass er derjenige sein könnte, der das Dach reparierte, den Rasen mähte und Andy half, ein Mann zu werden.

Rafe ging die Treppe hinunter und setzte sich auf die unterste Stufe. Ja, das alles hätte er Cass gern gesagt, doch er durfte es nicht. Er durfte nicht riskieren, ihr oder Andy wehzutun.

„Rafe? Ist alles in Ordnung?“

Er blickte über die Schulter und hielt unwillkürlich den Atem an. Cass war ihm noch nie so schön erschienen. Für ihn verkörperte sie die vollkommene Frau: fürsorglich, stark und voller Liebe.

Aber Liebe machte ihm Angst, fürchterliche Angst. Auf solch eine Achterbahn der Gefühle würde er sich nie mehr einlassen. Ganz gleich, wie sehr er Cass begehrte. „Alles in Ordnung, Cassie. Komm her und lass uns reden.“

Sie schien etwas sagen zu wollen, schwieg jedoch. Er ahnte, was in ihr vorging. Sie hatte Angst, diese merkwürdige Beziehung, die sie zueinander hatten, könnte sich weiterentwickeln; hatte aber auch Angst, sie könnte sich nicht weiterentwickeln; und noch mehr Angst, sie könnte zu Ende gehen.

Verdammt, warum musste das Leben so kompliziert sein? Langsam stieg sie die Stufen hinab. Sie hatte eine natürliche Anmut, wie sie nur wenige Frauen besaßen. Er war sich plötzlich all seiner Mängel schmerzlich bewusst. Was sah Cass nur in ihm?

„Möchtest du eine Tasse Kaffee, Rafe?“

„Nein, danke. Lass uns dort hineingehen.“ Er führte sie ins halbdunkle Wohnzimmer. Schon den ganzen Abend hatte er sich gewünscht, mit Cass auf der Couch zu sitzen.

Sie setzte sich neben ihn auf die Kante der Couch. Fast hätte er sie einfach an sich gerissen. Körperlich wusste er genau, was er von ihr wollte. Er fluchte lautlos in sich hinein.

In der letzten Nacht hatte er nur von Cass geträumt, wie sie in dem Bett, das er auf der Auktion erstanden hatte, auf ihn wartete. Das restaurierte Stück stand jetzt in seinem Schlafzimmer, aber ohne Cass erschien es ihm viel zu groß.

Er lehnte sich zurück und zwang sich, nur einen Arm um sie zu legen. Einen Moment lang blieb sie steif und aufrecht sitzen. Schließlich gab sie nach und lehnte sich an ihn.

„Hat meine Mutter dich wirklich nicht genervt?“

„Wirst du endlich aufhören, dir deswegen Gedanken zu machen?“

„Ich kann nicht.“

Cass war so ernst, dass er lachen musste. „Oh, Cass, was sollen wir nur tun?“

„Es leicht nehmen.“ Sie seufzte. Dann wandte sie sich zu ihm und legte eine Hand auf seine Wange.

Sofort wurde ihm heiß, und wenn sie nicht aufhörte, ihn zu berühren, würde er die Beherrschung verlieren.

„Allerdings, wenn du mir noch einmal so etwas schickst, wie dieses rote Dingsda, garantiere ich für nichts mehr.“

„Oh, verdammt, Cass. Ich glaube, ‚es leicht nehmen‘ kommt nicht infrage für mich.“

„Warum?“

Er spürte ihre Brüste an seinem Oberkörper, und seine Selbstkontrolle hing nur noch an einem seidenen Faden. „Ich zeig es dir.“ Und schon küsste er ihre weichen, vollen Lippen. Doch er wollte mehr, und leise stöhnend glitt er mit der Zunge in ihren Mund.

Cass presste sich an ihn, und er hob sie auf seinen Schoß. Ihre Arme lagen um seinen Nacken, und sie wühlte durch sein Haar, während sie seinen Kuss unendlich sinnlich erwiderte. Ihm war, als hätte er seit Jahren auf diesen Augenblick gewartet. Bei keiner anderen hatte er jemals solche Gefühle gehabt. Keine Frau war wie Cassandra Gambrel.

Er strich über ihren schlanken Körper, der so zierlich und dabei so wunderbar weiblich war. Seine Hände zitterten, als er unter ihre Bluse fuhr. Ihre Haut war weich und seidig. Verdammt, Cass war wie geschaffen für die Liebe.

Er spürte ihre Sehnsucht, die ebenso brennend wie seine war, und wusste, dass er jetzt besser aufhören sollte. Vorsichtig löste er sich von ihr.

Cass legte den Kopf an seine Schulter. Sie vertraute ihm völlig. Selbst jetzt noch, obwohl sie seine starke Erregung deutlich merken musste. Dabei sollte sie besser davonlaufen. Doch sie blieb sitzen und begann nun, sich auf seinem Schoß leicht zu bewegen.

Am liebsten hätte er sie gepackt und … Nur zu gut konnte er sich vorstellen, wie er in sie eindringen würde …

„Cassie, Baby, geh von meinem Schoß runter, bevor ich vollends die Kontrolle über mich verliere.“

Zögernd stand Cass auf. „Was jetzt?“ Ihre Stimme zitterte vor unterdrücktem Verlangen.

„Ist es absolut ausgeschlossen, dass du mit mir ausgehst?“ Rafe hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Was tat er da? Er sollte besser zusehen, von hier wegzukommen und so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Cass zu legen.

„Nein.“ Sie küsste ihn auf die Stirn. „Ich würde sogar sehr gern mit dir ausgehen.“

„Nur du und ich, Cass. Abends in der Stadt.“

Sie lachte leise und nickte. „Ich hatte auch nicht vor, Andy mitzunehmen.“

„Oh, Baby, das weiß ich doch.“ So also sah sein Rückzug aus. Aber, verdammt, wenn er mit Cass zusammen war, fühlte er sich einfach gut.

„Danke, Rafe, dass du geblieben bist“, sagte Cass eine Stunde später und rückte auf der Couch ein wenig näher.

„Das war nur wegen des Popcorns“, behauptete er.

Sie vermutete jedoch, dass er den Film, den sie gerade im Fernsehen zeigten, genauso gern sehen wollte wie sie. „Hoffentlich bist du nicht enttäuscht, dass das Popcorn aus der Mikrowelle kam.“

„Nein“, erwiderte er und streckte seine langen Beine auf der Couch aus. „Ich wusste gar nicht mehr, wie gut dieser Film gemacht ist.“

Bevor Cass dagegen protestieren konnte, zog Rafe sie zu sich, bis sie neben ihm saß und ihre Beine ebenfalls ausstreckte. Entspannt legte er den Arm um ihre Schultern.

„Dann hat er dir beim ersten Mal gar nicht gefallen?“

Rafe warf einen Blick auf den Film. „Nun ja, er strotzt nicht gerade vor Action.“

Cass betrachtete hingerissen sein ausdrucksvolles Profil. Rafe sah einfach umwerfend gut aus. Wovon hatten sie gerade gesprochen? Ach ja, der Firn. „Ist Action dein einziges Kriterium für einen guten Film?“

„Nicht nur. Ich finde, es sollten ein athletischer Mann und mehrere gut gebaute Frauen darin vorkommen.“

Sie drehte sich zu ihm und sah ihn entrüstet an. „Raphael Santini, was hätte deine Mutter dazu gesagt?“

Das Glitzern in seinen Augen verriet ihr, dass sie genauso reagiert hatte, wie er es sich wünschte.

„Wahrscheinlich das Gleiche wie du.“

„Erinnere ich dich an sie?“, fragte sie vorsichtig.

„In gewisser Weise schon, obwohl du ganz anders aussiehst“, erwiderte er versonnen. „Es ist deine liebevolle, mitfühlende Art, die mich manchmal an meine Mutter denken lässt.“

Cass lächelte. „Du bist süß, Santini.“ Sie sagte es so leichthin wie möglich, wohl wissend, dass er nicht bereit war, zu den Gefühlen dieses Augenblicks zu stehen.

„Verdammt, Cassie.“

„Nicht fluchen“, flüsterte sie. „Guck dir den Film an. Jetzt kommt eine gute Stelle.“

„Hm“, murmelte er, zog ihren Kopf an seine Brust und legte den Arm um ihre Taille.

Sie ließ den Film Film sein und kuschelte sich noch enger an Rafe. Seine starken Arme und die Wärme, die von ihm ausging, hüllten sie ein wie ein Mantel. Und sie fühlte sich wunderbar geborgen.

Der Abend war nicht sehr kalt, aber Rafe hatte dennoch ein Feuer im Kamin gemacht. Der Duft des brennenden Holzes und das Prasseln des Feuers schläferten Cass langsam ein.

Es dämmerte schon fast, als sie aufwachte. Sie lag immer noch an Rafe geschmiegt, und er hielt sie in den Armen … und schnarchte. Wie süß, dachte sie. Er hatte einen perfekten Körper und wenig Schwächen. Aber er schnarchte.

Nachdenklich betrachtete sie sein stoppeliges Kinn. Wo würde das alles hinführen? Ins Bett? Zu einer Partnerschaft?

Ihr linker Arm lag unter Rafes Kopf. Als sie ihn nun vorsichtig hervorzog, wachte Rafe auf und starrte sie verwundert an.

„Wie viel Uhr ist es?“, brummte er.

Direkt nach dem Aufwachen war seine Stimme rau und kratzig und noch tiefer als sonst. Sein Blick glitt zu ihren Lippen, und sie wünschte, er würde sie küssen.

Er beugte sich vor und küsste sie leicht, bevor er aufstand und ihre Hand nahm. „Bringst du mich zur Tür?“

„Natürlich.“

„Gehst du Samstagabend mit mir aus?“, fragte er sie in der Tür.

Sie lächelte und küsste ihn voller Zärtlichkeit. „Ich habe Andy versprochen, mit ihm fischen zu gehen, und ich weiß nicht, wann wir wieder zurück sein werden.“

„Verstehst du denn was vom Angeln?“

Sie streckte das Kinn vor. „Nein, aber so schwer wird es ja wohl nicht sein.“

Rafe lachte. Es klang so tief und sexy, dass sie sich am liebsten an seine Brust geworfen hätte.

„Soll ich euch Gesellschaft leisten?“

„Bist du denn ein Angelexperte?“

Wieder einmal hob er eine Augenbraue, und sie wappnete sich gegen einen seiner ironischen Scherze.

„Ich habe, weiß Gott, einige gute Fänge gemacht.“

Dieser freche Kerl! Er glaubte wohl, sie würde jetzt rot werden. „Raphael Santini, was soll ich nur mit dir machen!“

„Alles, was du willst, Baby. Ich hole euch dann also am Samstagmorgen um fünf ab. Zieh dich sexy an.“ Er zwinkerte ihr verschmitzt zu.

Sie musste lachen. Rafe hatte immer das letzte Wort. Dann erst wurde ihr bewusst, was er eben gesagt hatte. Fünf Uhr morgens! Cass stöhnte innerlich.

8. KAPITEL

Der Morgennebel lichtete sich langsam und gab einen strahlend blauen Herbsthimmel frei. Rafe unterdrückte ein Gähnen und sank tiefer in seinen Sitz. Andy dagegen war hellwach und sang die ganze Zeit.

Die Welt war wohl nie so ruhig und friedvoll wie am frühen Morgen bei einer Bootsfahrt. Das Boot schaukelte leicht, während Rafe sich suchend nach anderen Anglern umschaute. Doch außer ihrem befand sich nur ein einziges Boot auf dem See und so weit entfernt, dass es nur als kleiner Fleck zu sehen war.

Fischen und Jagen sprachen seine männlichen Instinkte an. Wahrscheinlich gab es da ein Neandertal-Gen, das dafür verantwortlich war, dass ein Mann vor Stolz fast platzte, wenn er frische Beute von der Jagd heimbrachte – Nahrung für die Familie. Andy schien es schon genauso zu gehen. Cass dagegen würde niemals einen guten Angler abgeben. Sie kämpfte immer noch mit ihrem Köder.

„Kann ich dir helfen?“, fragte er belustigt.

„Nein.“

Cass war dickköpfig und gestand eine Niederlage nicht so leicht ein.

„Ich könnte dir einen Fliegenköder geben.“

„Rafe.“ Sie klang schrecklich entnervt. „Wenn ich schon diesen verflixten Wurm nicht auf den Haken kriege, wieso denkst du, mit so einer Fliege ginge es leichter?“

Er lachte und erntete damit einen scharfen Blick von Cass und einen verschwörerischen von Andy. „Ich zeig es dir. Komm schon, niemand geht zum ersten Mal angeln und schafft es auf Anhieb, einen Köder aufzuziehen.“

„Danke, dass du versuchst, mich zu trösten. Aber das glaube nicht einmal ich.“ Sie sah richtig niedlich aus in ihrer Wut und mit dem zu großen Fischerhut auf dem Kopf, den er ihr gegeben hatte.

„Verdammt, Süße. Ich sage das nicht, um dich zu trösten. Das ist die Wahrheit.“

Andys Grinsen wurde immer breiter, während er seiner Mutter zusah, und Rafe zwinkerte dem Jungen zu.

„Nicht fluchen“, sagte Cass, doch es klang ungewohnt halbherzig, als wäre sie kurz davor, selbst zu fluchen.

Er sah sie erstaunt an. Cass nahm diese Angelei viel zu ernst. Frauen waren für diesen Sport wohl nicht geeignet. Ihnen fehlte der Beutetrieb.

„Andy?“ Hoffentlich konnte der Junge Gedanken lesen. Cass musste aufgemuntert werden, und er wusste auch schon, wie. „Hm?“

„Es heißt „ja“ verbesserten sie den Jungen wie aus einem Mund.

Cass warf ihm einen überraschten Blick zu, und er zuckte mit den Schultern. Um seine Verlegenheit zu überspielen, fragte er Andy: „Hast du gleich beim ersten Mal deinen Köder selbst aufgezogen?“

„Nein. Das hat mein Dad gemacht. Soll ich’s dir zeigen, Mom?“

„Nein danke, Schatz.“ Cass lächelte bittersüß, drückte ihren Sohn an sich und setzte ihm den Anglerhut auf. „Wir wollen schließlich nicht, dass du einen Sonnenstich bekommst.“

Andy zog eine Grimasse, ließ aber den Hut auf und ging zurück zum Bug, wo er routiniert seine Leine auswarf. Für ihn war die Welt wieder in Ordnung.

„Du musst den Wurm locken, Cass.“

„Ich versuch es ja“, flüsterte sie angestrengt.

Er versicherte sich, dass Andy sich nicht zu weit hinausbeugte, und stellte sich dann hinter Cass. Wie zierlich sie doch war. Mental war sie eine starke Frau, aber körperlich erschien sie ihm sehr zerbrechlich.

Ein Teil von ihm, vermutlich der Neandertaler, mochte es so. Ihm gefiel die Vorstellung, dass Cass schwächer war als er und ihn brauchte, seinen Schutz, seine Fürsorge. Was Cass wohl tun würde, wenn sie seine Gedanken lesen könnte? Wahrscheinlich würde sie ihn ins Wasser schubsen.

Die Sonne zauberte rotgoldene Sprenkel auf ihr dichtes braunes Haar, und es drängte ihn, Cass zu berühren. Er wollte sie spüren, wollte sich selbst als ein Teil von ihr fühlen, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

Sacht legte er seine Hände auf ihre. „Du musst den Wurm vorsichtig anlocken, als wäre es dein Geliebter. Ganz langsam …“

Ihre Finger versteiften sich, und er zog Cass von hinten an sich und hielt sie fest. Heißes Begehren schoss in ihm hoch, als er ihren feinen, blumigen Duft einatmete.

Cass versuchte es wieder und wieder, doch sie brachte den Wurm einfach nicht auf den Haken. „Ich werde es schaffen!“

„Ganz locker, Cassie. Du verkrampfst dich.“ Er streichelte ihre Handgelenke, und schließlich entspannte sie sich ein wenig.

Er kämpfte sein Begehren nieder und legte sanft die Arme um sie. Cass schien ihre Unfähigkeit, den Köder aufzuziehen, als echtes Versagen zu betrachten, und er strich mit den Lippen zärtlich über ihren Nacken. Sie erschauerte wohlig und brachte damit schon wieder sein Blut zum Kochen, und ihre Hände zitterten.

„Du bist keine große Hilfe, Rafe.“

„Genau das versuche ich aber zu sein.“ Vergebens tat er, als ob er nicht bemerkte, wie sich ihr Po an seine Hüften drückte. Verdammt, er wollte sie so sehr. Sein ganzer Körper schmerzte vor unterdrücktem Verlangen. Er brauchte Cass wie die Luft zum Atmen.

„Oh, verdammt“, brummte er, woraufhin sie sofort die Schultern straffte. „Nicht fluchen.“

„Cassie, du machst mich noch wahnsinnig.“

Sie beugte den Kopf vor und murmelte etwas vor sich hin. Dann schob sie den Haken auf den Wurm zu und verletzte sich dabei am Daumenballen. Der Kratzer blutete nicht, aber er wusste aus Erfahrung, dass es trotzdem wehtat,

„Dickköpfige kleine Lady.“ Geschickt zog Rafe den Köder auf, warf die Leine aus und befestigte die Angelrute an der Bootswand, nahm dann Cass’ verletzte Hand und führte sie an die Lippen.

Er streichelte die verletzte Stelle mit der Zunge und unterdrückte einen weiteren Fluch, als Cass lächelnd die Finger auf seine Wange legte. Eilig machte er einen Schritt weg von ihr. Es war weder der richtige Augenblick noch der richtige Ort für solche Spielchen.

Cass sah versonnen zu ihm hoch. „Warum?“, flüsterte sie.

Die gleiche Frage stellte er sich selbst. Vielleicht lag es an dem Neandertal-Gen. Zähneknirschend bekämpfte er den Drang, sie einfach zu packen und nicht mehr loszulassen, bis sie in seinem Schlafzimmer wären.

Verdammt! Was war mit ihm los? Er war doch sonst nicht so ein tumber Macho. Doch bei Cass hatte er das Gefühl, zum Urmenschen zu werden, der mehr von seinen Hormonen als von seinem Verstand gelenkt wurde.

Cass schaute ihn immer noch mit ihren großen samtbraunen Augen an, und er schämte sich seiner wollüstigen Gedanken. Zumal sie ja gar nichts getan hatte, um ihn zu verlocken. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass er sie bis zum Wahnsinn begehrte, obwohl sie nicht die richtige Frau war für seine Art von Liebe.

„Idiotie!“, brummte er und stapfte zum Bug, um sich neben Andy zu setzen.

„Rafe?“

Er hielt inne, drehte sich jedoch nicht um. Er wusste, ein einziger Blick, und er würde der Versuchung, Cass zu küssen, nicht länger widerstehen können. Und dann wäre es ihm unmöglich, es dabei zu belassen. Verflucht, er musste aufhören, in ihrer Nähe ununterbrochen an Sex zu denken.

„Ich … danke, dass du mir geholfen hast.“

Sie war immer so höflich, gleichgültig, wie unwirsch er sich benahm. Immer eine Lady, und er? Ein Neandertaler, dachte er zähneknirschend.

„Keine Ursache.“ Rasch setzte er sich zu Andy.

Am Himmel braute sich ein Gewitter zusammen, und Rafe hatte ein ungutes Gefühl. „Holt eure Leinen ein. Wir verschwinden lieber.“

„Was ist los?“, fragte Cass, doch ihr Blick war voller Vertrauen, was Rafe natürlich schmeichelte.

„Bis jetzt noch nichts“, erwiderte er. „Aber sieh dir die Wolken an.“

Cass nickte. „Beeil dich, Andy.“

Andy gehorchte, und Cass setzte sich mit ihm auf die Bank im Heck des Bootes.

„Zieht eure Schwimmwesten an“, sagte Rafe und startete den Motor.

„Ist alles in Ordnung?“, rief Cass von hinten.

„Ich mache mir Sorgen wegen dieser Wolke dort drüben.“ Er deutete zum Horizont.

„Stimmt, sieht sehr nach einem Sturm aus. Ich glaube, wir sollten wirklich so schnell wie möglich vom Wasser runterkommen.“ Cass deutete auf ein verlassenes Bootshaus am noch weit entfernten Ufer. „Schaffen wir es bis dorthin?“

„Ich versuche es“, antwortete Rafe.

Der Wind wurde rasch heftiger, und dann setzte ein Wolkenbruch ein. Innerhalb einer Minute waren sie völlig durchnässt. Als sie den Bootssteg schließlich erreichten, blies der Wind in heftigen Böen, und Andy klammerte sich an seiner Mutter fest.

Rafe wusste, er musste den Jungen von seiner Angst ablenken. „Andy, ich brauche deine Hilfe.“

„Was soll ich tun?“

„Wenn wir im Bootshaus sind, machst du mit deiner Mutter zusammen das Boot fest.“

Kurz darauf waren sie und das Boot in Sicherheit. Das alte Bootshaus war nicht mehr viel wert, doch es gewährte ihnen zumindest Schutz vor dem Sturm.

„Alles in Ordnung, Andy?“, fragte Cass.

„Klar, Mom. Darf ich im Boot spielen?“

„Rafe?“

„Spricht eigentlich nichts dagegen.“

„Also gut.“

Rafe rückte näher an Cass und legte den Arm um ihre Schultern. „Mach dir keine Sorgen, Schatz. Ich passe auf, dass dir und Andy nichts passiert.“

„Ich weiß“, sagte sie warm.

Und plötzlich wurde ihm klar, dass er genau das getan hatte, was er niemals hatte tun wollen. Er hatte begonnen, sich gefühlsmäßig an diese kleine Familie zu binden. Er mochte sie. Verdammt, er begann, sie zu lieben.

Liebe? Nein, er wäre nicht fähig dazu. Nicht mehr, seit dem Tod seiner Familie.

Das schreckliche Schuldgefühl, weil er in jener Nacht nicht für sie da gewesen war, hatte seine Hoffnung, jemals selbst Frau und Kinder zu haben, für immer zerstört.

Doch Cass weckte in ihm den Wunsch, sie zu beschützen. Ein Gefühl, von dem er geglaubt hatte, es nie wieder zu haben. Er hatte sie verdrängt gehabt, all die Gefühle, die Cass jetzt wieder in ihm wachrief und die ihn quälten.

Er wollte diese Gefühle nicht. Er wollte sich nicht erinnern. Und vor allem wollte er nicht in eine Frau wie Cass verliebt sein – eine Frau, die mehr von ihm wollte als nur seinen Körper. Er war niemals ernsthaft verliebt gewesen. Er hatte viele Frauen begehrt und auch bekommen, aber keine hatte er geliebt.

Und auch das, was er für Cass empfand, war keine Liebe.

Es war sicher nur ein besonders schlimmer Fall von … Wovon? Es war intensiver als Begierde, denn er sehnte sich nicht nur nach ihrem Körper. Er wollte mit ihr zusammen sein, so oft wie möglich. Er mochte ihre liebevolle, fürsorgliche Art; ihren Humor und ihre natürliche Anmut. So etwas war ihm noch bei keiner passiert.

Aber Liebe? Nein, Liebe war das nicht. Diese Schwäche würde er sich nicht mehr gestatten. Das würde ihn viel zu verletzlich machen.

Rafe rückte ein Stück von Cass weg. Er fühlte sich wie in einer Falle und wünschte, er wäre zu Hause.

Er wollte aufstehen, doch Cass legte ausgerechnet in diesem Augenblick die Hand auf seinen Schenkel. Die Berührung brannte wie Feuer auf seiner Haut, von Neuem schoss Verlangen durch seine Lenden, und die Jeans erschienen ihm zu eng.

Er nahm Cass’ Hand von seinem Bein und legte sie auf ihr eigenes. Da schlang sie den Arm um seine Taille und schmiegte den Kopf an seine Brust.

Verdammt, sie machte es ihm höllisch schwer.

Es erstaunte ihn immer wieder, wie selbstverständlich sie seine Nähe suchte. Sie hatte den Mann, den sie liebte, verloren, und doch war sie bereit, es noch einmal zu versuchen.

Und er genoss es, dass sie sich an ihn schmiegte. Bezaubert drückte er das Gesicht in ihr Haar, sog tief ihren Duft ein – und nannte sich dann einen hoffnungslosen Narren, weil er sich nicht in der Gewalt hatte.

Rasch richtete er sich wieder auf. Cass sah besorgt zu ihm hoch. Verdammt, sie sollte nicht besorgt sein. Sie sollte sich sicher bei ihm fühlen, beschützt.

„Was ist?“, fragte sie.

Er konnte es kaum fassen, wie schnell sie seine Stimmungen erkannte. „Rafe?“

„Uns kann nichts passieren“, murmelte er. Was hätte er sonst sagen sollen, um sie zu beruhigen? Der heftige Sturm dort draußen würde sich irgendwann ausgetobt haben.

Doch seine Gefühle würden in ihm weitertoben, weil er sie nicht zum Schweigen bringen konnte, indem er mit Cass schlief. Denn wenn er es erst einmal so weit kommen ließe, wäre er Cass und seinen Gefühlen für sie völlig ausgeliefert. Nichts wäre mehr übrig von seinem jahrelang errichteten Schutzwall.

Plötzlich erschien ihm das Bootshaus viel zu eng, und er stand auf. Er war schon fast beim Boot, als ihm bewusst wurde, dass er nicht einfach verschwinden konnte. Ein kleiner Junge und seine Mutter brauchten ihn. Er drehte sich um. Die beiden saßen aneinandergedrückt und beobachteten ihn ängstlich.

Er war so mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass Andy wieder die Nähe seiner Mutter gesucht hatte. Der Sturm tobte mit unverminderter Heftigkeit und jagte den beiden wahrscheinlich eine Heidenangst ein. Er durfte sie jetzt nicht allein lassen.

„Rafe, geht es dir nicht gut?“, fragte Cass.

„Doch, ich fühle mich nur ein bisschen klaustrophobisch.“ Lügner, schalt er sich selbst. „Wir sollten uns von dem Sturm dort draußen ablenken.“

„Wenn ich doch nur meinen Nintendo dabeihätte“, sagte Andy.

Niemals würde er seine Angst zugeben, doch seine Stimme verriet ihn. Das muss uns Männern angeboren sein, dachte Rafe. Auch er würde niemals seine Angst eingestehen, nicht die vor dem Sturm und schon gar nicht die vor seinen Gefühlen.

„Geht mir auch so, Kumpel.“

Andys tapferes Lächeln rührte ihn. Er musste die beiden auf andere Gedanken bringen, aber wie? Wenn er mit Cassie allein wäre, würden sie jetzt bestimmt ihrem Verlangen nachgeben und ihre Leidenschaft ausleben. Doch Andys Anwesenheit machte das natürlich unmöglich.

„Lasst uns ‚Frage und Antwort‘ spielen“, schlug Cass vor. „Nein.“

„Warum nicht, Rafe?“

„Das ist mir zu persönlich.“ Und er wollte jetzt mit Sicherheit keine Fragen zu seiner Person beantworten müssen. „Außerdem habe ich ja gar keine Geheimnisse außer meinem zweiten Vornamen.“ Er wusste, Cass brannte immer noch darauf, den herauszufinden.

„Na schön“, sagte Cass.

„Ist es Peter?“, fragte Andy.

„Nein, Schatz“, erwiderte sie schnell. „Er fängt doch mit G an.“

„Ist es Gary?“

„Nein, es ist ein italienischer Name.“ Rafe beobachtete, wie die beiden einen Blick austauschten. Andy war für sein Alter sehr aufgeweckt, und er hatte das Gefühl, als würden Cass und Andy seinen verhassten zweiten Vornamen bald herausfinden. „Okay, aber jeder darf nur einmal raten.“ Es gab schließlich nicht sehr viele italienische Vornamen mit G.

„Ich kenne mich mit italienischen Namen nicht so aus“, sagte Andy. „Ist es Giovanni?“

„Nein.“ Rafe schüttelte den Kopf. „Cass?“

„Giuseppi?“

Er brach in lautes Lachen aus.

„Hab ich’s erraten?“

„Nein, aber du bist nah dran.“

„Darf ich noch einmal raten?“, bettelte Andy. „Mom versucht es ja auch schon seit Wochen.“

„Woher weißt du das?“ Rafe war erstaunt. Er hätte nicht gedacht, dass Cass darüber mit ihrem Sohn sprechen würde. Er sah Cass an. Sie wurde rot.

Kinder und Narren sagen die Wahrheit, und er musste daran denken, wie Andy am Tag ihrer ersten Begegnung ausgeplaudert hatte: „Der, von dem du immer sagst, dass dir sein Po gefällt.“

„Gestern Abend hat Mom die Bibel herausgeholt und die Namen von Heiligen herausgesucht.“

„Cassie!“, rief er erstaunt.

„So ernst brauchst du das auch wieder nicht zu nehmen. Ich wollte sowieso mal wieder in der Bibel lesen.“

„Und? Hat es was genützt?“

„Nein. Aber im italienischen Namensbuch habe ich einiges gefunden.“

Er musste erneut schallend lachen, und Cass und Andy fielen in sein Gelächter ein. Zum ersten Mal seit dem schrecklichen Unfall fühlte er sich wieder als Teil einer Familie. Und er genoss den kurzen Augenblick der Nähe.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Andy.

„Nichts“, erwiderte er. Der Sturm schien nachgelassen zu haben. „Ich gehe mal hinaus und sehe, was das Wetter macht.“

„Darf ich mitkommen?“

Er wäre lieber einen Moment allein gewesen, doch Andy schaute ihn so hoffnungsvoll an, und er hatte nicht vergessen, wie es war, wenn man als Kind einen Erwachsenen verehrte. „Cass?“

„Natürlich. Aber pass auf.“

„Oh, Mom. Natürlich pass ich auf.

Cass drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn und schob ihn zur Tür.

Rafe wollte hinter ihm hinausgehen, aber Cass legte die Hand auf seine. „Und du, Rafe, pass auch auf.“

Autor

Janice Kaiser
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<p>Sara’s lebenslange Leidenschaft des Lesens zeigt schon ihre Garage, die nicht mit Autos sondern mit Büchern gefüllt ist. Diese Leidenschaft ging über in die Liebe zum Schreiben und mit 75 veröffentlichten Büchern die in 23 Sprachen übersetzt wurden, einem Master in Englisch, einer Tätigkeit als Lehrerin, Mutter von drei Kindern...
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