Im Schatten des Mörders

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Janes Glück bricht zusammen wie ein Kartenhaus: Mit Drohbriefen meldet sich der Mann zurück, der sie vor vielen Jahren fast getötet hätte. Will er sein Werk vollenden? Steckt er auch hinter den jüngsten Frauenmorden? Oder muss Jane tatsächlich Angst vor ihrem eigenen Mann haben?
Für die Polizei ist er tatverdächtig. Doch welche Rolle spielt Janes Halbschwester Stacey, die die Ermittlungen leitet? Sie wollte sich schon längst einmal an der Schwester rächen, die immer auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen scheint. Wem also kann Jane noch vertrauen? Sie zieht in den Kampf - um ihr Leben und für die Liebe.


  • Erscheinungstag 23.08.2013
  • ISBN / Artikelnummer 9783862782260
  • Seitenanzahl 480
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Freitag, 13. März 1987
Lake Ray Hubbard
Dallas, Texas

Mit vor Anstrengung hämmerndem Herzen kämpfte sich die fünfzehnjährige Jane Killian durch das Wasser. Die spiegelglatte Oberfläche des Sees reflektierte das Sonnenlicht gleißend hell. Jane blinzelte nach oben, wo eine einzelne dünne Wolke über den postkartenblauen Himmel zog.

Sie sah zurück zum Ufer und schwenkte triumphierend die Arme. Ihre zwei Jahre ältere Halbschwester Stacy hatte sie zu dem Bad im kalten Wasser herausgefordert. Stacys neunmalkluge Freundinnen hatten anschließend den Wettstreit noch weiter angeheizt und Jane lautstark verspottet.

Jane hatte die Herausforderung angenommen, war sogar bis jenseits des Stegs geschwommen und an der schmalen Landzunge vorbei, die als Grenze des Schwimmbereichs galt.

Stacy war nicht nur die ältere Schwester, sie war auch sportlicher, kräftiger, schneller. Jane dagegen vergrub sich lieber in Bücher, träumte vor sich hin – eine Neigung, mit der Stacy sie nur zu gerne aufzog.

Na komm schon, dachte Jane. Wer ist jetzt der Schwächling? Wer der Angsthase?

Beim Aufheulen eines Motors wandte Jane den Kopf. Ein elegantes Rennboot raste über den ansonsten verlassenen See, sein Weg drohte den ihren zu kreuzen. Als erfahrene Wasserski-Sportlerin schwenkte Jane die Arme, um dem Fahrer ihre Anwesenheit zu signalisieren.

Das Boot drehte ab, schien zu schwanken, kam dann wieder auf sie zu.

Janes Herz schlug bis zum Hals. Wieder winkte sie, diesmal verzweifelt.

Trotzdem nahm das Boot weiter Kurs auf sie, als ob der Fahrer mit Absicht auf sie zuhielte.

Voller Panik warf sie einen Blick zurück zum Ufer und sah, wie Stacy und ihre Freunde schreiend auf- und absprangen.

Das Boot kam immer näher. Es steuerte direkt auf sie zu.

Ein Angstschrei entfuhr ihrer Kehle, der Lärm der Maschine verschluckte ihn. Sie sah das Boot auf sich zurasen, das kurz darauf ihr ganzes Blickfeld ausfüllte.

Einen Moment später, als der Bug ihren Körper erfasste, wurde ihre Angst von dem Schmerz überlagert.

1. KAPITEL

Sonntag, 19. Oktober 2003
Dallas, Texas

Jane Killian fuhr erschrocken hoch. Der Bildschirm flackerte in dem ansonsten dunklen Raum. Sie blinzelte, bewegte den Kopf. Er fühlte sich schwer an, irgendwie dick. Allmählich begriff sie, dass sie im Schneideraum eingeschlafen war. Sie hatte eines ihrer Interviews bearbeitet, um sich auf ihre Ausstellung Puppenteile vorzubereiten.

„Jane, ist alles in Ordnung mit dir?“

Sie wandte den Kopf. Ian, seit knapp einem Jahr ihr Mann, stand in der Tür zum Atelier. Sofort durchströmten sie die unterschiedlichsten Gefühle: Liebe, Staunen, Ungläubigkeit. Dr. Ian Westbrook – klug, charmant und attraktiv wie James Bond – liebte sie.

Jane runzelte die Stirn, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich habe geschrien, nicht wahr?“

Er nickte. „Ich mache mir Sorgen um dich.“

Sie machte sich ebenfalls Sorgen. Dreimal war sie in den letzten Wochen schreiend aufgewacht. Nicht aus einem Alptraum. Es waren nicht Bilder ihres Unterbewusstseins, sondern ihrer Erinnerung. Ihrer Erinnerung an den Tag, der ihr Leben verändert hatte. Den Tag, der sie von einem hübschen, beliebten und glücklichen Teenager in ein hässliches Monster verwandelt hatte.

„Möchtest du mir davon erzählen?“

„Die alte Geschichte. Rennbootfahrer überfährt Teenager. Die Bugspitze zermalmt ihr halbes Gesicht, zerstört ihr rechtes Auge, trennt um ein Haar ihren Kopf ab. Das Mädchen überlebt. Der Fahrer wird nie gefasst, und die Polizei legt das Ganze als Unfall zu den Akten. Ende der Durchsage.“

Außer dass der Fahrer im Traum kehrtmacht und erneut auf sie zuhält.

Und sie wacht schreiend auf.

„Von wegen Ende“, murmelte Ian. „Das Mädchen überlebt nicht nur, sie triumphiert. Über eine schier endlose Reihe von schmerzhaften Operationen, über das jahrelange Starren und Tuscheln von Fremden.“

Ihren erschrockenen Blick. Ihr Mitleid.

„Und dann trifft sie einen schneidigen Arzt“, ergänzte Jane. „Sie verlieben sich und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Hört sich doch an wie eine TV-Schnulze, bei der man literweise Tränen vergießt und für die man mindestens drei Packungen Taschentücher braucht.“

Ian kam näher, zog sie auf die Füße und in seine Arme. Sie rieb ihre Wange an seinem Pullover. Die kalte Nachtluft hing noch in seiner Kleidung, also war er draußen gewesen.

„Den Zynismus kannst du dir bei mir sparen, Jane. Ich bin dein Mann.“

„Aber den Zynismus beherrsche ich am besten.“

Er lächelte. „Nein, tust du nicht.“

Gerührt erwiderte sie sein Lächeln. Ihr wurde bewusst, dass sie ihn jede Minute mehr liebte. „Sprechen Sie womöglich von einer Fähigkeit, die unter großer Geheimhaltung von einer Dallas-Debütantinnen-Generation zur nächsten weitergegeben wurde? Und die sich für die gute Gesellschaft nicht eignet?“

„Davon spreche ich, ja.“

„Freut mich zu hören, da dies zufällig mein Spezialgebiet ist, Dr. Westbrook.“

Er wurde ernst, suchte ihren Blick. „Du bist keine typische Dallas-Debütantin. Wirst du nie sein.“

„Sag mir etwas, was ich noch nicht weiß, Blödmann.“

Er runzelte die Stirn. „Du tust es schon wieder.“

„Tut mir Leid. Manchmal atme ich aber auch.“

Er umfasste ihr Gesicht mit den Händen. „Wenn ich eine perfekt frisierte Puppe mit Perlenkette im kleinen Schwarzen gewollt hätte, hätte ich sie haben können. Aber ich habe mich in dich verliebt.“ Sie sagte nichts, und er zeichnete mit den Daumen ihre Wangenknochen nach. „Du hast gesiegt, Jane. Du bist so viel stärker, als du weißt.“

Jane fühlte sich fast wie eine Betrügerin. Wie konnte sie die Vergangenheit überwunden haben, wenn doch die Erinnerung an jenen Tag so viel Macht über sie hatte?

Sie presste ihr Gesicht an seine Brust. Ihr Fels, ihr Herz. Die große Liebe, von der sie geglaubt hatte, sie nie zu finden.

„Wahrscheinlich liegt es am Baby“, sagte er sanft. „Das ist der Grund. Deshalb ist der Alptraum wieder da.“

Gerade gestern hatte der Arzt bestätigt, was sie seit Tagen ahnte – dass sie schwanger war. In der achten Woche. „Aber ich fühle mich gut“, protestierte sie. „Keinerlei Morgenübelkeit, keine Müdigkeit. Und es ist ja nicht so, dass wir kein Baby haben wollten.“

„Schon richtig, aber die erste Zeit der Schwangerschaft ist hart. Deine Hormone spielen verrückt. Und so euphorisch wir beide auch sind: Ein Baby verändert das Leben grundlegend.“

Alles, was er sagte, war richtig, und Jane spürte eine gewisse Erleichterung. Überzeugt war sie aber noch immer nicht, obwohl sie nicht hätte sagen können, warum.

Als ob er wüsste, was sie dachte, legte er seine Stirn an ihre. „Glaub mir, Jane. Ich bin Arzt.“ Sie musste lächeln. „Aber Gesichtschirurg, kein Geburtshelfer und kein Psychiater.“

„Du brauchst keinen Psychiater, Liebling. Aber wenn du mir nicht glaubst, ruf deinen Freund Dave Nash an. Er wird mir Recht geben.“

Dr. Dave Nash war Psychotherapeut, gelegentlich Gutachter für das Dallas Police Department und seit der Highschool ihr bester Freund. Er hatte ihr beigestanden, als die anderen sie wie eine Aussätzige behandelten, hatte sie zu Festen und Feierlichkeiten mitgenommen, als kein anderer Junge mit ihr ausgehen wollte. Er war für sie da gewesen, hatte mit ihr gelacht und, wenn nötig, eine Schulter zum Ausweinen geboten. Mit zwanzig hatten sie es sogar mal mit einer Beziehung versucht, waren aber schnell wieder bei der angenehmeren Freundschaft gelandet.

Die Jahre zwischen dem Unfall und ihrer allmählichen Wiederherstellung wären ohne Dave Nash wesentlich schwieriger gewesen.

Vielleicht würde sie ihn anrufen.

Jane drückte ihre Wange an Ians Brust. „Wie spät ist es?“

„Kurz nach zehn. Höchste Zeit fürs Bett, kleine Mama.“

Sie errötete vor Freude über den Kosenamen. Sie hatte immer davon geträumt, Mutter zu werden, nun wurde sie es.

Wie viel Glück konnte eine Frau haben?

„Wie wär’s mit einer Tasse Kamillentee?“ fragte Ian. „Wird dir beim Einschlafen helfen.“

Jane nickte und löste sich widerwillig aus seiner Umarmung. Sie langte über den Tisch, um das Band mit dem Interview aus dem Rekorder zu holen und ihn auszuschalten.

„Wie läuft es mit der Bearbeitung?“ fragte er, während er das Licht ausschaltete und sie aus dem Schneideraum ins Atelier traten.

„Ganz gut. Aber die Ausstellung rückt näher.“

„Aufgeregt?“

„Furchtbar.“

„Dazu gibt es keinen Grund.“ Sie liefen die Wendeltreppe hoch in ihr Loft-Apartment. „Ich prophezeie dir, dass dir die ganze Kunstwelt bewundernd zu Füßen liegen wird. Und zwar mit Recht.“

„Und worauf basiert deine Voraussage?“

„Ich kenne die Künstlerin. Sie ist ein Genie.“

Jane lachte. Er drückte sie auf das gepolsterte Sofa, beugte sich herab und gab ihr einen kurzen Kuss. „Bin gleich wieder da.“

„Lass Ranger aus seinem Zwinger“, rief sie ihm hinterher und meinte damit ihren drei Jahre alten Retriever-Mischling. „Er winselt.“

„Das größte Baby in ganz Texas.“

„Eifersüchtig?“ neckte sie ihn.

„Verdammt ja, ich bin eifersüchtig.“ Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. „Du kraulst ihn viel öfter hinter den Ohren als mich.“

Einen Moment später stürzte Ranger aus der Küche. Sie hatte ihn als ungewöhnlich hässlichen, aber sehr klugen Welpen aus dem Tierheim geholt. Um ehrlich zu sein, hatte sie ihn gewählt, weil sie wusste, dass niemand anders ihn nehmen würde. Mit der Größe und Statur eines Retrievers, der Färbung eines Spaniels und Dalmatiner-Punkten war er wirklich einzigartig.

Der Hund rutschte auf sie zu, kam zum Stehen und legte seinen großen Kopf in ihren Schoß. Sie streichelte seine seidigen Ohren, und er schielte vor Behagen.

„Was meinst du, Ranger?“ murmelte sie und dachte daran, wie die Vergangenheit begonnen hatte, in ihren Schlaf einzudringen, ihr Gefühl von Sicherheit und Zufriedenheit zu untergraben. „Ist es nur die Aufregung wegen des Babys? Oder ist es etwas anderes?“

Er winselte als Antwort, und sie beugte sich nieder, legte ihre Stirn auf seinen Kopf. „Vielleicht sollte ich Dave anrufen. Was meinst du?“

In dem verspiegelten Kästchen auf dem Tisch erhaschte sie einen Blick auf sich selbst, wobei ihr Bild durch die Perspektive und die schrägen Kanten des Glases leicht verzerrt erschien.

Leicht verzerrt. Wie passend, dachte sie. Denn sie selbst würde sich niemals mehr anders sehen, auch wenn die meisten Menschen sie als eine attraktive dunkelhaarige Frau wahrnahmen. Einige mochten sich über die lange dünne Narbe wundern, die sich über ihren Kiefer zog. Sie dachten vielleicht, dass sie irgendeine Schönheitsoperation hinter sich hatte, ein Lifting möglicherweise. Den Aufmerksamsten fiel eventuell auf, dass ihre braunen Augen das Licht nicht auf genau die gleiche Weise widerspiegelten, doch sie würden sich kaum etwas dabei denken.

Wie andere sie sahen, hatte jedoch wenig Einfluss darauf, wie sie sich selbst sah. Tatsache war, dass sie sich jeden Tag zwingen musste, nicht in den Spiegel zu schauen, weil sie dann das junge Mädchen mit dem von unzähligen Narben verwüsteten Gesicht erblickte. Jenes Mädchen, dessen Augenklappe eine grässlich leere Augenhöhle verbarg.

In einer Reihe plastischer Operationen hatte man ihr Gesicht wiederhergestellt. Mit einer speziell angefertigten Prothese, ihrem Auge. Doch keine Operation hatte ihr ihren Platz im Leben zurückgeben können, kein medizinischer Fortschritt konnte sie die Welt so sehen lassen wie früher – oder umgekehrt.

Das sorglose, selbstsichere Mädchen, das sie an jenem schönen, aber kalten Märztag gewesen war, gab es nicht mehr.

Sie war nicht fähig, wieder dieses Mädchen zu werden. Und wollte es auch nicht, selbst wenn sie könnte. Denn dann wäre aus ihre niemals die Künstlerin Jane Killian, genannt Cameo, geworden.

Weil sie nichts Bedeutendes zu sagen hätte.

„Zweimal Tee“, rief Ian, als er mit Bechern zurückkehrte. Er stellte beide auf Untersetzer, gab Ranger einen kleinen Schubs und ließ sich neben ihr nieder.

Einen Moment saßen sie still da und nippten an ihrem Getränk. Sie fing seinen Blick Richtung Uhr auf. „Herrje, es ist nach Mitternacht“, stellte sie bestürzt fest.

„Das kann doch nicht sein.“ Er blinzelte, als ob er versuchte, klarer zu sehen. „Verdammt, morgen wird der Horror.“

„Es ist bereits morgen.“ Sie schmiegte sich an ihn.

Sie saßen still da. Ian brach das Schweigen als Erster. „Wann wirst du Stacy von dem Baby erzählen?“

Bei der Erwähnung ihrer Schwester stieg ein Unbehagen in ihr auf. Der schöne Moment war verdorben.

Ian rückte ein wenig von ihr ab und sah ihr in die Augen. „Sie wird sich für dich freuen, Jane. Ganz bestimmt.“

„Das hoffe ich. Es ist nur so, dass ich jetzt alles habe, was …“

Alles, was ihre Schwester sich gewünscht hatte.

Und schlimmer noch: Stacy war zuerst mit Ian zusammen gewesen.

Jane presste die Lippen zusammen, ihr tat ihre einzige Schwester Leid. Sie wünschte, sie und Ian hätten sich anders kennen gelernt. Obwohl Stacy und Ian nur eine kurze Zeit miteinander ausgegangen waren, hatte Jane das Gefühl, ihn ihr weggenommen zu haben.

Sie sah ihre Schwester an jenem Tag vor sich, als sie und Ian ihre Heiratspläne verkündet hatten: Groß und blond wirkte sie wie eine nordische Kriegerin. Doch Stacys Gesichtsausdruck strafte ihre äußere Stärke Lügen. Ihr Blick war weich, verletzt.

Ian hatte Stacy etwas bedeutet. Viel bedeutet.

Ian nahm sie in den Arm. „Ich weiß, da gibt es eine Vorgeschichte. Unendlich viele verletzte Gefühle. Aber hab ein bisschen Verständnis für sie, okay?“

Stacys Vater war Polizist gewesen und im Dienst erschossen worden, als Stacy gerade mal drei Monate alt war. Ihre Mutter hatte sehr schnell wieder geheiratet und war mit Jane schwanger geworden, noch bevor die Tinte auf der Heiratsurkunde getrocknet war.

Jane kam auf die Welt. Und obwohl ihr Vater Stacy wie seine eigene Tochter behandelte, hatte seine hochnäsige Highland-Park-Familie Stacy nicht akzeptiert und Jane bei jedem Besuch bevorzugt behandelt. Vor allem seine Mutter, die Matriarchin der Familie. In Janes Adern fließe ihr Blut, pflegte sie gerne zu sagen. In Stacys nicht.

Es wäre leichter, wenn ihre Eltern noch lebten. Stacy hatte die Unterstützung und Liebe von Großmutter Killian nie gebraucht, sie konnte ihre Ablehnung verschmerzen. Doch als beide Eltern vor etwas sechs Jahren starben – an einem Herzinfarkt und an einem Schlaganfall –, hatten Jane und Stacy nur noch sich und Großmutter Killian. Kein Zweifel, ihre Schwester hatte zwanzig Millionen Gründe, sauer auf Jane zu sein – so hoch war der Dollarwert von Großmutter Killians Vermögen, das sie Jane hinterlassen hatte, als sie vor einem Jahr starb.

Stacy hatte nichts bekommen, nicht einmal ein Erinnerungsstück an jenen Mann, der in jeder Hinsicht ihr Vater gewesen war, außer in biologischer.

Wenn sie das nur alles hinter sich lassen könnten, dachte Jane. Sie sehnte sich nach der Nähe, die Schwestern normalerweise empfinden. Wenn sie bloß eine Möglichkeit fände. Der Vorschlag, das Erbe zu teilen, hatte ihre Schwester nur wütend gemacht. Großmutter Killian habe sie nie geliebt, hatte Stacy gefaucht, sie wolle nichts von dem haben, was Jane gehöre. Keinen Cent.

„Hör auf damit“, sagte Ian sanft.

„Womit?“

„Dir wegen Großmutters Vorurteilen Vorwürfe zu machen.“

„Du bildest dir wohl ein, meine Gedanken lesen zu können?“

„Ich weiß, dass ich das kann.“ Er lachte zärtlich. „Ich kenne all deine Geheimnisse, Liebling.“

„Alle?“

„Sogar das allerkleinste.“

„Und wie gedenkst du dieses Wissen zu verwenden?“

Er beugte den Kopf, bis ihre Lippen sich fast berührten. „Tja, das bleibt wohl mein Geheimnis. Du kannst ja versuchen, es herauszufinden.“

Nicht viel später schlief Ian neben ihr im Bett, und ihr fiel ein, dass sie ihn gar nicht gefragt hatte, warum er so spät noch draußen gewesen war.

2. KAPITEL

Montag, 20. Oktober 2003

12.20 Uhr

Detective Stacy Killian musterte den Tatort: das luxuriös ausgestattete Hotelzimmer, das Opfer auf dem Bett, ihren Partner Mac McPherson, der mit dem Gerichtsmediziner sprach, den Polizeifotografen und die Leute von der Spurensicherung, die herumwuselten.

Der Anruf war während ihrer Mittagspause eingegangen. Einige der Jungs hatten ihre Mahlzeit einfach eingepackt und mitgebracht – ein fettiges Menü aus Burger und Fritten oder ein Sandwich von zu Hause. Nun standen sie hinter dem Absperrungsband und aßen zu Ende. Ein paar von ihnen sahen genervt aus. Die anderen resigniert.

Mord kam nie zur richtigen Zeit.

Der Geruch nach Essen hing im Gang, und Stacy malte sich mit hämischer Freude aus, wie die Leute vom Hotelmanagement beleidigt und empört ihre Nase rümpfen würden. Ein Toter im Zimmer war eine Sache, Fast Food im Gang eine ganz andere.

Stacy hatte keinerlei Verständnis für solch aufgeblasenes Getue.

Einige Männer nickten ihr zu, als sie den Raum betrat. Sie erwiderte den Gruß und ging zu ihrem Partner, wobei ihre Schuhe in dem dicken grauen Teppich versanken.

Stacy ließ ihren Blick über die prunkvolle Einrichtung schweifen, prägte sich Details ein: die Tatsache, dass die schweren Vorhänge sorgfältig geschlossen worden waren; die Schale mit in Schokolade getauchten Erdbeeren und eine kleine Flasche Champagner auf dem Queen-Anne-Tischchen neben dem Fenster; den Strauß frischer Blumen daneben.

Das Arrangement aus Iris und Lilien konnte den Geruch nach Tod nicht überdecken. Der Körper entleerte sich manchmal im letzten Moment, vor allem wenn das Ende plötzlich und gewaltsam kam. Stacy rümpfte die Nase, versuchte aber nicht, flacher zu atmen – ein verbreiteter Fehler von Anfängern. Innerhalb weniger Minuten, sobald sich ihre Geruchsrezeptoren beruhigt hatten, würde sie den Gestank nicht mehr wahrnehmen.

In den schlimmsten Fällen, wenn sich der Körper bereits im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung befand – oder noch schlimmer, wenn der Körper in warmem Wasser gelegen hatte –, war der Gestank so durchdringend, dass man nicht dagegen ankam, nicht einmal indem man sich Mentholsalbe unter die Nase rieb. Aus diesem Grund hatte jeder Mitarbeiter des Morddezernats Zitronenshampoo und Kleidung zum Wechseln in seinem Spind.

Vor dem Wandschrank blieb sie stehen. Sie zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Jacke, streifte sie über, öffnete dann die verspiegelte Tür und sah hinein. Ein beigefarbenes Kleid und eine weiße Bluse hingen dort. Sehr elegant. Sehr teuer. Sie warf einen Blick auf die Marke. Armani. Auf dem oberen Regal stand ein Paar brauner Wildlederschuhe mit niedrigem Absatz. Ebenfalls sehr teuer.

„Hey, Stacy.“

Sie drehte sich zu Mac um und nickte ihm zu. Er war Anfang dreißig, lächelte gern und hatte Augen wie ein Hundewelpe. Er war vor wenigen Wochen von der Sitte herübergekommen und ihr als Partner zugeteilt worden.

Laut ihren früheren Partnern hatte sie einen der gefährlichsten und unangenehmsten Jobs im Dezernat. Sie und eine Reihe anderer Kollegen nannten sie Killer-Killian, hielten sie für eine männerfeindliche frigide Zicke. Die schlimmste überhaupt im Dallas Police Department, das kurz DPD genannt wurde.

Der Spitzname berührte sie schon lange nicht mehr. Tatsache war, dass in dem Männerverein, den das DPD darstellte, Frauen toleriert wurden. Bestenfalls. Eine Frau musste um ihren Platz in der Hierarchie kämpfen. Indem sie schlau war, hartnäckig und zäh bei der Arbeit. Und indem sie sich möglichst schnell ein dickes Fell zulegte. Für die meisten dieser Kerle gab es vier Kategorien von Frauen: Opfer, Täter, Luder und Schreckschrauben.

Angesichts der Auswahl war sie mehr als glücklich, dass man sie der letzten Kategorie zurechnete.

Außerdem war sie eine gute Polizistin, die ihren Job tadellos erledigte. Darin würden ihr wohl sogar ihre Ex-Partner zustimmen.

Mac kam zu ihr rübergeschlendert, stellte sich neben sie. „Wo warst du? Die Party ist schon in vollem Gange.“

„Sie musste noch ihre Nägel trocknen“, rief einer von der Spurensicherung, ein Trottel namens Lester Bart. „Das ist immer so.“

„Verpiss dich“, entgegnete sie ungerührt.

„Die Wahrheit tut weh, Baby.“

„Es wird wehtun, wenn ich dir in den Hintern trete. Und sollte ich mir dabei einen Nagel abbrechen, werde ich wirklich sauer.“

Kichernd machte sich der Techniker wieder daran, das Pulver für die Fingerabdrücke zu verteilen. Mac deutete auf das beigefarbene Kleid. „Schicker Fummel.“

Stacy antwortete nicht. Sie drehte sich um und ging zum Badezimmer. Er folgte ihr.

„Du redest nicht viel, oder?“ sagte er.

„Nein.“ Sie ließ ihren Blick über die Einrichtung schweifen. Auf dem Tischchen stand nur eine Reisetasche. Keines der Handtücher war benutzt; die anderen Badezimmerutensilien lagen unberührt auf einem kleinen verspiegelten Tablett.

Stacy durchsuchte vorsichtig den Inhalt der Tasche. Lotionen, Cremes, Parfums. Gleitmittel. Kondome. Ein Vibrator. Ein Dutzend Seidenschals, wahrscheinlich für Bondagespielchen. Eindeutig ein Mädchen, das gerne seinen Spaß hatte. Und das bestens ausgerüstet war.

„Offenbar sind nicht nur Pfadfinder immer auf alles vorbereitet“, sagte Mac.

Verärgert, dass seine Gedanken den ihren so nahe kamen, warf sie Mac einen Blick zu. Er stand im Türrahmen, den seine breiten Schultern nahezu ganz ausfüllten. Sie runzelte die Stirn. „Soll das witzig sein?“

„Besser lachen als heulen, oder?“

„Sagt man so.“

„Findest du nicht?“

Stacy deutete auf den Türrahmen. „Ich möchte bitte durch.“ Er zögerte, trat dann einen Schritt beiseite. Als sie an ihm vorbeischlüpfte, hielt er sie am Arm fest. „Musst du immer so auf hart machen, Killian?“

„Ja“, erwiderte sie und blickte demonstrativ auf seine Hand. „Wenn es dir nicht gefällt, dann bitte darum, versetzt zu werden.“

„Ich will nicht …“ Mac verschluckte den Rest des Satzes und zog seine Hand zurück. „Okay, spielen wir nach deinen Regeln.“

Stacy trat aus dem Badezimmer und ging zum Bett. Sie blickte hinunter auf das Opfer. Die Frau war eine Weiße, die für Sexspielchen gekleidet war. Ein aufreizender schwarzer Satinmantel, schwarzer Stringtanga mit dazu passendem BH, Strapse und Strümpfe. Der Satinmantel war offen; der Mörder hatte die Schärpe benutzt, um sie zu erwürgen. Ihr ehemals hübsches Gesicht war mit dunkelroten Flecken übersät, ihre Augenlider und Lippen waren mit kleinen punktförmigen Hautblutungen gesprenkelt, die von dem Druck auf die Blutgefäße herrührten.

Sie schien um die dreißig zu sein, vielleicht auch älter. Sie sah sehr gepflegt aus: seidige Haut, manikürte Hände, die Fingernägel in einem dezenten Hellrosa lackiert, das blondierte Haar elegant frisiert. Wirklich geschmackvoll. Sogar tot sah die Frau sehr wohlhabend aus.

Stacy schätzte, dass ihre Kunden nicht weniger als zweihundertfünfzig Dollar die Nacht lockermachen mussten.

„Silikontitten“, bemerkte Mac.

Stacy, die an solche Ausdrücke gewöhnt war, nickte nur und trat näher ans Bett. Sie schlug ihr Notizbuch auf und fertigte eine kurze Skizze der Szene an. Sie wusste, dass Mac auch eine gezeichnet hatte. Auf dem Blatt notierte sie Einzelheiten bis hin zur Lage des Körpers. Außerdem schrieb sie die Uhrzeit auf.

Als sie fertig war, sah sie Mac an. „Was haben wir bis jetzt?“

„Ihr Name ist Elle Vanmeer. Das Zimmermädchen …“ „Stimmt das mit ihrem Ausweis überein?“

„Jawohl. Unter dem Namen hat sie eingecheckt. Allein.“

Sie tat, als bemerke sie seine Verärgerung nicht. „Weiter.“

„Das Zimmermädchen fand sie, als sie den Raum reinigen wollte. Sie dachte, sie hätte ausgecheckt. Sie benachrichtigte den Hotelmanager, der die Polizei gerufen hat.“

„Portemonnaie? Brieftasche? Schmuck?“

„Alles noch da. Jede Menge Bargeld in der Brieftasche.“ Er blickte zu der Frau, dann wieder zurück zu Stacy. „Raub war nicht das Motiv.“

„Bestimmt nicht. Sie kannte ihren Mörder. Hat ihm vertraut. Sie wollten sich hier treffen. Für Sex, wie’s aussieht.“ Sie ließ ihren Blick über die Einrichtung wandern. „Er dürfte jemand sein, der in diese Welt passt. Jemand, der sich in ähnlichen Kreisen bewegt wie sie.“

„Laut Führerschein wohnte sie in der Hillcrest Avenue. Im Zentrum der Reichen und Schönen.“

Highland Park. Das vornehmste Viertel in Dallas. Mit Geldadel so alt wie Dallas selbst. Sie presste die Lippen zusammen. „Ich wette, einer von ihnen ist verheiratet. Vielleicht sogar beide.“

„Kein Ring.“

Mac hatte Recht. Ihr linker Ringfinger war nackt, zeigte nicht einmal eine verräterische weiße Linie. „Aber ich wette, er war es.“

„Vielleicht waren es Muschilutscher.“

Das kam von Lester. Stacy drehte sich zu ihm um. „Wie bitte?“

„Du weißt schon, Lesben.“

„Du bist einfach ekelhaft, weißt du das?“

„Hast du etwa was für die Sorte Frauen übrig, Killian? Möchtest du auch mal?“

Sie konnte schon hören, wie sich das Getuschel im ganzen Department ausbreitete: Stacy Killian ist ’ne Lesbe. Endlich wissen wir, warum sie den Kerlen die Eier abreißt, statt sie zu streicheln.

Na super.

„Ich finde bestimmte Bezeichnungen beleidigend. Das würdest du auch tun. Wenn du ein Mensch wärst.“

„Warum hältst du nicht einfach die Klappe, Lester“, zischte Mac. „Wir haben hier zu arbeiten.“

Im Gesicht des anderen stieg Röte auf. Er öffnete den Mund, als ob er etwas erwidern wollte, dann klappte er ihn zu. Einige der anderen lachten in sich hinein, und Stacy schätzte, dass Mac wegen dieser Sache noch Theater bekommen würde.

Aber das war nicht ihr Problem.

Mac lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Elle Vanmeer. „Ich sage nicht, dass du mit dieser Ehebruchgeschichte Unrecht hast, aber denkbar ist auch ein anderes Szenario. Ein Paar, das etwas zu feiern hat. Einen Jahrestag oder Geburtstag. Den Abschluss eines Vertrages. Sich hier zu treffen ist Teil der Feier.“

„Könnte sein“, gab sie zu. „Aber es macht nicht den Eindruck auf mich.“

„Wenn der Typ verheiratet ist, hat ihm vielleicht seine Frau eins ausgewischt. Er kommt herein, findet seine Geliebte tot und rennt in Panik weg.“

Sie spielte die Möglichkeit im Kopf durch. „Man braucht verdammt viel Kraft, um jemanden zu erwürgen. Aber könnte sein.“ Sie sah den Gerichtsmediziner an. „Komm nur dazu, Pete.“

Pete Winston, ein ziemlich kleiner, kahl werdender Mann, der eher wie ein Buchhalter und nicht wie ein Pathologe aussah, stand am Kopfende des Bettes. „Sie ist seit zehn bis zwölf Stunden tot. Nach den Hautblutungen auf Lidern und Lippen zu urteilen ist genau das passiert, wonach es aussieht. Aber die Autopsie wird das natürlich klären.“

„Hatte sie Verkehr, bevor sie getötet wurde?“ fragte Stacy hoffnungsvoll. Sex bedeutete Sperma oder Schamhaare, was wiederum DNA bedeutete.

„Weiß ich noch nicht. Sie hat das Höschen an, aber das heißt nichts.“ Er kam um das Bett herum zu ihnen. „Schaut euch das mal an.“

Mit einem behandschuhten Finger deutete er auf eine Reihe feiner Narben: an ihrem Bauch, ihrer Hüfte, den inneren und äußeren Oberschenkeln. „Fettabsaugung“, sagte er. „Und seht hier.“ Er zeigte auf winzige Narben an ihrem Haaransatz und am Kiefer. „Sie hat sich auch liften lassen.“

„Diese Weiber heutzutage“, sagte Lester. „Da hast du ein Date und merkst später, dass du deine Großmutter gevögelt hast.“

Ein paar der Jungs johlten vor Vergnügen. Stacy warf Lester einen vernichtenden Blick zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Pathologen widmete. „Was kannst du mir noch sagen?“

„Nicht viel“, gab er zurück und zog seine Handschuhe aus. „Du kriegst meinen offiziellen Bericht morgen gegen acht.“

„Morgen früh? Ich bitte dich, Pete, hier handelt es sich um Mord. Jede Minute zählt, das weißt du. Jede Minute …“

Er unterbrach sie. „Ich habe schon einige andere in der Warteschleife. Diesmal musst du warten bis du dran bist, da gibt’s kein Überreden.“

„Sicher, klar.“ Sie hob beide Hände. „Ich würde mich nie vordrängeln. Ich möchte nicht, dass irgendjemand mir vorwirft, mich nicht an die Regeln zu halten. Auch wenn diese arme Frau von jemandem ermordet wurde, dem sie vertraut hat. Auch wenn jede Minute, die vergeht, es wesentlich schwieriger macht, ihren Mörder zu finden. Auch wenn …“

„Okay, schon gut. Ich ruf dich an, egal wie spät es wird. Aber bevor du ja sagst, solltest du wissen, dass ich dich aus einem sehr tiefen und friedlichen Schlaf reißen werde.“

Stacy lächelte ihn freundlich an. „Du bist ein Schatz, Pete. Ich kann’s kaum erwarten.“

3. KAPITEL

Montag, 20. Oktober 2003

12.45 Uhr

Rick Deland, der Hotelmanager, wirkte erschüttert. Richtig grün war er um die Kiemen, fand Stacy. Er hatte allen Grund dazu. In einem seiner Hotelzimmer war eine Frau ermordet worden. Polizisten liefen herum, riegelten die Fahrstühle und den achten Stock mit Absperrungsband ab, wollten eine Gästeliste und die Erlaubnis, die auf der Liste stehenden Personen zu verhören.

„Das La Plaza“, erklärte er umständlich, „beherbergt Menschen, die einen diskreten, unaufdringlichen Service bevorzugen. Menschen, die das Beste gewöhnt sind, was man für Geld kaufen kann – und die dabei anonym bleiben wollen. Wenn ich Ihnen Zugang zu ihnen gewährte, würde ich unsere Verpflichtung zu diesem hochklassigen Service verletzen. Ein Service, auf den wir stolz sind. Der unser Markenzeichen ist.“

Stacy sah den dunkelhaarigen Manager, der um die vierzig war, abschätzend an. Ein durchschnittlicher Mann in einem überdurchschnittlichen Anzug, entschied sie. Er würde wahrscheinlich gute Noten für Umgangsformen, Diplomatie und Tischmanieren erhalten. Sie fragte sich, wie viel der Hotelmanager eines Hauses wie das La Plaza im Jahr verdienen mochte. Mit Sicherheit eine verdammte Menge mehr als ein Detective des DPD. Auch wenn sie schon zehn Dienstjahre auf dem Buckel hatte.

Er hatte absolut keine Ahnung, mit wem er sich da anlegte.

Die Kunst, ein Nein zu akzeptieren, hatte sie nie gelernt.

„Eine Frau wurde ermordet, Mr. Deland. Und zwar ein Gast Ihres Hotels.“

„Das ist natürlich sehr bedauerlich. Aber ich sehe nicht …“

„Bedauerlich?“ schnitt Stacy ihm das Wort ab. „Ein Mord ist mehr als nur bedauerlich.“

„Eine unglückliche Wortwahl.“ Sein Blick glitt zu Mac, der dicht hinter Stacy an der Tür stand. Als er dort keine Hilfe fand, sah er wieder Stacy an. „Ich entschuldige mich.“

„Worte helfen nicht weiter, Mr. Deland.“ Sie beugte sich vor. „Einer Ihrer Gäste kann etwas oder jemanden gesehen haben, kann vielleicht etwas gehört haben. Wir finden das nur heraus, wenn wir fragen. Die meisten Mordfälle werden tatsächlich innerhalb von achtundvierzig Stunden nach der Tat gelöst. Allerdings nur, wenn sie gelöst werden.“

„Das stimmt, Mr. Deland“, schaltete sich Mac ein. „Mit jeder Stunde, die verstreicht, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass der Fall gelöst wird, enorm. Die Erinnerung verschwimmt, Spuren erkalten.“

„Haben Sie schon mal dran gedacht, dass jemand von Ihrem Personal der Täter sein könnte?“ fragte Stacy.

Er sah entsetzt aus. „Von meinem Personal? Wie können Sie überhaupt denken … Warum sollte …“

„Zugang, Mr. Deland. Zu jedem Winkel des Hotels. Inklusive Gästezimmer.“

Er schüttelte den Kopf. „Wir überprüfen jeden, den wir einstellen. Drogentests sind obligatorisch. Unsere Ausbildung ist hart. Ich kann Ihnen versichern, dass niemand von meinem Personal in die Sache verwickelt ist.“

Unbeeindruckt versuchte Stacy es mit einer anderen Taktik. „Ich habe eine Schale mit in Schokolade getauchten Erdbeeren und eine kleine Flasche Champagner im Zimmer gesehen. Hat das der Zimmerservice gebracht?“

„Wenige Minuten nach der Ankunft. Das gehört zum Aufenthalt im La Plaza. Wir nennen es das Plazaerlebnis.“

„Aber das kostet extra?“

„Selbstverständlich.“

„Außerdem fielen mir frische Blumen auf. Gehören die auch zum Plazaerlebnis?“

„Nein. Möglich, dass Mrs. Vanmeer sie bestellt hat. Oder ein Freund hat sie vielleicht ins Hotel liefern lassen.“

Stacy und Mac tauschten Blicke. Sie sah die Erregung in seinen Augen. Sie spiegelte die ihre. Simpel. Sauber. Der Liebhaber hat Blumen zum Rendezvous liefern lassen. Beide streiten, und er bringt sie um. Die Blumen führen direkt zum Liebhaber, und die Polizei kann einen weiteren Fall als gelöst abhaken.

Es schien zu simpel, aber eine erstaunliche Zahl von Verbrechen wurde aufgrund der Dummheit des Täters aufgeklärt.

„Könnten Sie das nachprüfen?“

„Selbstverständlich. Ich habe hier die Rechnung von Mrs. Vanmeer.“ Er überflog sie. „Hier ist es, ein Posten für die Blumen.“ Er nahm ihre Enttäuschung wahr. „Tut mir Leid.“

„Darf ich sie sehen?“

„Sicher.“ Er gab ihr die Rechnung. „Sie hat eine Flagge neben ihrem Namen.“

„Eine Flagge? Was bedeutet das?“

„Sie zeigt an, dass es sich bei ihr um einen unserer Spezialgäste handelt.“

„Meinen Sie damit einen Stammgast? Oder eine wichtige Persönlichkeit?“

„Jemand, der gelegentlich unser Gast ist und seine Vorlieben kundgetan hat, sei es in Bezug auf das Zimmer oder auch andere Annehmlichkeiten.“

„So wie Raucher oder Nichtraucher, Kingsize- oder Doppelbett?“ fragte Mac.

„Genau“, strahlte der Mann ihn an. „Mitunter werden wir um ein Schaumstoffkissen statt eines Federkissens gebeten, oder darum, dass die Minibar mit Schokoladenriegeln und Perrier gefüllt wird, solche Sachen.“

Stacy machte sich Notizen, während er sprach. Als er fertig war, suchte sie seinen Blick. „Wie waren die Vorlieben von Mrs. Vanmeer?“

Er bedeutete ihr, dass er es nachprüfen würde, griff zum Hörer und sprach mit jemandem namens Martha. Er befragte die Frau, bedankte sich und legte auf. „Das Geheimnis ist gelüftet. Mrs. Vanmeer verlangte frische Blumen bei der Ankunft, ebenso eine kleine Flasche Champagner – am liebsten White Star – und die Erdbeeren. Außerdem wollte sie ein Zimmer mit extra großem Jakuzzi und dass im Badezimmer die Waage und der beleuchtete Kosmetikspiegel entfernt würden.“

Stacy dachte an die Lifting-Narben, die Pete ihnen gezeigt hatte. Elle Vanmeer war eine Frau gewesen, die von ihrem Aussehen besessen und gleichzeitig deswegen verunsichert war.

„Der Spiegel und die Waage“, murmelte Mac. „Das ist seltsam.“

„Für Sie vielleicht. Wie auch immer, bei uns im La Plaza sollen sich unsere Gäste nicht nur wohl fühlen, wir wollen sie auch verwöhnen.“

Stacy blickte zu Mac, der die Augen verdrehte und dann wieder den Hotelmanager ansah. „Sie stieg oft bei Ihnen ab?“

Der Manager zögerte, dann nickte er. „Ein paarmal im Monat.“

„Mit ihrem Mann?“

„Ich glaube, sie war geschieden.“

„Hat sie sich immer mit demselben Mann getroffen?“

„Das weiß ich nicht. Ich kümmere mich nicht um die Angelegenheiten meiner Gäste.“

„Um was kümmern Sie sich dann?“

„Wie bitte?“

Stacy lächelte dünn. „Würden Sie einen ihrer Freunde wiedererkennen?“

„Ich? Nein. Vielleicht jemand vom Personal.“

„Oder einer der Gäste.“

Röte überzog sein gebräuntes Gesicht. „Ich gewähre Ihnen Zugang zu den Videobändern. Aber nicht zur Gästeliste.“

„Wir können einen richterlichen Beschluss besorgen.“

„Tun Sie das. Denn ohne den werden Sie nicht an die Liste kommen. Und wenn ich Sie dabei erwische, dass Sie auch nur einen einzigen Gast belästigen, verlieren Sie Ihre Marke.“

Ihre Augen verengten sich vor Wut. „Es wäre doch eine Schande, wenn die Presse Einzelheiten des Mordes erführe. Ich kann es schon vor mir sehen. Tödliche Sexspiele im La Plaza. Mörder auf freiem Fuß. Ich schätze, das wäre nicht gut fürs Geschäft.“

Rick Deland erhob sich ruckartig. „Drohen Sie mir? Wenn Sie das nämlich …“

„Selbstverständlich nicht“, schaltete sich Mac ein und bedeutete dem Mann, sich wieder zu setzen. „Detective Killian ist sehr engagiert in ihrem Job. Ich bin sicher, dass Sie das verstehen.“

„Natürlich. Ich bin schockiert wegen dieser ganzen Sache. Aber meine Gäste haben nichts damit zu tun.“

„Eine ziemlich gewagte Aussage, Mr. Deland. Zumal Sie uns bereits versichert haben, dass niemand von Ihrem Personal damit zu tun hat. Wer bleibt dann noch? Der Weihnachtsmann? Ein Geist?“

„Ich bedaure, dass Sie meinen, sarkastisch werden zu müssen, Detective Killian. Ich tue, was ich kann, doch die größte Verantwortung habe ich gegenüber meinen Gästen.“

„Elle Vanmeer war ein Gast. Aber natürlich ist sie jetzt tot. Brutal ermordet in Ihrem wertvollen …“

„Wir begrüßen Ihre Hilfe sehr“, murmelte Mac, während er nach vorn trat. „Vor allem Ihre Erlaubnis, uns sofortigen Zugang zu den Videoaufzeichnungen zu verschaffen.“ Er streckte seine Hand aus. „Wenn die Bänder einen Verdächtigen zeigen, können wir doch auf Ihre Hilfe zählen?“

Der Mann erhob sich, nahm Macs Hand. „Sicher.“

„Danke, Mr. Deland. Die Bänder?“

„Ich bin gleich wieder da.“

Als sich die Tür hinter dem Hotelmanager geschlossen hatte, wandte sich Stacy an ihren Partner. „Was, verdammt noch mal, hast du dir dabei gedacht?“

„Ich wollte die Situation entschärfen.“

„Vergiss es. Du bist eingeknickt. Gute Polizeiarbeit …“

„Er muss uns die Bänder nicht geben, Stacy. Er kann darauf bestehen, dass wir einen Gerichtsbeschluss haben.“

„Ich will alles. Ein bisschen mehr Druck und …“

„Und er hätte uns aus seinem Büro geworfen. Und wir müssten warten. Du weißt ebenso gut wie ich, dass jede Minute zählt.“

Er hatte Recht. Er wusste es, und sie wusste es auch. Es machte sie wütend.

„Na schön. Was auch immer.“

Er runzelte die Stirn. „Ich versteh dich nicht, Stacy.“

„Ach ja?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Und sollte mich das irgendwie bekümmern?“

„Was bringt es dir, so eine Zicke zu sein? Willst du jeden, der mit dir arbeitet, vor den Kopf stoßen?“

„Ich bin eine gute Polizistin. Ich bin hartnäckig und gründlich. Wenn du damit ein Problem hast, musst du dich an den Captain wenden.“

„Ich habe kein Pro…“ Er hielt die Worte zurück, sah enttäuscht aus. „Ich mag die Art, wie du arbeitest. Wie ernst du alles nimmst. Ich bewundere deine Intelligenz, wie du die Fakten durchgehst und sie dann in einen logischen Zusammenhang bringst.“

„Ein scharfsichtiger Mann. Da habe ich wohl den Hellsten des Wurfs abbekommen.“

Er schüttelte den Kopf. „Was soll das, Stacy? Warum kann ich denn nicht irgendetwas an dir bewundern? Warum dieses ganze Getue?“

„Weil Bewunderung nicht umsonst ist. Es sind Bedingungen damit verbunden. Im Gegenzug willst du etwas von mir. Was?“

Er schwieg einen Moment. „Okay, ich will tatsächlich etwas. Ich will wie ein Mensch behandelt werden. Oder vielleicht wie ein gleichberechtigter Partner. Dein Partner.“

„Statt als was?“

„Statt als dämlicher Lakai. Als nerviger Amateur. Als Anfänger, der mehr stört, als er behilflich ist.“ Er beugte sich zu Stacy. „Ich mag neu sein beim Morddezernat, Stacy, aber ich bin schon länger im Dienst als du. Du bist zwar eine verdammt gute Polizistin, wirklich, aber ich habe auch einiges ins Rennen zu führen.“

„Das glaubst du jedenfalls. Wir werden sehen.“

Ein Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln. Er erwiderte es. „Nun gut. Wir werden sehen.“

Dann kam Rick Deland zurück und unterbrach das Gespräch. Er wurde von einem Mann begleitet, den er als Hank Barrow vorstellte, den Leiter des Sicherheitsdienstes im La Plaza. Groß und massig wie er war, mit einer dicken Mähne schneeweißen Haars, machte er ziemlich Eindruck.

„Guten Tag.“ Der Mann schüttelte ihnen die Hand. „Ich habe gehört, dass wir uns bereit erklärt haben, Ihnen unsere Sicherheitsaufzeichnungen zur Verfügung zu stellen.“

„Das ist richtig.“ Mac lächelte. „Wir begrüßen Ihr Entgegenkommen.“

„Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie.“ Der Mann sah den Hotelmanager an, blickte dann wieder zu Mac und Stacy. „Die Bänder vom Fahrstuhl sind kein Problem, aber die Überwachungsbilder aus dem achten Stock zeigen nichts. Oder so gut wie nichts.“

„Verdammter Mist. Was ist passiert?“

„Wir tun unser Bestes, damit die Kameras nicht auffallen. Im achten Stock haben wir einen großen Pflanzentopf in die Ecke gestellt. Offenbar wurde dieser künstliche Ficus beim Saubermachen so verstellt, dass die Blätter die Linse bedeckten. Ehrlich gesagt, ist das nicht zum ersten Mal passiert.“

Stacy runzelte die Stirn. „Und Sie haben den Fehler erst jetzt bemerkt?“

„Wir zeichnen ausschließlich für Haftungszwecke auf. Wir machen keine Bildschirmüberwachung.“

„Wie lange bewahren Sie die Bänder auf?“

„Achtundvierzig Stunden.“

Wenn der Täter schlau war, was Stacy allmählich vermutete, hatte er gewusst, wo sich die Kameras befanden, wie lange das Hotel die Bänder aufbewahrte und dass sie keine Bildschirmüberwachung durchführten.

Wenn sie Recht hatte, war dies kein Verbrechen aus Leidenschaft, sondern vorsätzlicher Mord.

„Ich habe aber auch gute Nachrichten. Wir haben Bänder von allen Treppenhäusern. Die habe ich ebenfalls mitgebracht.“

„Sie haben sicher Verständnis dafür, dass es keinen Ton zu den Bändern gibt.“

„Selbstverständlich.“

„Und ich muss Sie warnen, dass Sie vielleicht einige anstößige Szenen auf den Bändern sehen. Viele Gäste wissen nichts von den Kameras und …“

„Und einige liefern eine Vorstellung, weil sie davon wissen“, sagte Stacy trocken. „Trotzdem, vielen Dank für die Warnung.“

4. KAPITEL

Montag, 20. Oktober 2003

14.00 Uhr

Das Morddezernat des Dallas Police Department war im Gebäude der Stadtverwaltung an der Ecke Commerce und Harwood Street untergebracht. In einem klassischen Gebäude des öffentlichen Dienstes: grau, abweisend, aber zweckmäßig. Im ersten Stock wurden Strafzettel bezahlt und die Termine des Verkehrsgerichts koordiniert. In den oberen Stockwerken befanden sich die Räume des Verkehrsgerichts, die Polizeidirektion sowie die Büros einer Reihe städtischer Beamter. Das Morddezernat befand sich im dritten Stock. Im SV, wie Stacy das Stadtverwaltungsgebäude nannte, war immer Betrieb.

Sie und Mac bahnten sich ihren Weg durch Trauben von Menschen, die sich in Richtung der Fahrstühle drängten. Gesprächsfetzen, manche in Spanisch, andere in Englisch, drangen an ihr Ohr.

„Hijo de una perra!“

Da sie ihr ganzes Leben in Texas verbracht hatte, verfügte Stacy über ausreichende Spanischkenntnisse. Nach seinem Vokabular zu urteilen hatte der Herr einen ausgesprochen schlechten Tag.

Aber natürlich gehörten das SV und ein schlechter Tag zusammen. Wenn man dort durch die Tür ging, steckte man in einer unangenehmen Situation. Oder falls man dort arbeitete, musste man sich mit den unangenehmen Situationen anderer Menschen befassen.

In ihrem und Macs Fall handelte es sich dabei um Mord.

Tatsächlich verdammt unangenehm.

Stacy stieg der Duft eines teuren Parfums in die Nase; er ver-mischte sich höchst unerfreulich mit Körpergerüchen und dem Gestank eines Kettenrauchers. Dallas, Heimat der Reichen und der Armen, der Erfolgreichen und der Abgestürzten. Und irgendwann, auf die eine oder andere Art, früher oder später, landeten alle einmal hier.

Mit einem Nicken in Richtung des Beamten, der neben dem Informationsschalter stand, gingen sie zu den Fahrstühlen. Die rostfreien Stahltüren mit ihrer senkrechten Reihe goldener Sterne öffneten sich.

Stacy trat ein, und Mac folgte ihr. Er drehte sich zu ihr. „Was denkst du?“

„Wir setzen den Captain ins Bild und bitten um Hilfe mit den Bändern. Unser Mörder ist auf einem dieser Bänder, und ich will ihn haben.“

Der Aufzug hielt, und sie betraten den dritten Stock. Von der Decke hing ein Schild: Nur für befugtes Personal. An der Wand gegenüber stand eine Reihe zerbeulter, defekter Schreibtischstühle. Wenn einer seinen Geist aufgab, rollte ihn der Detective einfach nur zum Friedhof, wie dieser Teil des Flurs genannt wurde, und da stand er dann rum.

Sie betraten die Abteilung und griffen nach ihren Zetteln mit eingegangenen Anrufen. Stacy blätterte ihren Stapel durch. „Ist der Captain da?“ fragte sie die Sekretärin, ohne aufzusehen.

„Ja“, antwortete das Mädchen, das ausgerechnet Kitty hieß. Sie schnalzte mit ihrem Kaugummi, und Stacy bemerkte, dass er das gleiche Pink hatte wie ihr Angora-Pullover und ihr Lippenstift. „Er erwartet dich. Hi, Mac.“

Bei der Einladung, die in der Stimme der jungen Frau mitschwang, sah Stacy auf.

„Hallo, Kitty. Geht’s dir gut?“

„Großartig.“

Das Gr klang wie ein Schnurren. Stacy rollte mit den Augen.

„Schön zu hören. Ich muss los.“

Sie drehten ab und gingen zum Büro des Captains. Als sie außer Hörweite der Sekretärin waren, beugte sich Stacy zu Mac. „Hi, Mac“, murmelte sie, wobei sie die andere nachäffte. „Grrrroßartig.“

„Sie ist eben jung.“

„Warum wirst du dann rot, McPherson?“

„Killian! McPherson! Wir haben ein Hühnchen mit euch zu rupfen.“

Der flapsige Anraunzer kam von Beane, einem der anderen Detectives. Sein Partner Bell stand neben ihm. Die beiden, die im Department liebevoll B & B genannt wurden, sahen aus, als ob sie einen harten Vormittag gehabt hätten.

„Ach. Und worum geht’s?“

„Wie habt ihr zwei es ins La Plaza geschafft? Wir haben die letzten vier Stunden mit einer Leiche bei der Bachman-Verteilungsstation verbracht.“

Die Bachman-Verteilungsstation war eine von drei großen Müllsammelstellen der Stadt Dallas. „So riecht ihr auch“, warf Stacy ihnen über die Schulter zu. „Ich würde an eurer Stelle etwas dagegen unternehmen.“

„Ich fühle mich als Mann diskriminiert“, rief Bell ihnen nach. „Es liegt nur daran, dass du ein Mädchen bist.“

„Da musst du durch“, gab Mac lachend zurück. „Du bist nur eifersüchtig.“

„Wenn Beane hier in Pension geht, nehme ich mir auch ein Mädel als Partner. Wirst schon sehen.“

Immer noch kichernd setzten sie ihren Weg zum Büro des Captains fort. Tom Schulze, seit vierundzwanzig Jahren beim Morddezernat, hatte sich als harter, aber fairer Vorgesetzter bewährt. Während ihrer Zusammenarbeit hatte Stacy seinen untrüglichen Instinkt ebenso zu respektieren gelernt wie seinen aufbrausenden Zorn. Gnade dem Detective, den dieser Zorn traf.

Sie klopfte an die Tür seines Glaskastens. Er telefonierte gerade, winkte sie aber rein. Mac setzte sich. Sie zog es vor zu stehen.

Kurz darauf beendete Schulze sein Gespräch. In den zehn Jahren, die sie ihn kannte, war sein hellrotes Haar dünner und grau geworden, doch seine Augen waren noch immer von einem fast elektrisierenden Blau. Dieser beunruhigende Blick richtete sich nun auf sie. „Setzen Sie mich ins Bild.“

Stacy begann. „Der Name des Opfers ist Elle Vanmeer. Sieht so aus, als ob sie erwürgt wurde. Pete hat versprochen, seinen Bericht vor morgen zu liefern.“

Der Captain hob eine Augenbraue. „Weiter.“

Mac übernahm. „Sie hat gestern Abend gegen elf eingecheckt, allein. Das Zimmermädchen fand sie heute Morgen gegen viertel nach elf. Der Hotelmanager hat es abgelehnt, uns die Gästezimmer betreten oder mit einem der Gäste sprechen zu lassen.“

„Trotzdem“, sprang Stacy ein, die seine Reaktion vorhersah, „konnten wir den Hotelmanager überzeugen, uns die Sicherheitsaufzeichnungen aus dem Fahrstuhl und auch aus den Treppenhäusern zu überlassen.“

„Wie viele Fahrstühle?“

„Zwei öffentliche. Einer fürs Personal. Drei Treppenhäuser.“

Captain Schulze rechnete. „Je nachdem, wie Pete den Todeszeitpunkt ansetzt, sind das fünfzehneinviertel Stunden für jedes Band. Das Gleiche gilt für die Treppenhäuser.“

„Er meinte, dass sie seit zehn bis zwölf Stunden tot war.“

„Das hilft.“

„Offenbar war Mrs. Vanmeer Stammgast im La Plaza. Sie hatte einen Dauerauftrag für frische Blumen, Champagner und Erdbeeren in Schokolade in ihrem Zimmer.“

„Theorien?“

„Auf jeden Fall war sie dort, um sich mit einem Liebhaber zu treffen. Ich glaube, dass einer oder beide verheiratet waren.“

„Sie hatte leichtes Gepäck“, warf Mac ein. „Nur das Zeug, das man für eine heiße Nacht braucht.“

„Sie glauben, ihr Liebhaber ist unser Mann?“

„Ja.“ Stacy blickte zu ihrem Partner. „Oder ein eifersüchtiger Partner.“

„Sie werden Hilfe bei der Durchsicht der Bänder brauchen.“

„Ja, Sir.“

„Ich geben Ihnen Camp, Riggio, Falon und …“

„Falon hat sich mit Grippe krank gemeldet“, wandte Mac ein. „Moore ebenso.“

Der Captain fluchte. Ein Magenvirus hatte sich im Department ausgebreitet. Manche Abteilungen waren nur noch halb besetzt, wer gesund war, schob Doppelschichten.

„Dann legen Sie so los.“ Er griff nach dem Telefonhörer, womit er ihr Gespräch für beendet erklärte. „Dieser Fall scheint nicht sonderlich kompliziert zu sein. Lassen Sie ihn uns bald abschließen.“

5. KAPITEL

Montag, 20. Oktober 2003

15.15 Uhr

Jane blickte angestrengt durch den Sucher ihrer Videokamera. Ihr Modell, eine Frau namens Anne, saß etwa drei Meter vor ihr auf einem Podest. Jane hatte das Podest mit weißem Stoff überzogen. Eine weiße Papierbahn bildete den Hintergrund.

Jane wollte das Licht so grell wie möglich haben. Unbarmherzig, grausam. Ihr Modell sollte ganz nackt aussehen. Ohne die ganzen Tricks, hinter denen sie sich normalerweise versteckte – warmes Licht, Make-up, vorteilhafte Kleidung, frisiertes Haar.

Stattdessen war das Gesicht der Frau ungeschminkt und ihr Haar hinten zu einem strengen Knoten gebunden. Sie trug nichts als ein Krankenhaus-Hemd, das in der Taille von einem Gürtel gehalten wurde.

Völlige Entblößung. Psychisch. Emotional.

„Ted“, sagte Jane und blickte zu ihrem Assistenten, der neben ihr stand. „Würdest du den Scheinwerfer rechts etwas verstellen? Da ist ein leichter Schatten auf ihrer linken Wange.“

Er tat, was sie verlangte, und wartete, während sie erneut durch den Sucher blickte.

Ted Jackmann hatte sie vor einigen Jahren wegen eines Jobs angesprochen. Er habe eine ihrer Ausstellungen gesehen, sagte er, und sei begeistert gewesen. Sie hatte damals eigentlich keinen Assistenten gesucht, wohl aber gelegentlich mit dem Gedanken gespielt, einen einzustellen.

Also hatte sie es versucht, und Ted hatte sich als Glücksgriff erwiesen. Effektiv. Loyal. Klug. Sie vertraute ihm völlig. Und wenn Ian manchmal Teds Charakter in Zweifel zog, erinnerte sie ihn daran, dass sie Ted schon länger kannte als ihn.

Auch wenn sie die Befürchtungen ihres Mannes nicht teilte, verstand sie doch, warum er sie hegte. Ted hatte ziemlich viel erlebt in seinen achtundzwanzig Jahren, war unter anderem bei der Navy und Gitarrist einer mäßig erfolgreichen lokalen Rockband gewesen, hatte dann eine Kehrtwendung ins bürgerliche Leben gemacht und zuletzt, bevor er zu ihr kam, als Maskenbildner für einen Bestattungsunternehmer gearbeitet.

Äußerlich war er schön und abschreckend zugleich. Klassisch gebaut, muskulös und schlank, mit einem dunklen, fast schon hypnotischen Schlafzimmerblick. Außerdem hatte Ted jede Menge Piercings und Tätowierungen, sein langes dunkles Haar war vorn von weißen Strähnen durchzogen.

Schön und abschreckend. Nicht viel anders als sie selbst.

„Soll ich so sitzen?“ fragte Anne und zog auf dem harten Podest die Beine unter ihren Körper.

„Wie es bequem für Sie ist.“

Anne schauderte, als ihr Blick Ted traf, und sah dann wieder zu Jane. „Ich muss furchtbar aussehen.“

Jane erwiderte nichts. Die Frau hob die Hand, um durch ihr Haar zu streichen, als ihr einfiel, dass Jane ihre dichte kastanienbraune Mähne nach hinten gebunden hatte. Sie lachte nervös und faltete die Hände in ihrem Schoß.

Die meisten Künstler bemühten sich, es ihrem Modell behaglich machen, damit es sich wohl und entspannt fühlte. Sie bemühte sich um das Gegenteil.

Sie wollte die dunklen Seiten ausloten. Über Angst, Verwundbarkeit und Verzweiflung sprechen.

Jane legte los. „Sagen Sie mir, wovor Sie sich fürchten, Anne.

Wenn Sie ganz allein mit sich sind, wovor haben Sie dann Angst?“

„Angst?“ wiederholte die Frau nervös. „Sie meinen … Spinnen oder so was?“

Meinte sie nicht, doch sie ermutigte die Frau, damit anzufangen, wenn sie wollte. Einige ihrer Modelle wussten genau, worauf sie abzielte; andere, wie Anne, hatten sich auf ihre Anzeige gemeldet, ohne mehr über die Künstlerin Cameo zu wissen, als dass sie hundert Dollar für wenige Stunden Arbeit bezahlte.

Jane hatte Modelle jeden Alters und jeder Rasse befragt und die ganze Skala von magersüchtig bis fettleibig, von atemberaubend schön bis grausam entstellt vor sich gehabt.

Interessanterweise teilten sie eine verbreitete Angst, eine Furcht, die alle Frauen zu verbinden schien.

„Ich hasse Spinnen“, sagte sie.

„Warum, Anne?“

„Sie sind so … schaurig. So hässlich.“ Sie überlegte, dann schüttelte sie sich. „Sie haben diese kleinen Härchen an ihren Beinen.“

„Dann ist es etwas Visuelles? Eine körperliche Reaktion auf das Aussehen der Tiere?“

Sie runzelte die Stirn, doch die Stelle zwischen ihren Augenbrauen blieb starr. Botox, registrierte Jane, die diesen Effekt schon mehrfach beobachtet hatte.

„So habe ich das noch nie gesehen“, sagte Anne.

„Haben Sie diese Reaktion auch bei Menschen, die hässlich oder missgestaltet sind? Bei fettleibigen Menschen?“ Jane hasste die Worte, die Etikettierungen. Sie benutzte sie hier mit Absicht.

Annes Wangen röteten sich. Sie schaute weg. Hatte sie, aber es war ihr peinlich, es zuzugeben.

Eine Form der Diskriminierung, mit der Jane sehr vertraut war.

„Sagen Sie mir die Wahrheit, Anne. Deshalb sind wir hier. Darum geht es bei meiner Arbeit.“

„Sie werden mich nicht mögen. Sie werden denken, ich sei arrogant.“

„Ich bin hier, um zu dokumentieren, nicht um zu werten. Wenn Sie nicht aufrichtig sein können, sagen Sie es jetzt. Ich möchte nicht unsere Zeit verschwenden.“

Anne zögerte noch einen Moment, dann stellte sie sich Janes unverwandtem Blick. „Ich weiß, dass es falsch ist, aber irgendwie … es tut weh, sie anzusehen.“

„Warum?“

„Ich weiß nicht.“

„Ich glaube, Sie wissen es.“

Anne rutschte unbehaglich hin und her. „Wenn ich diese Menschen ansehe, dann … auf eine gewisse Weise … ja, wirklich, dann hasse ich sie.“

„Hass ist ein starkes Gefühl. Vielleicht stärker als Liebe.“

Anne antwortete nicht. Jane machte weiter. „Warum, glauben Sie, empfinden Sie so?“

„Ich weiß es nicht.“

Jane schwieg einen Moment, um nachzudenken. Dann versuchte sie es mit einer anderen Taktik. „Glauben Sie, dass Sie eine schöne Frau sind, Anne?“

„Ja.“ Sie errötete. „Ich meine, für mein Alter.“

„Für Ihr Alter?“

Sie schaute weg, dann wieder zurück. „Nun, ich bin keine Zwanzig mehr.“

„Niemand bleibt für immer zwanzig.“

„Richtig“, sagte Anne mit Schärfe in ihrer Stimme. „Alt werden. So hat Gott es vorgesehen.“

„Ja.“ Jane achtete auf ihre Stimme, versuchte, sie neutral, fast ausdruckslos klingen zu lassen. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass ihr Mangel an Emotionen die der Modelle oft steigerte.

„Wie alt sind Sie?“ fragte Anne.

„Zweiunddreißig“, sagte Jane.

„Ein Kind. Ich weißt noch, wie ich zweiunddreißig war.“

„Sie sind nur wenig älter als das.“

„Ich bin dreiundvierzig. Eine Ewigkeit entfernt von zweiunddreißig! Sie haben keine Ahnung. Können Sie nicht, weil …“

Sie hielt die Worte zurück. Jane zoomte auf Annes Gesicht, das den Sucher ausfüllte. Die Kamera nahm die Tränen in ihren Augen auf. Ihre Verzweiflung und Verwundbarkeit. Wie ihre Lippen bebten, wie sie sie zusammenpresste.

Ehrlich, dachte Jane. Überzeugend.

Jane zeigte Annes Mund. Sie befeuchtete die Lippen, begann dann zu sprechen.

Jane richtete die Kamera auf die Augen ihres Modells. „Jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel sehe, suche ich mein Gesicht ab. Nach Spuren des Alters. Ich nehme jede neue Linie in Augenschein, jede Falte. Wie das Kinn weicher wird.“

Sie ballte ihre Hände. Jane fing die Reaktion ein.

„Ich kann nichts essen, weil es sofort auf meinen Bauch geht oder mein Körper Wasser einlagert. Und trinken …“ Sie lachte bitter auf. „Ein Cocktail zu viel, und meine Augen sind tagelang geschwollen.“

Jane wusste, wie aus Angst und Unsicherheit eine allumfassende Verzweiflung werden konnte. Oder, was noch schlimmer war, Selbsthass.

„Können Sie sich vorstellen, wie viele Stunden ich im Fitnesscenter verbracht habe? Auf dem Stepper und dem Laufband? Wie viele Kübel Schweiß ich vergossen habe bei dem Versuch, Größe 36 zu behalten? Oder wie viel Geld ich für Collagen-Spritzen, Botox und Hautpeelings ausgegeben habe?“

„Nein“, murmelte Jane, „das kann ich nicht.“

Die Frau lehnte sich vor, schlang die Arme um ihren Körper. „Genau, das können Sie nicht. Und wissen Sie, warum Sie das nicht können? Weil Sie zweiunddreißig sind. Ein Jahrzehnt jünger als ich. Ein ganzes Jahrzehnt.“

Jane antwortete nicht. Sie ließ das Schweigen zwischen ihnen angespannt und unangenehm werden.

Als Jane das Wort ergriff, wiederholte sie ihre frühere Frage und schloss so den Kreis. „Wovor fürchten Sie sich, Anne? Wenn Sie allein in der Dunkelheit sind, was macht Ihnen dann Angst?“

Annes Augen füllten sich mit Tränen. „Alt zu werden“, brachte sie hervor. „Schwammig zu werden. Und faltig. Und …“ Sie atmete kurz durch. „Und hässlich.“

„Manche Menschen sind anderer Meinung. Einige finden die Auswirkungen der Zeit auf einem Gesicht schön.“

„Wer?“ Sie schüttelte den Kopf. „Vom Tag der Geburt an beginnt man zu sterben. Denken Sie mal darüber nach.“ Sie lehnte sich vor. „Finden Sie das nicht deprimierend? Physisch gesehen sind Sie bei Ihrer Geburt am perfektesten.“

Jane versuchte ihre Aufregung zu verbergen. Dieses Stück konnte eins ihrer besten werden. Es fühlte sich so an. Sie würde das später entscheiden, wenn sie das Videoband nach ausdrucksvollen Details absuchte, danach, wie sich die Gefühle in Annes Gesicht spiegelten, wie ihre Körpersprache ihre Worte unterstrich oder sie Lügen strafte.

„Das war’s, Anne“, sagte Jane und schloss damit die Sitzung ab.

„Es ist vorbei? Das war leicht.“ Sie sprang von dem Podest. „War es okay?“

Jane lächelte warm. „Es war großartig. Wahrscheinlich kann ich es für meine nächste Ausstellung verwenden, wenn die Skulpturen dazu rechtzeitig fertig werden. Ted wird die Termine für die Sitzungen abstimmen.“

Während dieser Sitzungen würde Jane Gipsabdrücke von Annes Gesicht und verschiedenen anderen Körperteilen machen. Danach würde sie die Abdrücke mit geschmolzenem Metall ausgießen, das in die Form getröpfelt wurde. Das flüssige Material verfloss zu einem spitzenartigen, maschendrahtähnlichen Relief. Der organische Eindruck, der durch die Glätte und Geschmeidigkeit des Metalls entstand, stand im dramatischen Kontrast zu der Härte des Materials. Kritiker hatten ihr Werk sowohl lyrisch als auch provokant genannt. Feministinnen hatten es sowohl als Anklage gegen die Gesellschaft als auch als üble Ausbeutung von Frauen verstanden.

Jane dachte nichts in dieser Richtung – ihr Werk war einfach nur der sichtbare Ausdruck dessen, was sie für wahr hielt. In diesem Fall, dass die westliche Gesellschaft Schönheit in einem ungesunden Maß verehrte, vor allem bei Frauen.

Ebenso wie Schriftsteller, Musiker und sogar Komiker griff ein bildender Künstler auf seine eigenen Erfahrungen zurück, um sich zum Zustand der Gesellschaft zu äußern. Manchmal war das, was Jane zu sagen hatte, schwer zu begreifen; jeder interpretierte es anders, keiner wie der andere. Und doch war es das Universelle der Botschaft, was ihre Werke wirken ließ. Dieses undefinierbare Etwas, das viele berührte, aber niemanden auf die gleiche Weise.

Anne ging in Richtung Umkleideraum. „Ist es okay, wenn ich mich umziehe?“

„Tun Sie das.“

Die Frau heftete ihren Blick auf Ted, als sie hinter der Tür des Umkleideraums verschwand. „Ich bin gleich wieder zurück.“

Als sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, sah Ted Jane an. „Diese Wirkung habe ich auf eine Reihe deiner Modelle. Meiner Mutter sagt, ich sei unheimlich.“

„Mütter wissen es immer am besten.“

Obwohl sie den Satz leicht dahin gesagt hatte, runzelte er die Stirn. „Mache ich dir Angst, Jane?“

„Mir? Der wahren Braut von Frankenstein? Wohl kaum.“

„Ich hasse es, wenn du so von dir sprichst. Du bist schön. Ein schöner Mensch.“ Ted deutete in Richtung Umkleideraum. „Sie hingegen tut mir Leid.“

„Anne? Warum?“

„Nicht nur sie. Die meisten deiner Modelle. Ihre Sicht des Lebens ist so eingeschränkt.“ Sein Gesichtsausdruck veränderte sich leicht. „Frauen wie sie haben keinerlei echtes Gefühl. Sie wissen nicht, was echter Schmerz ist, also erfinden sie welchen.“

Der heiße Zorn in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. „Ist das so schlimm? Wem schaden sie denn außer sich selbst?“

„Sag du es mir. Würdest du deinen Schmerz aufgeben, um so zu werden wie sie?“

Anne kam aus dem Umkleideraum, bevor Jane antworten konnte. Ihre Kleidung war sorgfältig drapiert, das Gesicht geschminkt, das Haar frisiert. „So ist es viel besser, meinen Sie nicht?“

„Sie sehen großartig aus“, sagte Jane.

Sie strahlte und schaute erwartungsvoll zu Ted.

Anstatt ihr ein Kompliment zu machen, wandte er sich ab. „Ich hole den Terminkalender.“

Nachdem sie die Termine vereinbart hatten, führte Jane die Frau hinaus, dankte ihr noch einmal und versicherte ihr, dass die Sitzung ein großer Erfolg gewesen sei.

Als sie ins Atelier zurückkehrte, stand Ted dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

„Ist irgendwas?“

„Sie wollte eine Kompliment hören“, sagte er. „Frauen wie sie wollen das immer.“

„Hätte es dir wehgetan, ihr eins zu machen?“

„Es wäre gelogen gewesen.“

„Du findest sie nicht schön?“

„Nein“, sagte er matt, „absolut nicht.“

„Dann bist du wahrscheinlich der Einzige in Dallas, der das nicht tut.“

Er sah sie irgendwie grimmig an. „Sie kann nicht unter die Oberfläche sehen. Ich hingegen kann nur das Innere sehen. Und was ich in ihr sehe, ist hässlich.“

Jane wusste nicht, was sie erwidern sollte. Seine heftige Reaktion überraschte sie.

„Wenn du mir dein Okay gibst“, sagte er plötzlich, „kann ich die Einladungen zur Vernissage morgen Mittag in die Post geben.“

Erleichtert, dass er das Gesprächsthema gewechselt hatte, schaute sie auf die Uhr. „Ich treffe mich mit Dave im Künstlercafé auf einen Kaffee. Wenn ich zurück bin, geht es los.“

„In der Zwischenzeit werde ich die einzelnen Ausstellungsstücke katalogisieren.“

Mit einem mulmigen Gefühl sah Jane ihm hinterher. Ihr wurde bewusst, wie wenig sie über sein Privatleben wusste. Über seine Freunde, ob er sich mit jemandem traf, wie er seine Freizeit verbrachte. Bis heute hatte er niemals eine Familie erwähnt.

Seltsam, dachte sie. Seit mehr als einem Jahr arbeiteten sie zusammen, und noch immer wusste sie so wenig über ihn. Wie war das möglich? Weil er so verschlossen war? Oder weil sie so wenig Interesse gezeigt hatte?

6. KAPITEL

Montag, 20. Oktober 2003

16.00 Uhr

Jane trat hinaus in den grauen, kühlen Tag. Sie legte den Kopf in den Nacken und sog die Luft tief und kräftig ein. Sie liebte ihre Arbeit, liebte ihr Atelier, aber nach einem ganzen Tag unter künstlichem Licht und in stickiger Luft genoss sie es, draußen zu sein – auch wenn es dort dunkel und kalt war.

Zum Leben und Arbeiten hatte sie sich Deep Ellum ausgesucht. Ein alternatives Viertel östlich des Stadtzentrums unten an der Elm Street. Der Name des Viertels rührte daher, wie die Einheimischen Elm aussprachen. Bekannt für sein Nachtleben, zog es vor allem die Jugend an, die Unangepassten und Außenseiter, Künstler, Musiker und alle, die in die standesbewusste, vermögende Gesellschaft von Dallas nicht so recht hineinpassten.

Das war es, was Jane daran mochte.

Hier fühlte sie sich zu Hause.

Jane spazierte zielstrebig los und grüßte alle, die sie kannte – Künstlerkollegen, Ladeninhaber, die Kellnerinnen des benachbarten Restaurants, in dem sie oft aß, Musiker. Sie alle kannten einander. Deep Ellum war klein, umfasste nur drei Straßen – Elm, Main und Commerce Street.

Sie wohnte in der Commerce Street, der Straße, die sich rühmte, mehr Wohn- als Gewerberaum zu haben. Die Elm Street mit ihren Restaurants und Clubs bildete das lärmende Zentrum von Deep Ellum. Main Street war eine Mischung aus beidem.

Der Inhaber des Tätowierstudios an der Ecke saß auf den Stufen und rauchte eine Zigarette. Er war ein wandelndes Werbeschild für seine Arbeit, Jane hatte ihn niemals mehr als ein Muscle-Shirt tragen sehen. Der heutige Tag bildete keine Ausnahme.

„Hey, Snake“, grüßte sie ihn. „Wie läuft das Geschäft?“

Er zuckte die Schultern und blies eine lange Rauchwolke aus. Sie schwebte einen Moment in der kalten Luft, bevor sie sich auflöste. „Ich hab da ein nettes kleines Motiv, das nur auf dich wartet, Süße. Zeit hätte ich jetzt auch. Wird deinen Alten antörnen, ihn richtig scharf machen.“

Sie lächelte: „Mein Alter braucht nicht angetörnt zu werden. Außerdem hasse ich Nadeln.“

Tatsache war, dass nach all den Operationen und den vielen Jahren, in denen sie sich sehnsüchtig eine glatte, makellose Haut gewünscht hatte, allein der Gedanke an eine Tätowierung sie schaudern ließ.

Jane winkte zum Abschied und ging in Richtung Main Street. Sie und Dave hatten sich im Künstlercafé verabredet. Eines von Janes Stammlokalen: Hier bekam man nicht nur den besten Latte Macchiato des Viertels, es wurden auch Werke von unbekannten Künstlern der Gegend vorgestellt. Tatsächlich hatte der Besitzer ihr die erste Einzelausstellung ermöglicht.

Sie betrat das Café. Die momentane Ausstellung, eine Reihe expressionistischer Gemälde mit dem Titel „Schrei“, beleidigte ihren Geschmack. Die verstörenden Bilder und gewalttätigen Farben kamen ihr irgendwie nachgeahmt vor, waren aber nichtsdestotrotz ausdrucksvoll. Sie würde darauf wetten, dass der Maler in ein paar Jahren in der Kunstszene von Dallas etabliert wäre.

Dave saß an der Bar, nippte an einem Espresso. Er war groß, blond und auf jungenhafte Weise gut aussehend. Als er Jane erblickte, erhob er sich, um sie zu begrüßen, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Die große Cameo, wie sie leibt und lebt.“

Jane umarmte ihn lachend. „Dave, du bist so ein Idiot.“

Er ließ sie los, legte einen Finger an ihre Lippen. „Pssst, sei still. Ich bin Psychiater. Wenn meine Patienten rauskriegen, dass ich in Wahrheit ein Idiot bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu dir zu kommen und mit dir zu leben.“

„Und wäre das eine so üble Sache?“

„Ich liebe dich, Jane, wirklich. Aber ehrlich gesagt, diese Nummer von wegen gückliches Paar wie bei dir und Ian wäre hinderlich für meinen Lebensstil.“

„Versuch es, du wärst vielleicht überrascht.“

„Das Junggesellenleben aufgeben?“ Er hakte sie unter und führte sie zu einem Tisch am Fenster. „Es gibt nur eine Frau, für die ich das getan hätte, und die hat mich gerettet, indem sie sich in einen anderen verliebt und ihn geheiratet hat.“

„Dich gerettet?“ Sie lachte und drückte seinen Arm. Mit Anfang zwanzig hatten sie sich versprochen, einander zu heiraten, falls sie mit vierzig noch ohne Partner sein sollten. Als letztes Aufbäumen, bevor sie senil würden.

„Was möchtest du? Übrigens lade ich dich ein.“

„Einen großen entkoffeinierten Latte Macchiato. Und einen von diesen leckeren Hafer-Nuss-Muffins.“

Er legte eine Hand auf sein Herz. „Entkoffeiniert? Du?“

Sie zögerte, sagte dann leichthin: „Es ist nie zu spät, etwas Neues anzufangen. Du solltest es probieren.“

Er musterte sie einen Augenblick, als ob er wüsste, dass sie log, dann nickte er.

Sie sah ihm nach, als er zur Theke ging. Sie hatte sich entschieden, Ians Vorschlag zu folgen und mit Dave über ihre emotionale Verfassung zu sprechen. Aber nun war sie nervös.

Nicht weil sie sich ihm offenbaren wollte. Sondern weil sie Angst davor hatte, in ihrer dunklen Vergangenheit herumzuwühlen.

Er kehrte mit den Getränken und ihrem Muffin zurück. Sie stürzte sich darauf – ob mit echtem Hunger oder um dem Grund ihres Treffens hinauszuzögern, wusste sie selber nicht.

Dave beobachtete sie mit amüsierter Miene. „Du hast wohl das Mittagessen ausfallen lassen.“

„Ich habe gearbeitet.“

„Was Gutes?“

„Richtig gut. Eine Frau namens Anne.“ Sie lächelte. „Ich hoffe, ich kann sie mit in die Ausstellung aufnehmen. Wird davon abhängen, ob ich die Skulpturen fertig bekomme.“

Er holte ein Texas Monthly aus dem Rucksack und legte die Zeitschrift auf den Tisch. „Noch druckfrisch.“

Ihr eigenes Konterfei blickte sie vom Titel an. Sie kämpfte mit widerstreitenden Gefühlen, nicht zuletzt mit dem Drang, sich zu verstecken. Immer hatte sie es vermieden, sich selbst anzuschauen, und nun konnte ganz Texas sie sehen.

„Woher hast du das?“

„Von einem Patienten, der dort arbeitet. Halt die Luft an: Sie haben die Ausgabe Montag rausgeschickt.“

Sie antwortete nicht, ihre Stimme versagte.

„Du siehst wunderschön aus“, sagte Dave.

Sie würde nie schön sein. Aber es war eine gute Aufnahme. Interessant. Aussagekräftig. Der Fotograf hatte die grellen Scheinwerfer so ausgerichtet, um ihre eine Gesichthälfte im Licht und die andere im Schatten zu zeigen.

„Die brutale schöne Welt der Cameo“, las sie die Titelzeile murmelnd vor. Sie hob den Blick.

„Ich habe beinahe Angst, den Artikel anzusehen.“

„Du wirst als brillant bezeichnet.“

„Zieh mich nicht auf.“

„Würde ich nie.“ Er deutete auf die Zeitschrift. „Los, lies!“

Autor